Zeitschriftenreview Vol. 25 Nr. 5 2014 Fieber und Paracetamol im Kindesalter Manuel Diezi, Lausanne Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Fieber und dessen Ursachen, Entstehung und Behandlung haben im Verlaufe der Zeit zu zahlreichen Diskussionen geführt. Paracetamol ist das zurzeit im Kindesalter am häufigsten verwendete Medikament zur Fieber- und Schmerzbehandlung, insbesondere seit der Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Aspirin und Reye-Syndrom1) . Trotz dieser massiven Anwendung im Kindesalter verbleiben der Wirkungsmechanismus von Paracetamol unklar und die Indikation zur Fieberbehandlung oft umstritten. Einige kürzlich erschienene Artikel gewähren interessante Einblicke, indem sie den Grundlagen der aktuellen Empfehlungen zu Indikation, Dosierung und Risiken von Paracetamol nachgehen. Paracetamol: a focus for the general pediatrician, Eur J Pediatr 2014; 173: 415–252) Der erste Artikel geht auf folgende pharmakokinetische Aspekte ein: •Der grösste Teil Paracetamol wird durch passive nicht-ionische Diffusion im Duodenum absorbiert, während die Absorption im Magen unbedeutend ist. •Die Biodisponibilität – im Blut messbarer Anteil bezogen auf die oral verabreichte Gesamtdosis – beträgt 60–90 %. Zu beachten ist die in Abhängigkeit von der Verabreichungsform zwischen Einnahme und Wirkungseintritt verlaufene Zeit: Tabletten und Kapseln müssen aufgelöst werden, um absorbiert werden zu können, im Gegensatz zu Brausetabletten und flüssigen Formen: 45–60 Minuten für erstere, ca. 30 Minuten für letztere. •Biodisponibilität und Zeitverlauf bis zur Höchstkonzentration sind bei rektaler Verabreichung schwer vorhersagbar und schwanken zwischen 25 und 95 % bzw. 110 und 290 Minuten. •Die Absorption nach oraler Verabreichung wird beim jungen Säugling durch die langsamere Magenentleerung, die erst mit 6–8 Monaten Erwachsenenwerte erreicht, verzögert. •Die Proteinbindung ist relativ bescheiden (10–25 %), das Verteilungsvolumen liegt bei 0.8–11 l/kg. Da Paracetamol hydrophil ist, ist das Verteilungsvolumen beim Neugeborenen, dessen Körperzusammensetzung natürlicherweise wasserreicher ist, entsprechend grösser. •Paracetamol dringt in den Liquor ein und findet sich auch in der Muttermilch. Der gestillte Säugling erhält dadurch einen auf 1.85 % der mütterlichen Dosis geschätzten Anteil Paracetamol. •Interessant ist im Zusammenhang mit der fiebersenkenden Indikation das Zeitintervall zwischen maximaler Serumkonzentration und Fieberabfall – ca. 1–2 Stunden, eine Tatsache die auf das Fehlen eines direkten Zusammenhangs zwischen Konzentration und Wirkung hinweist. •Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den Serumkonzentrationen die notwendig sind, um eine antipyretische oder antalgische Wirkung zu erreichen: Fiebersenkung wird mit 5 mg/l erreicht, während Schmerzstillung eine doppelte Konzentration von ca. 10 mg/l erfordert. Die rektale Verabreichung erlaubt es, mit den üblicherweise empfohlenen Dosen eine Konzentration von 5 mg/l zu erreichen, hingegen nicht die für eine wirksame Schmerzstillung notwendige Konzentration. In der Praxis bedeutet dies, dass die rektale Verabreichung zur Schmerzstillung nutzlos ist. •Beim Erwachsenen wird Paracetamol hauptsächlich durch Glucuronidierung (50–60 %), Sulfonierung (25–30 %) und Oxydation (10 %) metabolisiert. •Die Metaboliten sind alle inaktiv und werden dosisabhängig über die Niere ausgeschieden, ca. 90 % der verabreichten Dosis innerhalb 24 Stunden. •Die Oxydation von Paracetamol in das toxische Zwischenprodukt N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI) erfolgt durch die Cytochrome CYP2E1 und 34A. NAPQI wird rasch an intrazelluläres Gluthation gebunden und inaktiviert. Bei massiver Überdosierung werden die Glutathionreserven erschöpft und NAPQI bindet sich an mitochondriale Eiweisse. 