Aus: Hubert Truckenbrodt und Kathrin Eichler: Einführung in die moderne Sprachwissenschaft. Ms., ZAS Berlin und DFKI Saarbrücken, 2010. Syntax 5: Die Syntax der Verben 1 Verben im Englischen 1.1 Auxiliare, Modalverben und Vollverben Wir können zunächst zwischen Auxiliaren, Modalverben und Vollverben unterscheiden. Auxiliare (auch Hilfsverben) sind im Englischen have und be. Modalverben drücken Möglichkeiten oder Notwendigkeiten aus: can, shall, should, must, etc. Vollverben sind alle übrigen Verben. Sie bezeichnen Handlungen (laufen, essen), Vorgänge (sinken, brennen) oder im weiteren Sinne Zustände (mögen, glänzen). Wie wir bereits gesehen haben, haben Vollverben jeweils unterschiedliche Argumentstruktur. 1.2 Status von Verben Wenn Sie in der Schule unregelmäßige englische Verben lernen mussten, dann wahrscheinlich in der Form see – saw – seen. Hier handelt es sich um unterschiedliche Flexionsformen (im Gegensatz zur derivationellen Morphologie, siehe Kapitel 1). Auch die Auxiliare erlauben diese Flexionsformen: have – had – had, und be – was – been. (Zu den Modalverben kommen wir gleich). Die zweite Form der Reihe, etwa saw, ist dabei die einzige finite Form, das Präteritum. Die erste Form, see, ist der einfache Infinitiv (“bare infinitive”) und die dritte, seen, das Partizip Perfekt, ebenfalls eine nicht-finite Form. Allgemeiner können wir im Englischen die in (1) aufgelisteten finiten und nicht-finiten Verbformen unterscheiden. (1) Finite Formen 3. Pers. andere Pers. Sg. Präs. Präs. is am/are has have sees see eats eat calls call brushes brush Status: finit Prät. was/were had saw ate called brushed Infinite Formen Infinitiv Partizip Präsens be being have having see seeing eat eating call calling brush brushing Infinitiv Partizip Präsens Partizip Perfekt been had seen eaten called brushed Partizip Perfekt Beachten Sie, dass im Englischen die finite Präteritum-Form häufig mit der infiniten Partizip-PerfektForm übereinstimmt. Beispiele hierfür sind die letzten beiden Verben in Tabelle (1), bei denen beide Formen called bzw. brushed sind (she called, she has called). In anderen Fällen, wie zum Beispiel bei see, unterscheiden sich die Formen und müssen deshalb in der Schule auswendig gelernt werden (she saw, she has seen). Die -ing-Form, das Partizip Präsens, ist immer regelmäßig und hängt an den Infinitiv p. 1, Syntax 5: Die Syntax der Verben das Suffix –ing an, zum Beispiel be be-ing.1 Für das Partizip Präsens mussten Sie in der Schule deshalb keine unregelmäßigen Formen auswendig lernen. In der deutschen Grammatik wird oft der Begriff des Status verwendet, um diese Flexionsformen in nützliche Klassen zu gruppieren. Alle finiten Formen haben den Status finit. Bei den infiniten Formen unterscheiden wir die drei in (1) unten aufgelisteten Status: Infinitiv, Partizip Präsens und Partizip Perfekt. Warum das sinnvoll ist, werden Sie im Folgenden sehen. Während Auxiliare und Vollverben im Englischen alle denkbaren Status aufweisen können, kommen englische Modalverben [E. modal verbs oder einfach modals] nur in finiter Form vor. Sie haben keine nicht-finiten Formen. Die folgenden Modalverben sind also allesame finite Formen: can, will, must, could, would, should, … Obwohl die englischen Modalverben stets finit sind, haben sie ihre Eigenarten: Alle anderen finiten Verben richten sich im Präsens nach dem Subjekt (vergleichen Sie hierzu die ersten beiden Spalten in (1)). Die Modalverben tun das nicht. (2) Andere finite Verben Mary is/eats/calls/... . They are/eat/call/.... Modalverben Mary can/must/should … They can/must/should … 1.1 Jedes Verb selegiert den Status des folgenden Verbs Betrachten wir als nächstes englische Sätze, die mehr als ein Verb enthalten. Wie wir bereits wissen, gibt es in jedem alleinstehenden Satz ein finites Verb. Haben wir also nur ein Verb im Satz, dann ist es das finite Verb. So ist zum Beispiel das Verb eats in Mary eats finit. Haben wir mehr als ein Verb, dann ist im Englischen das erste Verb im Satz das finite Verb.2 Zum Beispiel können wir, wie in (3), einen Satz mit einem Modalverb und einem anderen Verb bilden. In diesem Fall