Praxis der Vernunft – Theorie des Erlebens. „Menschheit“ bei Kant

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Praxis der Vernunft – Theorie des Erlebens. „Menschheit“ bei Kant und Dilthey
von Margit Ruffing (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Es gerät leicht aus dem Blickfeld, dass Kants philosophisches Anliegen von Beginn an in der
Beantwortung der Frage nach dem Menschen („Was ist der Mensch?“) besteht; sein
bedeutendes erkenntnistheoretisches Werk, die Kritik der reinen Vernunft, will vorab die
Bedingungen der Möglichkeit einer Antwort klären, indem die Bedingungen der Möglichkeit
von Wissen – und Wissenschaft – überhaupt untersucht werden. Kants Fazit: „Es ist
demütigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts
ausrichtet, und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen
[…]“. Der „größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft“
besteht darin, so wird vermutet, „anstatt Wahrheit zu entdecken, […] Irrthümer zu verhüten“
(B 823/A 795). Trotz dieser deprimierenden Einsicht geht Kant davon aus, dass es „irgendwo
einen Quell von positiven Erkenntnissen geben [muß]“; und dieser Quell, so könnte man
verkürzend behaupten, ist unsere Fähigkeit, zu systematisieren, oder: die Idee des Ganzen.
Das „Ganze“ enthält den einen Zweck, auf den sich alle Teile beziehen und der sie
untereinander verbindet, und es gibt dieser Verbindung zugleich eine Form. Kant vergleicht
zur Veranschaulichung das Ganze mit einem „tierischen Körper“, „dessen Wachstum kein
Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken
stärker und tüchtiger macht“ (B 861/A 833). Die von Dilthey konstatierte Anämie des
Rationalismus kann m.E. therapiert, wenn auch möglicherweise nicht geheilt werden, wenn
man vom lebendigen Organismus „Vernunftidee“ ausgehend das kantische Selbst- und
Weltverständnis als Praxis – Realisieren, Erleben – der Vernunft auffasst. Diltheys „Erlebnis“
dagegen, das seinem Selbst- und Weltverständnis zu Grunde liegt, bildet den Kern einer
Erkenntnistheorie, die ohne die Idee des Ganzen keinen Sinn ergäbe. Wenn auch Dilthey die
abstrakte Sprache Kants meidet, so drückt er doch auf seine Weise aus, dass es ihm „ums
Ganze“ geht, nämlich durch den Begriff des Lebens, der – übrigens in gleicher Weise wie der
kantische Begriff der Vernunft – der Erläuterung und Auslegung bedarf, um nicht als
„nichtssagend“ oder banal beurteilt zu werden.
Eine Auswahl kommentierter Textstellen sollen die These stützen, die ich vertreten möchte:
Im Begriff der Menschheit, von Kant aufgefasst als praktische Idee, stimmen die
philosophischen Konzepte von Kant und Dilthey weitgehend überein, wenn es auch auf den
ersten Blick nicht den Anschein hat. Diltheys Kantkritik ist nicht in jeder Hinsicht
nachvollziehbar, aber sie kann als Korrektiv der Kantrezeption fungieren: Kant selbst bringt
deurtlich zum Ausdruck, dass es der Philosophie (und ihm als Philosophen) um die Frage
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nach dem Wesen des Menschen geht, die nur von der wissenschaftlichen Anthropologie
angemessen geklärt werden kann. Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ ist nicht
nur seine als letztes veröffentlichte Schrift, sondern auch das Resultat seines lebenslangen
Nachdenkens über das „Welt- und Lebensrätsel“, wie Dilthey sagen würde. Während seines
gesamten Wirkens als Hochschullehrer bietet Kant Anthropologie-Vorlesungen an – die
einzige philosophische Disziplin, in der s.E. empirisch vorgegangen werden kann bzw. sogar
muss. Die Bedeutung dieses Teils des Kantischen Werkes wurde lange Zeit unterschätzt.