29 •Beim Kind sind die metabolischen Wege identisch, der relative Anteil der einzelnen Elemente variiert jedoch: Die Sulfonierung ist bei Geburt reif, die Glucuronidierung erreicht hingegen erst nach ca. 2 Jahren die Erwachsenenleistung. Die Paracetamolclearance ist deshalb beim Kleinkind verlangsamt und bedeutet ein erhöhtes Kumulierungsrisiko. •CYP2E1-Spiegel und Aktivität sind beim Kleinkind geringer. Kleinkinder sind deshalb weniger der Lebertoxizität ausgesetzt, wahrscheinlich auf Grund der schwächeren CPY2E1-Aktivität und auch einer vermehrten Fähigkeit zur Erneuerung der Gluthationreserven. Pharmakodynamische Aspekte: •Die fiebersenkende Wirkung von Paracetamol beruht im Wesentlichen auf der Inhibition der Prostaglandinsynthese im Gehirn durch Cyclooxygenasehemmung. Paracetamol besitzt jedoch keine entzündungshemmende und auch keine periphere Wirkung; dies erklärt das im Vergleich zu den NSAID günstige Toxizitätsprofil, insbesondere betreffend Ulcus-, Gerinnungsstörungs- oder Nierenfunktionsstörungsrisiko. •Die Schmerzlinderung beruht auf verschiedenen Mechanismen, der wichtigste ist die zentrale Hemmung der Prostaglandinsynthese. Weitere Mechanismen betreffen die Stimulierung der inhibitorischen Serotoninwirkung, die direkte Wirkung auf die Cannabinoidrezeptoren und die hemmende Wirkung auf die durch Aktivierung der NMDA-Rezeptoren bedingte Schmerzleitung. Nebenwirkungen •Es wurden vereinzelt Fälle von Hautausschlägen und anderen allergischen Reaktionen sowie anekdotische Fälle von Neutropenie beschrieben. •Beobachtungsstudien brachten die Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft mit einem erhöhten Asthmarisiko im Kindesalter in Zusammenhang. Der Mechanismus dieser vermuteten Interaktion ist unklar, möglicherweise auf einer direkt lungentoxischen Wirkung von NAPQI beruhend. •Eine lebertoxische Wirkung durch Standarddosen Paracetamol wurde bei Kindern beschrieben, ist jedoch aussergewöhnlich und wahrscheinlich von bestimmten klinischen Situationen abhängig (Diabetes, Adipositas, chronische Unterernährung, Zeitschriftenreview längerdauerndes Fasten, Myopathien, CYP2E1-Hyperaktivität) oder bei Kombination mit anderen hepatotoxischen oder CYP2E1induzierenden Medikamenten (Carbamazepin, Isoniazid, Phenobarbital, Rifampicin, Aethanol). Klinische Anwendung Fieber: •Fieber an und für sich ist keine Krankheit, sondern eine physiologische Antwort mit positiver Wirkung bei der Infektbekämpfung; da Höhe des Fiebers und Schnelligkeit des Abfalls nichts über die Schwere des Infektes aussagen, und der Zusammenhang zwischen hohem Fieber und erhöhtem Krampfrisiko nicht erwiesen ist, ist eine generelle fiebersenkende Behandlung nur bei Kindern indiziert, die hohe Temperaturen schlecht zu ertragen scheinen. •Die allgemein empfohlenen Dosis beträgt 5–15 mg/kg alle 4–6 Stunden p. o. oder 15–20 mg/kg rektal (maximale tägliche Dosis 75 mg/kg). Die Wirkung tritt im Allgemeinen nach 30–60 Minuten ein, wobei 80 % der Kinder auf das Medikament reagieren. •Es gibt keinen Beweis für den Nutzen einer höheren Anfangsdosis. •Ausser bei Erbrechen wird allgemein die p. o. Verabreichung empfohlen, wegen der – im Vergleich zur rektalen Verabreichung – grösseren Zuverlässigkeit der Absorption. •Die Kombination mit einem alternierend verabreichten NSAID (meist Ibuprofen) kann die fiebersenkende Wirksamkeit leicht verbessern, ohne eindeutig erwiesene Nebenwirkungen. Schmerz: •Paracetamol ist das Medikament der Wahl für leichte bis mittelschwere Schmerzen in Monotherapie, oder in Kombination mit einem Opiat bei mittelschweren bis schweren