Pathobiologie/Pathobiochemie Teil 1 Lektion 1 20.09.10 Einführung und Grundlagen Lektion 2 27.09.10 Gedächtnisstörungen Pathobiologie der Sucht Lektion 3 4.10.10 Lektion 4 11.10.10 Pathobiologie der Sinnesorgane Augenkrankheiten [ Lektion 5 18.10.10 Herz-Kreislaufkrankheiten ] Lektion 6 25.10.10 Pathobiologie des Schmerzes Lektion 7 1.11.10 Neurodegenerative Erkrankungen und andere Erkrankungen des Nervensystems (Selbststudium) Hautkrankheiten 1 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 1 Stoff aus dem Lehrbuch zu Lektion 6 G. Thews, E. Mutschler, P. Vaupel Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie des Menschen (6. Auflage) Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart, 2007. Grundlagen aus der Anatomie/Physiologie: Kapitel 19: Seiten 604-705, 796-813 Schmerz: Kapitel 19: Seiten 706-720 Zusätzliche Literatur: A. Moore, J. Edwards, J. Barden, H. McQuay Bandolier‘s Little Book of Pain Oxford University Press, Oxford 2003 Forum Schmerz, Deutsches Grünes Kreuz: Starke Schmerzen bewältigen 2 25/10/10 http://www.forum-schmerz.de/fileadmin/user_upload/_A-B/Schmerz_bewaeltigen_Broschuere_2009_01.pdf Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 2 (*) Schmerz und Lust “Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure.” — Jeremy Bentham Schmerz−Lust - Inhibition Das sog. Motivations−Entscheidungs-Modell für Schmerzempfindung besagt, dass jedes andere Ereignis mit potentiell grösserer Wichtigkeit als der momentan empfundene Schmerz eine schmerzherabsetzende Wirkung entfaltet. Umgekehrt wird auch die Lustempfindung bei Eintreten eines Ereignisses mit potentiell grösserer Wichtigkeit herabgesetzt. Wichtige Signalsysteme für Motivation und Lust-/Genussempfindung sind das µ-Opioidund das mesolimbische Dopamin-System. a Schmerz und Lustempfindung induzieren beide Opioid-Freisetzung im orbitofrontalen Cortex (OFC), Nucleus accumbens (NAc), ventralen Pallidum (VP) und in der Amygdala (Amy); Schmerz und Lust sind ferner assoziiert mit phasenweisem Dopamin-Signalling aus dem ventralen tegmentalen Areal (VTA) zum NAc und VP, was zu einer Steigerung der Opioid-Ausschüttung aus dem NAc führt. Schmerz ist sowohl assoziiert mit einer Steigerung als auch einer Verminderung des mesolimbischen Dopamin-Signalling. b µ-Opioid-Rezeptor-Antagonisten (z.B. Naloxon), inhibieren die Lustinduzierte Schmerzverminderung. c µ-Opioid-Rezeptor-Agonisten (z.B. Morphin), inhibieren die Schmerzinduzierte Lustverminderung. 3 25/10/10 Literatur: S. Leknes & I. Tracey, Nature Reviews Neuroscience 2008; 9: 314-320 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 3 Literatur: S. Leknes & I. Tracey, Nature Reviews Neuroscience 2008; 9: 314-320 Wichtige Hirnregionen für Schmerz und Lust 4 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 4 Dopamin-Signalling Aristoteles’ goldenes Mittel und phasisches Dopamin-Signalling: Richtiges Gleichgewicht zwischen Lustgewinn und Schmerzvermeidung Die Reaktionsfähigkeit des Dopaminsystems mit phasischem Signalling (d.h. kurzzeitigem neuronalen Feuern) ist wichtig für die Regulation von lust- bzw. schmerzinduziertem Verhalten. Impulsives Verhalten bzw. auch Schizophrenie werden mit einer exzessiven Reaktion des Dopaminsystems erklärt, während Depression, chronischer Schmerz und Lustlosigkeit mit einer verminderten Rekationsfähigkeit des Dopaminsystems in Zusammenhang gebracht werden. 5 25/10/10 S. Leknes & I. Tracey, Nature Reviews Neuroscience 2008; 9: 314-320 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 5 Gliederung der Vorlesung “Schmerz” • Schmerzentstehung Schmerzenstehung, Schmerzkomponenten • Schmerzklassifikation Schmerzbewertung, Schmerztypen, Schmerzqualitäten • Neurophysiologie des Schmerzes Leitung und Verarbeitung der Schmerzsignale, nozizeptives System, Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren), Schmerzleitung Transduktionsmechanismen, zentrale Sensibilisierung, synaptische Übertragung im Rückenmark, endogene Schmerzkontrollsysteme • Klinisch bedeutsame Schmerzen Nozizeptorschmerz, neuropathischer Schmerz, Entzündungsschmerz, Phantomschmerz • Spezielle Schmerzzustände Veränderte Schmerzempfindlichkeit, projizierter Schmerz, Neuralgie, Kausalgie und Phantomschmerz, übertragener Schmerz, Muskeltonus und Muskelschmerz, zentraler Schmerz • Kopf- und Gesichtsschmerzen Cluster-Kopfschmerz, Spannungskopfschmerz, Analgetikainduzierter Schmerz, Trigeminusneuralgie, Migräne • Schmerztherapie Angriffspunkte der Schmerztherapie, Opioide • Molekulare Aspekte der Schmerzkontrolle (Beispiele) Vanilloid-Rezeptoren, Prostaglandine, Cyclooxygenasen, • Krebs und Schmerz Schmerzen bei Knochenkrebs Prostaglandinrezeptoren 6 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 6 * Schmerzentstehung (1) Spezifitätstheorie des Schmerzes Die heutigen Vorstellungen zur Schmerzentstehung im Gewebe gehen davon aus, dass der Schmerz eine eigenständige Sinnesempfindung mit einem dafür speziellen nervösen Apparat von Sinnesrezeptoren (Sensoren), Leitungsbahnen und Zentren ist. Jedes menschliche Gewebe verfügt über spezielle Sensoren, die eine so hohe Schwelle haben, dass sie nur durch gewebsschädigende oder potentiell gewebsschädigende Reize (Noxen) erregt werden. Diese Sensoren werden als Nozizeptoren (Nozisensoren) bezeichnet. Ihre Erregung löst in der Regel Schmerzen aus, die wiederum signalisieren, dass entweder von aussen oder von innen kommende Noxen dem Körper Schaden zuzufügen drohen. 7 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 7 * Nozizeptives System und Nozizeption Nozizeption Die Aufnahme, Weiterleitung und zentralnervöse Verarbeitung noxischer Signale bezeichnet man als Nozizeption, die mit diesen Vorgängen befassten Strukturen als das nozizeptive System. Abgrenzung von Nozizeption und Schmerz Die subjektive Empfindung Schmerz ist häufig eine Folge der Erregung von Nozizeptoren samt der anschliessenden Aktivierung des nozizeptiven Systems. Aber: - Nicht jede Erregung von Nozizeptoren ist zwangsläufig von Schmerzen gefolgt. - Es gibt zahlreiche Schmerzarten, an denen die Erregung von Nozizeptoren nicht beteiligt ist. 8 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 8 * Schmerzentstehung (2) Schmidt, 2002 Schematische Darstellung der Schmerzentstehung über eine Aktivierung des nozizeptiven Systems durch noxische Reize. Diese können entweder direkt auf Nozizeptoren einwirken oder indirekt aus dem umliegenden Gewebe noxische Reize (algetische Substanzen) freisetzen. Die Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung noxischer Signale erfolgt auf allen Ebenen des ZNS. In die resultierende Schmerzbewertung, an der das Schmerzgedächtnis entscheidend beteiligt ist, gehen die verschiedenen