Die abgebrochene Konzertreise „Im Herbst kam das jüdische Ensemble Zimro nach Amerika. Es bestand aus einem Streichquartett, einem Klarinettisten und einem Pianisten. Alle waren sie meine Mitschüler am Petersburger Konservatorium. Sie hatten ein Repertoire von recht interessanter jüdischer Musik für verschiedene Instrumentalkombinationen. Sie baten mich, für sie eine Ouvertüre für sechs Instrumente zu schreiben und gaben mir ein Heft, in dem jüdische Melodien aufgezeichnet waren. Ich wollte es zuerst nicht nehmen, weil ich nur eigene Themen zu verwenden pflegte. Ich behielt es aber schließlich, und eines Abends wählte ich daraus ein paar schöne Melodien und begann über sie am Klavier zu improvisieren. Ich habe dieser Ouvertüre nicht viel Bedeutung beigemessen; sie hatte aber ziemlichen Erfolg.“ (Sergei Prokofiev: Aus meinem Leben) Tatsächlich ist Prokofievs Ouvertüre über hebräische Themen dank der späteren Bekanntheit ihres Autors bis heute ein Repertoirestück geblieben, während das Ensemble Zimro trotz seiner Verdienste um jüdische Musik in Vergessenheit geraten ist. Die Geschichte von Zimro (das Wort ist hebräisch und bedeutet „Gesang“) begann kurz nach der bolschewistischen Revolution in St. Petersburg (damals Petrograd). Unter der Ägide der dortigen Gesellschaft für jüdische Volksmusik wurde ein Kammermusikensemble gegründet, das Werke der Neuen Jüdischen Schule und ihre Ästhetik verbreiten sollte. „Um das künstlerische Niveau jüdischer Musik zu bewahren, wird das Ensemble ausschließlich Kompositionen aufführen, die von der Gesellschaft für jüdische Musik gebilligt und akzeptiert wurden“, betonte der Programmtext zum ersten Konzert von Zimro am 21. Januar 1918. Die treibende Kraft des Ensembles war der herausragende Klarinettist Simeon Bellison (1881–1953). Bellisons musikalische Laufbahn hatte in einer Militärkapelle im russischen Smolensk begonnen, wo sein Vater als Kapellmeister diente. Er fing schon sehr früh an, unter der Anleitung des Vaters Klarinette zu spielen und mit neun Jahren schloss er sich dessen Kapelle an. Dort wurde er vom Rektor des Moskauer Konservatoriums entdeckt, Vassili Safonoff, der einmal auf dem Weg in die Ferien wegen einer Bahnstörung längere Zeit in Smolensk warten musste und einem Konzert der Kapelle in der Nähe des Bahnhofs zuhörte. Safonoff war von der Virtuosität des kleinen Klarinettensolisten derart beeindruckt, dass er ihm sofort einen Studienplatz am Konservatorium anbot. Bellison wirkte später als Solo- Klarinettist am Bolshoi-Theater und machte sich auch als Kammermusiker einen Namen. Parallel dazu engagierte sich Bellison in der Moskauer Abteilung der Gesellschaft für jüdische Volksmusik und nach seiner Übersiedlung nach Petrograd 1915 in deren Zentrale. Am 11. März 1918, also weniger als zwei Monate nach ihrem ersten Konzert in Petrograd, begaben sich die sechs jüdischen Musiker um Bellison auf Tournee. Im Gepäck führten sie ein Empfehlungsschreiben des Zentralkomitees der Zionistischen Organisation in Russland mit. Ab Ende März 1918 gaben sie zahlreiche Konzerte mit jüdischer Kammermusik zunächst im Norden Russlands, dann auf dem Ural und schließlich in Sibirien, wo bereits der Bürgerkrieg aufflammte. Die Reise war durch das zunehmende politische und wirtschaftliche Chaos gefährlich und strapaziös, oft mussten die Musiker Hunderte Kilometer im sogenannten „Tepluschka“ – dem Viehwaggon – zurücklegen. Die meisten Konzerte wurden von den örtlichen zionistischen Organisationen und Vereinen veranstaltet. Ende 1918 kam Zimro mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Charbin. In China, Singapur und im damals holländischen Indonesien verbrachten die Musiker die nächsten, nach wie vor mit vielen Konzerten angefüllten Monate, bis sie im Juli 1919 ihre Schiffsreise nach Amerika antraten. In seinen Konzertprogrammen stellte Zimro inzwischen nicht nur die Verbreitung neuer jüdischer Musik in den Vordergrund, sondern übernahm auch weitere Aufgaben, die vom kulturzionistischen Gedankengut geprägt waren: das Sammeln von Geld für einen „Kunsttempel“ in Palästina sowie die Schaffung einer Künstlervereinigung, die zur „Renaissance der Jüdischen Nation und zur Entwicklung der Jüdischen Kunst in Palästina“ beitragen sollte. Das Ensemble hieß nun Palestine Ensemble Zimro und Palästina wurde zum erklärten Ziel der einzigartigen Konzerttour. Das