Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments Beitrag zum 3. Workshop des Arbeitskreises Latinistische Linguistik (2013) von Sophie-Christin Günther Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments Einleitung Gegenstand der vorliegenden Arbeit sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und die daraus resultierenden Probleme für Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments sein. Der Anlass dafür ist, dass ich bei der originalsprachlichen Lektüre des Tanach im Vergleich zur Vulgata, Hieronymus‘ Übersetzung des hebräischen „Urtexts“ in das Lateinische, immer wieder auf teils erhebliche, gleichzeitig oftmals unvermeidbare textliche Unterschiede aufmerksam geworden bin und sich mir persönlich die Frage stellt, ob dies bei „heiligen Texten“ akzeptabel sein kann. Das Partizip ist dabei als Vergleichspunkt besonders interessant, da es neben Perfekt, Imperfekt und Narrativ zu den im Hebräischen am häufigsten gebrauchten Verbformen gehört.1 Damit möchte ich mich einem kurzen Überblick über die Themen dieser Arbeit zuwenden. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit sollen in erster Linie das hebräische und das lateinische Partizip in Form und Verwendung verglichen werden. Ich werde hierfür vorrangig Form und Gebrauch des hebräischen Partizips schildern und hiervon ausgehend einen Vergleich mit Form und Gebrauch des lateinischen Partizips anstellen. Es herrscht also bewusst die „Blickrichtung Hebräisch-Latein“ vor, da ja letztlich die Frage im Zentrum steht, was hebräisch mit einem Partizip ausgedrückt werden kann, das in lateinischen Übersetzungen wie der Vulgata umschrieben werden muss. Themenblöcke sollen dabei die Hybrid-Gestalt des Partizips als Mischform aus Nomen und Verb, die Funktionen des Partizips im Satz und das hebräische Partizip als nominales Prädikat im hebräischen Nominalsatz sein. Zur Veranschaulichung führe ich jeweils Vergleichsbeispiele aus Tanach und Vulgata an. Am Schluss dieser Arbeit steht ein kurzes Fazit. Das hebräische und das lateinische Partizip im Vergleich Das Partizip als Hybrid aus Nomen und Verb Grundsätzlich ist das hebräische Partizip – wie auch das lateinische Partizip – eine Mischform aus Nomen, genauer: Adjektiv und Verb. Es besteht also eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen den Partizipien der beiden Sprachen. So wird das Partizip im Hebräischen zwar vom Verb her gebildet, Feminin und Plural werden aber wie andere Nomina flektiert.2 Ebenso wird das lateinische Partizip vom Verb abgeleitet, stimmt in seiner Flexion im Feminin und Plural aber ebenfalls mit dem Adjektiv überein.3 Einige Partizipien des Perfekts, seltener des Präsens, können durch ihre Fähigkeit zur Steigerung4 und Adverbbildung5 sogar weitgehend als Adjektive betrachtet werden. 1 Im Ivrit wird das Partizip sogar regulär als Ausdruck des Präsens gebraucht. Vgl. Gesenius, W. / Rödiger, E. (141846): Hebrew Grammar. Translated by T. J. Conant. Philadelphia, 110. Im Hebräischen gibt es keine eigenen Formen für das Neutrum. 3 Vgl. Menge, H. (42009): Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. Völlig neu bearbeitet von Thorsten Burkard und Markus Schauer. Darmstadt, 44. 4 Vgl. ebd., 67. 5 Vgl. ebd., 44. 