ist das Verb, das auf das Modalverb folgt, in der Infinitivform. Andere Formen aus (1) sind nicht möglich. (3) Modalverb + (einfacher) Infinitiv Mary will eat/swim/be happy * Mary will eats/ate * Mary will eating/eaten Die Erkenntnis aus Beispiel (3) lässt sich verallgemeinern: Das Verb, das auf ein Modalverb folgt, ist immer in der Infinitivform. (Um sich diese Regel deutlich zu machen, bilden Sie selbst ein paar Beispiele mit den Modalverben can und should.) Anders ausgedrückt selegiert ein Modalverb den Status des (einfachen) Infinitivs, das heißt, das Modalverb verlangt, dass das folgende Verb in der Infinitivform stehen muss. Die Verben have und be (und ihre verschiedenen Formen) werden auch Auxiliarverben genannt. Auch sie selegieren den Status des nachfolgenden Verbs. Das Verb have verlangt ein Verb mit dem Status Partizip Perfekt und bildet mit ihm zusammen Sätze im Perfekt: 1 Die Regelmäßigkeit ist primär eine Regelmäßigkeit der Aussprache, nicht immer auch der Rechtschreibung. Insbesondere bei have – hav-ing entfällt das 'e' in der zweiten Form. Dieses 'e' wird allerdings sowieso nicht ausgesprochen, sodass die einfache Anhängung von 'ing' in der Aussprache auch hier der Regel entspricht. 2 Die einzige Ausnahme bilden Strukturen, in denen Bewegung stattgefunden hat, zum Beispiel [see the mountain] she did __. Hier wurde die VP mit einem infiniten Verb nach vorne bewegt. In der üblichen Satzstellung steht das finite Verb allerdings vor den infiniten Verben. p. 2, Syntax 5: Die Syntax der Verben (4) Perfekt: have + Partizip Perfekt John has seen Mary eaten dinner * seeing Mary * ate dinner * eat dinner Das Verb be verbindet sich mit zwei unterschiedlichen Verbformen. Zum einen kann es sich, wie in (5a), mit einem Partizip Präsens verbinden und mit ihm die Verlaufsform [E. progressive] bilden. Zum anderen kann es zusammen mit dem Partizip Perfekt das Passiv bilden, wie in (5b). (5) a. Verlaufsform: be + Partizip Präsens John is singing. They are dancing. * They are danced. * They are dance. b. Passiv: be + Partizip Perfekt Mary was seen (by John). The dinner was eaten (by Mary). * Mary was see. Das Passiv ist auch aus anderen Gründen für die Grammatiktheorie interessant. An dieser Stelle werden wir darauf allerdings nicht eingehen, da wir uns im Moment vorrangig mit den Status von Verben beschäftigen, die in Verbindung mit anderen Verben auftreten. Mit dem bis hierher Gezeigten können wir ein Gesamtbild für die Bestimmung des Status eines Verbs zusammenbauen: Das erste Verb im Satz ist finit. Der Status jedes weiteren Verbs wird durch das vorangehende Verb selegiert. Für diese Selektion sind die bereits formulierten Beschränungen relevant, die hier nochmal zusammengefasst sind: (6) a. b. c. d. Modalverb + (einfacher) Infinitiv have + Partizip Perfekt be + Partizip Präsens be + Partizip Perfekt (Perfekt) (Verlaufsform) (Passiv) Mit diesem System können wir nun auch den Status von Sequenzen von mehr als zwei Verben verstehen. Solche Sequenzen beginnen mit einem der fettgedruckten Verben in (6) als finitem Verb, wie have in seiner finiten Form has in (7). In diesem Beispiel selegiert have (in seiner finiten Form has) gemäß (6b) ein Partizip Perfekt als folgendes Verb. Wenn wir nun für dieses folgende Verb nicht ein Vollverb einsetzen, sondern das Auxiliar be wie in (7), dann kann dieses Auxiliar sich, in einer zweiten Anwendung des Schemas in (6), mit einem weiteren Verb kombinieren (here: singing). So entsteht eine Dreierkette von Verben. Wichtig ist, dass das Schema in (6) dabei in jedem Schritt eingehalten wird. So hat das Auxiliar be in (7) den Status Partizip Perfekt, der von dem vorherigen have gemäß (6b) selegiert wird, wie in (7a) hervorgehoben. Das dritte Verb sing in (7) hat wiederum den Status, der von dem Verb be gemäß (6c) selegiert wird. Dies ist in (7b) hervorgehoben. (7) finit Mary has a. b. been singing have + Partizip Perfekt be + Partizip Präsens gemäß (6b) gemäß (6c) p. 3, Syntax 5: Die Syntax der Verben Allgemeiner gilt also für den Status, dass in einem Hauptsatz das erste Verb finit ist, und jedes folgende Verb den Status