Schmerzkomponenten je nach Art des Schmerzes in unterschiedlichem Ausmass ein. 9 25/10/10 Periphere und zentrale Sensibilisierung können die Aufnahme und Verarbeitung noxischer Signale erheblich verändern. Schmidt, Pharmazie in unserer Zeit 2002; 31: 23-30 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 9 * Schmerzkomponenten Zur Schmerzempfindung tragen sensorische, affektive, vegetative, motorische und kognitive Komponenten bei. Sensorische Schmerzkomponente Sie umfasst die Analyse des noxischen Reizes nach Ort, Intensität, Art und Dauer. Affektive Schmerzkomponente Die Schmerzempfindung löst fast immer eine unlustbetonte Emotion in uns aus, wodurch unser Wohlbefinden gestört wird. Besonders bei Tiefenschmerzen und chronischen Schmerzen kann sie sehr ausgeprägt sein. Vegetative Schmerzkomponente Sie umfasst Reaktionen des vegetativen Nervensystems, die durch Schmerzreize ausgelöst werden. Es können sowohl Aktivierungen des sympathischen Nervensystems als auch Reaktionen wie Blutdruckabfall und Übelkeit auftreten. Motorische Schmerzkomponente Sie zeigt sich in Schutzreflexen, durch die das betroffene Körperteil von der Schmerzquelle entfernt wird. Auch Schonhaltungen und Muskelverspannungen sind motorische Schmerzkomponenten. Kognitive Schmerzkomponente (Schmerzbewertung) Der Schmerz wird anhand früherer Schmerzerfahrungen bewertet und nach seiner aktuellen Bedeutung eingestuft. Kognitive Prozesse können Schmerzäusserungen auslösen (psychomotorische Komponente - Mimik, Wehklagen). 10 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 10 * Schmerzbewertung Die Schmerzbewertung (kognitive Schmerzkomponente) geschieht zeitlich parallel mit der Verarbeitung der anderen vier Schmerzkomponenten (sensorisch, affektiv, vegetativ, motorisch). An der Bewertung eines Schmerzes - also ob er mild, unangenehm, beunruhigend, heftig oder unerträglich empfunden wird - haben die sensorischen, affektiven und vegetativen Komponenten des Schmerzes in je nach Schmerzursache und Begleitumständen variierendem Ausmass ihren Anteil: - akute Oberflächenschmerzen: sensorische Komponente im Vordergrund - akute viszerale Schmerzen: vegetative Komponente spielt eine grosse Rolle - chronische Schmerzen: affektive Komponente ausschlaggebend 11 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 11 * Schmerzklassifikation (1) 1. Nach Art der Schmerzentstehung Physiologischer Nozizeptorschmerz Er entsteht, wenn Schmerzen durch die Einwirkung gewebeschädigender Reize auf normales Gewebe ausgelöst werden. Er warnt uns vor Gewebeschädigungen und wir leiten unwillkürlich Gegenmassnahmen ein (z.B. Wegziehen der Hand von heisser Herdplatte). Ein intakter Schmerzsinn ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Körper unversehrt bleibt. Pathophysiologischer Nozizeptorschmerz Er wird durch pathophysiologische Organveränderungen (z.B. bei Entzündungen) ausgelöst. Er ist ein wichtiges Symptom vieler Erkrankungen. Häufig erzwingt er ein Verhalten, das für die Heilung einer Krankheit erforderlich ist (z.B. Ruhigstellen einer verletzten Extremität). Neuropathischer Schmerz Er entsteht durch Schädigung von Nervenfasern. Er ist abnormal, weil er nicht im Dienst der Gefahrerkennung steht. 12 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 12 * Schmerztypen Fölsch / Abb 5.1 Physiologischer Nozizeptorschmerz Der akute Schmerz bei Einwirken eines noxischen Reizes ist ein physiologischer Nozizeptorschmerz mit Warncharakter Pathophysiologischer Nozizeptorschmerz Bei Entzündung oder nach Gewebsläsionen entsteht der Nozizeptorschmerz unter pathophysiologischen Bedingungen, auftretend in Form von Dauerschmerzen und/oder Hyperalgesie (gesteigerte Schmerzempfindlichkeit) und Allodynie (Schmerz auf Reize, die normalerweise nicht schmerzhaft sind; s. spätere Dias). Die Mechanismen der Verarbeitung afferenten Eingangs sind komplexer als beim akuten physiologischen Schmerz. Neuropathischer Schmerz Nach Läsionen des zentralen oder peripheren nozizeptiven Systems entsteht der abnormale neuropathische und/oder zentrale Schmerz. 13 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 13 * Schmerzklassifikation (2) 2. Nach dem Entstehungsort Somatischer Oberflächenschmerz Er entsteht durch noxische Reizung der Haut. Er wird in der Regel als hell und gut lokalisierbar empfunden und klingt nach Aufhören des Reizes ab. Er ist der häufigste physiologische Nozizeptorschmerz. Somatischer Tiefenschmerz Er entsteht in der Muskulatur, den Knochen, den Gelenken und im Bindegewebe. Sein Charakter ist eher dumpf und häufig ist er nicht streng lokalisiert. Pathophysiologischer somatischer Tiefenschmerz ist häufig chronisch. Viszeraler Tiefenschmerz Er bezeichnet den Eingeweideschmerz, der bei Erkrankung innerer Organe auftritt. Er kann dumpf und schlecht lokalisiert sein, kann aber auch kolikartigen Charakter haben. 14 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 14 * Schmerzqualitäten Mutscheler Somatischer Schmerz Die Schmerzempfindung geht von der Haut (Oberflächenschmerz) bzw. den Muskeln, den Gelenken, den Knochen oder dem Bindegewebe aus (Tiefenschmerz). Beim Oberflächenschmerz hat der erste Schmerz einen “hellen Charakter”, ist gut lokalisierbar und klingt nach Aufhören des Reizes schnell ab. Der zweite Schmerz folgt (bei anhaltender Reizung) als “dumpfer” Schmerz mit brennendem Charakter, der schwer zu lokalisieren ist und langsam abklingt. Das bekannteste Beispiel des Tiefenschmerzes ist der Kopfschmerz. Der Tiefenschmerz ist dumpf, schwer lokalsierbar und neigt dazu, in die Umgebung auszustrahlen. Viszeraler Schmerz (Eingeweideschmerz) Der viszerale Schmerz ähnelt in seinem dumpfen Charakter dem Tiefenschmerz. Er tritt u.a. bei Überdehnung der Bauchorgane, bei Spasmen ihrer glatten Muskulatur, bei Mangeldurchblutung und bei entzündlichen Erkrankungen auf. Akuter / chronischer Schmerz Der akute Schmerz hat eine begrenzte Dauer und klingt nach Beseitigung der Noxen rasch ab. Der chronische Schmerz tritt in Form eines Dauerschmerzes oder eines ständig wiederkehrenden Schmerzes auf. 15 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 15 (*) Das nozizeptive System Mutscheler Als Nozizeption werden die objektiven Vorgänge bezeichnet, mit denen das Nervensystem noxische Reize aufnimmt und verarbeitet. An der Nozizeption beteiligte Nervenzellen sind nozizeptive Nervenzellen. Sie bilden zusammen das nozizeptive System. Peripheres nozizeptives System Zentralnervöses nozizeptives System (spinales und thalamokortikales nozizeptives System) Nozizeptoren sind die primärafferenten “ersten” Neurone, die in ihren sensorischen Endigungen im Gewebe noxische Reize aufnehmen. Sie versorgen praktisch alle Organe. Sie aktivieren synaptisch das zentralnervöse nozizeptive System. Vom Kortex und vom Hypothalamus verlaufen Fasern zum Hirnstamm, wo deszendierende Bahnen ihren Ursprung nehmen. Diese hemmen oder verstärken die nozizeptive Verarbeitung im Rückenmark. Links: Nervenzellen und Nervenbahnen des peripheren und zentralen Nervensystems, die noxische Reize aufnehmen und verarbeiten. Rechts: Absteigende Systeme, die die nozizeptive Verarbeitung im Rückenmark hemmen oder bahnen. 