SWR2 Musikstunde

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SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff
Dienstag, 07.05.2013
„Same, same, but different! - dasselbe in Grün Bearbeitungen“ (2)
Musik wird zum Chamäleon. Nicht nur dasselbe in Grün gibt’s heute,
sondern vielleicht auch das Grüne in Blau oder Rot – wenn Komponisten
des 20. Jahrhunderts in die Kiste mit ergrauter Barockmusik greifen und
diese neu kolorieren. Willkommen dazu.
Musik 1:
9911078
Track 5
2:12
Igor Stravinsky:
Suite Italienne für Cello und Klavier
1. Introduzione
Truls Mørk, Cello
Lars Vogt, Klavier
VIRGIN, 5 45274 2, LC
An dieser Musik hängt eine lange Geschichte von diversen Metamorphosen
und irrtümlichen Zuschreibungen. Doch der Reihe nach!
Truls Mørk, Cello, und Lars Vogt, Klavier, haben den ersten Satz von Igor
Stravinskys „Suite Italienne“ gespielt. Diese Suite hat Stravinsky Anfang
der 1930er Jahre gemeinsam mit dem Cellisten Gregor Piatigorsky
angefertigt. Eine Suite in fünf Sätzen, deren musikalisches Material
tatsächlich italienisch ist – jedenfalls zum größten Teil -, das Stravinsky
aber auf seine eigene Art bearbeitet hat – vor allem metrisch, rhythmisch.
Und natürlich kennen Sie diesen Satz ganz woanders her: Als Ouvertüre
des Balletts „Pulcinella“ und aus der „Pulcinella-Suite“.
Musik 2:
CD VI / 1
Igor Stravinsky:
Pulcinella-Suite
1. Ouvertüre
Columbia Symphony Orchestra
Ltg. Igor Stravinsky
SONY, 0879902004/6, LC06868
1:55
3
Absage
Stellen Sie sich Igor Stravinsky vor, den Skandalkomponisten des „Sacre
du Printemps“, im Gespräch mit dem Impresario der „Balletts russes“,
Serge Diaghilev, ein paar Jahre nach dem Sacre-Skandal. Die beiden
gehen in Paris über die „Place de la Concorde“. Diaghilev hat eine neue
Idee. Er möchte, dass Stravinsky „eine wirklich reizvolle Musik des 18.
Jahrhunderts ansieht, um sie für ein Ballett zu orchestrieren."
Stravinsky findet die Idee gar nicht reizvoll. Er hält Diaghilev für verrückt.
Erst recht, als dieser den Namen Pergolesi erwähnt. Von dem kennt
Stravinsky das „Stabat mater“ und die Oper „La Serva Padrona“. Er hat
beides kürzlich noch gehört. Als Ballettvorlage scheint ihm solche Musik
komplett unmöglich.
Aber: Stravinsky verspricht dem Impresario, die Noten anzusehen.
Diaghilev hat Kopien davon abschreiben lassen – in verschiedenen
Bibliotheken in Italien. Stravinsky verspricht ihm, seine Meinung bald
mitzuteilen. Was dann passiert, beschreibt Igor Stravinsky mit seinen
eigenen Worten: „Ich schaute, und ich verliebte mich.“
Musik 3
2:00
Domenico Gallo
Triosonate Nr. 1 G-Dur, 1. Satz
Parnassi musici
M0001478.001
Absage
Als Stravinsky um 1917 in diese Noten schaute, hielt man diese Musik
noch für ein Werk Pergolesis. Inzwischen ist beinahe der gesamte Bestand
von Pergolesis Werken als Musik andere Komponisten identifiziert worden.
Pergolesis eigenes Werk ist beträchtlich geschrumpft.
Stravinsky hatte sich also in diese Musik verliebt und begann sofort zu
arbeiten. Und zwar in den Kopien der Originalnoten! Er redigierte, kürzte
oder ergänzte, änderte das Metrum, schärfte den Rhythmus, notierte
Ideen zur Instrumentierung.
4
Musik 4
9900966
Track 17
1:18
Igor Stravinsky
„Pulcinella“
Tarantella
Saint Paul Chamber Orchestra
Ltg: Christopher Hogwood
DECCA, 425 614-2, LC
In Stravinskys „Pulcinella“-Ballett, das auf diese Weise entstand, heißt
dieser Satz „Tarantella“. Hier eine Aufnahme mit dem Saint Paul Chamber
Orchestra unter Leitung von Christopher Hogwood. Wie Sergej Diaghilew
diese Version fand, dazu später.
Erst einmal zum Original, vom dem Stravinsky und die Musikwelt damals
annahmen, es sei von Giovanni Pergolesi. Vorher hatte man diese Musik
auch dem italienischen Geiger Carlo Ricciotti zugeschrieben. Doch der
hatte sie 1740 nur herausgegeben.