hat, den das vorausgehende Verb gemäß (6) selegiert. Ein Beispiel mit vier Verben finden Sie in (8). Der Status jedes Verbs ist darunter angegeben. Auch hier ist das erste Verb, das Modalverb could, finit. (8) Mary could finit have Infinitiv been Partizip Perfekt talking to John. Partizip Präsens Wie in (9) gezeigt, ist auch hier der Status jedes Verbs nach dem ersten Verb durch das jeweils vorherige Verb selegiert. So verlangen die Modalverben, dass das folgende Verb have im Infinitiv steht (vgl. (3)). Das Verb have wiederum bestimmt, dass das folgende Verb been den Status Partizip Perfekt hat (vgl. (4)). been, als eine Form von be selegiert den Status Partizip Präsens (vgl. (5a)). (9) (6a) Mary could (6b) have infinitive (6c) been Partizip Perfekt talking to John. Partizip Präsens Modalverb +Infinitiv have + (gemäß (6a)) Partizip Perfekt be (gemäß (6b)) + Partizip Präsens (gemäß (6c)) Somit wählen (oder: selegieren) Modalverben und finite Auxiliare have und be den Status eines folgenden Verbs entsprechend (6). Ist das folgende Verb (im derart selegierten Status) wiederum ein Auxiliar, so kann es ein weiteres Verb mit einem entsprechenden Status selegieren, wiederum entsprechend (6). Modalverben kommen im Englischen nur an der ersten Stelle solch einer 'Kette' von Verben vor, da sie im Englischen stets finit sind, und da finite Verben nur an erster Stell solcher 'Ketten' vorkommen können. (Man bemerke dazu auch, dass keines der Schemata in (6) ein finites Verb selegiert.) Im Abschnitt 3. kommen wir auf den Status finiter Verben zurück. 1.2 Die Phrasenstruktur bei mehreren Verben Rufen Sie sich in Erinnerung, dass jedes Wort im Satz eine Phrase projiziert. Dies gilt auch für Verben, die zusammen mit anderen Verben auftreten: jedes dieser Verben projiziert eine VP. Desweiteren ist jede VP das Komplement des vorangehenden Verbs. Grund hierfür ist, dass Verben den Status des folgenden Verbs bestimmen können, wie wir gesehen haben. Wäre eine VP das Adjunkt einer anderen VP, so könnten sie einander nicht so beeinflussen, wie sie es tun. Wir haben also folgende Baumstruktur: (10) VP1 V1 VP2 V2 VP3 V3 could have seen DP Mary p. 4, Syntax 5: Die Syntax der Verben Das Komplement eines Modalverbs und eines Auxiliarverbs ist also eine VP. Die Statusselektion können wir nun in einer Form formulieren, die wir bereits kennengelernt haben, nämlich die Argumentstruktur eines Lexikoneintrags. Modal- und Auxiliarverben verlangen nicht nur eine VP als internes Argument, sondern bestimmen auch den Status dieser VP: (11) Auszüge aus Lexikoneinträgen: could: <__, <VP[Infinitiv]>> (entsprechend bei anderen Modalverben) have/has/had: <__, <VP[Partizip Perfekt]>> be/am/are/was/were: <__, <VP[Partizip Präsens]>> oder <__, <VP[Partizip Perfekt]>> Nun fehlen nur noch ein paar Schritte, um das Gesamtbild zu vervollständigen. Im ersten dieser Schritte geht es um den Status, den ein bestimmtes Verb selbst hat: Wir müssen sicherstellen, dass, wenn wir zum Beispiel die Form seen in den Baum aufnehmen, die Information, dass diese Form ein Partizip Perfekt ist, nicht verloren geht. Diese Information steht im Lexikoneintrag, wie in (12a) dargestellt. Dadurch ist die Information am Verb vorhanden. Eine wichtige zusätzliche Annahme ist, dass Merkmale wie [Partizip Perfekt] sowohl Teil des Verbs selbst als auch Teil seiner VP-Projektion sind, wie in (12b) dargestellt. Das macht insofern Sinn als sowohl das V selbst als auch die VP vom Typ V sind, mit dem einzigen Unterschied, dass ersteres ein Wort, zweiteres eine Phrase ist. Wir gehen nun davon aus, dass das V und die VP auch andere Eigenschaften gemeinsam haben. So hat zum Beispiel die VP [VP seen Mary] wie das V seen den Status Partizip Perfekt, die VP [VP see Mary] wie see den Status Infinitiv, usw. (12) a. VP V[past participle] | seen b. DP … VP[past participle] VP[past participle] | seen DP … Lexikoneintrag: see, V. Infinitiv: see Partizip Perfekt: seen … Arg.