16 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 16 * Peripheres nozizeptives System − Nozizeptoren (1) Nozizeptoren bestehen aus nicht-korpuskulären sensorischen Endigungen und langsam leitenden Axonen. Im normalen Gewebe antworten sie nur auf noxische mechanische, thermische und chemische Reize, die auf ihr rezeptives Feld einwirken. Nozizeptive Endigungen im Gewebe sind dünne unmyelinisierte Faserendigungen ohne besondere Strukturmerkmale. Sie sind teilweise von Schwannzellen bedeckt. In den Endigungen findet die Transduktion (Umwandlung von noxischen Reizen in elektrische Potentiale) statt. Die meisten Nozizeptoren besitzen unmyelinisierte Axone (C-Fasern). Ein Teil der Nozizeptoren hat dünn myelinisierte Axone (Aδ-Fasern). Das Aktionspotential entsteht in den Aδ-Fasern am ersten Schnürring. Für C-Fasern unbekannt. 17 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 17 (*) Schmerzleitung Julius & Basbaum, Nature, 2001 Drei verschiedene Typen von Nozizeptoren, die unterschiedliche Schmerzarten weiterleiten: 1. Aα,β: myelinisierte afferente Nerven mit grossem Durchmesser Geschwindigkeit 2. Aδ: myelinisierte afferente Nerven mit geringem bis mittlerem Durchmesser 6-24 m/s 3. C: nicht-myelinisierte afferente Nerven mit geringem Durchmesser 1.0 m/s 18 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 18 * Nozizeptoren (2) Das rezeptive Feld eines Nozizeptors ist das Areal, von dem aus die Nervenfaser durch noxische Reize erregbar ist. Im Bereich des rezeptiven Feldes liegt eine sensorische Endigung. Im normalen Gewebe werden Nozizeptoren nur durch intensive Reize erregt. Daher nennt man sie auch hochschwellige Rezeptoren. Die meisten Nozizeptoren sind polymodal, weil sowohl noxische mechanische Reize (z.B. starker Druck oder Quetschung), als auch noxische thermische Reize (Temperatur > 43°C) und chemische Reize Aktionspotentiale auslösen. Mechanonozizeptoren sprechen nur auf eine Modalität an. Eine Untergruppe der Nozizeptoren besteht aus sensorischen Nervenfasern, die unter normalen Bedingungen weder durch mechanische noch durch thermische Reize zu erregen sind. Ein Teil dieser Nozizeptoren ist chemosensitiv. 19 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 19 (*) Struktur von Nozizeptoren Schmidt, 2002 Schematische Darstellung der Ultrastruktur von Nozizeptoren Die afferenten Nervenfasern von Nozizeptoren sind teils dünn myelinisiert (Gruppe III- oder Aδ-Fasern), teils unmyelinisiert (Gruppe IV- oder C-Fasern). Links ist zu sehen, dass sich die Terminalen nach Austritt aus dem Perineurium vielfach im Gewebe verzweigen. Jede Endigung bildet in regelmässigen Abständen perlschnurartige Verdickungen aus. 20 25/10/10 Die vergrösserten Ausschnitte rechts im Bild zeigen, dass die umgebenden Schwann-Zellen an den „Perlen“ und der jeweiligen Endknospe Membranareale der Nozizeptoren frei lassen, so dass diese in unmittelbaren Kontakt mit der Umgebung treten können. Diese freien Areale bilden wahrscheinlich die reizaufnehmenden Strukturen (Transduktionsareale) der Nozizeptoren. Polymodale Nozizeptoren: sprechen sowohl auf intensive mechanische und thermische (Hitze, Kälte) als auch auf chemische noxische Reize an. Unimodale Nozizeptoren: sprechen auf nur eine Reizart an, z.B. thermische oder mechanische. Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 20 * Struktur und Antworteigenschaften von Nozizeptoren A. Schematischer Längs- und Querschnitt der sensorischen Endigung einer nozizeptiven C-Faser. Das Axon ist von Schwannzellen bedeckt, aber in den Auftreibungen hat das Axon direkten Kontakt zur Umgebung. B. Schematische Darstellung eines Nozizeptors mit zwei rezeptiven Feldern. Bei Reizung der rezeptiven Felder werden Aktionspotentiale ausgelöst, die am Axon abgegriffen werden können. Die elektrische Reizung des Axons dient der Bestimmung der Leitungsgeschwindigkeit. C. Antworten eines Nozizeptors auf noxischen Druck, noxische Hitze und chemische Reizung mit Bradykinin. 21 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 21 * Transduktionsmechanismen in Nozizeptoren Die Erregung von Nozizeptoren durch noxische Reize entsteht durch Aktivierung von Ionenkanälen und Rezeptoren in der sensorischen Endigung der Nozizeptoren. Transduktion noxischer mechanischer Reize Es wird vermutet, dass mechanische Reize einen Kationenkanal in der Membran öffnen und dadurch die Endigung depolarisieren. Genauer Öffnungsmechanismus unbekannt. Transduktion von Hitzereizen Ein für die Aufnahme von Hitzereizen wichtiges Molekül ist der Vanilloidrezeptor (VR1; TRPV1). Er wird durch die Substanz Capsaicin aktiviert, die im Pfeffer enthalten ist (Brennschmerz). Bindet Capsaicin an den Rezeptor, wird ein Kationenkanal geöffnet, durch den ein Einwärtsstrom mit depolarisierender Wirkung fliesst. Dieser Ionenkanal wird durch Hitzereize geöffnet (Hitzetransduktionsmolekül). Chemosensibilität von Nozizeptoren Über Rezeptoren in der sensorischen Endigung der Nozizeptoren aktivieren oder sensibilisieren Gewebsmediatoren, z.B. Entzündungsmediatoren wie Bradikinin und Prostaglandine die nozizeptiven Endigungen. Viele Rezeptoren sind an G-Proteine gekoppelt (Second Messenger Öffnung von Ionenkanälen). Manche Rezeptoren sind direkt mit Ionenkanälen assoziiert (z.B. für Serotonin). Säure-sensitive Ionenkanäle Für die Chemosensibilität sind auch natriumpermeable Ionenkanäle von Bedeutung, die bei niederen pHWerten geöffnet werden. Entzündliche Exsudate haben häufig niedere pH-Werte. 22 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 22 * Transduktionsmechanismen in Nozizeptoren Mutschler Ionenkanäle und Rezeptoren für Mediatoren in Nozizeptoren 23 25/10/10 Oben: Darstellung der Rezeptoren für Mediatoren. Unten: Darstellung der vermuteten Ausstattung an Ionenkanälen. Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 23 * Transduktionsmechanismen in Nozizeptoren Transduktion mechanischer, chemischer und thermischer noxischer Reize an polymodalen Nozizeptoren Die Figur zeigt die terminale Knospe eines Nozizeptors, worin die meisten der zur Zeit bekannten Transduktionsmechanismen eingezeichnet sind. Ferner findet sich Mechanismen von Sensibilisierung und Desensibilisierung. Individuelle Nozizeptoren enthalten jeweils nur einen grösseren oder kleineren Teil der Membrankanäle und Membranrezeptoren. Schmidt, Pharmazie in unserer Zeit 2002; 31: 23-30 24 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 24 (*) Efferente Funktion von Nozizeptoren Über die Freisetzung von Peptiden im Gewebe erzeugen Nozizeptoren eine neurogene Entzündung. Neurogene Entzündung Werden Nozizeptoren gereizt, kommt es im von ihnen innervierten Gewebe häufig zu lokalen Änderungen der Durchblutung und der Gefässpermeabilität. Neuronal bedingte Entstehung der Symptome. Diese efferente Funktion entsteht durch Freisetzung verschiedener Substanzen (z.B. Substanz P, CGRP) aus den peripheren Endigungen. Sie trägt zur Entstehung vieler entzündlicher Gewebeveränderungen bei. Interaktion mit dem Immunsystem Neben Vasodilatation und Permeabilitätserhöhung wird durch die Freisetzung von Neuropeptiden aus Nozizeptoren auch die Tätigkeit von Mastzellen und Immunzellen beeinflusst. Über diesen Weg kann das Nervensystem mit dem Immunsystem kommunizieren. 25 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 25 (*) Zentrale Sensibilisierung Fölsch / Abb 5.4 Sensibilisierung eines nozizeptiven Neurons des Rückenmarks (zentrale Sensibilisierung). Bei normalem Gewebe (a) ist die dargestellte Nervenzelle des Rückenmarks nur von dem mit einem Kreis gekennzeichneten Areal (dem rezeptiven Feld des Neurons) zu erregen. Bei Druck auf die Stellen 2 und 3 treten Aktionspotenziale auf. Die Aktivierung von umgebenden Zonen (Stimulation der Stellen 1 und 4) führt nicht zu Aktionspotenzialen. Nach Ausbildung einer Entzündung im rezeptiven Feld (gepunktetes Areal; b) nimmt die Antwort auf mechanische Reizung des entzündeten Areals zu. Darüber hinaus werden die Antworten auf angrenzendes Gewebe verstärkt (Reiz an Stelle 3), und auch bei Reizung des umgebenden Gewebes (Reizung an Stellen 1 und 4) werden Antworten ausgelöst. Das rezeptive Feld zeigt eine Expansion. Das rezeptive Feld ist im übernächsten Dia definiert. 26 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 26 (*) Das spinale nozizeptive System Mutschler Nozizeptive Rückenmarkzellen bilden zum Thalamus und Hirnstamm aufsteigende Bahnen (Vorderseitenstrangbahn: Tractus spinothalamicus und Tractus spinoreticularis). Die aufsteigenden Bahnen des nozizeptiven Systems aktivieren das thalamokortikale System, das die bewusste Schmerzempfindung erzeugt. Zerstörung der Vorderseitenstrangbahn führt zu Störungen der Schmerz- und Temperaturempfindung. Motorische Reflexe Über nozizeptive Interneurone werden durch noxische Reize Motoneurone erregt und motorische Reflexe ausgelöst. Sie sind die Grundlage der motorischen Schmerzkomponente (Wegziehreflex). Vegetative Reflexe Noxische Reize rufen auch vegetative Reflexe hervor, die die vegetative Schmerzkomponente darstellen. 27 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 27 (*) Nozizeptive Spinalneurone Rezeptive Felder spinaler nozizeptiver Neurone Das rezeptive Feld einer Rückenmarkzelle ist das Areal, von dem aus das Neuron erregt werden kann. Da viele Nozizeptoren auf eine nozizeptive Zelle des Rückenmarks konvergieren, ist das rezeptive Feld eines Rückenmarkneurons grösser als das rezeptive Feld eines Nozizeptors. Konvergenzmuster nozizeptiver Neurone Zahlreiche nozizeptive Rückenmarkzellen erhalten ausschliesslich konvergenten Einstrom von Hautnozizeptoren. Dieses Subsystem dient der Erzeugung des Oberflächenschmerzes. Nozizeptoren aus dem Tiefengewebe (Gelenke, Muskulatur) enden synaptisch an Rückenmarkzellen, die zusätzlich Einstrom von Hautnozizeptoren erhalten. Diese Zellen sind durch noxische Reizung des Tiefengewebes und der Haut erregbar. Dagegen werden andere Rückenmarkzellen nur durcch Nozizeptoren des Tiefengewebes aktiviert. Sie sind spezifisch für den somatischen Tiefenschmerz. Alle Rückenmarkzellen, die von viszeralen Nozizeptoren synaptisch aktiviert werden, erhalten zusätzlich afferenten Eingang von der Haut und/oder dem Tiefengewebe. Übertragener Schmerz Die starke Konvergenz von Nozizeptoren auf Rückenmarkneurone kann zur Folge haben, dass der Schmerz trotz eines fokalen Krankheitsprozesses diffus und ausgedehnt empfunden wird. Sie kann sogar dazu führen, dass der Ort der Schmerzentstehung falsch interpretiert wird. Bei einer viszeralen Erkrankung wird der Schmerz häufig nicht dort empfunden, wo er entsteht, sondern er wird in das somatische Areal übertragen, dessen Afferenzen in denselben Segmenten wie die viszeralen enden (z.B. bei Ischämie des Herzens Schmerz im linken Arm). 28 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 28 Konvergenz von nozizeptiven Afferenzen Grün: aszendierende Rückenmarkneurone mit verschiedenen Eingängen. Rot: Nozizeptoren aus verschiedenen Geweben 29 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 29 (*) Synaptische Übertragung im Rückenmark Mutschler Die synaptische Erregung von nozizeptiven Rückenmarkzellen erfolgt durch die Freisetzung von Glutamat. Neuropeptide und andere Mediatoren modulieren die synaptische Übertragung. Eine Rückenmarkzelle erhält erregende Eingänge von einem Mechanorezeptor (Aδ-Faser), einem Nozizeptor (C-Faser) und hemmende Eingänge von einem Interneuron. Unten dargestellt sind Rezeptoren für diese Mediatoren in der postsynaptischen Membran. 30 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 30 Thalamokortikales nozizeptives System Die Erzeugung einer bewussten Schmerzempfindung ist von der Aktivierung des thalamokortikalen Systems abhängig. Im Schlaf ist die Weiterleitung sensorischer Information vom Thalamus zum Kortex blockiert. Nur wenn sich das thalamokortikale System im Wachzustand befindet, empfinden wir Schmerzen. Starke Schmerzreize aktivieren das aufsteigende retikuläre System, so dass wir aufgeweckt werden. In Narkose ist die bewusste Wahrnehmung von Schmerzreizen aufgehoben. Die nozizeptiven Vorgänge in Primärafferenzen und im Rückenmark werden dagegen nicht ausgeschaltet. Moderne Narkose: Kombination von Schmertherapie und Ausschaltung des Bewusstseins. Laterales thalamokortikales System Sensorisch-diskriminative Schmerzkomponente Mediales thalamokortikales System Affektive Schmerzkomponente, Gedächtnisbildung, Schmerzreizen Aufmerksamkeitsreaktionen bei 31 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 31 (*) Endogene Schmerzkontrollsysteme Mutschler Deszendierende Bahnen - vermitteln deszendierende Hemmung - PAG (periaquäduktales Grau) hat Schlüsselrolle - Stimulation des PAG kann eine totale Analgesie erzeugen Durch die deszendierende Hemmung wird die Schwelle der Rückenmarkneurone angehoben und ihre Antworten auf noxische Reize werden abgeschwächt (endogenes antinozizeptives System). Endogene Opioide wie Endorphine, Endomorphine, Enkephaline und Dynorphine sind wichtige Mediatoren des endogenen antinozizeptiven Systems. Freisetzung der endogenen Opioide und Aktivierung der Opioidrezeptoren hemmt neuronale nozizeptive Aktivität. 