Wir sind weit davon entfernt, Kant als Vertreter der „Lebensphilosophie“ und Dilthey als
Rationalisten zu deuten; aber eine bedeutende Gemeinsamkeit der Philosophie der Vernunft
und der Philosophie des Lebens scheint doch in der Feststellung eines theoretischen
Ungenügens zu liegen, dem Kant die Hoffnung auf ein zukünftiges System, Dilthey eine
resignierte Unermüdlichkeit entgegensetzt, die seinem Denken einen unsystematischen, nicht
abgeschlossenen Charakter verleiht, wodurch es aber zugleich veritables Zeugnis der Idee
einer Philosophie des Lebens wird.
Kant stellt fest: „Es ist schlimm, daß nur allerst, nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung
einer in uns versteckt liegenden Idee, rhapsodistisch viele dahin sich beziehende
Erkenntnisse, als Bauzeug, gesammelt, ja gar lange Zeiten hindurch sie technisch
zusammengesetzt haben, es uns denn allerst möglich ist, die Idee in hellerem Lichte zu
erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen […]“
(B 863/A 835), was er „in jetziger Zeit, da schon so viel Stoff gesammelt ist, oder aus Ruinen
eingefallener alter Gebäude genommen werden kann“, nicht nur für möglich, sondern nicht
einmal für schwer hält (vgl. ibid.). Trotzdem sieht Kant davon ab, ein Ganzes der
Wissenschaften architektonisch zu entwerfen, nicht darin sieht er seine Aufgabe als
Philosoph; stattdessen er begnügt sich damit, „die Architektonik aller Erkenntnis aus reiner
Vernunft zu entwerfen“, die als System menschlicher Erkenntnis die vorliegenden, aus
unterschiedlichen Ideen entstandenen Systeme zu einem zweckmäßigen Ganzen zu verbinden
erlaubt – Philosophie der Philosophie?
Kant geht demnach davon aus, dass ein Endzweck existiert, dem Wissen und Wissenschaft
unterstellt sind: als Vernunftbegriff entspricht diesem „die Idee der Menschheit als Zweck[.]
an sich selbst“ (GMS, AA 04:429). Dieser Vernunftbegriff „Idee der Menschheit“ bleibt
theoretisch unbestimmt, er ist nicht durchgängig bestimmbar, dennoch ist er wirklich und
zumindest teilweise erfahrbar. Er braucht, wie jede Idee, „zur Ausführung ein Schema, d.i.
eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und
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Ordnung der Teile“ (B 861/A 833), das sogar empirisch gewonnen werden kann – dann aber
nur eine „technische Einheit“, die zufällige Momente und mehr oder weniger beliebige äußere
Zwecke enthält. Um eines „einigen obersten und inneren Zweckes“, d.h. der auf das Ganze
gerichteten architektonischen Einheit willen, fordert Kant ein erfahrungsunabhängiges
Schema (vgl. B 861f./A 833f.).
Das heißt aber nicht, dass es sich um ein theoretisches, wirklichkeitsfernes Gebilde handelt,
im Gegenteil: Die Idee der Menschheit ist per se eine praktische Idee. Sie kann nur
verstanden werden als die Ganzheit des menschlichen Lebens unter sich begreifend, eine
Ganzheit, die vom Individuum, dem leiblich vereinzelten Menschen, nicht im empirischen
Vollzug erlebt werden kann, aber dennoch für ihn wirklich ist:
„So würde man sagen können: das absolute Ganze aller Erscheinungen ist nur eine Idee, denn
da wir dergleichen niemals im Bilde entwerfen können, so bleibt es ein Problem ohne alle
Auflösung. Dagegen weil es im praktischen Gebrauch des Verstandes ganz allein um die
Ausübung nach Regeln zu tun ist, so kann die Idee der praktischen Vernunft jederzeit
wirklich, ob zwar nur zum Teil, in concreto gegeben werden, ja, sie ist die unentbehrliche
Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft. Ihre Ausübung ist jederzeit begrenzt
und mangelhaft, aber unter nicht bestimmbaren Grenzen, also jederzeit unter dem Einflusse
eines Begriffs einer absoluten Vollständigkeit. Demnach ist die praktische Idee jederzeit
höchst fruchtbar und in Ansehung der wirklichen Handlungen unumgänglich notwendig. In
ihr hat die reine Vernunft sogar Kausalität, das wirklich hervorzubringen, was ihr Begriff
enthält1; daher kann man von der Weisheit nicht gleichsam geringschätzig sagen: sie ist nur
eine Idee; sondern eben darum, weil sie die Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen
Zwecke ist, so muss sie allem Praktischen als ursprüngliche, zum wenigsten einschränkende
Bedingung zur Regel dienen.“ (KrV, B 384f.)