-Struktur: <X, <DP>> In (13) ist die VP aus (12) eingebettet unter einem höher stehenden Auxiliarverb have, als Komplement dieses Auxiliarverbs. Dieses Auxiliarverb hat einen Lexikoneintrag, der ein VP-Komplement mit dem Status Partizip Perfekt als Ergänzung verlangt. In der Struktur in (13) ist diese Anforderung erfüllt. Das Komplement von V1 (have) ist eine VP mit Partizip-Perfekt-Status: [seen …]. Hätte diese VP stattdessen den Infinitiv-Status, wie in * to have [see …], wäre die Selektionsbedingung des Auxiliarverbs nicht erfüllt und das Ergebnis wäre dasselbe, wie wenn wir eine PP an die Stelle einer NP einfügen würden: ein ungrammatisches Element. p. 5, Syntax 5: Die Syntax der Verben (13) have + VP[Partizip Perfekt] VP1 V1 VP2[Partizip Perfekt] | have V2[Partizip Perfekt] DP | see-n … Lexikoneintrag: have <__, <VP[Partizip Perfekt]>> Adjunkte können in einem Satz zwischen Verben stehen. Dies beeinträchtigt nicht die Tatsache, dass das weiter oben stehende Verb den Status des weiter unten stehenden Verbs selegiert: (14) a. John has often seen(/*see) Mary. b. John could have often seen(/*see) Mary. Der Baum in (15) hilft uns, das zu verstehen. Die AdvP [often] wird an die untere VP2 angehängt und bildet zusammen mit ihr den oberen VP2-Knoten. Diese obere VP2 hat dieselben Eigenschaften wie die unter ihr stehende VP2. Mit anderen Worten, V2 und alle VP2-Knoten haben dasselbe Status-Merkmal. Nochmal anders ausgedrückt ist [seen] ein Verb im Partizip Perfekt, [seen Mary] eine VP im Partizip Perfekt und [often seen Mary] ebenfalls eine Partizip-Perfekt-VP. Wie zuvor wird durch Hinzufügen eines Adjunkts lediglich eine größere Ausführung dessen gebildet, an was sich das Adjunkt anhängt. (15) Adjunkte zwischen Verben VP V1 | have VP2[Part. Perf.] AdvP VP2[Part. Perf.] | Adv. V2[Part. Perf.] ... | | often see-n Wichtig: der obere durch Adjunktion gebildete VP2-Knoten hat dieselben Statusmerkmale wie der untere VP2Knoten Lexikoneintrag: have <__, <VP[Part. Perf.]>> Das höher stehende Verb have bestimmt also den Status des weiter unten stehenden Verbs seen über ein Adjunkt hinweg. In unserer Theorie ist das deswegen möglich, weil [often seen Mary] eine VP mit dem Status Partizip Perfekt ist und have eben solche VP als Ergänzung nimmt. [see Mary] and [often see Mary] sind VP mit dem Status Infinitiv und können aufgrund der durch den Lexikoneintrag p. 6, Syntax 5: Die Syntax der Verben vorgegebenen Anforderungen von have an sein internes VP-Argument nicht das Komplement des Verbs have sein. Die wichtigsten Erkenntnisse, die wir bisher gewonnen haben, sind daher: Treten in einem englischen Satz mehrere Verben auf, so hat das erste den Status finit (in den Fällen, die wir bisher betrachtet haben) und jedes darauf folgende einen infiniten Status (Infinitiv, Partizip Perfekt oder Partizip Präsens). Der genaue Status jedes infiniten Verbs, also Infinitiv, Partizip Perfekt oder Partizip Präsens, wird durch das Verb bestimmt, was im Baum eine Stufe höher steht. In unsere Theorie haben wir das mit Hilfe einer Erweiterung aufgenommen: jedes Verb projiziert eine VP, Auxiliar- und Modalverben nehmen solche VP als Ergänzungen. Sie bestimmen nicht nur die grammatische Kategorie ihrer Komplemente (hier also VP), sondern auch den Status dieser VP-Komplemente. (Hierfür nehmen wir an, dass der Status einer VP der Status des Verbs im Kopf der Phrase ist.) Jedes infinite Verb, und somit auch seine VP, muss den Status haben, der im Lexikoneintrag des nächst höheren Verbs gefordert wird. Am Ende dieses Abschnitts zum Englischen weisen wir noch darauf hin, dass wir hier nur einen Ausschnitt von besonders zentralen Fällen von Statusrektion im Englischen diskutiert haben. Weitere Fälle umfassen etwa die Selektion von Infinitiven durch Perzeptionsverben wie in (16). Wir sind auch nicht auf den Status von to-Infinitiven eingegangen, wie in den Beispielen in (17). (16) John saw/heard [Mary sing] (17) John wants [to sing] Auf (16) wird in der Übungsaufgabe XX etwas eingegangen. In einem fortgeschrittenen Syntax-Seminar können Sie mehr über diese zusätzlichen Fälle lernen. 