32 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 32 (*) Klinisch bedeutsame Schmerzen Klinisch bedeutsame Schmerzen sind häufig Schmerzen, die uns eine Krankheit anzeigen. Ohne warnende Schmerzen können Krankheiten lange Zeit unbemerkt bleiben (z.B. Krebserkrankungen). Schmerzen erzwingen ein Verhalten, dass Heilung fördert. Klinisch bedeutsame Schmerzen entstehen nicht nur durch eine einfache Aktivierung des nozizeptiven Systems, sondern hierbei spielen Prozesse der Neuroplastizität eine grosse Rolle. Pathophysiologische Nozizeptorschmerzen (Entzündungsschmerzen) Die Erkrankung eines Organs (z.B. Entzündung) führt zu charakteristischen Schmerzerscheinungen, nämlich zu Hyperalgesie und Ruheschmerzen. Eine Hyperalgesie ist häufig nicht auf den Ort der Schädigung begrenzt, sondern sie umfasst auch eine Zone im gesunden Gewebe um den Krankheitsherd herum. Kutane Hyperalgesie: Sonnenbrand (thermische und mechanische Hyperalgesie) Algesie im tiefen Gewebe: Bewegungsschmerz bei Gelenkentzündung Neuropathische Schmerzen Neuropathische Schmerzen entstehen durch Schädigung von Nervenfasern (z.B. Druck einer Bandscheibe auf Hinterwurzeln oder bei Diabetes mellitus). Solche Schmerzen sindhäufig bohrend, brennend, einschiessend und stehen oft in keinem Zusammenhang zu einem noxischen Reiz. Sie werden als abnormal empfunden. Hyperalgesie und Allodynie kann beobachtet werden. Phantomschmerz (Entfernung eines Nervenastes), zentrale Schmerzen (Schädigung im ZNS) 33 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 33 (*) Erscheinungsformen klinischer Schmerzen Symptom Definition Hyperalgesie Stärkere Schmerzempfindung als normal bei schmerzhafter Reizung; Senkung der Schmerzschwelle, so dass normalerweise nicht-schmerzhafte Reizintensitäten als schmerzhaft empfunden werden (Allodynie) Thermische Hyperalgesie Erhöhte Schmerzempfindlichkeit für thermische Reize Mechanische Hyperalgesie Erhöhte Schmerzempfindlichkeit für mechanische Reize Primäre Hyperalgesie Hyperalgesie im Bereich einer Schädigung bzw. Erkrankung Sekundäre Hyperalgesie Hyperalgesie im gesunden Gewebe ausserhalb des Krankheitsherdes Allodynie Auftreten von Schmerzen durch Berührungsreize Ruheschmerzen Spontane Schmerzen ohne willkürliche mechanische oder thermische Reizung 34 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 34 * Entzündungsschmerzen Periphere Mechanismen A. Bindung und Freisetzung von Entzündungsmediatoren aus Entzündungszellen, Thrombozyten und dem Plasma. Diese bilden im Bereich der sensorischen Nervenendigung ein entzündliches chemisches Milieu. B. Senkung der Antwortschwelle eines Nozizeptors im Laufe des Sensibilisierungsprozesses: Die Nervenendigung wird so empfindlich für mechanische und thermische Reize, dass auch normalerweise nicht nicht noxische Reize die Faser erregen. Sensibilisierung eines Nozizeptors bei Entzündung 35 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 35 (*) Phantomschmerz Ursache Phantomschmerz ist eine neuropathische Schmerzkrankheit, die nach Amputation oder Verlust eines Körperteils auftritt. Hierbei wird der Schmerz bizarrerweise gerade in dem fehlenden Körperteil empfunden. Der Schmerz ist extrem unangenehm, tritt episodenhaft auf und wandert häufig in der fehlenden Extremität von distal nach proximal. Pathophysiologie Beim Phantomschmerz liegt eine pathologische Aktivierung des nozizeptiven Systems vor, verbunden mit neuroplastischen Veränderungen im Kortex. Am Nervenstumpf können ektopische Entladungen entstehen, die das nozizeptive System inadäquat aktivieren. Zusätzlich zeigt der Kortex eine Reorganisation, bei der die somatotopischen Areale der fehlenden Extremität von benachbarten Körperteilen aus aktiviert werden können. Hierdurch kann es zu pathologischen Aktivierungen kommen, die in die fehlende Extremität projiziert werden. Therapie In den Fällen, in denen ektopische Entladungen aus dem Nervenstumpf die Schmerzattacken verursachen, kann die Applikation eines Lokalanästhetikums in nahegelegene Nerven oder Plexus vorübergehend Schmerzlinderung erzielen. 36 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 36 Schmerzchronifizierung durch Lernprozesse Lernprozesse können zur Persistenz von Schmerzen führen. Kortikale Lernprozesse Ein Schmerzreiz kann wie viele andere Reize zu kortikalen Lernprozessen führen. Typisch für kortikale Lernprozesse ist Assoziation. Sowohl in Vorgängen der klassischen als auch der operanten Konditionierung wird der Schmerz mit anderen Erlebnisinhalten in Verbindung gebracht. Ein Schmerzpatient kann die Erfahrung machen, dass er wegen seines Schmerzes deutlich mehr Zuwendung erfährt oder dass z.B. Rückenschmerzen ehrer als Begründung für Arbeitsunfähigkeit akzeptiert werden als ein persönlicher Leistungsverlust (positive Verstärkung des Schmerzes). Dissoziation von Nozizeption und Schmerz Bei akuten Schmerzen besteht meist eine gute Korrelation zwischen Nozizeption und Schmerz. Das Ausmass des Schmerzes wird vom Ausmass der Nozizeption bestimmt. Kommt es durch Schmerzempfindung zu Lernprozessen, verliert der Schmerz mehr und mehr die ursprüngliche Funktion (Warnung vor Gewebeschädigung). Dem Schmerz wird eine psychologische Bedeutung zugemessen. Häufig sind dem Patienten Lernprozesse nicht bewusst. 37 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 37 * Spezielle Schmerzzustände (1) H Allodynie ist eine Schmerzempfindlichkeit der Haut bei Einwirkung von normalen mechanischen oder thermischen Reizen, die auf eine inadäquate Reaktion der Nozizeptoren auf nichtnoxische Reize zurückzuführen ist. H Hyperalgesie ist eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit bei Einwirkung noxischer Reize, verursacht durch Sensibilisierung der Nozizeptoren (z.B. beim Sonnenbrand). H Hyperpathie ist eine veränderte Schmerzempfindlichkeit, die dadurch charakterisiert ist, dass der Schmerz verzögert einsetzt, dann verstärkt auftritt und schliesslich den Reiz längere Zeit überdauert. H Hypoalgesie ist eine verminderte Schmerzempfindlichkeit bei Einwirkung von noxischen Reizen. H Analgesie ist Schmerzlosigkeit, wie sie in der Regel bei Durchtrennung oder Blockade eines Hautnerven zu beobachten ist. H Anästhesie ist eine Unempfindlichkeit in Bezug auf alle Sinnesmodalitäten. H Parästhesie ist eine Missempfindung (z.B. Kribbeln, Stechen, Taubheitsgefühl in der Haut), die bei partieller Schädigung oder bei gestörter Blutversorgung sensibler Nervenbahnen auftritt. 