2 1 Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments Das hebräische Partizip ist dem Adjektiv jedoch formal zwar ähnlich, syntaktisch aber nicht mit ihm identisch.6 Es hat nämlich auch verbale Funktionen: Zum einen unterscheidet sich das hebräische Partizip vom Adjektiv dadurch, dass es auch Objekte zu sich nehmen kann. Es verfügt dann über die gleiche Rektion wie das Verb, von dem es abgeleitet ist.7 Eine Besonderheit des Hebräischen ist dabei, dass das Partizip diese Objekte – wie das finite Verb – auch in Form von „Verbalsuffixen“ zu sich nehmen kann ( ַה ְמ ַאזּ ֵ ְ֣רנִי8). Das hebräische Partizip wird in diesem Beispiel dadurch, dass es trotz des Verbalsuffixes wie ein Nomen einen Artikel trägt, noch besonders als „Mischform“ aus Nomen und Verb herausgestellt.9 Im Lateinischen dagegen können Partizipien zwar auch Objekte zu sich nehmen und haben dadurch Verbalcharakter10, jedoch verfügt das Lateinische weder über Verbalsuffixe noch über Artikel. Das letzte hebräische Beispiel kann daher nicht „exakt“ ins Lateinische übertragen werden; Hieronymus übersetzt Deus qui praecingit me.11 Der Inhalt der Aussage wird in dieser Übersetzung zwar nicht stark beeinträchtigt, der Stil ändert sich jedoch deutlich: Denn zum einen geht der nominale Charakter des hebräischen Partizips, auch durch den ersatzlosen Verlust des hebräischen Artikels, gänzlich zugunsten eines finiten Verbs verloren, zum anderen ist der Relativsatz deutlich länger. Letzteres ist gerade in der Dichtung, also auch für die Psalmen, nicht zuletzt aus metrischen Gründen von erheblicher Bedeutung. Darüber hinaus hat das hebräische Partizip auch deswegen verbalen Charakter, weil es anders als ein Adjektiv eine Eigenschaft oder einen Zustand nicht einfach „feststellt“, sondern entweder zeigen soll, dass etwas im Ablauf einer Handlung ist oder aber einen Zustand darstellen soll, der sich aus einem abgelaufenen Vorgang ergeben hat.12 Dabei dient zur Wiedergabe einer Dauerhandlung meist das Partizip Aktiv Qal beziehungsweise das Partizip von Aktivstämmen13 und zur Zustandsbeschreibung meist das Partizip Passiv Qal beziehungsweise das Partizip von Passivstämmen.14 Das hebräische Partizip hat also einen durativen Aspekt, wobei es durativ im Sinne von „gerade etwas tun“, aber auch im Sinne von „etwas gewöhnlich oder berufsmäßig tun“ sein kann.15 Im Lateinischen dagegen gibt es sehr wohl einen Unterschied zwischen der Berufsbezeichnung und dem Partizip. So steht iudicans („richtend“) neben iudex („Richter“). Weiterhin kann das hebräische Partizip in seinem durativen Aspekt alle Zeitstufen in Vergangenheit, 6 Vgl. Meyer, R. (1992): Hebräische Grammatik. Berlin, 65. Vgl. Gesenius 250. 8 S. Elliger, K. / Kittel, R. / Rudolph, W. (41990): Biblia Hebraica Stuttgartensia. Stuttgart, Ps 18,33. Im Folgenden werde ich bei Verweisen auf dieses Werk die Abkürzung „BHS“ neben der Angabe von Buch und Vers verwenden. 9 Vgl. Meyer 66. 10 Vgl. Rubenbauer, H. / Hofmann, J. B. / Heine, R. (Bearb.) (111989): Lateinische Grammatik. München, 207 f.. 11 S. Gryson, R. / Weber, R. (52007): Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta. Stuttgart, Ps 17,33. Im Folgenden werde ich bei Verweisen auf dieses Werk die Abkürzung „BSV“ neben der Angabe von Buch und Vers verwenden. 12 Vgl. Meyer 65. 13 Vgl. ebd.. 14 Vgl. ebd. 65 f.. 15 Vgl. Gesenius 249. 