Schmerzen. •Die Wirksamkeit ist derjenigen der NSAID vergleichbar, das toxikologische Profil spricht jedoch zugunsten von Paracetamol. •Zur Schmerzbekämpfung sollte die rektale Verabreichung vermieden werden, da mit den empfohlenen Dosen keine wirksamen Spiegel erreicht werden. •Bei mittelschweren bis schweren Schmerzen kann die intravenöse Verabreichung in Betracht gezogen werden: Der Wirkungseintritt ist rascher und das pharmakokinetische Profil besser voraussehbar als nach oraler Gabe. Vol. 25 Nr. 5 2014 Managing fever in children: a national survey of parent’s knowledge and practice in France, PLOS one 2013; 8 (12): e834693) fehlungen gemessen, insbesondere wenn die Eltern eine höhere Ausbildung hatten und die Fachperson ein Pädiater oder Apotheker mit über 25 Jahren Berufserfahrung war. Im zweiten Artikel wird eine in Frankreich von 2007 bis 2008 durchgeführte Beobachtungsstudie vorgestellt, die zum Ziel hatte, Kenntnisse und Haltung der Eltern gegenüber einem Kind mit Fieber zu evaluieren. 61 % der Eltern betrachteten eine Temperaturgrenze über 38°C, entsprechend den Empfehlungen, als Indikation zur Verabreichung eines fiebersenkenden Mittels, 27 % der Eltern hielten sich an eine höhere und 11 % an eine tiefere Grenze. Die Empfehlung wurde insbesondere dann befolgt, wenn die begleitende Person die Mutter und der behandelnde Arzt Pädiater waren. Auf internationaler Ebene haben zahlreiche staatliche Organe und Ärztegesellschaften Empfehlungen zur Fieberbehandlung im Kindesalter erlassen. Diese über 8 Monate durchgeführte nationale Beobachtungsstudie bezweckte, die Ursachen der Unterschiede zwischen diesen Empfehlungen und der Praxis der Eltern zu untersuchen. Es wurde über 11000 Allgemeinpraktiker, Kinderärzte und Apotheker angesprochen, die jeweils 5 aufeinanderfolgende Patienten im Alter von 1 Monat bis 12 Jahre, mit Fieber seit 48 Stunden, in die Studie einschliessen sollten. Die Eltern, die sich bereit erklärten, an der Studie teilzunehmen, hatten einen Fragebogen zu ihren Kenntnissen und zu praktischen Aspekten der Betreuung eines fieberkranken Kindes auszufüllen. Die so erhaltenen Auskünfte wurden mit den Empfehlungen der französischsprachigen Ärztegesellschaften, der American Academy of Pediatrics (AAP) und dem UK National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) verglichen. Es wurden 5 Variablen analysiert: 1) Wie wird Fieber gemessen, 2) Was wird als Fiebergrenze betrachtet, 3) Ab welcher Temperatur sind fiebersenkende Mittel indiziert, 4) Physikalische Methoden, 5) Fiebersenkende Medikamente. Die Rücklaufquote der Medizinalpersonen war sehr schlecht (13 %), war jedoch bei dieser Art Studie erwartet. Seitens der Eltern erhielten die Autoren verwertbare Fragebogen für 4866 durch Ärzte in die Studie eingeschlossene Kinder (3270 durch Allgemeinpraktiker und 1596 durch Kinderärzte) sowie 1730 durch Apotheker. 34 % der Eltern hatten ein höheres Ausbildungsniveau als die Matura. Das mittlere Alter der Kinder war 3.7 Jahre (± 2.7), die mittlere Temperatur 38.9°C (± 0.6°C). In den meisten Fällen (89 %) wurde die Temperatur entsprechend den erwähnten Emp- 30 90 % der Eltern hatten vor der Inanspruchnahme einer medizinischen Fachperson bereits nicht-medikamentöse Massnahmen ergriffen, Hydrierung (78 %), Ausziehen (62 %), Senken der Raumtemperatur (27 %). 15 % haben diese Massnahmen kombiniert. 