Es bleibt also Kant gar nichts anderes übrig, als die Idee der Menschheit als praktische
aufzufassen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie das Begriffene Realität werden lassen
kann, indem sie zum Handeln führt. Das Handeln als Teil der Menschheit, im Bewusstsein
dieser Teilhabe und zum Zwecke des Lebendigseins als Mensch, ist dadurch grundsätzlich ein
geregeltes; das meint: Autonomie, Selbstgesetzgebung der Vernunft – die eben nicht
technisch schematisiert, sondern das dem Menschsein entsprechende zweckgerichtete Wollen
integriert. Daher heißt es in der Metaphysik der Sitten: „[…] die gesetzgebende Vernunft,
welche in ihrer Idee der Menschheit überhaupt die ganze Gattung (mich also mit) einschließt,
nicht der Mensch, schließt als allgemein gesetzgebend mich in der Pflicht des wechselseitigen
1
Alle Unterstreichungen in den Zitaten sind Hervorhebungen von mir, M.R.
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Wohlwollens nach dem Princip der Gleichheit wie alle Andere neben mir mit ein […]“. Ist ein
Mensch nämlich in der Lage, sich selbst wesentlich gattungshaft aufzufassen, als Wesen, das
durch sich die Menschheit lebendig macht, ihre Idee „verkörpert“, erlebt er sich als zu
wechselseitigem Wohlwollen verpflichet und weiß das zugleich von den anderen (MS, AA
06:451). Die im kategorischen Imperativ2 ausgedrückte Idee des moralischen Gesetzes ist die
allgemeinste, voraussetzungsärmste und deshalb inhaltlich unbestimmte Regel, in der die
Vernunft in ihrer Ganzheit als praktische, das Bewusstsein des Menschseins als die Idee der
Menschheit präsent ist – d.h. erlebbar und erlebt wird:
„Die | Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung kann
man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst
(die Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet).“ (Rel, AA 06:28)
Interessant ist dabei die Aussage, dass dieses inhaltsleere Gesetz gefühlt wird; es ist
notwendig begleitet von dem Gefühl der Achtung, dem einzigen von der Vernunft
hervorgebrachten Gefühl.
Wir müssen also die vollendete Vernunft als praktische verstehen, gleichzusetzen mit dem
guten Willen, d.h. als Ursache für ein Handeln, das durch sich das Menschsein in seiner
weitesten Bedeutung ausdrückt, nämlich in der Gleichheit aller Menschheitsrepräsentanten,
die die einzelnen menschlichen Lebewesen zu wechselseitigem Wohlwollen verpflichtet. In
diesem Sinne heißt nach Kant die Idee der Menschheit „ganz intellectuell betrachtet“:
„Persönlichkeit“ sein, das moralische Gesetz fühlen, oder anders ausgedrückt: Gut-Wollen.