7 2 Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments Gegenwart und Zukunft ausdrücken16, und zwar gänzlich selbstständig: Es ist nämlich nicht nur zeitstufenlos, sondern auch im zeitlichen Verhältnis zum finiten Verb beziehungsweise Kontext nicht gebunden.17 Die Form באkann also in jedem Kontext mit „kommend“ (so zumeist), „gekommen seiend“ (vgl. beispielsweise שׂ ָרה֙ ז ְ ֵק ִ֔נים בּ ִ ָ֖אים ַבּיּ ִ ָ֑מי ָ וְאַב ְָר ָ ֤הם ְו18) oder „kommen werdend“ (vgl. beispielsweise ִהנֵּה֙ י ִ ָ֣מים בָּאִ֔ ים וְגָ ֽדַ עְתִּ ֙י19) übersetzt werden.20 Das hebräische Partizip verbindet also gewissermaßen das lateinische Partizip Präsens Aktiv, Partizip Perfekt Passiv und Partizip Futur Aktiv in einer Form. Es kann daher jedoch nicht ebenso offen in ein lateinisches Partizip übertragen werden. Zur Veranschaulichung seien Hieronymus‘ verschiedene Umsetzungen des im Hebräischen immer gleichen Partizips באangeführt: Meist übersetzt Hieronymus dieses Partizip mit einem Partizip Präsens Aktiv, in Gen 18.11 setzt er es jedoch mit einem Partizip Perfekt Passiv um (erant autem ambo senes provectaeque aetatis21). Bleibt die Übersetzung auch beim Partizip, muss sich Hieronymus im Lateinischen doch auf eine bestimmte „Art“ des Partizips festlegen. Noch interessanter ist Hieronymus‘ Übertragung des hebräischen Partizips ins Lateinische in 1Sam 2,31 durch ecce dies veniunt.22 Denn hier ist das Partizip im Hebräischen nicht eindeutig präsentisch oder futurisch zu verstehen; Hieronymus dagegen löst diese interessante Doppeldeutigkeit (gezwungenermaßen) auf und legt das Tempus auf das Präsens fest. Dadurch geht allerdings nicht nur die philosophische Ambivalenz der Aussage verloren, sondern es stellt sich auch die Frage, ob ein Futur an dieser Stelle nicht sinnvoller gewesen wäre, da der Kontext eine Prophezeiung darstellt. In jedem Fall wird hier aber deutlich, dass eine Übersetzung eines hebräischen Partizips in das Lateinische nicht direkt möglich ist, sondern immer eine Einschränkung des Interpretationsspielraums der Zeitstufe bedeutet, die durchaus problematisch sein kann. In Bezug auf Zeitstufe und Relation bestehen nämlich generell bedeutende Unterschiede zwischen lateinischem und hebräischem Partizip. Grundsätzlich ist zwar auch das lateinische Partizip durativ und hat damit sogar eine Art „Aspekt“: So bezeichnet das Partizip Präsens Aktiv die mit der Haupthandlung gleichzeitige oder andauernde Handlung23, wobei sein durativer Charakter sogar so bedeutsam ist, dass es, würde es nur eine vorübergehende Eigenschaft bezeichnen, durch einen Relativsatz ersetzt wird.24 Ebenso bezeichnet auch das Partizip Perfekt (Passiv oder Deponens) die zur Haupthandlung vorzeitige oder vor der Haupthandlung vollendete Handlung25, also einen Zustand, der naturgemäß auch durativ ist. 16 Vgl. ebd.. Vgl. ebd.. 18 S. BHS Gen 18.11. 19 S. BHS 1Sam 2,31. 20 Vgl. Meyer 67. 21 S. BSV Gen 18.11. 22 S. BSV 1Sam 2,31. 23 Vgl. Rubenbauer / Hofmann / Heine 208. 24 Vgl. Menge 713. 25 Vgl. Rubenbauer / Hofmann / Heine 208. 