38 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 38 * Spezielle Schmerzzustände (2) Projizierter Schmerz entsteht z.B. bei heftiger mechanischer Reizung des am Ellenbogen oberflächlich verlaufenden N. ulnaris, wobei es bekanntlich zu schwer beschreibbaren Missempfindungen im Versorgungsgebiet dieses Nerven kommt. Neuralgie entsteht bei fortgesetzter Reizung eines Nerven oder einer Hinterwurzel, die sich in phasen- oder attackenweise auftretenden Schmerzen äussert und die ebenfalls so empfunden werden, als ob sie im jeweiligen Versorgungsgebiet ausgelöst worden wären. Kausalgie. Bei schweren Nervenverletzungen, insbesondere bei Schussverletzungen, treten häufig quälende Schmerzen im zugehörigen Versorgungsgebiet auf. 39 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 39 * Spezielle Schmerzzustände (3) Übertragener Schmerz Reizung von Nozizeptoren der Eingeweide wird oft nicht als Eingeweideschmerz, sondern als Schmerz an der Körperoberfläche empfunden. Die Übertragung erfolgt immer in den Abschnitt der Peripherie, der vom selben Rückenmarksegment wie das betroffene Organ versorgt wird. Head-Zonen und ihre Beziehungen zu Organen und Spinalsegmenten. 40 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 40 * Spezielle Schmerzzustände (4) Muskeltonus und Muskelschmerz Zentraler Schmerz Die Reizung viszeraler oder somatischer Nozizeptoren führt gelegentlich zur Erhöhung des Muskeltonus, in Extremfällen zu reflektorischen Dauerkontraktionen, d.h. Muskelverspannungen. Der erhöhte Muskeltonus führt nun seinerseits zu Überempfindlichkeit des Muskels. Mechanische Defekte oder funktionelle Störungen des schmerzvermittelnden Systems im Rückenmark oder Gehirn können Spontanakativität in diesen Strukturen und damit starke Schmerzen auslösen. Beispiele: Thalamussyndrom Bei Schädigung des Thalamus (zerebrale Durchblutungsstörung, Hirntumor) können heftige, auf Analgetika nicht ansprechende Schmerzen in der kontralateralen Körperhälfte mit Sensibilitätsstörungen, Hyperkinesen oder Hemiparesen resultieren. Anaesthesia dolorosa Nach vollständiger Unterbrechung der Nervenleitung (z.B. nach Spinalnervenwurzelausriss) kann sich trotz völligen Ausfalls der Oberflächensensibilität im gleichen Areal ein lokaler Schmerz einstellen. 41 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 41 * Kopf- und Gesichtsschmerzen H Migräne. Unter einer Migräne versteht man chronisch-rezidivierende, anfallsweise auftretende, häufig (aber nicht obligat) halbseitig, bevorzugt bei Frauen vorkommende Kopfschmerzen wechselnder Häufigkeit, Stärke und Dauer. Die Prävalenz beträgt ca. 10% (Verhältnis Frauen zu Männer 3:1). Die Ursache ist nicht bekannt. H Cluster-Kopfschmerz (Bing-Horton-Syndrom) ist durch - häufig aus dem Schlaf heraus auftretende - streng einseitige Kopfschmerzattacken von unerträglich bohrendem und brennendem Charakter mit einer Dauer zwischen 20 Min. und 2 Std. gekennzeichnet. Das Maximum der Schmerzempfindung liegt dabei im Bereich um das Auge und dahinter. H Spannungskopfschmerz ist charakterisiert durch beidseitig auftretende Kopfschmerzen, dumpf-drückend und vorwiegend im Nacken oder Hinterkopf empfunden (keine Übelkeit, kein Erbrechen oder Sehstörungen). Die Schmerzintensität ist meist mittelstark. H Analgetika-induzierter Kopfschmerz. Chronischer Schmerzmittelgebrauch kann zu dumpfdrückenden Dauerkopfschmerzen führen, die meist beim Aufwachen vorhanden sind und den ganzen Tag über bestehen bleiben. Pathogenetisch wird eine Erniedrigung der zentralen Schmerzschwelle angenommen. H Trigeminusneuralgie ist gekennzeichnet durch anfallsweise, vorwiegend im Bereich des 2. und 3. Trigeminusastes auftretende, einseitige, sehr heftige, bohrende oder schneidende, aber nur kurz (Sekundenbruchteile, max. 1-2 Min.) dauernde Schmerzen. Andere sensorische oder motorische Störungen bestehen nicht. Typische Auslöser sind Berührungs- oder Kältereize sowie Sprechen oder Kauen. 42 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 42 (*) Migräne 43 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 43 (*) Migräneaura Flimmerskotom 44 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 44 Schmerztherapie (1) Zahnarzt (Lucas von Leyden, 1523) 45 25/10/10 Heilmeister (Du Sart, 1695) Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 45 (*) Schmerztherapie (2) Schmidt, 2002 Angriffspunkte bei einer Schmerztherapie Übersicht über mögliche pharmakologische Angriffspunkte auf peripherer, spinaler und supraspinaler Ebene bei akuten und chronischen Schmerzen. Oben ist der Entstehungsweg von Nozizeptorschmerzen zu sehen, in der Mitte die beteiligten Verarbeitungsprozesse. Unten ist gezeigt, dass eine kausale und quasikausale Therapie von Schmerzen aus Nozizeptorerregung nur im peripheren Gewebe möglich ist. 46 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 46 Schmerztherapie (3) Kuhlen, Pharmazie in unserer Zeit, 1:13-22, 2002 47 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 47 (*) Schmerztherapie (4) Schmidt, 2002 Schmidt, Pharmazie in unserer Zeit 2002; 31: 23-30 Angriffspunkte bei einer Schmerztherapie Verschiedene Angriffspunkte für Therapeutika bietet die Signalweiterleitung vom geschädigten Gewebe über das Rückenmark zum Gehirn. 48 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 48 Molekulare Aspekte der Schmerzkontrolle Zwei Beispiele: • Vanilloid Rezeptor TRPV1 und Liganden • Prostaglandine und Rezeptoren 49 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 49 Vanilloid und TRP-Kanäle Der Vanilloid-Rezeptor VR1 entspricht dem TRP (Transient receptor potential) Subtyp TRPV1: dieser wird z.B. durch Capsaicin (und Strukturanaloge) aktiviert. Die TRPs werden in mind. 3 Klassen von Ionenkanälen eingeteilt (Typen -C, -V und -M). Davon gehören die TRPV1---TRPV6 zu den vanilloid TRPs. TRPV1---TRPV4 werden durch Hitze, Säure u.