Es ist allerdings nicht selbstverständlich, dass ein menschliches Individuum „Persönlichkeit“
im ausgeführten Sinne ist; obwohl jeder Mensch das Vermögen der Vernunft hat, liegt darin
nicht notwendig, dass sie auch realisiert, d.h. ge- und erlebt wird. In der Logik stellt Kant
lapidar fest: „Die Idee der Menschheit, die Idee einer vollkommenen Republik, eines
glückseligen Lebens u. dgl. m. fehlt den meisten Menschen. Viele Menschen haben keine
Idee von dem, was sie wollen, daher verfahren sie nach Instinct und Autorität.“ (Logik, § 3;
AA 09:93) Und in der „Anthropologischen Charakteristik“, im Kapitel über die „Art, das
Innere des Menschen aus dem Äußeren zu erkennen“, führt Kant aus, wie es sich äußert,
wenn ein Mensch seinen Willen kennt und sein vernünftiges Potential auf ihn anwendet: „Der
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Meines Erachtens greift Diltheys Beurteilung zu kurz, wenn er schreibt, dass „der kategorische Imperativ Kants
[…] nur die logische Bedingung [enthält], unter welcher eine moralische Gesetzgebung möglich ist.“ Die daran
anschließende Differenzierung steht m.E. nicht im Widerspruch zur kantischen Idee der Menschheit: „Man verwirrt aber die
Natur der moralischen Gesetzgebung, wenn man einen Pflichtenkodex entwirft, der die Liebe zu Gott oder den Menschen
oder das Streben nach Vollkommenheit in gleicher Weise verbindlich auffaßt als die Bindung in einer Obligation und die auf
sie gegründete Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenhheit. Die Verletzung dieser letzteren schließt den Menschen unweigerlich
aus dem Zusammenwirken mit andern in einer Ordnung des Zusammenlebens aus. Die Verletzung der sogenannten
Liebespflichten schließt aus der Sphäre der Sympathie und die der sogenannten Vollkommenheitspflichten aus dem
gemeinsamen Vollkommenheitsstreben aus.“ (Studien zur Grundlegung der Geisterswissenschaften, II. Studie: Der
Strukturzusammenhang des Willens, Bd. 7, 67)
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Mann von Grundsätzen, von dem man sicher weiß, wessen man sich nicht etwa von seinem
Instinkt, sondern von seinem Willen zu verstehen hat, hat einen Charakter. – Einen Charakter
[…] zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich
selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft
unabänderlich vorgeschrieben hat. […]. Es kommt hiebei nicht auf das an, was die Natur aus
dem Menschen, sondern was er aus sich selbst macht. (2. Teil der Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht, recl.233 und 241f.) In diesem Zusammenhang spielt die Pädagogik
für Kant eine ganz entscheidende Rolle, wie übrigens auch für Dilthey; denn die Wissenschaft
von der Erziehung hat die Unterstützung der Entwicklung des unfertigen Menschen zum
Zweck und damit zugleich eine zukunftsweisende Funktion: „Kinder sollen nicht nur dem
gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande des menschlichen
Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen
erzogen werden. Dieses Princip ist von großer Wichtigkeit.“ (Einleitung in die Pädagogik,
AA 09:448)
Ein aktiver Umgang mit den gegeben inneren Möglichkeiten, die Erziehung zum
Selbstdenken und die Haltung der Verbindlichkeit den eigenen Urteilen und Entscheidungen
gegenüber bilden die Grundlage für ein Bewusstsein der Idee der Menschheit. Diese muss
aber nicht notwendig reflektiert werden, sondern kann auch einfach als Gefühl der Achtung
für die selbstgesetzgebende Vernunft statthaben kann. Naturgemäß erweitert sich das einzige
moralische Gefühl zur Liebe, denn, so Kant, „[…] der Mensch sucht etwas an ihm [diesem
Zwecke, der ihm durch die Vernunft vorgelegt wird], was er lieben kann […]“ – gemeint ist
der Endzweck des höchsten Gutes, die inhaltliche Bestimmung des Sittengesetzes. Da es sich
nicht um irgendeinen Zweck handelt, der immer ein Gegenstand der Zuneigung ist, den man
sich vermittelst einer Handlung aneignen will (vgl. Vorrede zur Religionsschrift), sondern um