17 3 Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments Allerdings unterscheidet sich das lateinische vom hebräischen Partizip dadurch, dass es trotz seiner dem hebräischen Partizip gegenüber vergleichbaren Zeitstufenlosigkeit in seiner Relation nicht unabhängig ist: So drückt das Partizip Präsens Aktiv die Gleichzeitigkeit, das Partizip Präsens Passiv die Vorzeitigkeit und das Partizip Futur Aktiv die Nachzeitigkeit aus. Beim attributiven Gebrauch des lateinischen Partizips wird dies jedoch nicht immer berücksichtigt26, worauf ich gleich noch einmal bei meiner vergleichenden Betrachtung der syntaktischen Verwendung des hebräischen und lateinischen Partizips zurückkommen möchte. Zu dieser möchte ich hiermit übergehen. Funktionen des Partizips im Satz Das hebräische Partizip kann – anders als das lateinische Partizip – grundsätzlich jeden Satzteil vertreten.27 So kann das hebräische Partizip das Subjekt bilden28 (vgl. מַכֵּ ֥ה ִא֛ישׁ ו ֵ ָ֖מת ֥מ ֹות יוּמָ ֽת29), was im Lateinischen nicht möglich ist: Denn das lateinische Partizip Präsens Aktiv kann trotz seiner häufigen Substantivierung nie das Subjekt eines Satzes sein30 und das Partizip Perfekt Passiv wird – abgesehen vom beinahe schon generell als Adjektiv aufgefassten mortuus – überhaupt fast nur im Plural substantiviert.31 Würde das lateinische Partizip aber die Stelle eines Subjekts einnehmen, wird es durch einen Relativsatz ersetzt.32 Tatsächlich übersetzt auch Hieronymus die als hebräisches Beispiel angeführte Textstelle aus Ex 21,12 mit einem Relativsatz (qui percusserit hominem volens occidere morte moriatur33). Außerdem kann das hebräische Partizip als Akkusativobjekt fungieren34 (vgl. וַאֲ בָ ֲֽרכָה֙ מְ ָ ֣ב ְר ֶ֔כיָך35). Auch das lateinische Partizip kann zwar grundsätzlich die Position eines Akkusativobjekts einnehmen, als Partizip Präsens Aktiv beispielsweise in der „dominanten Partizipialkonstruktion“ (oder „ab urbe condita-Konstruktion“)36, nach Verben der sinnlichen Wahrnehmung sowie bei facere und inducere in der Bedeutung „in einem Werk, in einem Drama darstellen, auftreten lassen“.37 Allerdings ist es dann anders als das hebräische Partizip nicht einfach ein „neutrales“ Akkusativobjekt, sondern suggeriert einen Nachdruck auf der Wahrnehmung der im Verlauf begriffenen Handlung.38 Das lateinische Partizip Perfekt Passiv findet sich dagegen als Akkusativobjekt – außer bei verba sentiendi, wo es wegen des oft ausgelassenen esse von der AcI-Konstruktion nicht zu unterscheiden ist – fast nur in 26 Vgl. ebd. 210. Vgl. Meyer 69. 28 Vgl. ebd.. 29 S. BHS Ex 21,12. 30 Vgl. Menge 56. 31 Vgl. ebd. 57. 32 Vgl. ebd. 713. 33 S. BSV Ex 21,12. 34 Vgl. Meyer 69. 35 S. BHS Gen 12,3. 36 Vgl. Menge 717. 37 Vgl. Rubenbauer / Hofmann / Heine 212 und Menge 714. 38 Vgl. Rubenbauer / Hofmann / Heine 212. Bei der AcI-Konstruktion liegt der Schwerpunkt dagegen auf dem Inhalt der Verbalhandlung unter Zurücktreten der Sinneswahrnehmung (vgl. ebd.). 27 4 Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments dem militärischen Fachausdruck aliquem missum facere sowie nach habere und tenere.39 Daher wird eine Verwendung des lateinischen Partizips als Akkusativobjekt insgesamt eher gemieden: Auch Hieronymus weicht bei seiner Übersetzung des als hebräisches Beispiel angeführten Ausschnitts aus Gen 12,3 auf den Dativ aus und übersetzt benedicam benedicentibus tibi40, bleibt aber immerhin beim Partizip. Darüber hinaus kann das hebräische Partizip auch als Attribut auftreten41 (vgl. ְו ָה ָי ֥ה כָל־מֹצ ִ ְ֖אי ַיֽה ְַרגֵ ֽנִי42) und richtet sich dabei in Genus, Numerus und Determination nach dem übergeordneten Substantiv. Und