ä. Signale aktiviert; bei TRPV5 und -6 handelt es sich um Ca2+-Kanäle (ECaC bzw. CAT1). Die Vanilloid-Rezeptoren (bzw. die TRPV) spielen bei der Übertragung von Schmerzsignalen eine wichtige Rolle. Benham et al, Neuropharmacology 2002; 42: 873-888 50 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 50 TRPV1-Kanal und Vanilloide Molecular mechanisms involved in the functioning of TRPV1 in inflammatory conditions. Reduction of the heat threshold of TRPV1 to well below body temperature may be induced by binding of endovanilloids, protons, anandamide, or lipoxygenase products. Posttranslational modifications (removal of phosphatidylinositol-4,5-biphosphate [PtdIns(4,5)P2] and protein kinase C [PKC]-mediated phosphorylation) can also produce this effect. Protein kinase A (PKA)mediated phosphorylation also sensitizes TRPV1. Phosphatidylinositol 3-kinase (PI3K) activity induced by nerve growth factor (NGF) and ATP-binding also potentiates responses evoked by endovanilloids. The molecular mechanisms involved in the functioning of TRPA1 and TRPV4 remain to be elucidated. AC = adenylyl cyclase; ASIC = acid-sensing ion channel; ATP = adenosine triphosphate; EP receptors = receptors for prostaglandin E2; G prot = G protein; 5(S)-HETE = 5hydroxyeicosatetraenoic acid; 15(S)-HETE = 15-hydroxy-eicosatetraenoic acid; 12(S)-HPETE = 12-hydroperoxyeicosatetraenoic acid; 15(S)-HPETE = 15hydroperoxyeicosatetraenoic acid; NAPE-PLD = N-acylphosphotidylethanolamine phospholipase D (involved in anandamide production in primary sensory neurons); PLA = phospholipase A; PLC = phospholipase C; trkA = neurotrophic tyrosine kinase receptor type 1; TRPV1 = transient receptor potential vanilloid type 1 ion channel; 51 questionmark = an unidentified enzyme producing anandamide in a Ca2+-independent manner. 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 51 Vanilloid-Rezeptor-Agonisten Julius D, Basbaum AI. Nature 2001; 413: 203-210 Natürliche und synthetische Vanilloid-Rezeptor-Agonisten Capsaicin (8-Methyl-N-vanillyl-6-nonenamid) ist die aktive Substanz des Chilipfeffers und induziert bei Kontakt in jedem Gewebe einen brennenden Reiz. Capsaicin und Verwandte gehören zu den Capsaicinoiden, die als sekundäre Metaboliten gegen Herbivoren gebildet werden. Capsaicin ist hydrophob, farb- und geruchlos. Anandamid ist ein endogener Lipidmetabolit mit ähnlicher Struktur wie die Arachidonsäure (wurde ursprünglich als Ligand des Cannabis-Rezeptors entdeckt). Olvanil und AM404 sind synthetische Produkte. 15-HPETE ist ein Lipooxygenase-Produkt aus dem Arachidonsäuremetabolismus. 52 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 52 Schaltung des VR1 (TRPV1) Zusammenfassung der Faktoren, welche die Schaltung des Vanilloid-Rezeptors VR1 (TRPV1) zum offenen bzw. geschlossenen Zustand regulieren. Di Marzo et al, Curr Op Neurobiol 2002; 12: 372-379 53 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 53 TRPV1 in der multiplen Thermoregulation Gavva NR, Trends Pharmacol Sci 2008; 29: 550-557 54 25/10/10 TRPV1 as a part of one of the multiple counterbalancing thermoregulators. Multiple tonically active ion channels and/or GPCRs are hypothesized to regulate thermoeffectors in a counterbalancing manner. TRPV1 has a suppressive tone on the body temperature and one of the other TRP channels or GPCRs might counterbalance this effect by an enhancing tone on body temperature. An imbalance caused by an agonist or an antagonist of one of these molecular thermoregulators results in either transient hypothermia or hyperthermia. Still to be identified are which TRP channels or GPCRs are tonically active that might have an enhancing tone on body temperature. Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 54 Prostaglandine R Prostanoide spielen eine vielfältige Rolle: • halten die Integrität der Magenschleimhaut aufrecht • lösen Fieber aus • erhöhen den Blutfluss und die Gefässpermeabilität • aktivieren Nozizeptoren Prostanoide leiten sich von der Arachidonsäure ab und werden durch Cyclooxygenasen (COX) gebildet. COX-1 ist konstitutiv exprimiert und reguliert hauptsächlich die Integrität der Magenschleimhaut sowie die Thrombozytenaggregation. COX-2 wird in verletztem oder entzündetem Gewebe induziert und ist verantwortlich für die proinflammatorische Prostanoidsynthese. COX-3 ist konstitutiv exprimiert, besonders im Gehirn. 55 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 55 Expression von Cyclooxygenasen K. Ballmer, PSI Villingen COX-2 ist Angriffspunkt für NSAIDs (non-steroidal anti-inflammatory drugs) bei der Entzündungshemmung 56 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 56 Biosynthese der Prostaglandine Cyclopentane ring formation (Artificially produced) PGG, PGH, PGI, TxA: chemically unstable, with a half-life 30 s to a few min Oxane ring 57 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 57 Prostanoide und ihre Rezeptoren PGE2: EP receptor cAMP, IP3, Ca2+; in muscle PGF2α: FP receptor IP, Ca2+; in corpora lutea PGD2: DP receptor cAMP; ubiquitous TXA2: TP receptor Ca2+, DAG; platelet, muscle PGI2: cAMP, PIP2; nociceptors etc. IP receptor 58 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 58 Structure of Human TXA2 Receptor GPCR with 343 amino acid residues (cloned 1991) Isolated mass: 57 kDa Calculated mass: 37 kDa 59 25/10/10 Two isoforms of the TXA2 prostanoid receptor which are different in their C-terminal tail. Amino acid residues conserved in most of prostanoid receptors are shown by solid circles. N-Glycosylation at Asn4 and Asn16 is indicated by -CHO, and a putative disulfide bond between the first and the second extracellular loop are shown. Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 59 Der Fall: Knochenkrebs Yamada et al, J Anesth 2007, 21: 277-281 A 63-year-old man with hepatic cancer and right femur metastasis received POP (percutaneous osteoplasty) to the femur (left). He had previously undergone RT (radiation therapy) to the femur. However, he experienced recurrent right-leg pain. POP was performed with the patient in the semilateral position, and 6 ml of PMMA (polymethylmethacrylate) was injected, after which he could walk easily. Four days after the POP, however, he fell and fractured his left femur in the treated area (rechts). Perkutane Osteoplastie am Oberschenkelknochen eines Patienten mit metastasierendem Leberkrebs; der Patient empfand zuvor nach Bestrahlungstherapie beim Gehen nach wie vor starke Schmerzen. Mit der Nadel wurden 6 ml PMMA (Polymethylmethacrylat, Plexiglas) eingespritzt. Der Patient konnte nun wieder problemlos gehen. Wegen eines Sturzes des Patienten 4 Tage nach der POP kam is zum Knochenbruch. 60 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 60 Schmerzen bei Knochenkrebs Osteosarkome sowie Knochenmetastasen, die häufig von Mammakarzinomen und Prostatakarzinomen stammen (betrifft 70% der Patienten mit solchen Tumoren), lösen zuerst intermittierenden, später chronischen Schmerz aus. Nach externer Radiotherapie des Tumors oder Chemotherapie bzw. nach Behandlung mit Bisphosphonaten zur Stabilisierung des betroffenen Knochengewebes nehmen die Schmerzen ab (unbekannter Mechanismus). Bei fortgeschrittenem Tumor werden häufig Opiate eingesetzt; jedoch ist die erforderliche Dosis hoch (120 mg/Tag). Trotz Opiaten kann es zu Schmerzzuständen kommen, und Opiate haben eine Reihe von Nebenwirkungen. Um neue und bessere Behandlungsmethoden bei Knochenkrebs zu entwickeln, muss man den Mechanismus der Schmerzentstehung bei dieser Art Tumor herausfinden, was ein experimentelles Modell verlangt. 