Folsäure - Das EU.LE

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EU.L.E.N-SPIEGEL
4/2005
Wissenschaftlicher Informationsdienst des Europäischen Institutes
für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (EU.L.E.) e.V.
Der EU.L.E.n-Spiegel ist unabhängig und werbefrei.
11. Jahrgang, 18. Oktober 2005 – www.das-eule.de
Folsäure
Schwangere in der Pflicht
Von Jutta Muth
„Die Schwangerschaft ist keine Krankheit!” Dieser freundliche Hinweis taucht
immer wieder in Frauenratgebern auf, bevor eine ganze Litanei von „Tipps für
eine gesunde Schwangerschaft” auf die Leserin niederprasselt. Ob Ernährung,
Körperhygiene, Sport oder Sex: Die selten wissenschaftlich fundierten Anordnungen reglementieren alle Lebensbereiche und strafen die anfängliche Aussage Lügen. Sie beschneiden rigoros die Selbstbestimmung der Frauen, indem sie
fordern, dass diese alles unterlassen, was ihrem Kind möglicherweise schaden
könnte, und alles tun, was nach populärer Meinung für einen ordnungsgemäßen
Schwangerschaftsverlauf notwendig ist. Unsere Urgroßmütter hätten über die
Fülle an Ratschlägen nur gestaunt. Bei ihnen war das Kinderkriegen eine Selbstverständlichkeit und eine besondere Rücksichtnahme auf die zahlreichen
Schwangerschaften selten üblich oder möglich. Im Gegenteil: Sie hatten trotz
allem einen großen Haushalt zu versorgen – und das ganz ohne Waschmaschine, Mikrowelle und Wegwerfwindeln.
Furcht statt Freude
Folsäure
Mangel auf Empfehlung
3
EPIC-Studie
Strich durch die Rechnung 12
Schlachttechniken
Suche nach dem
sanften Tod
14
Facts und Artefacts
& In aller Kürze
17
Freilandhaltung:
Spiel mit dem Risiko
Acarbose:
weiterhin fragwürdig
Da die deutsche Durchschnittsfrau statistisch gesehen 1,2 Kinder zur Welt
bringt, das heißt die erste Schwangerschaft oft auch die einzige bleibt, sind Planung und Überwachung oberstes Gebot. Bei den zehn bis zwölf vorgesehenen
Untersuchungen prüfen Ärzte im Abstand weniger Wochen, ob sich der Fötus
planmäßig entwickelt. Und je öfter sie untersuchen, desto öfter finden sie natürlich auch Normabweichungen. Inzwischen listet der Mutterpass stolze 52 Risikofaktoren auf. Je nach Dichte der Gynäkologenpraxen gelten bereits 50-80 Prozent aller Fälle als Risikoschwangerschaften, was zu noch mehr Kontrollen führt
und damit zu noch mehr Angst statt „freudiger Erwartung”.
Jod: Vom Mangel
zum Überschuss
Die Überwachung beginnt häufig schon Monate vor der „angedachten” Empfängnis, wenn der Gynäkologe zu einem gesunden Lebensstil rät. Dabei empfiehlt er in der Regel auch die Einnahme von Folsäure, was einen Neuralrohrdefekt beim Säugling verhindern soll. Welche verunsicherte zukünftige Mutter wird
Die besondere
Erkenntnis
24
Impressum
16
Luftverschmutzung
durch Bäume
Bitterresistenz durch Malaria
Reizdarm durch
blinde Passagiere
2
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FOLSÄURE
EDITORIAL
FOLSÄURE
sich diesem ärztlichen Rat widersetzen? Und sich am Ende Vorwürfe machen oder
machen lassen, wenn ihr Kind behindert zur Welt kommen sollte? Der Arzt ist ebenfalls
nicht frei in seiner Entscheidung, da er von seinen Informanten (Facharztverbände,
Pharmaindustrie, Gesundheitsbehörden) zu diesem Schritt angehalten wird. Und ganz
egal, ob er die Supplementierung selbst als sinnvoll erachtet oder nicht: Kommt es zu
einem Fall von Spina bifida und hat er die Einnahme des Vitamins vorher nicht empfohlen, so muss er mit Schadensersatzklagen rechnen.
Fragwürdiger Vitaminzwang
Demnach spielt es für die Folsäureverordnung keine Rolle mehr, ob die betroffene
Frau tatsächlich unter einem Vitaminmangel leidet oder nicht. Hinzu kommt, dass die
Präparate auch und gerade bei bestehender Schwangerschaft verschrieben werden –
obwohl sich das Neuralrohr des Embryos bereits in den ersten Lebenswochen ausbildet, also zu einem Zeitpunkt, zu dem viele Schwangere noch nichts von ihrem Glück
ahnen. Besonders fragwürdig ist diese Praxis deshalb, weil es bislang keine glaubwürdigen Belege gibt, wonach die Folsäuregabe in der üblichen Dosierung einen Nutzen
hat (siehe „Mangel auf Empfehlung” auf Seite 3).
Schwangere sind heute mehr denn je zum Freiwild für Geschäftsleute und Scharlatane geworden. Das ist nicht verwunderlich, denn das Geschäft mit der Angst der Frauen läuft prima – zumal jeder weitere Ratschlag und jede weitere Untersuchung die Unsicherheit bei der Klientel verstärken. Auch wenn Vorsorgeuntersuchungen bei echten
Risikoschwangerschaften durchaus Leben retten können: Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist schon vor Einführung der Vorsorge gesunken, hauptsächlich dank verbesserter Hygiene. Und in den letzten Jahren sorgen nur die Fortschritte in der Versorgung der
Frühchen für verbesserte Zahlen.
Nicht wenige Schwangere stürzt die Vorsorge in ein neues Dilemma, nämlich dann,
wenn ein Befund keine Behandlungsmöglichkeit aufzeigt. Wird beispielsweise im Rahmen einer Fruchtwasserpunktion eine Behinderung festgestellt, steht die Frau vor der
Entscheidung, das Kind auszutragen oder einen Abbruch vornehmen zu lassen. Wenn
sie es behält, darf sie sich eventuell ein Leben lang anhören, dass sie unvernünftig
gehandelt hat. Bei einer Abtreibung bleiben ihr die Schuldgefühle. Hier offenbart sich
das Dilemma einer Gesellschaft, die ein gesundes Baby für das zwangsläufige Ergebnis einer medizinisch überwachten Schwangerschaft hält.
Fehlgeburten durch Vorsorge
Dabei ist das pures Wunschdenken. Denn die ausgiebigen Kontrollen haben weder
die Zahl der Fehl- noch der Frühgeburten gesenkt. Im Gegenteil: Häufige vaginale
Untersuchungen können Infektionen verursachen, die als Ursache für Früh- oder Fehlgeburten bekannt sind. Eine Fruchtwasserpunktion löst in etwa einem Prozent der Fälle
eine Fehlgeburt aus. Behinderungen treten ebenfalls nicht seltener auf, sie werden nur
seltener toleriert. Eine beunruhigende Entwicklung in einer ach so liberalen Gesellschaft.
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FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
3
FOLSÄURE
Mangel auf Empfehlung
Von Brigitte Neumann
In den USA ist es längst üblich, Grundnahrungsmittel mit Folsäure anzureichern. Obwohl unser täglich Brot von einem politisch verordneten Vitaminzusatz bisher verschont blieb, könnte sich das schon
bald ändern. Denn inzwischen gelten wir alle als Mangelwesen, deren Folsäurebedarf anscheinend nicht
mehr ohne Zusatzportionen zu decken ist. Angeblich wirkt das Vitamin Wunder: Es schützt Herz und Hirn
älterer Herren und bewahrt Schwangere davor, ein Kind mit Fehlbildungen zu gebären. Doch wie steht es
um die Erfolge von Folsäuresupplementen? Und vor allem: Welche Risiken birgt eine Überdosierung?
Bereits 1988 warnte die DGE in ihrem Ernährungsbericht13 vor einem Versorgungsdefizit der Deutschen
mit einem Vitamin, das in nahezu allen Lebensmitteln
enthalten ist: der Folsäure. Als die Bundesforschungsanstalt für Ernährung daraufhin sicherheitshalber
erneut die Folsäuregehalte in Lebensmitteln untersuchte, stellte sie fest, dass diese vor allem bei Obst,
Gemüse und Innereien um ein Mehrfaches über den
bisher in den Nährwerttabellen angeführten Mengen
liegen.50 Demnach wurde die Vitaminzufuhr aufgrund
eines vorangegangenen Analysenfehlers jahrelang
unterschätzt.
Den Ernährungsexperten der DGE gelang es dennoch, sich die Folsäure als Mangelvitamin par excellence zu bewahren, indem sie einfach ihre Zufuhrempfehlungen erhöhten: Statt 300 Mikrogramm Folsäureäquivalente pro Tag sollen Erwachsene nun stolze 400
Mikrogramm aufzunehmen versuchen. Und das,
obwohl in den Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr
erläutert wird, dass bereits 100-200 Mikrogramm ausreichend sind.14 Laut einer aktuellen Stellungnahme
der DGE zur Vitaminversorgung in Deutschland liegt
zwischen dem „rechnerischen Nichterreichen” eben
dieser Referenzwerte und einem Vitaminmangel abermals eine „große Spanne”.15
Kollektives Mangelgefühl
Der vermeintliche Mangel wirkt bereits. Um den
Vorstellungen der Experten nachzukommen, reichert
die Lebensmittelindustrie jede zweite Packung Frühstücksflocken und jedes zehnte Erfrischungsgetränk
mit Folsäure an. Inzwischen landet das Vitamin selbst
in Molkereiprodukten und Salz. Die Folge ist ein deutlicher Anstieg der Folatzufuhr in der Bevölkerung. Das
Bundesamt für Risikobewertung (BfR) kommt zu dem
Ergebnis, dass die Hälfte der Erwachsenen und drei
Viertel der Kinder sogar die neuen Zufuhrempfehlungen erfüllen, und damit natürlich in vielen Fällen auch
überschreiten.16
Wie aber steht es um den Nutzen der Supplementierung? Als Erfolgsstory gilt hier nach wie vor die Prävention von Neuralrohrdefekten bei Säuglingen (siehe
„Spina bifida: Offenes Neuralrohr” auf Seite 4). Nach
Meinung britischer Wissenschaftler gehen die Fehlbildungen auf einen genetisch bedingten Fehler im Folsäuretransport zurück, der mit einer therapeutischen
Folsäuremenge von vier Milligramm täglich behoben
werden könnte, also dem Zehnfachen der DGE-Empfehlung (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 1995/H.1/S.6). Eine so
hohe Dosis ist für die allgemeine Prophylaxe jedoch
wegen der nicht ausreichend geklärten Risiken bisher
indiskutabel. Voraussetzung für ihren Einsatz wäre ein
Screening, um die Betroffenen für eine Therapie herauszufiltern – was bis heute Zukunftsmusik ist. Sollte
sich die Theorie der Briten als richtig erweisen, dann
stellt die Maßgabe der Präventionsexperten, unsere
Folsäurezufuhr mit angereicherten Nahrungsmitteln
täglich um rund 100 Mikrogramm zu steigern, einen
höchst fragwürdigen Aktionismus dar.
Wie gewonnen so zerronnen
In den USA, wo seit 1998 Mehl mit Folsäure versetzt wird, sehen es die Verantwortlichen als ihren
Erfolg an, dass die Häufigkeit der Spina bifida zwischen 1996 und 1999 um ein Viertel gesunken ist.
Betrachtet man jedoch die Prävalenz über einen längeren Zeitraum, beispielsweise von 1991 bis 2000, so
zeigt sich, dass die Fallzahl bis 1995 deutlich anstieg
und dann drei Jahre vor (!) Beginn der Folsäureanreicherung wieder zu sinken begann (siehe Abbildung 1
auf Seite 4).44 Auf den gesamten zeitlichen Verlauf
bezogen lässt sich aus dem Zusatz von Folsäure kein
positiver Effekt ableiten. Allenfalls könnte man meinen,
dass mit Beginn der Supplementation der weitere
Rückgang von Spina bifida stagnierte, da die Grafik ab
1998 nur noch geringe Abwärtstendenzen zeigt.
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FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
Auch in Kanada bediente man sich eines ebenso
einfachen wie durchschaubaren statistischen Tricks,
um den präventiven Nutzen der Folsäureanreicherung
von Mehl zu belegen.37 Die Experten rechnen vor,
dass von 1991 bis 1997 durchschnittlich 78 Prozent
mehr Neuralrohrdefekte pro Jahr auftraten als im Zeitraum 1998 bis 2001. Doch auch hier war die Anzahl
der Fälle bereits 1995 rückläufig, also schon vor der
Intervention im Jahre 1998. Damit ist der gegenwärtige
Abwärtstrend in Kanada ebenfalls kein Erfolg der Folsäuresupplementation – selbst wenn er gerne so dargestellt wird.