auch das lateinische Partizip kann als Attribut fungieren, wobei – wie ich bereits angedeutet habe – für rein attributive Partizipien, die wie ein attributives Adjektiv eine dauernde Eigenschaft oder Tätigkeit (so das Partizip Präsens Aktiv) oder einen durch eine vorangehende Handlung erreichten Zustand (so das Partizip Perfekt Passiv) des Bezugsworts bezeichnen, die Regel von der zeitlichen Abhängigkeit des Partizips vom verbum finitum weniger strenge Geltung hat, da das attributive Partizip weniger in Beziehung zum verbum finitum als zu seinem Bezugswort steht.43 Wenn sie als Attribut fungieren und daher unabhängig vom verbum finitum sind, ähneln sich daher hebräisches und lateinisches Partizip besonders stark. Dennoch wird das attributive hebräische Partizip von Hieronymus meist durch einen Relativsatz wiedergegeben, so auch im als hebräisches Beispiel oben angeführten Auszug aus Gen 4,14: Hieronymus übersetzt es mit omnis igitur qui invenerit me occidet me.44 Ein losgelöstes Partizip wie den lateinischen ablativus absolutus gibt es im Hebräischen – im Gegensatz zu allen sonstigen „Freiheiten“ bei der Verwendung des Partizips – jedoch nicht. Das Partizip als nominales Prädikat: Das Partizip im hebräischen Nominalsatz Schließlich kann das hebräische Partizip auch als nominales Prädikat im Nominalsatz auftreten. Nominalsätze sind dabei Sätze, in denen keine finite Verbform vorkommt, sodass man diese beim Übersetzen gegebenenfalls ergänzen muss. Einen Nominalsatz in einfachster Form zeigt מָלֵ ֥א ְוהַבַּ ֛ י ִת.45 Nominalsätze können als elliptische Sätze zwar auch in anderen Sprachen vorkommen, im hebräischen stellt diese Satzform jedoch kein Stilmittel dar, sondern ist eine allgemein gebräuchliche Ausdrucksweise. Die Verwendung als nominales Prädikat im Nominalsatz ist daher eine genuinhebräische und gleichzeitig besonders wichtige Funktion des hebräischen Partizips, zumal der hebräische Nominalsatz so häufig ist. An dieser Stelle treten auch die bedeutendsten Schwierigkeiten bei der Übersetzung ins Lateinische auf, da es im Lateinischen regelmäßig keine Nominalsätze mit 39 Vgl. ebd. 213. S. BSV Gen 12,3. 41 Vgl. Meyer 69. 42 S. BHS Gen 4,14. 43 Vgl. Rubenbauer / Hofmann / Heine 210. 44 S. BSV Gen 4,14. 45 S. BHS 2Chr 5,13. 40 5 Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments Partizip gibt. Das hebräische Partizip kann im hebräischen Nominalsatz als Prädikat fungieren, indem es ein finites Verb ersetzt. Es nimmt dabei aber nicht die Rolle eines finiten Verbs ein, sondern bildet mit dem Subjekt einen Nominalsatz in der Rolle eines Nomens. Das Partizip wird im Hebräischen nämlich grundsätzlich in erster Linie als Nomen betrachtet, weswegen auch Sätze ohne finite Verform, aber mit Partizip als Nominalsätze behandelt werden. Der nominale Charakter des Partizips wird auch durch seine Konstruktion im Satz, insbesondere durch seine Verneinung, mit Hilfe von Genitivverbindungen deutlich (vgl. beispielsweise ֹוצא אֵ ֥ין ֖ ֵ י46). Im Lateinischen gibt es dagegen zum Partizip im hebräischen Nominalsatz keine Entsprechung. Das lateinische Partizip kann nämlich weder allein als Prädikat auftreten noch könnte es in einer Funktion als Prädikat als Nomen behandelt werden. So kann im Lateinischen nur ein finites Verb als Prädikat fungieren, wozu das