amerikanische Debüt des Ensembles fand im September 1919 in Chicago im Rahmen der Jahrestagung der Zionist Organization of America statt, die nun die Schirmherrschaft über Zimro übernahm. Zum Höhepunkt der Reise wurde das erste Konzert in der New Yorker Carnegie Hall am 1. November, das den Ruhm des Ensembles besiegelte. Der überwältigende Erfolg dieses Konzerts, das nach übereinstimmenden Berichten zu einem Ereignis im Kulturleben der Stadt wurde, bedeutete aber gleichzeitig das Aus für den zionistischen Traum der Musiker. Simeon Bellison wurde bald darauf zum Ersten Solo-Klarinettisten des New York Philharmonic Orchestra, andere Musiker bekamen ebenfalls lukrative Engagements. So endete die Reise nach Palästina auf dem halben Wege – in New York. Anfang 1921 hörte das Ensemble auf zu existieren. Bereits im Herbst 1924 gründete Bellison zusammen mit einigen Kollegen aus dem Orchester ein Nachfolgeensemble, das das Repertoire von Zimro wiederaufnehmen sollte, ohne allerdings an dessen dezidiert zionistische Ideologie anzuknüpfen. Das neue Ensemble Stringwood versuchte erfolgreich, die jüdische Musik in das allgemeine Konzertrepertoire zu integrieren; es führte bevorzugt gemischte Programme auf, in denen auch klassische Stücke gespielt wurden. Es wurde dabei gleichermaßen das jüdische und nichtjüdische Publikum angesprochen. 1952, nach dem Ende seiner Orchesterkarriere, initiierte Bellison schließlich wieder ein Ensemble in der gleichen Besetzung – das Bellison Chamber Music Ensemble, das sich aber ausschließlich der jüdischen Kammermusik widmete. Sein plötzlicher Tod unterbrach nach kurzer Zeit die Tätigkeit dieses Ensembles. Jüdische Musik für Sextett Bevor das Ensemble Zimro nach Amerika kam, hatte es in seinem umfangreichen Repertoire Stücke für verschiedene Besetzungen, jedoch kein einziges Stück, an dem alle sechs Musiker beteiligt waren, denn für diese Besetzung hatte noch niemand komponiert. Zur ersten Komposition für Klarinette, Streichquartett und Klavier in der Musikgeschichte wurde daher die Ouvertüre über hebräische Themen von Prokofiev. In seinen Erinnerungen liefert Bellison übrigens eine andere Version der Entstehungsgeschichte des Werkes. Seiner Darstellung zufolge war es der Komponist selbst, der nach dem denkwürdigen Konzert in der Carnegie Hall die Musiker ansprach und ihnen anbot, ein jüdisches Stück für sie zu schreiben. Am nächsten Tag besuchte Prokofiev Bellison im Hotel und wählte aus dessen Sammlung zwei jüdische Melodien aus. Aus verschiedenen Gründen erscheint diese Version glaubwürdiger als die von Prokofiev. In der Tat ist es schwer vorstellbar, dass die zionistischen Musiker auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs ausgerechnet den Russen Prokofiev um ein jüdisches Stück gebeten hätten, der zudem in Amerika noch wenig bekannt war und nach eigenem Bekunden damals gerade „auf dem Trockenen lag“. Ebenso merkwürdig wäre es, wenn sie ihm dafür tatsächlich beinahe mit Gewalt die wertvollen Aufzeichnungen jüdischer Volkslieder in die Hand drücken wollten. Wie dem auch sei, die Premiere des Werks fand im Februar 1920 in einem New Yorker Künstler- und Musikerklub namens The Bohemians statt. Bei den zwei Themen, die Prokofiev für sein Werk verwendete, handelt es sich um einen instrumentalen Klezmer- Tanz Freilachs, sowie um das jiddische Hochzeitslied Sajt gesunder heit („Bleibt gesund“) – den traurigen Abschied der Braut von ihrem Elternhaus. Inspiriert durch die Konzerte von Zimro und Stringwood und angeregt durch persönliche Kontakte mit Bellison schufen bald mehrere Komponisten Werke im jüdischen Stil für diese Sextett- Besetzung, so dass sie zu einer Art „jüdischer Besetzung“ wurde. Zu diesen Komponisten gehörten auch Bellisons frühere Mitstreiter aus der Gesellschaft für jüdische Volksmusik wie z. B. Joseph Achron, der Anfang 1925 ebenfalls nach New York übersiedelte. Am 6. November 1925 spielte das Stringwood Ensemble die Premiere seiner Kindersuite in der New Yorker Aeolian Hall im Rahmen eines Programms, das ansonsten aus Werken von Brahms, Dvořák und Tanejew bestand. Die Kindersuite war ursprünglich für Klavier solo komponiert, die neue Version sollte aber durch den ausnehmenden klanglichen Farbreichtum viel erfolgreicher werden. Die Suite basiert u. a. auf uralten synagogalen Kantillationsmotiven (die in der jüdischen