einen „ideellen“, und auch noch das höchste Lebensziel betrifft, ist auch das Gefühl der
Zuneigung ein umfassendes und überpersönliches – und diese Bindung die eigentliche
„religio“. Der Bogen von der (Moral-)Philosophie zur Religion wird in Kants
Menschheitsbewusstsein zum sich schließenden Kreis; eine Passage aus dem Opus postumum
bringt das konzentriert zum Ausdruck:
Von dem Sohn Gottes. Ein jedes Geschopf hat Pflichten. Zu allen diesen Muß es ein Muster
haben. – Dieses kan es in keinem Geschopfe finden (g denn das ist keiner Pflicht ganz
adaeqvat, weil vor ihm noch eine Versuchung zu finden ist, die seinen Guten Willen stürtzt),
auch nicht im Schöpfer, denn der hat keine Pflicht, |also nur in dem, was aus Gott ausgeht, der
Menschheit zum Urbilde dient, so fern also Mensch ist, aber doch nur in Gott existiren kan,
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also [zu] mit seinem Wesen verbunden ist als der Sohn Gottes, d.i. in der Idee der Menschheit
im Gottlichen Verstande. (Niemand ist gut als der einige Gott.) das ist also der Gottmensch,
und wer im Fortschritt zu diesem Urbilde ist, [ist] ist von ihm aufgenommen. (AA 18:606,
Reflexion 6310, Nachlass 1780–1789)
Kants Idee der Menschheit steht also im Mittelpunkt des vernünftigen Lebens; sie ist
praktisch, bringt (gutes) Handeln hervor, wird als Achtung gefühlt, erweitert sich zur Liebe,
kann als Prinzip der Erziehung des Kindes sein individuelles Menschsein in der vollen
Bedeutung befördern sowie historisch gefasst Antrieb für die Entwicklung zum Fortschreiten
des Menschengeschlechts zum Besseren sein. Dazu knüpft sie an ein „Urbild“ an, indem der
Mensch ein Muster für den Endzweck des höchsten Gutes findet in dem, „was aus Gott
ausgeht“. Sie ist nach unserer Auffassung kein theoretisches Konstrukt, keine blutleere
Abstraktion, sondern hat den Charakter eines „Erlebnisses“.
Das „Erlebnis“ ermöglicht an dieser Stelle den Übergang zu Diltheys Auffassung des
Begriffes „Menschheit“ und seiner Bedeutung.
Das Entscheidende scheint mir zu sein, dass Dilthey versucht, von etwas gegenständlich zu
reden, das nicht im Begriff aufgehen kann, nämlich der Ganzheit menschlichen Seins. (Das
gilt m.E. auch für Kant; der Vernunftbegriff „Idee“ soll auch mehr sein als ein Begriff.)
Dilthey sieht zugleich die Gefahr des Überbewertens der Rationalität, er fordert daher mit
Nachdruck eine Philosophie des Lebens, das mehr ist als „Vernunft“. Das „Er-lebnis“ als
zentraler Begriff liegt nahe. (Lässt sich im Französischen nicht so deutlich wiedergeben.) Sie
kennen alle die berühmte Aussage: „Der Grundgedanke meiner Philosophie ist, daß bisher
noch niemals die ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde
gelegt worden ist, mithin noch niemals die ganze und volle Wirklichkeit.“ (Ges.Schr. 8, 123)
Damit hat Dilthey recht; die Situation ist immer noch unverändert die gleiche, und das wird
auch so bleiben. Es gelingt ihm aber dennoch mit der Theorie des Erlebens bzw. Erlebnisses
eine
Beschreibung
der
menschlichen
Bewusstwerdung;
die
Akzentuierung
der
Prozesshaftigkeit des Erkennens, das auf Ganzheit gerichtet ist und nicht nur wissen, sondern
verstehen will, wird am Begriff des „Innewerdens“ deutlich:
„Erleben ist eine unterschieden charakterisierte Art, in welcher Realität für mich da ist. Das
Erlebnis tritt mir nämlich nicht gegenüber als ein Wahrgenommenes oder Vorgestelltes; es ist
uns nicht gegeben, sondern die Realität Erlebnis ist für uns dadurch da, daß wir ihrer
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innewerden, daß ich sie als zu mir in irgendeinem Sinne zugehörig unmittelbar habe. Erst im
Denken wird es gegenständlich.“ (Bd. 6, 313)
Die „Wirklichkeit“ besteht im zunächst begrifflosen inneren Erleben, drückt sich aber mit
Notwendigkeit aus, wird zum „Außen“; im Denken tritt sie dem „Innen“ gegenüber, ist
Objekt für ein Subjekt, und wird mit Hilfe des Denkens, der Re-flexion (im Sinne der
Rückbeugung auf das „Innen“) auslegbar. „Im Erleben“, heißt es an anderer Stelle (GesSchr