lateinische Partizip durch Formen von esse ergänzt werden muss.47 Dabei wird im Lateinischen das Partizip Präsens Aktiv gegenüber der einfachen Form aber auch nur dann verwendet, wenn es in adjektivischer Geltung einen dauernden Zustand bezeichnet.48 Das Partizip Futur Aktiv bildet in dieser Verbindung die coniugatio periphrastica activa, die gegenüber der neutralen, einfachen Form zum Ausdruck einer unmittelbar bevorstehenden, beabsichtigten oder sonst subjektiv gefärbten Zukunft gebraucht wird.49 Nur das Partizip Perfekt Passiv hat mit Formen von esse keine korrespondierende einfache Form und hat daher eine „neutrale“ Aussage.50 Beim Übertragen von hebräischen Partizipien ins Lateinische ist dieses Beifügen von Formen von esse oder aber das Umsetzen in eine finite Verbform deswegen von größter Bedeutung, weil dadurch Tempus und Modus festgelegt werden, der Interpretationsspielraum des hebräischen Partizips also erheblich eingeschränkt wird. Dies kann auch für die Exegese von großer Bedeutsamkeit sein. Als Beispiel hierzu möge Hieronymus‘ Übersetzung von וְ ֹֽלא־אָמַ֗ ר ֭ ַאיּ ֵה אֱֹל֣ ו ַהּ ע ָ ֹ֑שׂי נ ֵ ֹ֖תן ז ְ ִמ ֣ר ֹות בַּלָּ ֽיְלָה51 in non dicit ubi est Deus qui fecit me qui dedit carmina in nocte52 dienen. Zunächst einmal sind an den hebräischen Partizipien mehrere bereits erwähnte, nicht direkt auf ein lateinisches Partizip übertragbare Eigenheiten des hebräischen Partizips erkennbar, nämlich die hebräischen Verbalsuffixe, die im Lateinischen durch ein separates Objekt ausgedrückt werden müssen, die Funktion des hebräischen Partizips als Subjekt(-apposition), die im Lateinischen mit einem Relativsatz umschrieben werden muss und schließlich das Phänomen, dass das hebräische Partizip oftmals eine „Berufsbezeichnung“ ausdrückt. An dieser Stelle soll aber die Funktion des hebräischen Partizips im Nominalsatz im Fokus stehen: 46 S. ebd. Jos 6,1. Vgl. Menge 717. 48 Vgl. Rubenbauer / Hofmann / Heine 212. 49 Vgl. ebd.. 50 Vgl. ebd.. 51 S. BHS Hi 35,10. 52 S. BSV Hi 35,10. 47 6 Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments Auch wenn das Partizip hier nur als “Apposition” steht, ändert das nichts an seiner Funktion im Nominalsatz, da אֱֹל֣ ו ַהּauch fehlen könnte. Hieronymus legt nun das Tempus in seiner lateinischen Übersetzung durch das Ergänzen von est auf das Präsens fest. Dem Sinn nach könnte jedoch auch ein Futur oder ein Vergangenheitstempus stehen, zumal im ganzen weiteren Kontext die Frage behandelt wird, wo Gott angesichts Hiobs Leid war und sein wird. Letztlich wird also nach dem allzeitigen Verhalten Gottes gefragt, was sich im Hebräischen in einer einzigen partizipialen nominalen Phrase zusammenfassen lässt. Meiner persönlichen Meinung nach gehört gerade dieses Vermögen zur Vieldeutigkeit in einer einzigen Form zu den größten Reizen des Hebräischen, die in einer lateinischen Übersetzung verloren gehen müssen. Im Lateinischen muss nämlich die Vielschichtigkeit der hebräischen Aussage, insbesondere der hebräischen Nominalsätze, zumindest reduziert werden, weswegen Bibeltexte durch die lateinische – ebenso wie die lutherisch-deutsche – Brille betrachtet oft urtümlich und sogar primitiv wirken, wo sie es hebräisch (oft) nicht sind. In jedem Fall sollte deutlich geworden sein, dass hebräische Nominalsätze kaum angemessen in das