Die Daten von den britischen Inseln sind genauso
wenig überzeugend. Dort kam es – ohne jegliche
gesundheitspolitische Intervention – seit 1972 zu
einem rasanten Rückgang von Neuralrohrdefekten
(siehe Abbildung 2). Dieses Phänomen wurde bereits
1985 vom Pädiater John Lorber von der Sheffield-Universität ausgiebig analysiert, der es vor allem der steigenden Zahl vorzeitiger Schwangerschaftsabbrüche
aufgrund pränataler Diagnostik zuschrieb.38 In der Tat
sorgt dieser Trend langfristig für sinkende Fallzahlen,
was die Verfechter der Folsäureanreicherung aber
gerne als ihr Verdienst ausgeben. Als schließlich 1990
die Empfehlung zur Folsäuresupplementation und zwei
Jahre später die ärztliche Verschreibungspflicht an alle
Schwangeren begann, hatte das keinen erkennbaren
Einfluss auf die weitere Entwicklung der Fallzahlen.8,28
FOLSÄURE
Spina bifida: Offenes Neuralrohr
Als Neuralrohr wird die embryonale Anlage von
Gehirn und Rückenmark in den ersten Schwangerschaftswochen bezeichnet. Findet dabei eine Fehlbildung statt, so spricht man von Spina bifida („offener Rücken”, „Spaltrücken”). Sie kann von kleinen
und eher harmlosen Öffnungen an Wirbelsäule oder
Schädelknochen bis hin zu großen hautüberzogenen
sowie komplett offenen Stellen reichen. Rund 15
Prozent der Erkrankten werden bereits tot geboren,
bei der schwersten Form (Spina bifida aperta)
erreicht nur etwa die Hälfte der Betroffenen das
zweite Lebensjahr. In anderen Fällen wiederum
kommt es zu einer lebenslangen körperlichen Beeinträchtigung aufgrund von motorischen und sensiblen
Ausfällen wie Muskellähmung und Inkontinenz. Solche schweren Formen der Spina bifida sind insgesamt jedoch selten und die meisten Defekte mit einer
Operation relativ gut zu beheben.
Die Spina bifida stellt die dritthäufigste Fehlbildung bei Neugeborenen dar. „Häufig” heißt, dass die
Fallzahl in Deutschland zwischen einem und zehn
pro 10 000 Geburten schwankt. Diese Daten sind
aber mit Vorsicht zu genießen, denn bis heute fehlen
aussagekräftige nationale und internationale Erfassungsregister. Die vereinzelten Aufzeichnungen zeigen weltweit einen Rückgang der Erkrankung, ohne
jedoch einen plausiblen Grund dafür zu liefern.20,45,48
Inzidenz pro
1 000 Geburten
Beginn der
Folsäuresupplementation
Prävalenz pro
1 000 Geburten
30
3,0
2,5
Spina bifida
Spina bifida
25
2,0
20
1,5
Anenzephalie
15
Empfehlung
der Folsäuresupplementation
Ärztliche
Verschreibungspflicht
1,0
0,5
10
Anenzephalie
Jahr
Jahr
92
19
19
93
19
94
19
95
19
96
19
97
19
98
19
99
20
00
01
20
Abbildung 1: Trend von Spina bifida und
Anenzephalie in den USA44
74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96
19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19
Abbildung 2: Trend von Spina bifida und
Anenzephalie in England und Wales8,28
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FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
In der Bundesrepublik gibt es kein nationales Fehlbildungsregister. Deshalb fehlen genauere Angaben
über die Zahl der Neuralrohrdefekte und die Entwicklung der Häufigkeiten.68 Lediglich für die Stadt Mainz
liegen Daten vor sowie für das Bundesland SachsenAnhalt, wo ein Fehlbildungsregister geführt wird. Dort
sank die Häufigkeit der Spina bifida von 6,9 pro 10 000
Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 1,8 im Jahr 2003.
Ein genauer Blick auf die Statistik zeigt allerdings, dass
der Rückgang auch hier nicht auf die Folsäurezulagen
zurückgeht, sondern nur darauf, dass die pränatale
Diagnostik zu mehr Schwangerschaftsabbrüchen führt.
Denn sobald die Abtreibungen wegen Spina bifida in
die Kalkulation mit einbezogen werden, sind von Jahr
zu Jahr große Schwankungen von 3,3 bis 15,1 Fällen
ohne erkennbare Gesamttendenz zu beobachten
(siehe Abbildung 3). Entsprechend ernüchternd fällt
das Resümee des Jahresberichts von Sachsen-Anhalt
bezüglich der zuletzt ausgewerteten Daten von 2003
aus: „Die optimistische Einschätzung des Vorjahres,
die Fehlbildungsprävention durch die perikonzeptionelle Folsäureeinnahme würde erste Wirkungen zeigen,
kann in diesem Jahr eindeutig nicht bestätigt werden.”58
Laut einem Sonderbericht der internationalen Organisation EUROCAT (European Surveillance of Congenital Anomalies), die fortlaufend Daten zu angeborenen Anomalien auswertet, entwickelten sich die Fallzahlen der Spina bifida in der vergangenen Dekade in
den Ländern, in denen Schwangere per Gesetz
Prävalenz pro
1 000 Geburten
Gesamt
(Lebendgeborene
+ Aborte + Totgeburten)
160
140
120
100
80
60
Lebendgeborene
40
20
91
19
19
92
19
93
19
94
19
95
19
96
19
97
19
98
19
99
20
00
20
01
20
02
20
Jahr
3
0
Abbildung 3: Verlauf von Spina bifida (gesamt
und bei Lebendgeborenen) in Sachsen-Anhalt58
5
FOLSÄURE
zusätzliche Folsäuregaben verordnet bekommen, ähnlich wie in den Ländern, die von einer Supplementierung Abstand nahmen.20 Damit ist eine Erhöhung der
Folsäurezufuhr per Gießkannenprinzip für die Allgemeinbevölkerung keine wirksame Maßnahme zur Verringerung von Neuralrohrdefekten.
Faule Kartoffeln und schimmeliger Mais
Doch gibt es überhaupt Alternativen, um der Spina
bifida beizukommen? Zur Beantwortung dieser Frage
müssen zunächst die tatsächlichen Krankheitsursachen geklärt sein. Nachdem die intensive Suche nach
auslösenden Erbfaktoren bisher keinen greifbaren
Erfolg brachte, liegt es nahe, wieder an andere mögliche Ursachen des Neuralrohrdefekts zu denken, beispielsweise an Teratogene. Sie standen schon Anfang
der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts im Mittelpunkt des Interesses, als James H. Renwick von der
London School of Hygiene and Tropical Medicine die
Theorie aufstellte, dass ein Inhaltsstoff aus Kartoffeln
für Spina bifida veranwortlich sein könnte – einer, der
typischerweise in ausgekeimten oder angefaulten
Knollen enthalten ist. Den Anstoß für seine Forschungen gab der Tatbestand, dass die in Schottland mit
Neuralrohrdefekten geborenen Kinder vor allem in den
Monaten März bis Juli gezeugt wurden. Weil die Bevölkerung damals ihre Kartoffeln noch überwiegend selbst
und auch unter ungünstigen Bedingungen eingelagert
hatte, kamen offenbar auch solche Gerichte auf den
Tisch, die aus nicht einwandfreien Kartoffeln zubereitet
wurden.56
Im Lichte der heutigen Ergebnisse erscheint Renwicks Theorie durchaus berechtigt. So ist inzwischen
bekannt, dass unter den Alkaloiden gekeimter Kartoffeln weniger das bekannte Solanin, sondern vor allem
α-Chaconin, Solanidin sowie Solasodin teratogen wirken.22,23,29,30 Diese Alkaloide ähneln in ihrer Struktur
den Veratrum-Alkaloiden aus Heil- bzw. Giftpflanzen
(z. B. Weißer Germer), die ebenfalls Spina bifida auslösen können. Chinesische Wissenschaftler haben
mittlerweile die vorwiegend angelsächsischen Studien
experimentell bestätigt.67 Insofern hätte dieser Erklärungsansatz mindestens die gleiche Aufmerksamkeit
verdient wie die Theorie vom Folsäuremangel.
Um das teratogene Potenzial von Kartoffeln korrekt
einzuschätzen, ist jedoch ein gewisses biologisches
Verständnis nötig. Denn die Alkaloidgehalte der Erdäpfel schwanken je nach Sorte und Lagerbedingungen.
Außerdem hängt die wirksame Dosis von der Anwesenheit resorptionsfördernder Stoffe wie Saponinen
und Sapogeninen ab, die ebenfalls in Kartoffeln gebil-
6
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FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
det werden, sowie von Emulgatoren aus Verarbeitung
und Zubereitung.46 Daneben können bei der Vielzahl
an Alkaloiden synergistische Effekte auftreten.55
Auch Mykotoxine wie z. B. das Schimmelpilzgift
Fumonisin B1 stehen im dringenden Verdacht, eine
ursächliche Rolle bei der Entstehung von Spina bifida
zu spielen. Lange Zeit galt es als Rätsel, warum in
Texas nahe der mexikanischen Grenze sechsmal mehr
Neuralrohrdefekte auftraten als in den restlichen USA.
Erst Ende der neunziger Jahre wurde der Zusammenhang zwischen hausgemachten Tortillas und Neuralrohrdefekten bekannt: Je mehr Maisprodukte die Frauen gegessen hatten, desto höher war ihre Belastung
mit Fumonisin B1 und damit die Häufigkeit von Fehlbildungen bei Neugeborenen.42 Das Mykotoxin beein-
Volle Dröhnung durch Vollkorn
In Europa weisen Maismehlprodukte wie Cornflakes, aber auch andere Frühstückscerealien wie
Müsli immer wieder erhöhte Fumonisin-B1-Gehalte
auf.21 Als kanadische Wissenschaftler eine neue
Analysemethode anwendeten, mit der sie die bislang
nicht erfassten, weil gebundenen Rückstände an
Pilzgiften bestimmen konnten, fanden sie heraus,
dass 14 von 15 Frühstücksflocken belastet waren.52
Die Werte lagen dreimal höher als die bisherigen
Kontrollresultate und überschritten, gemessen an bei
uns üblichen Standards, nicht nur den Grenzwert für
diätetische Lebensmittel (100 ppb), sondern vereinzelt auch den EU-Richtwert (500 ppb). Gebundene
Rückstände sind all die Schadstoffe, die von der
üblichen Analytik nicht erfasst werden, weil sie kovalent an Zellbestandteile gebunden sind (vgl. EU.L.E.nSpiegel 1996/H.1).
Doch nicht nur der Mais ist häufig belastet, sondern auch so „gesunde” Getreidearten wie Emmer,
Dinkel und Einkorn, die im Italienischen mit dem
Sammelbegriff „Farro” bezeichnet werden. Sie landen gewöhnlich in Tagliatelle de Farro und anderen
vollkörnigen Nudelspezialitäten sowie in Gries,
Graupen und Grütze. Erst kürzlich ergaben fünf von
neun Stichproben bei süditalienischen Farro-Produkten Fumonisingehalte bis zu 70 Mikrogramm pro Kilo
Lebensmittel.10 Da sich das Pilzgift vor allem in den
Randschichten des Getreidekorns anreichert, sind
Vollkornprodukte stärker belastet als Weißmehlwaren – wobei die realen Gehalte aufgrund der gebundenen Rückstände wahrscheinlich um ein Vielfaches
höher liegen.60
FOLSÄURE
trächtigt Experten zufolge die sensible Phase der Neuralrohrbildung, indem es massiv den Aufbau der Zellmembranen stört, was letztlich – trotz normaler Folsäurezufuhr – einen Folsäuremangel innerhalb der Zellen
bewirkt.64 Im Tierversuch führt Fumonisin B1 eindeutig
zu Neuralrohrdefekten und anderen Missbildungen,
die sich mit Folsäure verhindern lassen.25 Hierbei ist zu
bedenken, dass Mykotoxine in aller Regel nicht isoliert,
sondern mit anderen Schimmelgiften vergesellschaftet
auftreten. Allein von den Fumonisinen sind etwa ein
Dutzend bekannt. Aflatoxin B1 scheint ebenfalls Spina
bifida hervorzurufen, zumindest bei Geflügel.12
Bittere Pillen
Neben bestimmten Alkaloiden und Mykotoxinen
sind auch zahlreiche Medikamente als Ursache von
Missbildungen bekannt. In Tschechien beispielsweise
war die Zufuhr von Arzneimitteln wie Antikoagulanzien
oder Antihypertensiva im ersten Trimester einer
Schwangerschaft mit einem erhöhten Risiko für Spina
bifida verbunden.62 In Norwegen, Frankreich und Holland wurden speziell unter Einnahme von Antiepileptika vermehrt Neuralrohrdefekte beobachtet.32,47,57
Dass das Epilepsiemittel Valproat zu Spina bifida führt,
gilt als gesichert.18
Weniger eindeutig ist die Datenlage bei den Folsäureantagonisten. Allerdings zeigte sich im Rahmen der
bislang größten Studie, dass solche Mütter, die Kinder
mit Neuralrohrdefekten zur Welt brachten, während der
Schwangerschaft fünfmal häufiger Antifolate eingenommen hatten als Frauen, die gesunde Kinder gebaren. Insbesondere Trimethoprim und Carbamazepin
gingen mit einem erhöhten Risiko einher.27
Neben Valproat, Trimethoprim und Carbamazepin
erwiesen sich im Tierversuch auch Lokalanästhetika
(z. B. Lidocain oder Procain), Mitomycin, Mescalin und
LSD als Auslöser von Neuralrohrdefekten.24,35,61 Von
besonderem Interesse dürfte sein, dass Vitamin A
ebenfalls Spina bifida verursachen kann, vor allem
unter Distress.19,53 Anscheinend stören die Wirkstoffe
den Folsäurestoffwechsel immer wieder an anderer
Stelle und in unterschiedlichem Ausmaß. Denn im Tierversuch war Folsäure als Antidot nicht immer so wirksam, wie es die Theorie vorhergesagt hatte.18
Spina bifida im Griff
Eine wirksame Vorbeugung von Neuralrohrdefekten ist demnach nur möglich, wenn die Zufuhr von vermeidbaren toxischen Stoffen vermindert wird. Es sollte
ohnehin zu den zentralen Aufgaben des vorbeugenden
Verbraucherschutzes gehören, Schimmelgifte oder
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11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
teratogene Alkaloide aus der Nahrung so weit wie
möglich zu eliminieren. Diese Maßnahme dürfte eine
weitaus bessere Prävention gegen Spina bifida darstellen als die Anreicherung von Mehl oder anderen
Grundnahrungsmitteln mit Folsäure. Schließlich werden Vergiftungen durch Tollkirschen, Fliegenpilz oder
Seidelbast auch nicht durch die Empfehlung vermieden, zu jeder Mahlzeit vorsorglich ein Antidot einzunehmen.