2. Infinite Verben im Deutschen 2.1. Die Anordnung von Verb und Objekt In Kapitel 2 haben wir gesehen, dass im Deutschen das finite Verb die zweite Position im Satz besetzt, also auf eine einzige Konstituente folgt. Diese Erkenntnis haben wir als Konstituententest verwendet. In diesem Abschnitt werden wir uns nun mit den infiniten Verben im Deutschen beschäftigen. Das erste, was auffällt, wenn wir uns infinite Verben im Deutschen anschauen, ist die Tatsache, dass, anders als im Englischen, das Objekt vor dem Verb steht. (18) a. Deutsch: Objekt vor Verb Plätzchen essen ein Buch lesen Maria gesehen … b. Englisch: Verb vor Objekt (to) eat cookies (to) read a book … seen Mary Halten wir diesen Unterschied in (19) fest. (19) Unterschied zwischen der Grammatiken des Englischen und des Deutschen (vorläufige Formulierung): Im Deutschen steht das Objekt vor dem Verb, im Englischen hinter dem Verb. p. 7, Syntax 5: Die Syntax der Verben Die entsprechenden Strukturen sind in (20) dargestellt. In beiden Fällen wollen wir sagen, dass das Verb das Objekt in seiner Argumentstruktur als internes Argument vorsieht, und dass das Objekt entsprechend als Komplement des Verbs realisiert ist, also als Schwester des Verbs in einer VP. (20) VP DP VP V | lesen ein Buch V | read DP a book Evidenz für diese VP durch Bewegung und durch Ersetzung durch Pronomen haben wir bereits in Kapitel XX gesehen. 2.2 Abfolgen von infiniten Verben im Deutschen Auch deutsche Verben haben unterschiedliche Status, wie in (21) dargestellt. Eine direkte Entsprechung zum englischen Progressiv, zum Beispiel in to be singing, gibt es im Deutschen nicht. Den infiniten Status Partizip Präsens, der dem englischen singing entsprechen würde, werden wir von daher für das Deutsche nicht betrachten.3 Es gibt eine Reihe weiterer Unterschiede zwischen dem Englischen und dem Deutschen System der Statusrektion, die sich auf die Lexikoneinträge der Auxiliare und Modalverben beziehen lassen. Einen davon werden wir später in diesem Kapitel noch diskutieren. (21) Finite Formen 1. Pers. 2 Pers. Sg. Präs. Sg. Präs. bin bist habe hast sehe siehst esse isst rufe rufst lege legst Status: … finit Infinite Formen Einfacher Infinitiv Partizip II sein hab-en seh-en ess-en ruf-en leg-en gewesen ge-hab-t ge-seh-en ge-gess-en ge-ruf-en ge-leg-t Infinitiv Partizip II Wichtig hier ist, dass es auch im Deutschen Statusselektion gibt. Betrachten wir das für infinite Verben in (22). Modalverben selegieren wie im Englischen den Infinitiv, wie in (22a) gezeigt. Das Auxiliar haben selegiert wie das englische have das Partizip des Perfekts (hier: Partizip II), wie in (22b) gezeigt. (22) a. lesen müssen/wollen/können * gelesen müssen/wollen/können b. gelesen haben * lesen haben 3 Das Deutsche besitzt eine Partizip-Präsens-Form, Partizip I, allerdings wird sie vor allem zusammen mit Nomen, in der Adjektivposition benutzt: ein singender Junge, zum Beispiel. p. 8, Syntax 5: Die Syntax der Verben Dabei fällt auf, dass im Deutschen die jeweils Status-regierenden Verben rechts von den Verben stehen, deren Status sie regieren. Dies ist also umgekehrt als im Englischen. In (23) wird dies als systematischer Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Englischen formuliert. (23) Zweiter systematischer Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Syntax (vorläufige Formulierung) Das Vollverb (dessen Status selegiert wrid) steht im Deutschen vor dem Auxiliar- oder Modalverb, im Englischen hinter dem Auxiliar- oder Modalverb (das den Status regiert). Hier haben wir also ähnlich wie zwischen Verb und Objekt (siehe (19)) die umgekehrte Reihenfolge der Elemente im Englischen und im Deutschen. Wir können die beiden Fälle kombinieren, wenn wir ein Vollverb mit Objekt wählen wie in (24). Hier sehen wir gleichzeitig die unterschiedliche Reihenfolge zwischen Objekt und Verb und zwischen Auxiliar/Modalverb und Vollverb. (24) a. Deutsch: Vollverb + Aux.-/Modalverb b. Englisch: Aux.