Lateinische übersetzt werden können und dass bedeutende Eingriffe auch inhaltlicher Natur vorgenommen werden müssen. Dies erhält vor dem Hintergrund, dass Nominalsätze im Hebräischen überaus häufig sind, noch einmal ganz besondere Bedeutung. Diese Überlegung möge als Überleitung zum Fazit aus den Beobachtungen dieser Arbeit dienen. Fazit Alles in allem bestehen zwischen hebräischem und lateinischem Partizip trotz vieler Parallelen auch gewichtige Unterschiede in Bezug auf Form und Verwendung. Insgesamt wird das hebräische Partizip weitreichender verwendet, sodass es meist nicht „exakt“ ohne Ergänzungen in das Lateinische übertragen werden kann und eine erhebliche Interpretationsleistung beim Übersetzen unvermeidbar ist. Und natürlich stellen die Schwierigkeiten beim Übersetzen des hebräischen Partizips nur einen kleinen Teil der Probleme, die sich beim Übersetzen vom Hebräischen ins Lateinische stellen, dar. Eine Interpretationsleistung muss zwar bei jedem Übersetzen erfolgen und ist meines Erachtens bei einer entsprechenden Kennzeichnung zumeist auch legitim; sofern jedoch „heilige Schriften“ – also auch Hieronymus‘ Vulgata als einer Übersetzung des hebräischen Tanach – betroffen sind, deren genauer Wortlaut die ethischen und weltanschaulichen Vorstellungen von vielen Menschen prägt, sehe ich das mit dem Übersetzen zwangsläufig einhergehende Auslegen deutlich kritischer. Die Vulgata beispielsweise ist schließlich die Grundlage der Liturgie der Katholischen Kirche, die damit auf einem Text basiert, der – wie ich im Laufe der Arbeit anhand von Beispielen angedeutet habe – gegenüber dem Original bereits gedeutet und dadurch gewissermaßen auch „eingeschränkt“ worden ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich mir persönlich die Frage, welche Konsequenzen diese Erkenntnisse 7 Sophie-Christin Günther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede des hebräischen und des lateinischen Partizips und Hieronymus‘ Übersetzung des Alten Testaments für Religionen haben sollten: Darf man „bibeltreu“ auf der Grundlage einer Übersetzung sein? Sollte die Vulgata als Grundlage für die katholische Liturgie verwendet werden dürfen? Ist eine Übersetzung einer „heiligen Schrift“ überhaupt noch eine „heilige Schrift“? Diese Fragen können und sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden. An dieser Stelle möchte ich jedoch noch festhalten, dass man sich also auch aus linguistischer Perspektive mit „heiligen“ Texten befassen kann und auch sollte, da dies auch für die Exegese „heiliger Schriften“ überaus ergiebig sein kann. Literatur Primärliteratur - Elliger, K. / Kittel, R. / Rudolph, W. (41990): Biblia Hebraica Stuttgartensia. Stuttgart. Gryson, R. / Weber, R. (52007): Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta. Stuttgart. Sekundärliteratur - Gesenius, W. / Rödiger, E. (141846): Hebrew Grammar. Translated by T. J. Conant. Philadelphia. Menge, H. (42009): Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. Völlig neu bearbeitet von Thorsten Burkard und Markus Schauer. Darmstadt. Meyer, R. (1992): Hebräische Grammatik. Berlin. Neef, H. D. (42010): Arbeitsbuch Hebräisch. Materialien, Beispiele und Übungen zum BiblischHebräisch. Tübingen. Rubenbauer, H. / Hofmann, J. B. / Heine, R. (Bearb.) (111989): Lateinische Grammatik. München. 8