Gleichzeitig sind Vitamin-A-haltige Präparate mit
geeigneten Warnhinweisen zu versehen. Statt den
Absatz von Folsäure zu fördern, wäre es zweifellos
angebrachter, den teratogenen Effekten von Arzneimitteln mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Bei solchen
Frauen, die bereits Kinder mit Spina bifida geboren
haben, ist stets zu beachten, dass sie auffällig oft an
einer Resorptionsstörung leiden, sodass Folsäuregaben zumindest bei einem Teil der Betroffenen wirkungslos sind.51 Nicht zuletzt gilt: Selbst wenn hochdosierte Folsäure die Entstehung von Spina bifida durch
Fumonisin B1 verhindern mag, so ist ihre Wirksamkeit
in anderen Fällen (Alkaloide, Medikamente) zumindest
eingeschränkt.
Herzschmerz mit Folsäure
Nach den mageren Resultaten in Sachen Spina bifida haben die Präventionsexperten vorsorglich das
nächste Einsatzgebiet der Folsäure abgesteckt: die
Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Vitamin, so ihre
Theorie, soll hohe Homocysteinwerte senken, die
wiederum als Risikofaktor für Schlaganfall und Herzinfarkt gelten. Die DACH-LIGA Homocystein – jene
Experten aus Deutschland, Österreich und der
Schweiz, die auch die Nährwertempfehlungen herausgeben – hat bereits Richtlinien und Empfehlungen verabschiedet, nach denen erhöhte Homocysteinwerte
(>10 Millimol pro Liter) mit Folsäuresupplementen therapiert werden sollen.63 Bloß: Bislang gibt es keine
brauchbare Studie, in der sich Folsäure als Prophylaxe
gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen tatsächlich bewährt hätte.
z Im Rahmen der Untersuchung „Vitamin Intervention for Stroke Prevention” senkten Extraportionen an
Folsäure zwar den Homocysteinspiegel von Schlaganfallpatienten – doch das Risiko für einen neuerlichen
Schlaganfall oder einen Herzinfarkt blieb dabei unverändert (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 2005/H.1/S.16). Auch eine
randomisierte Kontrollstudie mit knapp 280 Probanden
ergab, dass sich niedrige Homocysteinspiegel im Blut
wider Erwarten nicht positiv auf die Blutgerinnung auswirken.17
7
FOLSÄURE
z Die Auswertung der Nurses Health Study mit über
83 000 Teilnehmerinnen ergab ebenfalls keinen
Zusammenhang zwischen der Folsäurezufuhr und
dem Auftreten von Schlaganfall, obwohl die Autoren
sehr gründlich vorgingen: Sie unterschieden fünf Subtypen der Erkrankung und differenzierten zwischen
jener Folsäure, die mit der Nahrung aufgenommen
wurde, und solcher, die aus Supplementen stammte.
Doch wie sie ihr Zahlenmaterial auch drehten und wendeten: Ein Nutzen der Folsäure wollte einfach nicht
herauskommen.1
z Bei der Health Professionals Study wiesen die
Probanden mit dem höchsten Folsäurekonsum tatsächlich ein niedrigeres ischämisches Schlaganfallrisiko auf. Da diese Gruppe allerdings auch am häufigsten
zu blutdrucksenkenden Mitteln griff, bleibt offen, ob der
Effekt auf dem Vitamin beruhte.26
z Als riskant erwiesen sich Folsäuregaben für HerzKreislauf-Patienten mit einem Stent. Obwohl das Vitamin eigentlich Verengungen der Herzkranzgefäße vorbeugen sollte, trat genau das Gegenteil ein: Von den
über 300 Studienteilnehmern, die täglich ein Milligramm Folsäure plus andere B-Vitamine erhielten, litten am Ende rund 35 Prozent erneut unter einer Verengung der Koronarien. Bei der Kontrollgruppe waren
es nur 27 Prozent. Die Studienleiter machen wachstumsfördernde Effekte der Folsäure für dieses Phänomen verantwortlich.34
z Die Resultate der NORVIT-Studie (Norwegian
Vitamin Trial), die erstmals auf dem europäischen Kardiologenkongress 2005 in Stockholm präsentiert wurden, kratzen noch stärker am Mythos der niedrigen
Homocysteinwerte und der Wirksamkeit von Folsäure.
Zwar sank der Homocysteinspiegel von 2 000 Patienten, die schon einmal einen Herzinfarkt erlitten hatten,
im Vergleich zur Placebogruppe um 28 Prozent. Das
Risiko eines zweiten Herzinfarktes blieb allerdings mit
18 Prozent in beiden Gruppen gleich. Wer zusätzlich
zu dem Folsäure-B12-Cocktail auch Vitamin B6
schluckte, steigerte sein Risiko sogar auf 23 Prozent.3
Folsäure gegen Demenz: Vergiss es!
Trotz aller Rückschläge dreht sich das Karussell
der Wunderwirkungen munter weiter. Große Hoffnungen setzen die Experten nun auf die Folsäure im
Kampf gegen Depressionen, Alzheimer-Krankheit und
Altersdemenz. Inzwischen wird der Zielgruppe, also
der steigenden Zahl an Senioren, per Werbung suggeriert, sie könnten sich mit Folsäure vor Vergesslichkeit
8
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
schützen. Im Umkehrschluss heißt das: Wer keine
Supplemente nimmt, ist selbst schuld, wenn er
erkrankt – was natürlich die Motivation einer „Vorsorge” durch Pillenkauf ungemein beflügelt. Ein Blick in
die Datenlage verrät allerdings, dass die Studien, auf
die sich die Verheißungen beziehen, ziemlich windig
sind.
z Eine italienische Untersuchung zeigte, dass
demente Greise im Schnitt mehr Homocystein und
weniger Folsäure im Blut haben als Betagte, die nicht
an Demenz leiden. Die Autoren werten deshalb beides
als Risikofaktoren. Dabei legen ihre Ergebnisse einen
anderen Zusammenhang nahe, der viel plausibler
erscheint: Je älter die Teilnehmer waren, desto häufiger kam es bei ihnen zum Gedächtnisverlust.54
z Auf dem diesjährigen Alzheimer-Kongress in
Washington weckten holländische Forscher große
Hoffnungen. Sie hatten 818 gesunden Probanden im
Alter von 50 bis 75 Jahren drei Jahre lang täglich 800
Mikrogramm Folsäure oder Placebo verabreicht.
Anschließend mussten die Teilnehmer einen Intelligenztest absolvieren. Wer Folsäure supplementiert
hatte, brachte es angeblich zu einer um 5,5 Jahre „verjüngten” Merkfähigkeit.5,36 Da die Daten bisher noch
nicht in der Fachpresse veröffentlicht wurden, dürfen
wir spekulieren, wie man aus einem Intelligenztest auf
das Alter schließen kann.
z Eine im Juni 2005 veröffentlichte Studie kam
denn auch zum gegenteiligen Ergebnis. An ihr nahmen
3 700 Senioren aus Chicago teil, allesamt älter als 65
Jahre. Wer täglich an seine Folsäuretablette dachte,
wurde schließlich mit einem doppelt so hohen
Gedächtnisverlust bestraft wie solche Altersgenossen,
die ohne Supplemente auskamen.49
z Ebenfalls in Chicago testeten Wissenschaftler
den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten und der Folsäurezufuhr. Doch
weder bei den Gedächtnistests noch bei den Untersuchungen zur sprachlichen Ausdrucksfähigkeit konnte
die Folsäuregruppe besser punkten. Die Teilnehmer
mit den höchsten Folsäure- und den niedrigsten
Homocystein-Plasmaspiegeln fielen lediglich bei Malübungen durch schönere Bildchen auf. Womit natürlich
bewiesen wäre, dass Folsäure geistig frisch hält.66
z Wenn Folsäure weder klüger noch jünger macht,
könnte sie dann nicht wenigstens zu besserer Laune
verhelfen? Wie eine Metaanalyse der drei vorhandenen und ziemlich kleinen Studien zum Thema resü-
FOLSÄURE
miert, darf man aufgrund der begrenzten Erkenntnisse
zwar vermuten, dass Folsäure womöglich antidepressiv wirken könnte. Doch beweisen lässt es sich damit
nicht.65
Bei Risiken und Nebenwirkungen ...
Lange Zeit hatten sich die Mediziner gegen eine
Folsäuresupplementierung gewehrt, weil dies einen
Vitamin-B12-Mangel maskieren kann. In der Tat verschleiert eine hohe Folsäurezufuhr vor allem bei
Senioren und Veganern die Symptome eines akuten
und unter Umständen lebensbedrohlichen Mangels an
Vitamin B12. Dabei bleiben die typischen und diagnostisch wichtigen hämatologischen Schäden aus, während das Nervensystem irreversibel geschädigt wird.59
Deshalb enthalten hochdosierte Folsäuresupplemente
mittlerweile gleichzeitig auch Vitamin B12.
Abgesehen von dieser heiklen Wechselwirkung
stimmt es bedenklich, dass Folsäure den unterschiedlichen Nahrungsmitteln als synthetisches Pteroylmonoglutamat (PGA) zugesetzt wird. Denn im Gegensatz zu
den natürlicherweise coenzymgebundenen Folaten,
die bei ihrer Aufnahme einer Sättigung unterliegen,
gelangt das PGA nahezu unbegrenzt durch die Darmmukosa, was einen starken Anstieg des Folsäurespiegels im Blut zur Folge hat.31 Hinzu kommt, dass der
menschliche Körper den Verlust an Folsäure mit seinem enterohepatischen Kreislauf stets niedrig hält.
Demnach dürfte das PGA die biologische Homöostase
gleich doppelt aushebeln. Aus Fütterungsversuchen
mit trächtigen Ratten weiß man, dass Folsäuresupplemente die Eiweißverwertung der Föten im Mutterleib
behindern, was zu leichteren und kleineren Nachkommen führt.43 Beim Menschen gelten 15 Milligramm Folsäure (drei- bis vierfache therapeutische Dosis) als
Auslöser von Albträumen, Depressionen, allergisch
bedingten Bronchospasmen, Appetitlosigkeit, Nausea
und Flatulenz.2
Auch die Zellteilung bleibt von hohen Folsäuremengen offenbar nicht unbehelligt. So zeigte die bereits
erwähnte NORVIT-Studie bei Probanden mit hoher
Folsäurezufuhr einen Trend zu mehr Krebserkrankungen. Dass Folsäure die Zellteilung entarten lassen
kann, war schon von Frauen bekannt, die im Rahmen
einer britischen Untersuchung in den sechziger Jahren
entweder 0,2 oder fünf Milligramm des Vitamins eingenommen hatten. Im Vergleich zur Placebogruppe
erkrankten die supplementierten Frauen unabhängig
von der Dosierung häufiger an Brustkrebs (0,9 Prozent
Placebo versus 1,5 Prozent Supplemente).11
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
Auf ein erhöhtes Krebsrisiko durch Folsäuresupplemente deutet nicht zuletzt die Verwendung so genannter Antifolate in der Medizin hin. Antifolate dienen der
Behandlung von Krebs und werden vor allem gegen
akute Leukämie bei Kindern eingesetzt. Außerdem
kommen sie bei rheumatischen Entzündungen und
Infektionen zur Anwendung, speziell als Malariaprophylaxe und -therapie (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 1999/
H.1/S.14). Trotz der Verschiedenheit ihrer Wirkstoffe
haben diese Medikamente eines gemeinsam: Sie
blockieren letztlich die folsäureverwertenden Enzyme
– entweder in der Tumorzelle oder im Krankheitserreger. Unkontrollierte und hohe Folsäurezufuhren können deshalb die Wirkung der Antifolate stark behindern. Oder andersherum: Die überschüssige Folsäure
nutzt den Krankheitserregern und Krebszellen.6
Von den fatalen Nebenwirkungen in der Praxis
zeugte erst jüngst eine Studie mit malariakranken kenianischen Kindern, denen neben den Antimalariamitteln
zur Therapie der Anämie auch Folsäure gegeben
wurde. Im Unterschied zur Kontrollgruppe, die keine
Folsäuresupplemente erhielt, lebten die Malariaerreger
in den Kindern, die Folsäurepillen schluckten, munter
weiter.9 Auf Grund solcher Beobachtungen warnt die
Weltgesundheitsorganisation davor, parallel zur Malariaprophylaxe Folsäure zu verabreichen.69
Eigenes Klientel gezeugt
Womöglich sind diese Ergebnisse nur das Wetterleuchten eines brisanteren Effektes, auf den vor allem
Forscher aus dem Bereich der Nutrigenomics hinweisen. Dem australischen Ernährungsgenetiker Mark
Lucock zufolge besteht die Gefahr einer ständig steigenden Folsäurezufuhr darin, dass es beim Embryo
zur bevorzugten Ausprägung einer speziellen Variante
des Gens MTHFR kommt, das letztlich die Vitaminverwertung und den daraus resultierenden Bedarf kommender Generationen beeinflusst. Denn je mehr Folate in der Nahrung enthalten sind, desto häufiger tritt die
Genvariante auf. So gibt es etwa in Europa ein SüdNord-Gefälle sowohl was die Folsäurezufuhr als auch
die entsprechende Ausprägung von MTHFR angeht.
Während letztere in den von Folsäuremangel betroffenen Ländern Afrikas kaum vorkommt, ist sie bei Afroamerikanern mit guter Folsäurezufuhr sehr viel häufiger.40
Die spezielle Genausprägung sichert dem Embryo
in einer frühen Entwicklungsphase das Überleben.