-/Modalverb + Vollverb Bohnen Bohnen have bought must buy have slept can eat gekauft haben kaufen muss geschlafen haben essen können beans beans Beide Unterschiede können unter eine allgemeine Formulierung gefasst werden. Sehen wir uns dazu die Strukturen der beiden Fälle an, die in (25) angegeben sind. (25) a. Englisch b. Deutsch VP1 VP1 V1 VP2[p.p.] | have V2[p.p.] DP | | bought beans VP2[P.II] DP | Bohnen V1 | V2[P.II] haben | gekauft Die beiden Strukturen sind Spiegelbilder von einander. Wenn wir die Struktur als ein Mobile begreifen würden, deren Äste sich drehen können, dann hätten das Englische und das Deutsche hier so gut wie identische Strukturen. (Die Unterschiede betreffen nur die jeweils übersetzten Wörter, have/haben, bought/gekauft und beans/Bohnen und die anderen Namen des Merkmals [p.p.] bzw. [P.II].) Das bedeutet, dass die hierarchischen Strukturen identisch sind. Das hat seinen Grund darin, dass diese Strukturen im Englischen wie im Deutschen Kopf-Komplement-Strukturen sind. Das Auxilarverb selegiert jeweils den Partizipstatus der inneren VP2, die es dazu als Komplement nimmt. Der Kopf von VP2, das Vollverb, nimmt wiederum das Objekt als sein Komplement, also internes Argument, entsprechend seiner Argumentstruktur. Wenn man ein Mobile gegen eine Wand hält, dann müssten sich die Elemente in der einen oder anderen Weise ordnen. Diese Reihenfolge ist von der hierarchischen Struktur (vom Mobile selbst) nicht festgelegt. Und in dieser Reihenfolge unterscheiden sich hier das Englische und das Deutsche. Die Generalisierungen über die Reihenfolge sind in (26) formuliert: p. 9, Syntax 5: Die Syntax der Verben (26) Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Englischen in allgemeineren Worten (ersetzt (19) und (23)) Im Deutschen folgt das Verb in der VP auf sein Komplement, im Englischen geht das Verb in der VP seinem Komplement voraus. Entsprechend (26) sind in der englischen Struktur (25a) beide Verben auf einem ‚linken Ast’, gehen also ihrem jeweiligen Komplement voraus; in der deutschen Struktur (25b) sind beide Verben auf einem ‚rechten Ast’, folgen also ihrem Komplement, entsprechend (26). Auf diese Weise haben wir mit (26) einen Unterschied zwischen dem Englischen und dem Deutschen gefunden, der gleichzeitig die unterschiedliche Reihenfolge zwischen Kopf und Komplement einfängt, und die unterschiedliche Reihenfolge zwischen höherem Verb (hier: Auxiliar) und tieferem Verb (hier: Vollverb). Es handelt sich hier um einen recht allgemeinen und prinzipiellen Unterschied zwischen dem Englischen und dem Deutschen. Er ist auch ein interessantes Beispiel dafür, wie Sprachen sich in ihrer Syntax voneinander unterscheiden können: Gleiche hierarchische Struktur (dasselbe ‚Mobile’), aber unterschiedliche Reihenfolgefestlegung. 3 Reihenfolge von Kopf und Komplement im Englischen und Deutschen Die Reihenfolge, in der sich die Verben im Englischen in (25) ausrichten, haben wir zwar in (26) formuliert, aber beim Englischen steht da eine noch allgemeinere Generalisierung dahinter: (27) In allen Phrasen im Englischen steht der Kopf vor dem Komplement. Syntaktiker sagen auch: Das Englische ist kopfinitial [E. head-initial], der Kopf steht also immer vor dem Komplement. Beispiele finden Sie in (28). Die Wortstellung der englischen VP, die in (26) festgehalten wurde, folgt also einem allgemeineren Muster des Englischen. (28) Englisch als kopfinitiale Sprache DP: D vor seinem Komplement NP: NP: N vor seinem Komplement PP: PP: P vor seinem Komplement DP: VP: V vor seinem Komplement DP/PP: [DP theD [NP house]] [NP studentN [PP of linguistics]] [PP inP [DP the house]] [VP readV [DP a book]] Das Deutsche dagegen ist diesbezüglich nicht einheitlich. Während DPs, NPs und PPs im Regelfall kopfinitial sind (mit einigen Ausnahmen bei den PPs), sind VPs kopffinal, wie in (26) festgehalten. (29) Deutsch als eine gemischte Sprache DP: D vor seinem Komplement NP: NP: N vor seinem Komplement PP: PP: P normalerweise vor seinem Komplement DP: [DP dasD [NP Haus]] [NP Bruder [PP von Peter]] [PP inP [DP dem Haus]] VP: V nach seinem Komplement DP/PP: [VP [DP ein Buch] lesenV] p. 10, Syntax 5: Die Syntax der Verben 4 Das finite Verb und der Satz 4.1 Der abstrakte Kopf eines englischen Satzes In diesem Abschnitt führen wir eine weitere Verbposition ein, die sich im Englischen nachweisen lässt, und die für das Verständnis der Analyse finiter Sätze wichtig ist. Wir verwenden die vereinfachte Struktur in (30). Auf die Position des