Bd. 7, 27), „ist Innesein und der Inhalt, dessen ich inne bin, eins.“ Zugleich sind die „äußeren
Objekte […] eben Bestandteile der Erlebnisse. […] Als solche gehören sie dem Leben selber
an.“ (Bd. 7, 334) Zusammenfassend heißt es in Das Ergebnis und die Dichtung: „Denn im
persönlichen Erlebnis ist ein seelischer Zustand gegeben, aber zugleich in Beziehung auf ihn
die Gegenständlichkeit der umgebenden Welt.“ (S. 140)
Die Basis für eine intersubjektive, überindividuelle, „menschheitliche“ Auffassung des
Erlebnisses ist im „Innewerden“ – das Erlebnis der Aneignung seiner selbst mit Hilfe von
etwas, das „innen“ und doch nicht identisch mit dem Subjekt ist, denn hat einen Inhalt – nicht
die gegenständliche Welt, aber die Bezugnahme auf sie. In diesem Sinne wird auch der
Begriff der Erfahrung von Dilthey verwendet: „Was der Mensch sei und was er wolle, erfährt
er erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrtausende und nie bis zum letzten
Worte, nie in allgemeingültigen Begriffen, sondern immer nur in den lebendigen Erfahrungen,
welche aus der Tiefe seines ganzen Wesens entspringen.“ (Bd. 6, 57)
Verstehen kommt nach Dilthey nur durch Bezugnahme auf das Geschehen von Welt, d.h. auf
die Geschichte, zu Stande. Wenn auch die „lebendigen Erfahrungen“ aus dem tiefsten Inneren
„entspringen“, so sind sie doch untrennbar von der Wechselwirkung mit der äußeren Welt
betroffen und entsprechen der Entwicklung des Menschen: was der Mensch sei – sein Wesen
– und was er wolle – sein Zweck an sich – muss Dilthey zufolge erfahren werden, lässt sich
nur a posteriori bestimmen. Konkrete Inhalte zur Bestimmung des Menschsein sind zwar nur
empirisch anzugeben, aber sie sind eben auch nicht relevant für die Idee „Menschheit“, sie
beziehen sich auf das Einzelwesen, das sie erfährt. Auch für Dilthey ist nicht die Geschichte
Zweck an sich, das worum es geht, sondern der Mensch: „Alle letzten Fragen nach dem Wert
der Geschichte haben schließlich ihre Lösung darin, daß der Mensch in ihr sich selbst erkennt.
Nicht durch Introspektion erfassen wir die menschliche Natur. […] Es sind neue Kategorien,
Gestalten und Formen des Lebens, an die wir uns wenden müssen und die am Einzelleben
selber nicht aufgehen.“ (Bd. 7, 250f.)
Für die Menschheit gilt Ähnliches; sie ist keine physische Tatsache – nach Kant eben eine
Idee –, sondern vergegenständlichtes menschliches Sich-Mitteilen. Dilthey spricht von
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Objektivationenen des Geistes „durch welche die Gemeinsamkeit menschlichen Wesens
hindurchscheint und uns beständig anschaulich und gewiß ist“, s. nachfolgendes Zitat:
„Die Menschheit wäre, aufgefaßt in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische
Tatsache, und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als
Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände
erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese
Ausdrücke verstanden werden.Und zwar umfaßt dieser Zusammenhang von Leben, Ausdruck
und Verstehen nicht nur die Gebärden, Mienen und Worte, in denen Menschen sich mitteilen,
oder die dauernden geistigen Schöpfungen, in denen die Tiefe des Schaffenden sich dem
Auffassenden öffnet, oder die beständigen Objektivationen des Geistes in gesellschaftlichen
Gebilden, durch welche die Gemeinsamkeit menschlichen Wesens hindurchscheint und uns
beständig anschaulich und gewiß ist: auch die psychophysische Lebenseinheit ist sich selbst
bekannt durch dasselbe Doppelverhältnis von Erleben und Verstehen, sie wird ihrer selbst in
der Gegenwart inne, sie findet sich wieder als Vergangenes; aber indem sie ihre Zustände
festzuhalten und zu erfassen strebt, indem sie die Aufmerksamkeit auf sich selber richtet,
machen sich die engen Grenzen einer solchen introspektiven Methode der Selbsterkenntnis
geltend: nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben
auf andere belehren den Menschen über sich selbst; so lernt er sich nur auf dem Umweg des
Verstehens selber kennen.“ (Aufbau…, Bd. 7, 86f.)