Jedoch funktioniert sie nur dann zuverlässig, wenn sie
ständig mit Folsäure „gefüttert” wird. Ist das nicht der
Fall, dann steigt das Risiko für Leukämie, Dickdarm-
9
FOLSÄURE
Antifolate gegen Krebs und Malaria
Folsäure dient dem Menschen in Form von Tetrahydrofolsäure (THF) zur Synthese von DNA-Bausteinen, also von Purin- und Pyrimidinnukleotiden. Das
Vitamin spielt folglich eine wichtige Rolle für die Zellvermehrung, weshalb schnell wachsende Tumoren
am meisten davon profitieren. Folatantagonisten
gegen Leukämie wie Aminopterin und Methotrexat
besitzen eine analoge Struktur zur THF-Vorstufe
Dihydrofolsäure (DHF) und hemmen somit kompetitiv die Bildung von THF durch das Enzym DHFReduktase.
Obwohl Methotrexat gegen viele Tumorzellen
wirkt, tötet es zugleich alle anderen Zellen mit hoher
Teilungsrate ab. Dazu gehören Knochenmarkstammzellen genauso wie Epithelzellen des Intestinaltraktes oder Haarfollikel. Die Folge sind Erbrechen,
Haarausfall und Schwächung des Immunsystems.
Außerdem können sich Tumorzellen gegen Folsäureantagonisten wehren, indem sie vermehrt DHFReduktasen bilden oder Enzymvarianten, die weniger stark durch die Medikamente beeinträchtigt werden. Auch die verminderte Aufnahme des Arzneistoffes in die Zelle verhilft ihnen zur Resistenz.
Bei Bakterien und Plasmodien ist eine gezielte
Störung der THF-Bildung durch Sulfonamide oder
andere Chemotherapeutika möglich. So hemmt beispielsweise Trimethroprim als Folatanalogum die
mikrobielle DHF-Reduktase. Pyrmethramin wirkt
gegen die DHF-Reduktase von Plasmodien und
anderen Protozoen.7,33,41
krebs, Schwangerschaftskomplikationen und Geburtsdefekte.39 Sollte sich die Prophezeiung von Lucock
bestätigen und die erhöhte Folsäurezufuhr tatsächlich
einen genetischen Selektionsdruck bewirken, dann
würden die Präventionsexperten mit ihren Programmen im wahrsten Sinne zur „Zeugung” ihres Klientels
beitragen. Damit hätten sie dann ihre eigene Existenzberechtigung auf Kosten der Gesundheit anderer gesichert.
Alles nur ein Marketing-Gag?
Die wissenschaftliche Datenlage zur Folsäure entwickelt sich zunehmend konträr zu den Absichten der
Präventionsmediziner. Mittlerweile sprechen immer
mehr Ergebnisse dagegen, eine breit angelegte Supplementierung mit Folsäure zu beginnen, fortzusetzen
oder gar aufzustocken. Doch der eigens zu diesem
10
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
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FOLSÄURE
SUPPLEMENTIERUNG
Zweck gegründete Arbeitskreis Folsäure zeigt sich
hartnäckig: Unbeeindruckt von der Datenlage rückt er
keinen Millimeter von seinen Zielen ab.70
So forderte Klaus Pietrzik vom Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Bonn und Vorsitzender des Arbeitskreises Folsäure in einem Pressegespräch sogar eine Verdoppelung der Folsäuregaben
an Schwangere. Sponsor des Gesprächs war das
Pharmaunternehmen Merck, das gerade ein neues
Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt gebracht
hatte.4 Nicht nur der Firma Merck steht der Vorsitzende nahe. Aus der Homepage des Arbeitskreises geht
eine enge Verbindung mit zwei Vereinen zur Vitaminforschung hervor. Während eine Vereinigung vom ehemaligen Vitaminproduzenten Roche gegründet wurde,
genießt die andere das Privileg, als einziges Portal mit
der deutschsprachigen Internetseite von Roche verknüpft zu sein.71,72
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EU.L.E. AUF ENTENJAGD
EPIC-STUDIE
EU.L.E. AUF ENTENJAGD
EPIC-Studie: Strich durch die Rechnung
Von Tamás Nagy
„Längeres Leben mit Olivenöl, Fisch, Gemüse”,
jubelte die Ärzte Zeitung pünktlich zur diesjährigen
Diätsaison. Und das Handelsblatt versicherte: „Mittelmeer-Diät verlängert Leben tatsächlich.” Beide Schlagzeilen bezogen sich auf die Ergebnisse der EPIC-Studie (European Prospective Investigation into Cancer
and Nutrition) mit über einer halben Million Teilnehmern aus neun europäischen Staaten. Selbst wenn der
skeptische Leser dem stets „mit größter Sorgfalt”
(Eigenlob) recherchierenden Handelsblatt nicht glauben mag: Sollte er ernsthaft am Resultat einer so
umfangreichen Untersuchung zweifeln, die einhellig
als Meilenstein ernährungsmedizinischer Forschung
gefeiert wird?
In der Tat kommen die Autoren nach Auswertung
der Daten von mehr als 74 000 Senioren zu einem
beeindruckenden Fazit: „Durch die Mittelmeerdiät (in
einer modifizierten Form für ganz Europa) verlängerte
sich die Überlebenszeit für ältere Menschen.” Was für
ein Glück für die Forscher, dass die Redaktionen den
Rest der Studie offenbar nicht genauer lasen. Sonst
Lebensmittelgruppe
Durchschnittsverzehr Männer
(Gramm/Tag)
Kartoffeln
127,2
DurchVeränderung
schnittsver- der Mortalität
zehr Frauen (Prozent)
(Gramm/Tag)
87,8
+1
Hülsenfrüchte
12,2
10,7
+2
Obst
232,5
280,4
-4
Milchprodukte
336,7
341,4
+3
Fleisch
119,4
86,8
+3
Fisch
40,7
33,5
+/-0
Süßwaren
43,2
35,7
-1
gesättigte
Fettsäuren
34,6
28,5
+7
einfach
ungesättigte
Fettsäuren
34,4
27,6
+5
mehrfach
ungesättigte
Fettsäuren
15,2
12,6
-1
Tabelle 1: Veränderungen der Mortalität in
Abhängigkeit von den Verzehrsgewohnheiten.
Nach Trichopoulou A et al. (2005)
wäre ihnen aufgefallen, dass diese, wenn überhaupt
etwas, dann eher das Gegenteil beweist.
Fauler Eiertanz
Bereits die Art und Weise, wie die Wissenschaftler
die Ernährungsgewohnheiten der Studienteilnehmer
einstuften, erscheint reichlich willkürlich. Aßen die
Senioren überdurchschnittliche Mengen an Gemüse,
Hülsenfrüchten, Obst, Getreide oder Fisch, so wurde
ihre Kost auf einer dafür eigens ersonnenen „Mittelmeer-Skala” mit einer hohen Punktzahl bewertet. Das
war auch der Fall, wenn sie „ungünstige” Lebensmittel
wie Fleisch oder Milchprodukte mieden oder regelmäßig etwas Alkohol konsumierten. Warum die internationale Autorenriege aber darauf verzichtete, den Konsum von Eiern, Kartoffeln, Zucker und Süßwaren in die
Skala mitaufzunehmen, bleibt offen – vor allem, weil
sie just diese Speisen bei der Korrelation der Sterblichkeit mit dem Verzehr von Lebensmitteln berücksichtigte (siehe Tabelle 1). Dafür fehlt in dieser Gegenüberstellung der Alkohol. Er wird kurioserweise nicht der
Ernährung, sondern dem Lebensstil zugeordnet.
Für ein günstiges Verhältnis von einfach ungesättigten zu gesättigten Fettsäuren gab es ebenfalls Mittelmeerpunkte. Schließlich ist dies ein Maßstab für den
Olivenölverbrauch, zumindest was das südliche Europa angeht. In Mittel- und Nordeuropa sieht die Sache
schon anders aus: Zwar werden auch dort „gesunde”
einfach ungesättigte Fettsäuren verzehrt – allerdings
stammen diese, wie die Autoren gegen Ende der Studie gestehen, vor allem aus Fleisch. Bei genauer
Betrachtung enthält Schweine- oder Rindfleisch sogar
mehr einfach ungesättigte als gesättigte Fettsäuren.
Folglich hätte ein hoher Fleischkonsum die mediterrane Punktezahl sowohl gedrückt als auch erhöht. Um
diesen mehr als peinlichen Widerspruch zu lösen,
mussten die Statistiker tief in ihre Trickkiste greifen:
„Damit die Skala auch auf Populationen außerhalb des
Mittelmeerraums angewendet werden konnte, die nur
wenig einfach ungesättigte Fettsäuren aus Olivenöl
aufnehmen, haben wir die einfach ungesättigten Fettsäuren im Zähler des Fettsäureverhältnisses durch die
Summe aus einfach ungesättigten und mehrfach ungesättigten Fettsäuren ersetzt.” Dadurch wird der Fleischeffekt immerhin statistisch wieder etwas „verdünnt”.
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
EU.L.E. AUF ENTENJAGD
EPIC-STUDIE
Münzenwurf statt Millionenprojekt
Ob die „Mittelmeer-Skala” nun faul ist oder nicht:
Der Einfluss der unterschiedlichen Lebensmittel auf die
Sterblichkeit stellte sich sowieso als statistisch irrelevant heraus (siehe Tabelle 1 auf Seite 12). Mit viel
Phantasie könnte man in die minimalen Schwankungen allenfalls hineininterpretieren, dass Olivenöl
lebensverkürzend und Schokolade lebensverlängernd
wirkt. Doch nicht einmal dazu taugen die Zahlen. Denn
die Autoren haben angesichts der unerheblichen Effekte klugerweise durchgängig auf die Berechnung der
Signifikanz verzichtet. Demnach ist das Ergebnis
weder relevant noch signifikant, sondern willkürlich und
wertlos. Mit anderen Worten: Man hätte sich das viele
Geld für die Studie sparen und stattdessen einzelne
Münzen in die Luft werfen können.
Während die „gesunden” Lebensmittel keinen Einfluss auf die Sterblichkeit hatten, erwies sich wieder
einmal der regelmäßige Konsum von Alkohol als
Schutzfaktor. Außerdem profitierten die männlichen
Studienteilnehmer vom Übergewicht (BMI über 25),
das mit einer geringeren Sterblichkeit einher ging als
Normalgewicht (BMI unter 25). Die Frauen indes lebten
umso länger, je gesünder ihr Appetit war und je kalorienreicher sie aßen. Doch auch hier ist Vorsicht bei der
Interpretation geboten, zumal die Autoren nicht
bedacht haben, dass die Ernährungsweise alter Menschen ganz wesentlich vom Zustand ihres Gebisses
abhängt. Während des siebenjährigen Beobachtungszeitraums dürften bei nicht wenigen der anfangs noch
gesunden Teilnehmer Kauprobleme aufgetreten sein,
die zu einer Mangelernährung und damit zu einer
erhöhten Sterblichkeit führten. Ähnliches gilt für den
Faktor „Bewegung”: Die Tatsache, dass rüstige Senioren länger leben als gehbehinderte, liegt auf der Hand
und bedarf eigentlich keiner groß angelegten Untersuchung.
Dicke leben länger
Ihre Daten scheinen die Autoren jedoch nicht weiter
zu kümmern, denn sie schließen mit einem euphorischen Plädoyer für mediterrane Kost: „Eine Kost, die
reich an pflanzlicher Nahrung und ungesättigten Fettsäuren ist und sich an der Mittelmeerdiät orientiert, ist
demzufolge besonders gut für ältere Menschen geeignet, eine in ganz Europa rasch wachsende Bevölkerungsgruppe.” Ein Schlusswort, das den Ergebnissen
der Studie gerecht wird, hatten sie nicht parat. Kein
Wunder, denn das wäre wohl eher so ausgefallen: „Die
Mittelmeerkost hat – vom Alkohol abgesehen- keinen
13
EU.L.E. AUF ENTENJAGD
Einfluss auf die Lebenserwartung von Senioren.” Und
welche Schlagzeile hätte die Studie tatsächlich hergegeben? Richtig: „Dicke Männer leben länger als normalgewichtige!”
Literatur
Trichopoulou A et al: Modified mediterranean diet and
survival: EPIC-elderly prospective cohort study. British
Medical Journal doi:10.1136/bmj.38415.644155.8F (Die
gedruckte Fassung wurde im British Medical Journal
2005/330/S.995-999 veröffentlicht und ist eine gekürzte Version der Internetausgabe.)
Variable
Mortalität
Männer *)
Mortalität
Frauen *)
Rauchgewohnheiten
Nichtraucher
7,9
4,4
Ex-Raucher
11,3
6,7
Raucher
17,7
10,2
12,1
5,4
11,1
5,9
11,1
5,8
11,4
5,5
gering
13,1
6,6
mittel
10,9
5,6
hoch
10,7
5,0
gering
(<10 Gramm)
12,8
6,1
moderat
(10-50 Gramm)
9,4
4,9
hoch
(>50 Gramm)
13,9
6,2
BMI
<25
>25
Energiezufuhr
<8,374 Megajoule
>8,374 Megajoule
Bewegung in der
Freizeit
Alkoholzufuhr **)
Tabelle 2: Sterblichkeit in Abhängigkeit von
Lebensstilfaktoren. Nach Trichopoulou A et al.
(2005)
*) Anzahl der Todesfälle in 7,5 Jahren pro 1 000
Personenlebensjahre
**) Mengenangaben pro Tag für Männer; für Frauen jeweils
die Hälfte
14
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SCHLACHTTECHNIK
ALTERNATIVEN
SCHLACHTTECHNIK
Suche nach dem sanften Tod
Von Jutta Muth
„Bemerkenswerterweise ist die Suche nach einem
unbedenklichen Betäubungsverfahren für MassenTiertötungen in unserer, schließlich auch medizinisch
hochentwickelten Welt noch immer in vollem Gange”,
moniert Jörg Luy vom Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Labortierkunde der Freien Universität Berlin.