Subjektes, das weder ein Komplement noch ein Adjunkt ist, werden wir im nächsten Abschnitt zurückkommen. Wie in (30) veranschaulicht, beinhaltet in der hier vorgestellten Analyse die IP das Subjekt she und die VP sees him. Außerdem hat die IP einen Kopf I, der in der Struktur in (30) leer ist, aber mit [+finit] markiert ist. (30) IP[+finit] DP | D | she I[+finit] VP V | see-s [+finit] DP | D | him Die Grundidee dieser Analyse, ist die, dass auch der Satz selbst einen Kopf hat und dass dieser Kopf, I, in einem finiten Satz als die Flexion des finiten Verbs definiert ist. (I steht im Englischen für ‚inflection’, also ‚Flexion’.) In (30) etwa ist das Suffix -s bei sees die finite Flexion des Verbs. In diesem Fall geht die Theorie von einer abstrakten Beziehung zwischen I und dem -s von sees aus, die mit Hilfe der gestrichelten Linie in (30) angedeutet wird. In dieser Einführung werden wir auf diese abstrakte Relation nicht näher eingehen. Wichtig ist hier zunächst nur die Grundidee, dass die Finitheit des Verbs mit einer zusätzlichen Position I in Verbindung gebracht wird, und dass diese Position I als der Kopf des Satzes fungiert, der damit eine IP ist. 4.2 Die Position von Modalverben Was motiviert diese Analyse? Im Englischen kann man argumentieren, dass die Modalverben die Kategorie I[+finit] haben und immer in dieser I-Position stehen: (31) IP[+finit] DP I[+finit] VP | | D will V | might | she could see ... DP | D | him Vergleichen wir dazu die englischen Modalverben mit den deutschen Modalverben. p. 11, Syntax 5: Die Syntax der Verben (32) Deutsche Modalverben… … können aneinandergereiht werden: ... dass er Erdbeeren kaufen müssen soll ... dass er das machen können wird Englische Modalverben… … können nicht aneinandergereiht werden: * He should must ... * He will can ... … können unter einem finiten Auxiliarverb stehen: Er hat das kaufen müssen. … können nie unter einem Auxiliarverb stehen: * He has must ... … können in Infinitiven auftreten: etwas machen (zu) müssen etwas machen (zu) können … treten nie in Infinitiven auf: * to must do something * to can do something … realisieren die regulären V-Morpheme Ich rufe, du ruf-st, ... Ich kann, du kann-st, ... Ich muss, du muss-t, ... … realisieren keine Flexionsmorpheme I sing, she sings, ... but: I can, she can, ... I must, she must, … Die Analyse dieser Unterschiede ist die folgende. Deutsche Modalverben sind Verben, die den Kopf einer VP bilden. Ihre Flexion, einschließlich der infiniten Flexion, entspricht der anderer Verben und wie andere Verben können sie eingebettet werden. Englische Modalverben haben nicht die Kategorie V, sondern die Kategorie I[+finit]. Sie unterscheiden sich deshalb morphologisch gesehen von anderen Verben und können nur in der finiten I-Position auftreten. Dadurch können sie nicht unter anderen Modalverben oder normalen Verben eingebettet werden. Die Eigenschaft [+finit] schließt auch aus, dass sie als Infinitiv auftreten. 4.3 I als Position vor der Negation Die Negation not steht nach den Modalverben (siehe (33a)) und kann sich mit einigen Modalverben zusammenschließen und ein einzelnes Wort bilden (siehe (33b)). (33) a. IP[+fin] DP | D | she b. ... I[+fin] can will should ... not can’t won’t shouldn’t VP V | see DP | D | him ... Die Analyse in (33) behandelt die Negation als Teil von I. Da ein finites Verb, anders als die Modalverben, nicht an der I-Position stehen kann, kann es auch nicht vor der Negation not stehen. p. 12, Syntax 5: Die Syntax der Verben (34) * She sees not him * IP[+fin] DP | D | she I[+fin] see-s not [+fin] VP V | ?? DP | D | him Ein finites Vollverb muss also in seiner Position in der VP stehen und kann nicht die I-Position füllen, obwohl seine [+finit]-Eigenschaft passen würde. Desweiteren scheint not die abstrakte Verbindung zwischen I und der Flexionsendung des finiten Vollverbs zu unterbrechen. (35) * She not sees him * IP[+fin] DP | D | she I[+fin] not VP V DP | | see-s D [+finit] | him Das unterstützt die Analyse, die besagt, dass diese abstrakte Relation zwischen I und dem finiten Verb vorhanden ist: Die abstrakte Verbindung muss da sein, weil