Erst 1980 brachte eine Entdeckung des niederländischen Musikforschers
Albert Dunning die Wahrheit ans Licht. Dunning hatte im niederländischen
Schloss Twickel die Original-Handschrift entdeckt. Und die stammte nicht
von einem Italiener, sondern vom Niederländer Unico Willem van
Wassenaer. Wassenaer war ein Graf, er war Diplomat und – im
Verborgenen – auch Komponist. Nur wollte er dieses „Hobby“ nicht
öffentlich werden lassen.
Die Vorlage zur „Tarantella“ in „Pulcinella“ ist der vierte Satz des
„Concerto armonico“ Nr. 2 B-Dur von Unico Willem van Wassenaer.
Musik 5
CD Track 8
Unico Willem van Wassenaer
Concerto armonico Nr. 2
4. Allegro moderato (mezzo forte)
Amsterdam Baroque Orchestra
Ltg: Ton Koopman
ERATO, 2292-45305-2, LC00200
1:53
5
Absage
Stravinsky hatte sich, wie gesagt, in diese Musik verliebt. Und die
Geschichte um Pulcinella begeisterte ihn ebenso. Später erzählte er
davon: „Wir waren tief beeindruckt von der Commedia del’arte, die wir in
einem überfüllten, von Knoblauch dampfenden kleinen Raum sahen. Der
Pulcinella war ein großer betrunkener Tölpel, und jede seiner
Bewegungen, wahrscheinlich auch jedes Wort, wenn ich es verstanden
hätte, war obszön.“
Stravinsky hat die Ballettsätze aus „Pulcinella“ bald mehrmals bearbeitet.
Er hat die „Pucinella-Suite“ herausgebracht, er hat eine Suite für Geige
gemacht, danach die Suite Italienne für Cello und Klavier und danach eine
etwas andere Suite Italienne für Geige und Klavier. Stravinsky hat – wie
kaum ein andere seiner Kollegen – mit solchen Bearbeitungen eigener
Werke enorm viel Geld verdient...
Von der „Tarantella“ und vom Finalsatz der Suite Italienne mit Cello
möchte ich Ihnen aber jetzt noch eine andere Version vorspielen – eine
Bearbeitung der Bayan-Spielerin Elsbeth Moser für Bayan und Cello. Sie
spielt gemeinsam mit dem Cellisten Nicholas Altstaedt.
Musik 6
9928269
CD Tracks 16, 17
Igor Stravinsky:
Suite Italienne für Cello und Klavier (bearb. für Bayan)
4. Tarantella
5. Minuetto e Finale
Elsbeth Moser, Bayan
Nicholas Altstaedt, Cello
GENUIN, 88109, LC12029
6:50
6
Absage
Stravinsky hatte also großen Gefallen gefunden an der – vermeintlich italienischen Barockmusik, die die Vorlage lieferte zum Ballett „Pulcinella“.
Und Serge Diaghilev? Was hat der von Stravinskys „Orchestrierung“
gehalten? Er war schockiert! Sowohl vom frechen Klang als auch von den
rhythmischen Irritationen, die Stravinsky eingebaut hatte.
Diaghilev hatte ganz etwas anderes im Sinn gehabt. Ihm schwebte eine
Orchestrierung in ähnlich effektvoller Art vor, wie sie der Italiener Ottorino
Respighi gerade mit Klavierstücken von Rossini vorgenommen hatte. Sein
Ballett „La Boutique fantasque“ war ein Riesenerfolg. Die „Ballett russes“
tanzten allein in den ersten vier Jahren nach der Uraufführung 1919 über
1000 Vorstellungen des „Zauberladens“!
Das wundert kaum, denn die Musik klingt wirklich zauberhaft. Die
Vorlagen waren Lieder und Klavierstücke von Rossini – er hatte sie seine
„Sünden des Alters“ genannt - „Péchés de vieillesse“.
In einem dieser Klavierstücke hat Rossini Jacques Offenbach aufs Korn
genommen. Der hatte den frivolen Cancan salonfahig gemacht – in der
Operette „Orpheus in der Unterwelt“. In seinem eigenen Salon spielte
Rossini eine Parodie, eine Petite Caprice im Stile von Offenbach. Das war
eine wiederum Retourkutsche, denn Offenbach hatte seinerzeit in der
„Schönen Helena“ Rossini parodiert.
Musik 7
CD Track 1
2:24
Giacchino Rossini: Petite Caprice (Style Offenbach)
Stefan Irmer, Klavier
MDG, 618 0654-2, LC6768
Absage
Bei Respighi lassen nun nicht Frauen ihre Röcke zum Cancan durch die
Luft wirbeln, denn Respighi lässt Puppen tanzen.
7
Das Cancan Puppen-Paar ist die größte Attraktion im „Zauberladen“ – und
ein Einzelstück. Da gleich zwei Familien die Puppen kaufen wollen, schlägt
der Händler einen Kompromiss vor. Er teilt das Paar. Was er nicht ahnt:
Die Puppen sind verliebt. Und daraus entwickelt sich ein rührendes
Puppendrama.