Erhebliche Schwierigkeiten bestehen laut Luy nicht nur
bei der Massentötung von Geflügel, Schweinen und
Rindern im Seuchenfall, sondern bereits bei der alltäglichen Praxis einer angst- und schmerzlosen Schlachtung.
Rinderschutz kontra Verbraucherschutz
In der Tat geriet die bisher übliche Schlachttechnik
mittels Bolzenschuss während der BSE-Krise in die
Kritik. Beim Eindringen des Metallbolzens ins Gehirn
des Rindes würde, so die Befürchtung, eventuell infiziertes Gewebe über den noch funktionierenden Blutkreislauf im Schlachtkörper verteilt. Untersuchungen
ergaben jedoch, dass nur äußerst geringe Mengen
Hirngewebe in andere Organe gelangen und das Infektionsrisiko für den Menschen entsprechend gering ist.
Sicherheitshalber wird heute dennoch die SchussSchlag-Betäubung eingesetzt. Sie beruht auf einem
dumpfen Schädelschlag mit einer geschossenen
Metallscheibe, was beim Rind eine schwere Gehirnerschütterung auslöst. Allerdings kann auch diese Technik aufgrund des kräftigen Schlages die Streuung von
ZNS-Gewebe nicht ganz ausschließen. Bedenklich ist
vor allem, dass bis zu zwölf (!) Prozent der Tiere bei
Bewusstsein bleiben. Als Alternative bietet sich die neu
entwickelte Betäubungsfalle an, bei der gleichzeitig
Kopf- und Brustelektroden zum Einsatz kommen. Sie
betäuben nicht nur, sondern lösen zudem ein Herzkammerflimmern aus, das zum Herzstillstand führt.
Das Stechen der Tiere ist in der Falle unmittelbar nach
dem Ende des Stromflusses möglich: Mit einem gezielten Messerschnitt am Hals oder an der Brust werden
die Hauptblutgefäße durchtrennt, was einen hohen
Blutverlust bewirkt, die Sauerstoffversorgung des Hirns
unterbricht und so zum Tod der Rinder führt.
Schweinereien bei Schweinen
Die Schlachtung von Schweinen ist ebenfalls heikel, wenn auch aus anderen Gründen. Die Tiere werden derzeit elektrisch oder mit Kohlendioxid betäubt.
Beide Verfahren sind nicht tierschutzgerecht, insbesondere wegen der Gefahr des Wiedererwachens vor
dem Tod. In der Regel sterben die Schweine durch das
Stechen. Setzt die Entblutung aber zu spät nach der
Narkose ein oder verläuft sie zu kurz, so können die
Tiere das Bewusstsein wiedererlangen. Stichproben
ergaben, dass ein Prozent der Schweine unmittelbar
vor der Brühanlage noch wach war. In einer Anlage
galt das sogar für 14 Prozent. Demnach ist also nicht
nur stets zu kontrollieren, ob die Entblutung erfolgreich
verläuft, sondern auch darauf zu achten, dass die Zeitspanne zwischen Betäubung und Tötung möglichst
kurz bleibt. Tiere, die nach dem Stechen noch bei
Bewusstsein sind, müssen sofort von Hand nachbetäubt werden.
Die Problematik lässt sich durch eine weitere Maßnahme entschärfen: Wenn zusätzlich zur Elektrozange
oder Kohlendioxid-Begasung eine Herzelektrode
gesetzt wird, kommt es zum Herzkammerflimmern und
damit zu einer irreversiblen Betäubung. Die Tiere
erwachen dann selbst bei unzureichendem Entbluten
nicht mehr. Klaus Troeger von der Bundesanstalt für
Ernährung und Lebensmittel in Kulmbach fordert daher
ein Verbot reversibler Verfahren.
Im Vergleich zur Elektrobetäubung hat die Kohlendioxidmethode den Vorteil, dass sie den gruppenweisen Zutrieb von Schlachttieren erlaubt und ihnen damit
den Stress erspart, der beim Ansetzen der Kopfelektrode am einzelnen Schwein entsteht. Allerdings führt das
Gas beim Tier zu schmerzhaften Reizungen der Atemwege und Atemnot (siehe „Kohlendioxid: Methode mit
Tücken” auf Seite 15). Auf der Suche nach Alternativen
wurde eine Betäubung mit einem Argon-StickstoffGemisch entwickelt, die jedoch aufgrund des verwendeten Edelgases erheblich teurer ist. Da dabei außerdem Blutpunkte im Muskelgewebe auftraten, kann sie
noch nicht für die Praxis empfohlen werden.
Hühner lebendig ausgenommen
Geflügel wird in größeren Schlachtbetrieben elektrisch betäubt. Die Tiere hängen kopfüber in einem
Laufband, welches ihre Köpfe durch ein unter Strom
stehendes Wasserbecken zieht. Bei ausreichender
Stromstärke kommt es hier zwar sehr schnell zu einer
Betäubung – jedoch ist diese nur dann irreversibel,
wenn die Stromstärke ausreicht, um auch ein Herz-
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SCHLACHTTECHNIK
ALTERNATIVEN
kammerflimmern auszulösen. Weil die Betriebe
Muskelblutungen im Schlachtkörper vermeiden wollen,
setzen sie hochfrequente Ströme mit geringer Stromstärke ein. Das führt oftmals zur Lähmung, aber nicht
zur Betäubung.
Zudem ist das Verfahren für die Tiere stressig und
schmerzhaft. Sie werden mit den Krallen in enge
Metallbügel eingehängt und erleiden manchmal vorzeitige Stromstöße durch schlecht isolierte Anlagen und
Wasserspritzer. Natürlich wehren sich viele Vögel und
versuchen, das Eintauchen des Kopfes zu verhindern,
was Verletzungen bis hin zu Knochenbrüchen zur
Folge hat. Abgesehen davon besteht die Gefahr, dass
einzelne Tiere der Betäubung tatsächlich entgehen.
Sind sie durch zu geringe Stromeinwirkung nur
gelähmt, so fallen sie nicht einmal mehr dem so
15
SCHLACHTTECHNIK
genannten „Nachschneider” auf, der in der Regel
jedem Vogel den Hals abschneidet, der nach dem
Tauchbad noch flattert.
Der Einsatz von Kohlendioxid ist eine praxistaugliche Alternative. Die Tiere leiden dabei zwar teilweise
unter Schleimhautreizungen und Atemnot, was aber
letztlich weniger belastend ist als die Elektrobadmethode. Wie bei den Schweinen experimentiert man auch
hier mit Edelgas. Dies führt aber in der Betäubung zu
starken Krämpfen.
Hinrichtung bei vollem Bewusstsein
Die Betäubung von Schlachttieren ist gesetzlich
vorgeschrieben, um ihr Leiden vor dem Tod zu vermindern. Deshalb gibt das Schächten aus religiösen Grün-
Kohlendioxid: Methode mit Tücken
In der Vergangenheit wurden auch Menschen mit
Kohlendioxid betäubt, beispielsweise im Rahmen
einer Anästhesie in der Psychiatrie oder in der Gynäkologie. Einige Patienten beschrieben die Methode
hinterher als angenehm, andere als unangenehm.
Während der Kohlendioxidanteil im Humanbereich in
der Regel höchstens 30 Prozent betrug, setzt man
Schlachtschweine einer Konzentration von 80 bis 90
Prozent CO2 aus, da sonst keine sichere Betäubung
erfolgt.
Atemnot und Panik
Der relativ hohe Anteil an CO2 geht jedoch mit
unerwünschten Nebenwirkungen einher wie z. B.
einer Schleimhautreizung. Außerdem reagieren
Schweine genauso wie Menschen individuell unterschiedlich auf steigende Kohlendioxidgehalte: Vor
allem stressempfindlichere Tiere neigen zu Abwehrreaktionen und Fluchtversuchen. Das verstärkt die
durch das Gas bereits stark beschleunigte Atmung,
was letztlich zu Atemnot führt, noch bevor die
Bewusstlosigkeit eintritt. Um zu verhindern, dass sich
die panischen Tiere gegenseitig verletzen und um das
Auftreten von Krämpfen während der Betäubung zu
verringern, versucht man in der Praxis durch schnelle
CO2-Anflutung sowie hohe Gaskonzentrationen eine
möglichst rasche Narkose herbeizuführen.
Neben der individuellen Empfindlichkeit gegenüber
dem Kohlendioxid entscheidet zudem die Art des Tiertransports und -zutriebs darüber, ob das Verfahren reibungslos verläuft. Sind die Schweine schon vor der
Betäubung aufgeregt, so empfinden sie diese viel
eher als unangenehm und wehren sich dagegen. Der
Landesbeirat für Tierschutz in Baden-Württemberg
sieht deshalb einen Vorteil in modernen Anlagen, die
einen Gruppenzutrieb der Schweine erlauben. In seiner kürzlich erschienenen Beurteilung der CO2Methode bei Schweinen weist der Beirat darauf hin,
dass „die CO2-Betäubung in gut konzipierten und eingestellten, modernen Anlagen im Vergleich zur
Elektrobetäubung mit Vereinzelung (...) durch den
geringen Anteil schlecht betäubter Tiere und der besseren Schlachtkörperqualität deutliche Vorteile hat”.
Die Experten bewerten daher das Kohlendioxidverfahren „als akzeptable Methode zur Betäubung von
Schlachtschweinen”.
Unersetzbar und umstritten
Ähnlich lautet die Einschätzung des Wissenschaftlichen Gremiums für Tiergesundheit und Tierschutz,
das von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit einberufen wurde. „Die Betäubung mit Gas
ist ein potenziell humanes Betäubungs- oder Betäubungs/Tötungsverfahren, wenn nicht-reizende Gase
oder Gasgemische verwendet werden”, so die Wissenschaftler. Gegenwärtig stehen aber keine angemessenen Gasalternativen zur Verfügung: Weder reines Edelgas noch eine Kohlendioxid-Argon-Kombination betäuben so effektiv wie reines CO2. Damit ist die
Kohlendioxidmethode bislang nicht nur unersetzbar,
sondern bleibt aufgrund ihrer Nebenwirkungen auch
weiterhin diskussionswürdig.
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11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
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den immer wieder Anlass zu Diskussionen. Hier sterben die Tiere bei vollem Bewusstsein durch einen
gezielten Schnitt, der zu schnellem Blutverlust führt.
Die meisten Deutschen betrachten das als barbarisch.
Aber zeugt es wirklich von Menschlichkeit, wenn die in
unseren Schlachthöfen üblichen Betäubungsverfahren
selbst eine große Qual für das Tier darstellen, wie etwa
das Elektrobad für Geflügel?
Während Massen-Tierschlachtung und Schächten
die Emotionen immer wieder hochkochen lassen,
schert sich die breite Öffentlichkeit herzlich wenig um
das Tierleid, das mit der traditionellen Hausschlachtung einhergeht. Hier wird beispielsweise Hühnern
ohne vorherige Betäubung mit dem Beil einfach der
Kopf abgeschlagen. Da die Blutzufuhr zum Gehirn
sofort unterbrochen ist, erlischt ihre Wahrnehmungsfähigkeit meist innerhalb von vier Sekunden – allerdings
kann dies auch 20 Sekunden dauern. Werden die Hühner vor der Enthauptung per Kopfschlag betäubt, so
kann das ihr Leiden weiter verstärken. Denn die Effektivität dieses Verfahrens hängt sehr vom Geschick und
von der Erfahrung des Schlachters ab. Folglich ist die
vereinzelte Hausschlachtung im Hinterhof nicht unbedingt tierfreundlicher als die industrielle Tierschlachtung im großen Stil.
Selbst wenn es immer wieder in Vergessenheit
gerät: Beim Schlachten trägt letztlich nicht nur der
unmittelbare Todesschmerz zum Tierleid bei, sondern
IMPRESSUM
Herausgeber:
Wissenschaftlicher
Beirat:
Spenden:
Abdrucke:
auch die Angst vor der Tötung. Wie qualvoll diese sein
kann, sieht man nicht zuletzt an menschlichen Todeskandidaten, die vor ihrer Hinrichtung stehen. Geht es
um die Tötung seinesgleichen, ist der Mensch übrigens weitaus weniger zimperlich als beim Tier: Betäubungen vor der Guillotine, der Garotte oder dem elektrischen Stuhl waren und sind nicht üblich. Dabei können – abgesehen von den Todeserwartungsängsten –
vor allem die beiden letzteren Hinrichtungsmethoden
sehr schmerzhaft und manchmal langwierig sein.
Literatur
European Food Safety Authority: Opinion of the Scientific Panel on
Animal Health and Welfare on a request from the Commission
related to welfare aspects of the main systems of stunning and
killing the main commercial species of animals. The EFSA Journal
2004/45/S.1-29
Luy J: Betäubung vor dem Schlachten ist ethisch unverzichtbar.
Rundschau für Fleischhygiene und Lebensmittel-Überwachung
2004/H.12/S.267-269
Ministerium für Ernährung und ländlichen Raum BadenWürttemberg: Tierschutz bei der Schlachtung – CO2-Betäubung
von Schweinen. Unter www.mlr.baden-wuerttemberg.de, Stand
September 2005
Troeger K: Neue Erkenntnisse in der Schlachttechnologie. Archiv
für Lebensmittelhygiene 2004/55/S.137-143
Von Wenzlawowicz M: Stand, Ausblick und Bewertung der
Geflügelbetäubungsverfahren europa- und weltweit. Rundschau für
Fleischhygiene und Lebensmittel-Überwachung 2004/H.10/
S.219-221
IMPRESSUM
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Ernährungswissenschaften (EU.L.E.) e.V.