61 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 61 Osteosarkom und Schmerz Robbins Osteosarkom: Häufigster maligner Knochentumor (v.a. bei Knaben im 2. Lebensjahrzehnt) mit mesenchymalem Ursprung. Der Tumor ist meist metaphysär in den langen Röhrenknochen lokalisiert (Verteilungsmuster s. rechtes Bild). Ursache: Gen-Defekte, z.B. im Rb- und im p53-Gen; stark erhöhtes Risiko für Patienten mit erbl. Retinoblastom. Ein zweiter Häufigkeitspeak findet sich im fortgeschrittenen Alter mit der Ausbildung einer Osteosarkom-Paget-Krankheit (Paget-Sarkom). Knochentumoren führen zu einer markanten Einbusse der Lebensqualität und zu Schmerz. A: Oberschenkelknochen der Maus. B: Sensorische Nervenfasern im Periosteum, Knochen und Knochenmark. Osteosarkom am oberen Ende der Tibia (Schienbein) 62 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 62 Progrediente Osteolyse bei Knochentumoren Tiermodell: Intramedulläre Injektion von osteolytischen Sarkomazellen in den Oberschenkelknochen A: Normales Knochenmark und intakter Oberschenkelknochen der Maus. B: Im Sarkom-befallenen Oberschenkelknochen ist ein Teil des Knochenmarks durch Tumorzellen ersetzt und es zeigt sich eine Invasion von Tumorzellen ins Knochengewebe und als Folge eine Osteolyse (Zersetzung des Knochengewebes). C: Verschiedene Stadien der Osteolyse (0, Kontrolle. 1, intramedulläre Osteolyse. 2, intramedulläre Osteolyse mit kortikaler Erosion (erste Lamelle des Röhrenknochens). 3, intramedulläre Osteolyse mit kompletter kortikaler Erosion (beide Lamellen). 63 25/10/10 Reference: Clohisy & Mantyh, Cancer 2003; 97 (3 Suppl): 866-873 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 63 Auswirkungen im Rückenmark Im Bereich des vierten Lendenwirbels kommt es im Rückenmark zu einer massiven Astrozytose (Vermehrung der Sternzellen), und zwar nur in der ipsilateralen Hälfte (bezüglich des befallenen Knochens). GFAP (glial fibrillary acidic protein) als Marker für Astrozyten zeigt massive Erhöhung der Zellzahl ipsilateral. Während die Astrozytenzahl ipsilateral ansteigt (hier ist GFAP grün markiert), bleibt die Neuronenzahl praktisch unverändert (NeuN-Protein, rot markiert). Weitere neurochemische Veränderungen: Dynorphin (prohyperalgesisches Peptid): erhöht cFos (Marker für neuronale Aktivität): erhöht 64 25/10/10 Reference: Clohisy & Mantyh, Cancer 2003; 97 (3 Suppl): 866-873 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 64 Auswirkungen auf Substanz-P-Rezeptoren (Substanz P als Beispiel eines der Neurotransmitter) Palpieren des Oberschenkels mit Tumor führt zu einer Schmerzreaktion (A) und zu einer markanten Internalisierung von Substanz-P-Rezeptoren in peripheren Neuronen (C), während Palpieren des Oberschenkels ohne Tumor weder eine Schmerzreaktion (A), noch Internalisierung von Substanz-PRezeptoren auslöst (B). 65 25/10/10 Reference: Clohisy & Mantyh, Cancer 2003; 97 (3 Suppl): 866-873 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 65 Substanz P (SP) Peptid-Familie: Tachykinin Peptid-Familie: - Substanz P - Neurokinin A - Neurokinin B - Neuropeptid K - Neuropeptid-γ Präkursoren: Präprotachykinin-A und -B - PPT-A - PPT-B Struktur von SP: H-Arg-Pro-Lys-Pro-Gln-Gln-Phe-Phe-Gly-Leu-Met-NH2 Rezeptoren: 3 G-Protein-gekoppelte Rezeptorsubtypen: NK-1, NK-2 und NK-3 Rezeptoren Lokalisation: - in verschiedenen Regionen des ZNS - in peripheren Neuronen des Intestinaltraktes sowie auch der Lunge, der Blutgefässe, Harnwege, Haut und des Immunsystems - in endokrinen Zellen des Intestinaltrakts und in endokrinen Tumoren Physiolog. Rolle: - kardiovaskuläres System: hypotensive Wirkung im arteriellen Kreislauf, Erhöhung des Blutflusses durch Erhöhung des Herz-Zeit-Volumens, Vasodilatation im Koronarkreislauf sowie auch in der Leber, Lunge und Haut - Erhöhung der Darmmotilität, Speichelsekretion, Sekretionen im Pankreas und Dünndarm - Im ZNS spielt SP eine Rolle als Neurotransmitter/Neuromodulator in jene Zentren, die einerseits die Regulation des Blutdrucks, der Atmung und gastrointestinalen Motilität und andererseits verschiedenen Verhaltensformen (z.B. Angst, Schmerz, Aggression) sowie Lernen und Gedächtnis steuern. 66 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 66 Targeting mit SP-Zytotoxin-Konjugaten Zielzellen (Target) Eine Population von Ganglien der Dorsalwurzel (hintere Spinalnervenwurzel) produziert SP und transportiert diese zum Rückenmark, wo SP aufgrund eines Schmerzsignals freigesetzt wird. SP stimuliert Neuronen des Rückenmarks, welche für die Nozizeption (Schmerzleitung) zuständig sind. Diese Neuronen exprimieren Rezeptoren für SP, welche bei der Vermittlung des Schmerzsignals eine Rolle spielen. Targeting Substanz (Compound) Substanz P - Zyotoxin - Konjugat: SP-SAP SP-SAP Saporin---Arg-Pro-Lys-Pro-Gln-Gln-Phe-Phe-Gly-Leu-Met-NH2 Saporin ist ein Ribosomen-inaktivierendes Protein (ca. 30 kDa) Bindung SP-R Internalisierung Wirkung des Targeting SP-Rezeptor-vermittelte Internalisierung von SP-SAP in Neuronen, welche SP-Rezeptoren exprimieren, führt zur Inaktivierung der Ribosomen und somit schliesslich zum Zelltod. Inaktivierung Zelltod 67 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 67 In vivo Zytotoxizität von SP-SAP Zytotoxizität nach intraduraler Injektion von SP-SAP ins Rückenmark A: Immunfluoreszenz von SP-R im konfokalen Mikroskop 28 Tage nach Infusion von Kochsalzlösung (Kontrolle). B: Immunfluoreszenz von SP-R im konfokalen Mikroskop 28 Tage nach Infusion von SP-SAP. Hier ist die Zahl der Neuronen, die SP-R-positiv sind, in der Lamina I markant reduziert, verglichen mit den Kontrollen (vgl. Pfeile). Die zytotoxische Wirkung von SP-SAP ist beschränkt auf Lamina-I-Neuronen im Bereich der Wirbel L2 bis L5. Balkenlänge: 400 µm Reference: Mantyh et al. Science 1997; 278: 275-279 68 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 68 Langzeitwirkung von SP-SAP Reference: Nichols et al. Science 1999; 286: 1558-1561 Die Langzeitwirkung in drei verschiedenen Verhaltensmustern wurden 30, 100 und 200 Tage nach Infusion von (1) SAP, (2) SPSAP oder (3) Kochsalz untersucht: (A) Nocifensive behavior (Beobachtungsperiode: 0 - 5 Min. nach Injektion von Capsaicin). (B) Thermal withdrawal latency (paw withdrawal latency) in Sekunden. (C) Withdrawal response frequency (paw withdrawal threshold) auf mechanischen Reiz. Beobachtung: Kochsalz, SP (nicht abgebildet), SAP ergaben alle eine analoge Kurve. Einzig SP-SAP führte zu einem verminderten nocifensive behavior, zu einer vergrösserten withdrawal latency sowie zu einer verminderten withdrawal response frequency. Folgerung: Die Destruktion von SP-Neuronen in der Lamina I reduziert die Schmerzvermittlung ins ZNS. 69 25/10/10 Pathobiologie - HS 2010 - Lektion 6 69