Liturgie vor allem beim Lesen der Thora – der fünf Bücher Moses – verwendet werden), außerdem kreierte der Komponist zahlreiche eigene Motive im ähnlichen Stil. Bei Achron vermitteln die Kantillationsmotive allerdings keinen religiösen Inhalt; aus diesen musikalischen Bausteinen schuf er eine Galerie von Bildern aus der Kinderwelt, die an Witz und Lebendigkeit kaum zu überbieten sind. Achrons zwei kleine Stücke – Song of the Little Tailor und Women Dance – stammen aus seiner Bühnenmusik zum Schauspiel Kiddush Haschem von Scholem Asch, das 1928 am Yiddish Art Theatre von Maurice Schwartz in New York gebracht worden war. Das Thema des Schauspiels waren die Massaker an den Juden, die im 17. Jahrhundert von ukrainischen Nationalisten verübt wurden. Ein weiteres Stück von Achron – Scher für Violine und Klavier – bearbeitete Bellison selbst für sein Ensemble. „Scher“ (nach dem jiddischen Wort für „Schere“) ist der Name eines populären jüdischen Volkstanzes; in Achrons Komposition kommen allerdings keine Folklore- Zitate vor. Ein weiterer Aktivist der Gesellschaft für jüdische Volksmusik, Grigori Krejn, gehörte zu der kleinen Gruppe jüdischer Komponisten, die in Sowjetrussland geblieben waren und in den 1920er Jahren versuchten, die Idee der jüdischen Nationalmusik weiterzuentwickeln. Trotz seiner außergewöhnlichen Begabung blieb Grigori Krejn die öffentliche Anerkennung zeit seines Lebens verwehrt. Das Prélude (1925) zählte zu den wenigen seiner Werke, die im Druck erschienen. Manche Manuskripte, darunter eine Jüdische Rhapsodie für die gleiche Besetzung, die eine Hochzeitsfeier darstellte, gingen für immer verloren. Das Prélude wurde später für großes Orchester instrumentiert und bekam den Titel Davids Gesang. Neben einer anderen sinfonischen Dichtung Grigori Krejns – Saul und David – bildet es einen zweiteiligen „biblischen“ Zyklus. Der dramatische Mittelteil des Préludes wird von poetisch-kontemplativen Bildern umrahmt, in denen das expressive ornamentreiche Melos der Klarinette von den Streichern behutsam unterstützt wird. Die wenigen lichten Momente vermögen nicht, die allgemeine düstere, melancholische Stimmung zu durchbrechen. Mitya Stillman hatte vor seiner Emigration ebenfalls in der Gesellschaft für jüdische Volksmusik mitgearbeitet, allerdings in deren Abteilung in Kiew, über die bislang noch wenig bekannt ist. Stillman kam vermutlich bald nach der Revolution in die USA, wo er Bratscher am CBS Radio Orchestra in Detroit wurde. Stillman starb im Alter von 44 Jahren, kurz bevor ihm die erste große Anerkennung zuteil werden konnte – der Kompositionspreis der NBC für sein 7. Streichquartett als bestes Kammermusikwerk des Jahres 1936. Auf Anregung von Simeon Bellison schrieb Stillman einige Werke im jüdischen Stil für Klarinette, darunter die Fantasie über ein chassidisches Thema, ein Quartett für Klarinette, Violine, Viola und Klavier, sowie eine Jüdische Melodie für Klarinette und Klavier. Die Fantasie über ein chassidisches Thema für Klarinettensextett sollte das einzige Werk Stillmans bleiben, das je gedruckt wurde. Julius Chajes stammte aus Lemberg, mit 13 Jahren kam er nach Wien, wo er sich als Komponist und Pianist u.a. durch seinen Erfolg bei dem Ersten Wiener Klavierwettbewerb 1933 etablierte. Ein Jahr später emigrierte er nach Palästina. Obwohl Chajes nur vier Jahre in Palästina lebte, hatte diese Zeit entscheidende Auswirkungen auf sein weiteres Schaffen, ein Großteil seiner Werke wurde von den Palästina-Eindrücken und von zionistischen Themen geprägt. Ab 1938 lebte Chajes in den USA, er wirkte in Detroit als Musikdirektor der Jüdischen Gemeinde. Die Palestinian (Hebrew) Suite (1938) verwendet nicht nur Originalthemen aus jüdischer Liturgie und der jüdisch-palästinensischen Folklore der 1930er Jahre, sondern auch charakteristische volkstümliche Musizierformen. Die Komposition ist eine Hommage an das Land Israel, seine Spiritualität, seine Menschen und seine Natur. Chajes widmete sie Simeon Bellison, der bei der Uraufführung am 17. Februar 1946 in New York mitwirkte. Angeblich plante Bellison, seinen Lebensabend in Israel zu verbringen. Auch wenn es ihm nicht vergönnt sein sollte, fand sein Werk dann doch den Weg in dieses Land: Seinem letzten Willen entsprechend wurde sein Archiv nach Jerusalem gebracht, wo es jetzt an der Musikakademie aufbewahrt wird. Jascha Nemtsov