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11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
FACTS & ARTEFACTS
Freilandhaltung: Spiel mit dem Risiko
Sächsische Landesanstalt für Landwirtschaft (Hrsg): Evaluierung
alternativer Haltungsformen für Legehennen. Schriftenreihe der
Sächsischen Landesanstalt für Landwirtschaft 2004/H.8
Die alternative Legehennenhaltung ist mit großen hygienischen Problemen verbunden, die ein erhebliches Produktionsrisiko bergen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsprojekt
der Landesanstalten für Landwirtschaft von Bayern, Sachsen
und Thüringen. Wie die zweijährige Untersuchung von insgesamt 34 Herden mit einer Größe von 500 bis 20 000 Hennen
ergab, trugen vor allem Infektionskrankheiten zu auffällig hohen
Tierverlusten von bis zu 37 Prozent bei. In den Problemherden
kam es zu starken Einbrüchen der Legeleistung und damit zu
schweren wirtschaftlichen Einbußen.
„Die Freilandhaltung stellt die riskanteste und schwierigste
Produktionsform dar”, beklagen die Autoren. Der Grund: Freilandhennen sind im Vergleich zu Boden- oder Volierengeflügel
deutlich öfter mit Darmparasiten und Bakterien infiziert. So
waren in Freilandherden am Ende der Legeperiode mehr als die
Hälfte der Tiere von Spulwürmern und knapp die Hälfte von
Blinddarmwürmern befallen, was sich in einer oftmals hochgradigen Darmentzündungsrate von 35 Prozent widerspiegelte.
Ähnlich erschreckend fielen die bakteriellen Befunde aus.
Knapp 36 Prozent der Tiere in Freilandhaltung mussten einoder mehrmals mit Antibiotika behandelt werden. Überprüfungen
der inneren Organe ergaben bei knapp fünf Prozent der Proben
einen Befall mit Escherichia coli. Andere pathogene Keime wie
Salmonella enteritidis, Streptokokken und Pasteurella multocida
fanden sich ebenfalls bei Freilandgeflügel mit Einstreu im Stall.
Von einer hohen Keimbelastung zeugten auch die gelegten Eier.
Im Vergleich zum konventionellen Käfigei mit weniger als 1500
kolonienbildenden Einheiten pro Gramm Eischale brachten es
Eier aus alternativer Haltungsform im Mittel auf 10 000. Die Kontamination nahm mit dem Lebensalter der Legehennen zu: Nach
der ersten Mauser erreichte sie bei Freilandgeflügel einen
Rekordmittelwert von über 100 000, bei ökologisch gehaltenen
Herden gar mehr als 600 000.
Anmerkung: Seit Jahren mehren sich die Anzeichen dafür,
dass bei der alternativen Hennenhaltung sowohl Tiergesundheit
als auch Produktqualität auf der Strecke bleiben. Um den Infektionsdruck zu senken, raten die Autoren vor allem zu Reinigung
und Desinfektion – also zu Maßnahmen, die insbesondere bei
der Freilandhaltung erfolglos bleiben dürften. Denn diese ist
bewusst darauf ausgelegt, die Tiere vermehrt mit ihrer Umwelt in
Kontakt zu bringen, was zwangsläufig ein Infektionsrisiko bedeutet. Außerdem bleibt selbst bei verbesserter Hygiene eine weitere Hauptursache für die hohen Tierverluste in alternativen Haltungssystemen bestehen: der Kannibalismus. Das sehen auch
die Autoren ein und schließen deshalb mit der Forderung, dass
das Kupieren von Schnäbeln notwendigerweise fortgesetzt werden müsse.
17
IN ALLER KÜRZE
Morbus Crohn durch Mykobakterien
Ein neues Studienergebnis aus Heidelberg fügt sich nahtlos in die Theorie, dass
Morbus Crohn von Mycobacterium avium
ssp. paratuberculosis (MAP) ausgelöst
wird. Danach wies mehr als die Hälfte der
Darmmaterialproben von Crohnpatienten
MAP auf. Bei Patienten mit Colitis ulcerosa
waren nur zwei Prozent der Proben positiv,
bei solchen mit Reizdarm (Colon irritabile)
fünf Prozent. Weil es nach wie vor schwierig ist, einen positiven Nachweis zu führen,
könnte die tatsächliche Zahl der positiven
Proben jeweils etwa doppelt so hoch liegen. (Gut 2005/54/S.944-949)
Zucker entgiftet Mykotoxine
Fumonisine sind Mykotoxine, die man
häufig auf Mais findet und die vielerorts als
Ursache für erhöhte Raten an Speiseröhrenkrebs gelten. Im Tierversuch schädigen
sie vor allem Leber und Nieren. Wie nun ein
Fütterungsversuch an Schweinen bestätigte, werden die Schimmelpilzgifte weitgehend entgiftet, wenn man sie in der Hitze
mit Glucose reagieren lässt. Vielleicht ist
das der Grund, weshalb in südlichen Ländern mit hohem Maisverzehr manche
Gerichte gezuckert werden. (Journal of
Agricultural and Food Chemistry 2005/53/
S.4264-4271)
Mit Kalorien gegen Demenz
Bei alten Menschen treten Demenz und
Gewichtsverluste oft gleichzeitig auf. Eine
Mangelernährung im Alter ist jedoch weniger die Folge einer fortgeschrittenen
Demenzerkrankung als vielmehr der erste
Fingerzeig auf das Vorliegen einer derartigen Krankheit. Obwohl es Hinweise gibt,
wonach der geistige Abbau durch eine sättigende Ernährung verlangsamt werden
kann, bleibt abzuwarten, ob die Ethikkommissionen entsprechende Interventionsstudien mit fettreicher Kost genehmigen.
(Archives of Neurology 2005/62/S.55-60)
Ballaststoffe: Prädikat wertlos
Der Verzehr von Ballaststoffen hat nur
einen minimalen Einfluss auf den Blutdruck.
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11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
IN ALLER KÜRZE
FACTS & ARTEFACTS
Wie eine Metaanalyse von 24 randomisierten placebokontrollierten Studien ergab,
senkt eine Extraportion an Ballaststoffen
den systolischen Blutdruck im Mittel um
1,13 Millimeter Quecksilbersäule (diastolisch um 1,26). Da der Effekt in Studien mit
hoher Ballaststoffzufuhr eher niedriger ausfiel und teilweise sogar ein Anstieg des
Blutdrucks beobachtet wurde, dürfte dieser
therapeutische Ansatz wertlos sein.
(Archives of Internal Medicine 2005/165/
S.150-156)
Vitamin C: kein Herzschutz
Lange Zeit war unklar, warum höhere
Ascorbinsäuregehalte im Blut mit einer
geringeren Häufigkeit koronarer Herzerkrankungen einhergehen, Vitamin-CGaben aber keinerlei Herzschutz bieten.
Nun ist das Rätsel gelöst: Die Ascorbinsäure im Blut spiegelt die Zugehörigkeit zur
sozialen Klasse wider. Sobald der sozioökonomische Status in die Kalkulation einbezogen wird, verschwindet die Korrelation
mit der Herzkrankheit. (Heart 2005/91/
S.1086-1087)
Alkohol: eine Nervennahrung
Alkohol ist bei „essentiellem Tremor”,
einer Erbkrankheit, wirksamer als üblicherweise verordnete Medikamente wie Propranolol oder Pirimidon. Nach der Einnahme
von etwas Ethanol wurde der Gang der
Patienten deutlich sicherer. (Neurology
2005/65/S.96-101)
Osteoporose durch Zöliakie?
Hühner: psychologische Züchtung
Bessei W: Genetische Beeinflussung des Verhaltens beim Geflügel.
Lohmann Information 2004/H.4/S.1-6
Unsere Hühnerrassen wurden über viele Jahrhunderte weniger auf Legeleistung gezüchtet, sondern auf andere Merkmale
wie langes Krähen für Wettbewerbe (z. B. Bergische Kräher)
oder auf Aggressivität zur Austragung von Hahnenkämpfen.
Letzteres ist bei der heutigen Hühnerhaltung unerwünscht, da
sie zu Tierverlusten führt. Ursache ist insbesondere die Neigung
der Hühner zum Federpicken und zum Kannibalismus. Die
berühmte „Hackordnung” bedeutet nicht selten den Tod der
Tiere, die am Ende der Hierarchie stehen.
Da die Aggressivität andererseits in direkter Verbindung zur
Legeleistung steht, wurden bisher kaum Versuche unternommen, „friedliche” Hühnerrassen zu züchten. Das war lange Zeit
auch nicht erforderlich, weil man die Aggressionen mit der Käfighaltung in den Griff bekam: Die Kleingruppen von vier bis sechs
Tieren bilden ein stabiles Sozialsystem, sodass die Tierverluste
bei dieser Haltungsform besonders niedrig lagen. Außerdem
stand nicht genügend Platz für ausgedehnte Kämpfe zur Verfügung.
Die Situation änderte sich jedoch mit dem Trend zur Freilandhaltung großer Herden. Hier ist es für die einzelne Henne nicht
mehr möglich, eine stabile Hackordnung zwischen 5 000 Mitgeschöpfen auszufechten; zudem übersteigt die große Zahl an Tieren die Merkfähigkeit eines Huhnes. Der enorme Stress, der
durch die ungeklärte Hierarchie entsteht, führt zu Kannibalismus
und dämpft die Legeleistung. Neben vermehrten Infektionen
trägt folglich auch die Aggressivität wesentlich dazu bei, dass im
Freiland dreimal so hohe Tierverluste auftreten wie im Käfig.
Eine züchterische Beeinflussung des Verhaltens der Tiere
erscheint zwar möglich, gilt aber dennoch als ziemlich schwierig.
Damit bleibt die Massengeflügelhaltung im Freiland bis auf weiteres problematisch.
Anmerkung: Ein stabiles Sozialsystem scheint ein wichtiger
Schlüssel für die erfolgreiche Haltung von Legehennen zu sein.
Vielleicht einigt man sich deshalb in Zukunft auf die Voliere: Hier
ist die Zahl der Tiere auf zwölf begrenzt, die Legeleistung hoch
und der Tierverlust gering.
Patienten mit Osteoporose leiden fast
20-mal häufiger an Zöliakie als Personen
mit gesundem Skelett. Je schwerer die Zöliakie, desto weiter war auch die Osteoporose fortgeschritten. Eine glutenfreie Kost
über ein Jahr erhöhte die Knochendichte.
Acarbose: weiterhin fragwürdig
(Archives of
165/S.393-399)
Anon: Weiterhin kein Nachweis für klinischen Nutzen von Acarbose
(Glucobay) und Co. arznei-telegramm 2005/36/S.31
Internal
Medicine
2005/
Osteoporose durch Rohkost?
Vegetarische Rohköstler weisen langfristig eine deutlich geringere Knochendichte
Das arznei-telegramm meldet erneut Zweifel am Nutzen des
Diabetesmedikaments Acarbose an. „2004 versuchte die Firma
Bayer mit Hilfe einer Metaanalyse, den positiven Effekt von Acarbose auf das Herzinfarktrisiko bei Typ-2-Diabetikern zu belegen.
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11. JAHRGANG – NR. 4 – 18.10.2005
FACTS & ARTEFACTS
Diese Arbeit ist jedoch aufgrund methodischer Fehler und willkürlicher Auswahl von Studiendaten wertlos”, schreiben die
Autoren. Eine neue Metaanalyse durch die unabhängige Cochrane Collaboration fand indessen heraus, dass von 41 Interventionsstudien mindestens 33 industriegesponsert und lediglich
drei einwandfrei sind. Davon enthalten wiederum nur zwei die
notwendigen Mortalitätsdaten. Das Fazit des arznei-telegramms: „Nach wie vor fehlt somit ein Beleg dafür, dass der Nutzen der Alpha-Glukosidasehemmer über eine geringfügige Senkung des Blutzuckers hinausgeht.”
Mit Genuss gegen das
metabolische Syndrom
Grassi D et al: Short-term administration of dark chocolate is followed
by significant increase in insulin sensitivity and a decrease in blood
pressure in healthy persons. American Journal of Clinical Nutrition
2005/81/S.611-614
Bisher galt Schokolade als Süßware, deren Konsum so oder
so ungesund ist. Eine italienische Interventionsstudie beweist
nun das Gegenteil. Nachdem 15 Probanden über zwei Wochen
täglich entweder eine Tafel Halbbitterschokolade oder 90
Gramm weiße Schokolade gegessen hatten, kam es zu folgender Beobachtung: Die dunkle Schokolade verbesserte nicht nur
die Insulinresistenz, sondern senkte auch den Blutdruck. Die
weiße Schokolade hingegen zeigte keine Wirkung. Sollten sich
diese Ergebnisse bestätigen, wäre der tägliche Genuss einer
Tafel Herrenschokolade eine bessere Prophylaxe zur Verhinderung des metabolischen Syndroms als beispielsweise der Konsum von fünf Tagesportionen Obst und Gemüse.
Faul durch Sportangebote
Hume C et al: Children’s perceptions of their home and neighborhood
environments, and their association with objectively measured
physical activity: a qualitative and quantitave study. Health Education
Research 2005/20/S.1-13
Einen kleinen Schock für Sportverfechter hält das Resultat
einer aktuellen australischen Studie bereit. Sie widmete sich der
Bewegungsfreude von zehnjährigen Kindern und untersuchte
den Einfluss von Umweltfaktoren auf ihre körperliche Aktivität.
Bei den Jungen fand sich nur ein einziger Zusammenhang: Je
größer die Angebote des Elternhauses in Sachen Bequemlichkeit, desto wilder pflegten sie zu toben. Zeitgeistvariablen wie
die Erreichbarkeit von Sportplätzen oder Fastfood-Restaurants
waren irrelevant. Bei den Mädchen fiel das Ergebnis ähnlich
ernüchternd aus. Ihre Bewegungsfreude nahm umso mehr ab, je
mehr sportliche Betätigungsmöglichkeiten ihre Umwelt bot.