Respighi greift für seine Ballettfassung der Musik Rossinis nicht in den
Rhythmus ein, wie Stravinsky das getan hat. Ihm geht es um orchestrale
Brillanz! Was auch die weiteren Sätze zeigen – gleichfalls RossiniBearbeitungen.
Musik 8
CD Track 5
bis 5:40 //
5:40
Ottorino Respighi:
Der Zauberladen, Ballett in einem Akt nach Werken von Rossini
V: Cancan
BBC Philharmonic, Ltg: Gianandrea Noseda
CHANDOS, CHAN10081, LC7038
Absage
Ottorino Respighi hat sich auch mit deutlich älterer Musik befasst als mit
Rossinis Klavierstücken und Liedern. Er hat – lange bevor ein Alte-MusikBewegung ans Ausgraben alter Lauten-Tabulaturen gegangen ist – alte
Lieder und Tänze für Laute in drei Suiten für Orchester arrangiert. Die
erste entstand kurz vor dem „Zauberladen“ 1917, die beiden anderen
folgten in den nächsten 15 Jahren. Respighi hatte ein historischwissenschaftliches Interesse an der Renaissance- und Barockmusik. Aber
er glaubte wohl nicht daran, dass man diese Alte Musik im 20.
Jahrhundert noch in ihrer Originalgestalt präsentieren könne.
So hat er ganz auf eine effektvolle Instrumentierung gesetzt – mal mit
dem ganzem Sinfonieorchester, mal mit kleinem Streichorchester. Anders
als Stravinsky, der die alte Musik rhythmisch verfremdete, greift Respighi
nur in die Klanggestalt ein.
Hier aus der 3. Suite der „Antiche danze ed Arie per liuto“ eine Arie di
Corte aus dem 17. Jahrhundert .
8
Musik 9
Track 7
6:35
Ottorino Respighi
Antiche danze ed Arie per liuto, Suite Nr. III
2. Arie di Corte
Sinfonia 21
Ltg.: Richard Hickox
CHANDOS, CHAN 9415
Absage
In dieser SWR 2 Musikstunde haben wir einige Beispiele für Bearbeitungen
gehört, die ims geistigen Umfeld des „Neo-Klassizismus“ gehören. Doch
darunter versteht man neue Musik, die zwar auf einen älteren Stil Bezug
nimmt, die aber eben keine Bearbeitung ist.
Eins der wunderbarsten Werke dieses Stil stammt wieder von Igor
Stravinsky: Sein Concerto in Es „Dumbarton Oaks“ ist ein Hommage an
die „Brandenburgischen Konzerte“ von Johann Sebastian Bach. Stravinsky
spielt mit Bachs-Concerto-Formen und im ersten Satz gibt es
unüberhörbare Anklänge an die motorische Thematik des 3.
Brandenburgischen Konzerts.
Deshalb zuerst, als kleine Erinnerung, hier Bach. Allerdings – weil wir ja
eine Sendung über Bearbeitungen machen – Bachs eigene Bearbeitung
des ersten Satz aus dem 3. Brandenburgischen Konzert. Für die Sinfonia
der Kantate „Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüthe“ hat Bach dem
Streichorchester noch ein Paar Hörner hinzugefügt.
Musik 10
CD I / Track 16
(5:36)
PUFFER auf Ende
Johann Sebastian Bach
„Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüthe“, Kantate 174
1. Sinfonia
Concerto italiano
Rinaldo Alessandrini
NAIVE, OP 30412, LC
9
Absage
Den Rhythmus dieses Satz hat Igor Stravinsky aufgegriffen im ersten Satz
seines Concerto in Es. Nach dem Ort der Uraufführung, einem Landsitz
nahe Washington, heißt es „Dumbarton Oaks“.
Die Motorik hat Stravinsky von Bach übernommen. Die stete harmonische
Bewegung im Brandenburgischen Konzert jedoch nicht! Stravinsky spielt
in seiner Hommage an Bach auf höchst raffinierte Weise mit den kleinen
Motiven, baut daraus immer neu Kontrapunkte.
Stravinsky hat einen neuen Stil gefunden. Auf den Weg zu diesem neuen
Stil hat ihn die Bearbeitung alter Musik gebracht.
Musik 11
CD Track 14
4:51
Igor Stravinsky
Concerto in Es „Dumbarton Oaks“
1. Tempo giusto
Deutsche Kammerphilharmie Bremen
Ltg.: Paavo Järvi
PENTATONE, PTC 5186 046, LC12686
Die SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff ging zu Ende mit dem ersten
Satz aus dem Concerto in Es „Dumbarton Oaks von Igor Stravinsky.
Paavo Järvi leitete die Deutsche Kammerphilharmie Bremen
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