ansonsten, also wenn die Verbindung durch not unterbrochen wird, ein ungrammatischer Satz entsteht. Um den Satz grammatisch zu machen, müssen wir in dieser Analyse eine finite Form von do an die I-Position stellen. Diesen Vorgang nennt man doinsertion. (36) √ She does not see him √ IP[+fin] DP | D | she I[+fin] do-es not [+fin] VP V | see DP | D | him p. 13, Syntax 5: Die Syntax der Verben Warum brauchen wir eine Form von do, obwohl das Auxiliarverb do keinen Beitrag zur Bedeutung des Satzes zu leisten scheint? Die finite Form von do scheint den I-Kopf des Satzes mit finiter Flexion zu liefern, weil not die Verbindung zum Vollverb blockiert, was ansonsten die Flexionsinformation tragen würde. Zusammenfassung der Argumente für I als Kopf des Satzes im Englischen: • Man kann argumentieren, dass Modalverben die Kategorie I[+fin] haben und stets der I-Position stehen • Die I-Position kann als eine Position vor der Negation begriffen werden. Bei einem Vollverb erfordert die Negation das Einfügen einer finiten Form von do. Die Position dieser Einfügung kann als die IPosition begriffen werden. Übungsaufgaben 1. In dieser Aufgabe geht es um die Verben in dem Gedicht in (i). a. Welches sind die finiten Verben in dem Gedicht? b. Zeigen Sie auf, wo Statusselektion in Teil XXXX vorliegt. Welches Verb selegiert dabei den Status von welchem anderen Verb? Argumentieren Sie für Ihre Antwort in b. indem Sie zeigen, dass das Verb mit selegiertem Status durch andere Verben ersetzt werden kann – solange diese denselben Status haben. (i) Gedicht mit mind. 2 Zeilen in denen Statusselektion vorkommt. 2. Zeigen Sie bei den Sätzen in (i) und (ii) welchen Status jedes die Verben haben, und wie jeder (nichtfinite) Status durch ein anderes Verb selegiert ist. Geben Sie dabei jeweils auch das Muster aus (6) im Text an, das dabei zur Anwendung kommt. (i) (ii) (iii) (iv) Mary must like ice-cream. Mary must be singing. The book has been stolen. You would not have jumped! (aus: ... Titanic ...) 3. Zeichnen Sie Strukturbäume für (i) und (ii). Erklären Sie die unterschiedliche Wortstellung in den beiden Sprachen. (i) (to) have seen the thief (ii) den Dieb gesehen haben 4. Analysieren Sie die Struktur der VP in (i) im Detail, wie folgt. a. Zeichnen Sie eine Phrasenstruktur, die den internen Aufbau darstellt. b. Geben Sie eine Argumentstruktur für jedes der drei Verben an. c. Stellen Sie den Zusammenhang zwischen Statusselektion in der Argumentstruktur, dem tatsächlichen Status der Verben, und dem Aufbau der Phrasen dar. (i) dass sie [VP ihn gesehen haben soll] p. 14, Syntax 5: Die Syntax der Verben 5. Das deutsche Auxiliar werden kann zweierlei Status selegieren. In einem Fall bildet es ein Passiv, wie in (i), im anderen Fall bildet es das Futur, wie in (ii). (i) (ii) (iii) (Er sagte) dass [VP das Möbelstück abgeholt wird] (Er sagte) dass Peter [VP das Möbelstück abholen wird] (Er sagte) dass [VP das Möbelstück abgeholt werden wird] a. Geben Sie jeweils zwei weitere Beispiele für Passiv und Futur an. b. Schreiben Sie eine Argumentstruktur für passivisches werden und eine für futurisches werden. c. Zeichnen Sie jeweils eine Phrasenstruktur der VPs für (i) und (ii) mit interner Struktur. Zeigen Sie auf, wie die Statusselektion in der Argumentstruktur, der tatsächliche Status der Verben, und der Aufbau der Phrasen vermittelt sind. d. Analysieren Sie jetzt auch das komplexere Beispiel in (iii) wie in (c). Welches ist dabei das passivische werden und welches das futurische werden? 6. Zeichnen Sie die Phrasenstruktur von (i). Zeigen Sie dabei auf, inwiefern die Syntax des Englischen für alle Phrasen kopf-initial ist. (i) The children of the nurse went to the lake. 7. Die I-Position im Englischen a. Geben Sie für die Sätze in (i) – (iii) jeweils an, ob das finite Verb in der I-Position steht. Begründen Sie Ihre Antworten. b. Zeichnen Sie eine vollständige Phrasenstruktur von (i). Kommentieren Sie kurz die Position des finiten Verbs und der Negation. (i) (ii) (iii) The dentist has not visited her brother in the US. Mary must be in Berlin. Mary likes ice-cream. p. 15, Syntax 5: Die Syntax der Verben