Ansonsten korrelierte nur die Zahl der gastronomischen Anlauf-
19
IN ALLER KÜRZE
an den Lendenwirbeln und Hüftknochen auf
als Gemischtköstler. Der Vitamin-D-Spiegel
zeigte jedoch keine Auffälligkeiten. (Archives
of Internal Medicine 2005/165/S.684-689)
Schlaffer Seniorensport
Ein sechsmonatiges Sportprogramm für
ältere Patienten hat zwar dafür gesorgt,
dass diese etwas Gewicht verloren, der
Effekt auf das Herz-Kreislauf-System war
jedoch enttäuschend: Der diastolische Blutdruck sank lediglich um 2,2 Millimeter
Quecksilbersäule, der systolische blieb
unverändert. An der Aortensteifigkeit änderte sich durch den Sport ebenfalls nichts.
(Archives of Internal Medicine 2005/165/
S.756-762)
Stress lass nach
Die günstige Wirkung von Sport auf das
Herz-Kreislauf-System beruht womöglich
weniger auf dem Trainingseffekt als vielmehr auf dem Stressabbau. Bei Patienten
mit stabiler ischämischer (= koronarer)
Herzerkrankung verbesserten sowohl
sportliche Aktivität als auch ein Programm
zur Verminderung von Distress die klinischen Werte stärker als die übliche medikamentöse Therapie. Dieses Ergebnis würde
auch die uneinheitlichen Befunde in
Sachen Sport erklären: Wer Freude an
sportlicher Betätigung hat, profitiert davon,
wem es keinen Spaß macht, der leidet
unter zusätzlichem Distress, was HerzKreislauf-Erkrankungen begünstigt. (JAMA
2005/293/S.1626-1634)
Kupfer schadet dem Herzen
Bei diabetischen Ratten verbessert eine
Behandlung mit einem Medikament, das
die Kupferausscheidung erhöht, nachhaltig
die Herzfunktion. Ein erster Versuch mit
Diabetikern bestätigte die Wirksamkeit der
Maßnahme. (Diabetes 2004/53/S.2501-2508)
Asozial durch Soja
Phytoöstrogene in der Nahrung wirken
sich gravierend auf das Sozialverhalten von
Affen aus. Makaken, die mit Sojaprotein
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IN ALLER KÜRZE
aufgezogen wurden, waren im Alter von 15
Monaten erheblich gewalttätiger und
zugleich unterwürfiger als Vergleichstiere,
die Milcheiweiß bekamen. Außerdem
beschäftigten sich die Soja-Affen erheblich weniger mit anderen Artgenossen.
(Hormones and Behavior 2004/45/S.278-284)
Nervenschutz durch Cholesterin
Liegt der Gesamtcholesterinwert von
70-Jährigen deutlich über 300, so haben
sie ein um 70 Prozent (!) vermindertes Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Da
Cholesterin eine zentrale Rolle im Nervengewebe spielt, ist ein ursächlicher Zusammenhang wahrscheinlich. (Neurology
2005/64/S.1689-1695)
Freiland: nichts für Ferkel
Die Freilandhaltung von Zuchtsauen
führt in osteuropäischen Betrieben zu deutlich mehr toten Ferkeln als Stallhaltung. Die
kleinen Schweinchen kommen vor allem
durch Erdrücken, Verhungern, Darminfektionen und Erfrieren ums Leben. Obwohl
dieses Problem jedem Praktiker geläufig
ist, sorgen die Forderungen der Tierschützer und die damit verbundenen Wünsche
des Verbrauchers für eine stetige Zunahme
von Freilandanlagen. (Tierärztliche Umschau
2005/60/S.87-90)
Aspartam: böse Überraschung
Der Süßstoff Aspartam ist wieder ins
Kreuzfeuer der Kritik geraten. Diesmal lautet der Vorwurf, dass er bei Ratten Lymphdrüsenkrebs und Leukämie hervorruft.
Nach einer Studie des Bologneser Krebsforschungszentrums stieg die Zahl der
erkrankten Tiere parallel zur Süßstoffdosis.
(European Journal of Oncology 2005, in press;
www.ramazzini.it/fondazione/docs/AspartameGEO2005.pdf)
Karies bei Tieren
Wildlebende Nager, die sich von Früchten ernähren, leiden deutlich häufiger an
Karies (10-20 Prozent) als ihre grasende
Verwandtschaft (1-9 Prozent). Dafür ist
FACTS & ARTEFACTS
punkte signifikant mit ihrer mittleren Bewegungsfreude. Damit
ergänzt die Studie die Ergebnisse älterer – und weitgehend
missachteter – Forschungsarbeiten: Je mehr Kinder von Experten zum Sport gedrängt werden, desto unsportlicher werden sie.
Jod: Vom Mangel zum Überschuss
Zimmermann MB et al: High thyroid volume in children with excess
dietary iodine intakes. American Journal of Clinical Nutrition 2005/81/
S.840-844
Wie eine schweizerisch-japanische Arbeitsgruppe berichtet,
ist der Jodüberschuss weltweit deutlich stärker verbreitet als der
allseits beschworene Mangel. Als Ursache für hohe Jodfrachten
gelten Algen (Japan), Trinkwasser (China), Milch und Fleisch
(Island, durch Fütterung mit Seefisch) sowie Jodsalz (Chile,
Kongo). Da die Wirkung von Jod wesentlich von Umweltfaktoren
abhängt, die zudem teilweise unbekannt sind, ist es schwierig,
eine zuverlässige Obergrenze für die Jodzufuhr anzugeben. Die
Weltgesundheitsorganisation hält es dennoch für problematisch,
wenn die Jodausscheidung bei Schulkindern über 300 Mikrogramm pro Liter Urin liegt. Dieser Wert wird z. B. in den USA
durch Verwendung von Jodsalz in der Lebensmittelindustrie und
im Haushalt erreicht. Ein Jodüberschuss erhöht das Risiko für
Thyroiditis, Funktionsstörungen der Schilddrüse und Kropf.
Luftverschmutzung durch Bäume
Purves DW et al: Human-induced changes in US biogenic volatile
organic compound emissions: evidence from long-term forest
inventory data. Global Change Biology 2004/10/S.1737-1755
Die meisten von uns sind davon überzeugt, dass Bäume die
Luft reinigen und uns folglich vor dem Klimakollaps schützen.
Wie eine Studie aus den USA zeigt, sieht die Realität jedoch teilweise anders aus. Denn so manche Baumart produziert größere Mengen an so genannten flüchtigen organischen Verbindungen (VOCs), beispielsweise Isopren und Monoterpene. In der
bodennahen Atmosphärenschicht können die auch von Verbrennungsmotoren und Industrieanlagen freigesetzten Stoffe mit
Stickoxiden reagieren, wobei schädliches Ozon entsteht. Selbst
Feinstaub, der bei uns zurzeit in aller Munde ist, wird zum Teil
aus VOCs gebildet.
Die Autoren schätzen anhand von Daten der US-Forstverwaltung und gängigen Emissionsmodellen, dass die Luftkonzentration an VOCs in den achtziger und neunziger Jahren des letzten
Jahrhunderts in weiten Teilen der USA zunahm – und das trotz
Einführung von Abgaskatalysatoren und gesetzlich reduzierter
Industrieemissionen. Verantwortlich dafür seien in erster Linie
Bäume, die VOCs in größeren Mengen ausdünsten, wie der
Amerikanische Amberbaum (Liquidambar styraciflua) oder ver-
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FACTS & ARTEFACTS
schiedene Kiefernarten. Das Problem würde durch Aufforstungsprogramme verschärft, die eigentlich dem Klimaschutz dienen
sollten.
Anmerkung: Angesichts dieser Resultate wäre dringend zu
prüfen, inwiefern die Erfolge bei der Reduktion des Schadstoffausstoßes seitens der Industrie durch die „Umweltschutzmaßnahmen” wieder aufgehoben werden. Statt aber genau das einzufordern, distanzieren sich die Autoren der Studie lieber von
ihren Ergebnissen und betonen, dass die chemischen Prozesse
in Ökosystemen äußerst komplex seien und daher nur grob
geschätzt werden könnten. Und gäbe es weniger Stickoxide in
der Luft, dann würden die VOCs beim Ozonabbau behilflich
sein. Hätte, wäre, wenn...
Umweltverschmutzer Wald
Laturnus F et al: Natural formation and degradation of chloroacetic
acids and volatile organochlorines in forest soil. Environmental
Science & Pollution Research 2005/12/S.233-244
Die alte Forderung der Umweltschützer nach einem weltweiten Verbot von chlororganischen Umweltgiften scheint an der
Uneinsichtigkeit der Wälder zu scheitern. Denn das Ökosystem
Wald produziert erhebliche Mengen chlororganischer Verbindungen wie z. B. das Herbizid Trichloressigsäure oder das Lösungsmittel Trichlormethan. Auch Reisfelder, Moore oder Weiden steuern „natürliche Chlorchemie” zum Naturhaushalt bei. Inzwischen
konnten bereits einige Pflanzen und Tiere als Umweltverschmutzer dingfest gemacht werden. Dazu gehören die Methylenchlorid produzierende Gerste sowie Termiten, die Chloroform ausstoßen. Aus Sicht des Umweltschutzes handeln Erdkruste und
Vulkane besonders verantwortungslos, da sie die berüchtigten
Fluorchlorkohlenwasserstoffe freisetzen. Die Entstehung der
FCKW erfolgt vermutlich sowohl durch enzymatische Aktivitäten
als auch abiotisch in der Erdkruste. Bleibt abzuwarten, wie lange
es noch dauert, bis die Experten den Wert der Chlorchemie im
Naturhaushalt schätzen lernen.
Bitterresistenz durch Malaria
Soranzo N et al: Positive selection on a high-sensitivity allele on the
human bitter-taste receptor TAS2R16. Current Biology 2005/15/
S.1257-1265
Die Geschmacksrezeptoren des Menschen sind unterschiedlich ausgeprägt. So gibt es Individuen, die bittere Blausäure in
Mandeln oder Maniok nicht wahrnehmen. Dadurch sind sie in
besonderem Maße gefährdet, sich unwissentlich zu vergiften.
Während das Gen für den entsprechenden Rezeptor bei 98 Prozent der Menschen in Europa vorhanden ist, fehlt es bei 14 Prozent der Afrikaner. Die Forscher führen dieses Phänomen auf
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IN ALLER KÜRZE
diese öfter von Parodontose betroffen (6-9
Prozent) als die Frugivoren (0-1 Prozent).
(Archives of Oral Biology 2005/50/S.323-331)
Infektionen durch Pestizide
Zwei von zehn handelsüblichen Pflanzenschutzmitteln für Gemüse haben sich
als idealer Nährboden für Salmonellen,
Pseudomonaden und Escherichia coli
erwiesen. Angesichts der hygienischen
Risiken durch Naturdünger auf der Basis
von Fäkalien ist der Befund wahrscheinlich
gravierender als potenzielle Rückstände.
(International Journal of Food Microbiology
2005/101/S.237-250)
Koffein bei Diabetes
Einer randomisierten Doppelblindstudie
zufolge schützt Koffein Typ-1-Diabetiker vor
nächtlicher Unterzuckerung. Wie der Effekt
zustande kommt, bleibt offen. Bisher ist nur
bekannt, dass die aktivierende Wirkung auf
den Parasympathicus keine Rolle spielt.
(Diabetes Care 2005/28/S.1316-1320)
Mit Steviosid gegen Diabetes
Der natürliche und in der EU verbotene
Süßstoff Steviosid hat neben seiner
geschmacklichen Qualität anscheinend
auch eine pharmakologische Wirkung. Wie
taiwanesische Forscher mitteilen, erhöht er
beim diabetischen Tier die Insulinausschüttung und vermindert die Insulinresistenz.
(Planta Medica 2005/71/S.108-133)
Alles neu macht der Mai
Außer beim Manipulieren von Studien
findet diese lange bekannte Erkenntnis bisher kaum Beachtung: Der Cholesterinspiegel ändert sich mit der Jahreszeit. Seinen
niedrigsten Pegel erreicht er im Sommer, im
Winter ist er am höchsten. Wer zu hohen
Cholesterinspiegeln neigt, weist auch die
größten Schwankungen auf. Im letzten
Winter stieg die Zahl der US-Bürger mit
einem Cholesterinspiegel von über 240
Milligramm pro Deziliter (Grenzwert des US
National Cholesterol Education Program)
um 22 Prozent. Damit wären rund drei Milli-
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IN ALLER KÜRZE
onen weitere Amerikaner von einer Hypercholesterinämie
betroffen
gewesen.
(Archives of Internal Medicine 2005/164/
S.863-870)
Erbsen als Mottengift
Lange Zeit war unbekannt, weshalb Erbsenmehl Lebensmittelvorräte vor Schädlingen schützt. Nun ist es Forschern gelungen, die natürlichen Insektizide der Hülsenfrüchte zu identifizieren. Als toxisch für
naschhafte Käfer erwiesen sich die Sojasaponine, deren Wirkung durch die gleichzeitige Anwesenheit von Lysolecithinen erhöht
wurde. (Journal of Agricultural and Food
Chemistry 2004/52/S.7484-7490)
Buchweizen schützt die Niere
Buchweizenextrakt bewirkt bei Ratten
eine Normalisierung der Nierenfunktion.