91 % der Kinder hatten bereits vor der Konsultation einer Medizinalperson ein Fiebermittel erhalten, wovon 74 % nur ein Medikament. Dies betraf insbesondere Kinder, die von einem Arzt und nicht von einem Apotheker in die Studie aufgenommen wurden. In den meisten Fällen wurde Paracetamol verabreicht (85 %), in 13 % Ibuprofen und 1 % Aspirin. Die Dosierung und Verabreichungsintervalle wurden bei 24 % der mit Paracetamol und bei 14 % der mit Ibuprofen behandelten Kinder eingehalten. Die entsprechenden Empfehlungen wurden besser eingehalten, wenn das Kind von der Mutter begleitet war und von einem erfahrenen Allgemeinpraktiker gesehen wurde. Bei 13 Patienten (0.3 %) wurden alle erwähnten Empfehlungen beachtet. Im Vergleich zu früheren Studien stellen die Autoren fest, dass das Baden als fiebersenk­ ende Massnahme seltener angewendet wird, ebenso Aspirin und das Kombinieren von Medikamenten. In Bezug auf Fiebergrenze und Fiebermessen haben sich die Kenntnisse nicht verbessert. Zusammenfassend stellen die Autoren fest, dass Kenntnisse und Haltung der Eltern in gewissen Bereichen wohl häufiger den Empfehlungen entsprechen als dies in älteren Studien festgestellt wurde, dass aber in vielen Bereichen Verbesserungen wünschenswert sind. Dies könnte durch erzieherische Massnahmen bezüglich Anwendung nicht-medika- Zeitschriftenreview Vol. 25 Nr. 5 2014 mentöser Behandlungsmöglichkeiten und Indikation und Dosierung der Medikamente geschehen, sowie durch gezieltes Ansprechen von Eltern mit niedrigerem Ausbildungsniveau. Diese beiden kürzlich erschienenen Artikel fassen relativ erschöpfend die gegenwärtigen Kenntnisse zu Wirkungsmechanismen, Metabolismus und Ausscheidung, Nebenwirkungen und Verwendung im Alltag eines der, nebst Antibiotika und Antiallergika, im Kindesalter am häufigsten verschriebenen Medikamente zusammen. Die Antworten auf gewisse Fragen, insbesondere Indikation zur fiebersenkenden Therapie und Verabreichungsmodus bleiben dennoch unbeantwortet. Die meisten Empfehlungen gehen dahin, fiebersenkende Medikamente nur Kindern zu verabreichen, welche die erhöhte Temperatur schlecht ertragen: Es gibt jedoch keine Studie oder überprüfte, zuhause durch die Eltern anwendbare Methode, um das Unbehagen des fiebrigen Kindes und folglich die Indikation zur medikamentösen Fiebersenkung zu ermitteln. Pharmakokinetische Argumente sprechen für eine regelmäs­ sige Verabreichung von Paracetamol, unabhängig von der Klinik und über einige Tage, um eine stabile und damit wirksame Konzentration im Plasma – und damit im Erfolgsorgan – zu erreichen. Diese theoretischen Überlegungen widersprechen jedoch der allgemeinen Praxis und der Tendenz in den Empfehlungen der meisten Fachvereinigungen. Referenzen 1) Committee on Infectious Diseases. Aspirin and Reye syndrome. Pediatrics 1982 Jun; 69 (6): 810–2. 2) Marzuillo P, Guarino S, Barbi E. Paracetamol: a focus for the general pediatrician. Eur J Pediatr. Springer Berlin Heidelberg; 2014 Apr; 173 (4): 415–25. 3) Bertille N, Fournier-Charrière E, Pons G, Chalumeau M. Managing fever in children: a national survey of parents’ knowledge and practices in France. Esposito S, editor. PLoS ONE. Public Library of Science 2013; 8 (12): e83469. 4) Vigier von R. Traitement de la fièvre de l’enfant. PAEDIATRICA. 2002; 13 (6): 45–49. Korrespondenzadresse Dr. Manuel Diezi Pädiatrische Hämato-Onkologie und klinische Pharmakologie, CHUV 1011 Lausanne [email protected] Die in Paediatrica 2002 von Rodo von Vigier4) publizierten Empfehlungen bleiben somit aktuell und werden untenstehend in Erinnerung gerufen: •Fieber muss nicht in jedem Fall behandelt werden. •Hauptindikation ist das Wohlbefinden des Patienten. •Fieberbehandlung hat statistisch keinen Einfluss auf das Rezidivrisiko für Fieberkrämpfe. •Die Wirkung von Antipyretika ist per os besser als nach rektaler Verabreichung. •Salicylate sind bei Infektionskrankheiten im Kindesalter als Antipyretika kontraindiziert. •Physikalische Massnahmen bevorzugt additiv zur Pharmakotherapie, oft werden diese jedoch schlecht toleriert. 31