Der Einzelmensch, die „psychophysische Lebenseinheit“, muss also über die Introspektion
hinauskommen; zudem heißt es vom Einzelmenschen, dass er „als isoliertes Wesen ist eine
bloße Abstraktion“ sei (Das Wesen der Philosophie, reclam S. 75). Nach Dilthey findet der
Einzelne demnach das – gattungshafte – Menschsein nicht in sich, obwohl das zugleich
vorausgesetzt wird: wie könnte er sonst die vergegenständlichten Gemeinsamkeiten
menschlichen Wesens erkennen? Das Individuum kann also nicht ursprünglich und
wesentlich sein, sonst blieben auch seine Handlungen, fixierten Lebensäußerungen etc.
unverbundene und unverbindliche Abstraktionen und könnten keine Rückschlüsse auf das
Menschsein selbst zulassen.
Dilthey scheint also unausgesprochen etwas wie eine Idee der Menschheit vorauszusetzen;
zwar geht er vom Individuum aus, auch wenn er es als Abstraktion bezeichnet, doch bleibt es
nicht bei den „fortschreitenden Erfahrungen“, die „jeden einzelnen [lehren], worin für ihn das
dauernd Wertvolle besteht“; denn die „Hauptarbeit des Lebens ist nach dieser Seite, durch
Illusionen hindurch zu der Erkenntnis dessen zu kommen, was uns wahrhaft wertvoll ist.
(Ibid. 73ff.) Drängt sich nicht der Gedanke an Kants Endzweck des Menschen auf, das
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höchste Gut anzustreben? Der Gedanke, dass praktische Vernunft und guter Wille eines und
dasselbe sind, weil das Praktische an der Vernunft bedeutet, dass sie ein ihr entsprechendes
Handeln bewirken kann? Auch wenn Dilthey differenziert in Handeln aus „Streben nach
einem Guten“ und „Bindung des Willens“, scheint er beides als Motive, als zur Tat
bewegende und sie bewirkendes „vernünftige“ Einstellungen gelten zu lassen: „Die Handlung
tritt nicht immer im Zusammenhang des Strebens nach einem Guten ein, sie kann auch das
Ergebnis einer Bindung des Willens sein. Ich habe versprochen, muß also tun und entschließe
mich zu tun. Bilde ich hier den Begriff eines mich bestimmenden Wertes von Treue,
Verläßlichkeit usw., so lassen sich diese Tugenden nur definieren durch das innere Verhältnis,
in dem der Wille sich gebunden findet und diese Bindung als zwingend anerkennt.“ (Studien
zur Grundlegung der Geisterswissenschaften, II. Studie: Der Strukturzusammenhang des
Willens, Bd. 7, 67)
Ist das „innere Verhältnis, in dem der Wille sich gebunden findet und diese Bindung als
zwingend anerkennt“, nicht auch eine Art Selbstgesetzgebung? Entspricht die beschriebene
Bindung des Willens nicht dem Begriff der Pflicht?
Eine letzte Bemerkung, die Mut macht, in der Idee oder dem Begriff der Menschheit bei Kant
und Dilthey nach Verbindendem statt nach Trennendem zu suchen, bezieht sich auf die
Bedeutung der Religion für „den Menschen“; es heißt in Bd. 4, 397: „Die Religion ist eine
notwendige Funktion des Menschen. Nach den Bedingungen, unter welchen der Mensch lebt,
ist der religiöse Prozeß eine unentbehrliche Vollendung des menschlichen Daseins“ – und
zugleich „die beständige Bedingung des geistigen Lebens der Menschheit“.
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