Bevor ihnen der Trunk verabreicht wurde,
entfernte man den Tieren operativ einen Teil
ihrer Nieren. Durch den wässrigen Extrakt
sanken die Spiegel an Serumkreatinin und
Methylguanidin (urämisches Toxin, das aus
Kreatinin entsteht). (Journal of Agricultural and
Food Chemistry 2003/50/S.3341-3345)
Nährstoffbalance durch Muscheln
Schwedische Wissenschaftler raten zur
Einrichtung von Muschelfarmen im Skagerrak. Da die Tiere eingeschwemmte Bodennährstoffe aus dem Wasser filtern, würden
sie die Wasserqualität verbessern. Zudem
ließen sich die Muscheln verzehren und
ihre Schalen zu Dünger verarbeiten. So
könnten die Nährstoffe wieder den Böden
zugeführt werden. (Ambio 2005/34/S.131-138)
Gefährliche Plantagenarbeit
Dithiocarbamate werden häufig als
Pestizide zur Bekämpfung von Pilzkrankheiten eingesetzt. Als problematisch gilt ihr
Abbauprodukt Ethylenthioharnstoff (ETU),
da es die Schilddrüsenfunktion beeinträchtigen kann. Eine Untersuchung an Plantagenarbeitern im philippinischen Bananenanbau ergab, dass ein erhöhter ETU-Gehalt
im Blut tatsächlich mit Schilddrüsenproble-
FACTS & ARTEFACTS
den Infektionsdruck durch Malaria zurück: Die Blausäure aus
dem Maniok kann vor allem in Verbindung mit einer Sichelzellanämie den Lebenszyklus der infektiösen Plasmodien im Blut
unterbrechen.
Flaschengeister
Loy A et al: Diversity of bacteria growing in natural mineral water after
bottling. Applied and Environmental Microbiology 2005/71/
S.3624-3632
Stilles Mineralwasser ist alles andere als keimfrei. Wie man
bereits seit 40 Jahren weiß, gedeihen in kohlensäurefreien Wasserflaschen zahlreiche planktonartige Mikroorganismen. Sie
stammen aus dem Untergrund und überstehen das Abfüllen in
der Regel schadlos. Weil sich diese Bakterien nur langsam vermehren und daher schwer anzüchten lassen, waren sie bislang
weitgehend unbekannt. Mittels moderner gentechnischer Methoden konnten nun einige „Badegäste” identifiziert werden. Die
meisten gehören zu den Burkholderiales und den Alphaproteobacteria. Ob von den Keimen ein gesundheitliches Risiko ausgeht, ist noch unklar.
Reizdarm durch blinde Passagiere
Zeid HA et al: The role of infection in irritable bowel syndrome.
Egyptian Journal of Hospital Medicine 2005/18/S.1-7
Seit langem wird darüber spekuliert, welche Faktoren zum
Reizdarmsyndrom führen. Nun hat eine Untersuchung aus Kairo
bestätigt, dass zumindest in der Dritten Welt neben Darminfekten auch das Overgrowth-Syndrom (Dünndarmüberwucherung)
eine wichtige Rolle spielt. Bei 63 Patienten von 100 Patienten
fanden sich Erreger wie Salmonella typhi, Entamoeba histolytica, Giardia lamblia oder eine Überwucherung mit Candida. Eine
Behandlung mit Antibiotika verlief nur bei jeder dritten Infektion
mit Salmonellen, Giardia oder Candida erfolgreich, bei E. histolytica war sie völlig wirkungslos. Da die meisten Menschen mit
Giardia-Infektion und Reizkolon auch auf Antiparasitika nicht
ansprechen (Journal of Infections 2002/45/S.169-172), kommt der
scheinbar geringe Therapieerfolg wenig überraschend.
Anmerkung: Angesichts der erheblichen Schwierigkeiten,
Keime und Parasiten im Darm zu diagnostizieren, ist davon auszugehen, dass der Anteil der infizierten Patienten deutlich höher
liegt als gemeinhin angenommen – was nicht nur für Länder mit
geringem Hygienestandard zutreffen dürfte. Dafür spricht unter
anderem die Empfehlung der Tropenmediziner, im Falle eines
irritabilen Kolons auf Dientamoeba fragilis zu prüfen. In Deutschland gelang der Nachweis dieses Erregers bei immerhin 42 Prozent der untersuchten Kinder. (Clinical Microbiology Reviews
2004/17/S.553, American Journal of Tropical Medicine and Hygiene
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FACTS & ARTEFACTS
2005/72/S.501-502) Ein anderer potenzieller Auslöser des Reizkolons heißt Blastocystis hominis. Entgegen der Lehrbuchmeinung
ist er nicht nur in den Tropen verbreitet, sondern auch hierzulande: Er konnte selbst bei solchen Personen isoliert werden, die
nie ins Ausland gereist sind (American Journal of Tropical Medicine
and Hygiene 2004/70/S.383-385).
Parasiten gegen Parasiten
Lello J et al: Competition and mutualism among the gut helminths of a
mammalian host. Nature 2004/428/S.840-844
Beim Kampf gegen Parasiten sollten die Wechselwirkungen
der Erreger untereinander berücksichtigt werden. Zu diesem
Ergebnis kommt eine Forschergruppe aus Schottland, die über
23 Jahre die Eingeweidewürmer von Wildkaninchen analysiert
hat. In freier Wildbahn sind die meisten Säugetiere gewöhnlich
von mehreren Parasitenarten gleichzeitig befallen. So dominieren bei den Karnickeln fünf Würmer das Geschehen.
Aus ihren Daten schlossen die Wissenschaftler, dass das
Vorkommen von Eingeweidewürmern in den Wirten nicht zufällig ist. Beispielsweise förderte ein Befall mit Cittotaenia denticulata die Anwesenheit von Trichostrongylus retortaeformis. Die
Forscher vermuten, dass Parasiten um die besten Plätze im Wirt
ringen und dabei unbekannte Stoffwechselprodukte abgeben,
die andere Parasiten begünstigen oder verdrängen.
Derartige Effekte könnten erklären, weshalb Bekämpfungsstrategien gegen Parasiten in der Vergangenheit immer wieder
scheiterten: Hatte man einen unliebsamen Darmbewohner
abgetötet, so schuf das Platz für andere gefährliche Erreger. Die
Forscher sehen darin auch den Grund für das Versagen von
Impfungen im Freiland, die im Labor wunderbar funktionieren.
Gleichzeitig sollen die Studienergebnisse als Einstieg in eine
Parasitenbekämpfung ohne Medikamente dienen. Danach
könnte die künstliche Infektion mit einer relativ gutartigen Spezies eine Kreuzimmunität stimulieren und der späteren Infektion
mit einer gefährlicheren Spezies vorbeugen.
Anmerkung: So wichtig die Erkenntnis auch ist, dass die
Zusammensetzung der Parasitenfauna im Darm nicht dem
Zufall, sondern biologischen Regeln folgt: Bis zum gezielten Eingriff in dieses dynamische Geschehen dürfte es noch ein weiter
Weg sein. Denn nicht jeder Parasit setzt sich bei Ankunft gleich
im Darm zur Ruhe. Einige wandern vorher durch den Körper und
verursachen dabei Gewebeschädigungen, wie es z. B. beim
menschlichen Spulwurm, Ascaris lumbricoides, der Fall ist.
Außerdem durchlaufen einige Parasiten, wie z. B. Bandwürmer,
einen sehr komplizierten Lebenszyklus mit bis zu drei Zwischenwirten, bevor sie im Endwirt geschlechtsreif werden. Wahrscheinlich ist es wirkungsvoller, diese Zyklen durch Kontrolle der
Zwischenwirte zu durchbrechen – auch auf die Gefahr hin, dass
da und dort Platz für gefährlichere Parasitosen geschaffen wird.
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IN ALLER KÜRZE
men (Knoten) einhergeht. (Environmental
Health Perspectives 2003/112/S.42-45)
Metabolisches Syndrom durch Selen
In einem Mäuseexperiment ist es
geglückt, mit gentechnischen Mitteln Tiere
zu züchten, die besonders viel GlutathionPeroxidase bilden. Der Theorie zufolge sollte das antioxidative Enzym „Radikale fangen” und somit vor Zivilisationskrankheiten
schützen. Doch das Gegenteil trat ein: Die
Tiere wurden schnell dick und entwickelten
das metabolische Syndrom. Die GlutathionPeroxidase ist eine Selenverbindung, deren
Bildung beim Menschen durch selenangereicherte Lebensmittel gefördert werden
soll. (PNAS 2004/101/S.8852-8857)
Wasserenthärter ruiniert Zahnfleisch
Nach den Daten der Nationalen
Gesundheits- und Ernährungserhebung in
den USA (NHANES III) korreliert die Paradontose signifikant mit der Nutzung von
Wasserenthärtungs- und Wasseraufbereitungsanlagen im Haushalt. Die Ursache für
diese Beobachtung ist unbekannt. (Journal
of Periodontal Research 2004/39/S.367-372)
Parodontose: schädliche Prophylaxe
Nach Entfernung von Zahnstein und
Wurzelglättung im Rahmen einer Parodontaltherapie steigt im Gegenzug das Risiko
für Wurzelkaries. Die Behandlung verschiebt die Zusammensetzung der Mundflora zugunsten der Karieserreger. Gegen
Wurzelkaries helfen nach Ansicht der Autoren nur regelmäßige Mundspülungen mit
Desinfektionsmitteln. (Journal of Dental
Research 2005/84/S.48-53)
Zahnversiegelung: rausgeworfenes Geld
Die Versiegelung des Gebisses mit
Kunststofflack bietet keinen wirksamen
Schutz vor Karies. Zu diesem Resultat
kommt eine Studie der Universität Greifswald, an der 400 Schulkinder im Alter von
zwölf bis 15 Jahren teilnahmen. Gerade bei
Kindern, die häufig an Zahnfäule litten, trat
nach der Versiegelung sogar mehr Karies
auf. (Heyduck C; Dissertation, Greifswald 2004)
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IN ALLER KÜRZE
DIE BESONDERE ERKENNTNIS
Schlank durch Helicobacter
Harnsäure für die Nerven
Der Kampf gegen Helicobacterinfektionen hat
offenbar ungewöhnliche Nebenwirkungen. Nach
erfolgreicher Beseitigung des Keims kam es bei den
Geheilten zu einem deutlichen Anstieg von Cholesterin- und Triglyceridwerten im Blut; außerdem verdoppelte sich die Zahl der Patienten mit Hypercholesterinämie. Noch unangenehmer war für viele die Gewichtszunahme. Eine Diättherapie sorgte schließlich dafür,
dass sich die Zahl der Fettsüchtigen verdoppelte.
Selbst wenn die Harnsäure in Ernährungslehrbüchern als Bösewicht gilt: Sie ist offenbar nicht immer
von Nachteil. Denn im Falle einer Rückenmarksverletzung schützt die Verbindung die Nerven in vitro vor
den Folgen einer Entzündung, d. h. vor sekundären
Schäden durch freies Peroxynitrit. Bei Mäusen sorgte
eine Harnsäurekur für eine „signifikante und nachhaltige Besserung”. (PNAS 2005/102/S.3483-3488)
(Digestive and Liver Disease 2005/37/S.39-43)
Trinken gegen Alzheimer
Die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken,
sinkt laut einer französischen Studie mit dem steigenden Silikatgehalt des Trinkwassers. Silikat ist der
Gegenspieler von Aluminium, dessen Gehalte im
Gehirn von Alzheimerpatienten deutlich erhöht sind.
Die Autoren betonen einerseits, dass der Aluminiumgehalt des getesteten Trinkwassers niedrig war. Andererseits könne die Verwendung von silikatreichem
Wasser die Aufnahme von Aluminium auch aus anderen Quellen hemmen. (American Journal of Clinical
Nutrition 2005/81/S.897-902)
Eiweiß fördert den Schlaf
Wer zum Abendessen tryptophanreiche Nahrung
zu sich nimmt, schläft besser und ist morgens munterer. Diesen Schluss legt eine doppelblinde placebokontrollierte Studie aus Holland nahe, bei der die Probanden entweder einen Drink mit tryptophanangereichertem Lactalbumin oder einen Milchshake auf der Basis
von Casein konsumierten. Die Autoren führen die positiven Effekte auf die vermehrte Bildung von Serotonin
aus dem Tryptophan zurück. (American Journal of Clinical
Nutrition 2005/81/S.1026-1033)
Die besondere Erkenntnis
Macht Fernsehen Kinder dumm?
Duft der Verdauung
Je mehr Zeit ein Kind vor der Glotze verbringt,
desto schlechter fallen seine schulischen Leistungen
aus und desto unwahrscheinlicher wird ein erfolgreicher Universitätsabschluss. Das ist das Ergebnis einer
prospektiven Studie mit 1 000 neuseeländischen Kindern der Jahrgänge 1972 und 1973. (Archives of
Gewöhnlich suchen Sensorikexperten nach dem
ultimativen Aroma, das satte Kunden zum Mehrverzehr verführen soll. Andere wiederum locken die
Kundschaft erfolgreich mit dem Duft der Verdauung.
So entwickelte die britische Firma Dale Air für ein
Londoner Museum das Parfüm „Flatulence”, um den
Besuchern einen nachhaltigen Eindruck von den
Aborten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zu verschaffen. Ein anderes Museum beduftet
seine Ausstellungsräume mit „Urin”, das die Atmosphäre einer altrömischen Latrine authentisch abbilden soll. Ein Spitzenprodukt von Dale Air ist neben
„Umkleidekabine” aus der Serie „Football Aromas”
der Mundgeruch eines Dinosauriers. Er soll inzwischen nicht nur von britischen Museen geordert werden, sondern auch in Frankreich auf Begeisterung
gestoßen sein. Bleibt abzuwarten, wann die Haute
Couture auf den Geschmack kommt.
Pediatrics and Adolescent Medicine 2005/159/S.614-618)
Machen Computer Schüler klug?
Eine kalifornische Studie bestätigt das Ergebnis aus
Neuseeland: Bei amerikanischen Grundschülern wirkte sich ein Fernseher im Kinderzimmer zumindest statistisch negativ auf den Erfolg in der Schule aus. Einen
ganz anderen Effekt hatte ein Computer im Haushalt:
Hier verbesserten sich die schulischen Leistungen –
und zwar unabhängig vom Sozialstatus oder Einkommen der Eltern. (Archives of Pediatrics and Adolescent
Medicine 2005/159/S.614-618)
Knight F: Die Geruchsfabrik. Senses 2005/H.1/S.16-19
www.daleair.com
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