Dr. Wolfgang Schindler. Info: Valenz. Seite 1 1. Valenz analysierten SUBJ (Die) Umweltschützer AKKO (die) Bodenproben PO auf Schwermetalle Wir kennen das aus der Chemie: Ein Sauerstoffatom ist bivalent, ein Kohlenstoffatom tetravalent und so weiter. Wenn die beiden Sauerstoffvalenzen mit Wasserstoffatomen abgesättigt sind, ergibt sich H—O—H oder H2O, also Wasser. Man schreibt es Lucien Tesnière zu, dieses Konzept auf die Sprache, genauer: die Verben, übertragen zu haben:1 „Man kann so das Verb mit einem Atom vergleichen, an dem Häkchen angebracht sind, so daß es je nach der Anzahl der Häkchen eine wechselnde Zahl von Aktanten an sich ziehen und in Abhängigkeit halten kann. Die Anzahl der Häkchen, die ein Verb aufweist, und dementsprechend die Anzahl der Aktanten, die es regieren kann, ergibt das, was man die Valenz des Verbs nennt.“ Neben der naturwissenschaftlichen „Metapher“ beschreibt Tesnière die zentrale Satzkonstitution durch das Verb (Aktant = Ergänzung) auch als „kleines Drama“: „Der noed central [das Verb oder ein Verbalkomplex, W.S.] [...] läßt sich mit einem kleinen Drama vergleichen. Wie das Drama umfaßt er notwendig ein Geschehen und meist noch Akteure und Umstände. Wechselt man aus der Wirklichkeit des Dramas auf die Ebene der strukturalen Syntax über, so entspricht dem Geschehen das Verb, den Akteuren die Aktanten [actant] und den Umständen die Angaben [circonstant]. Die Aktanten sind Wesen oder Dinge, die auf irgendeine Art, sei es auch nur passiv, gewissermaßen als bloße Statisten, am Geschehen teilhaben. [...] Die Angaben bezeichnen Umstände der Zeit, des Ortes, der Art und Weise usw., unter denen sich das Geschehen vollzieht.“ In andere Worte gefasst: Das Vollverb (den Hilfsverben misst man in der Regel keine Valenz zu, allenfalls so etwas wie STATUSREKTION, siehe PS-Syntax-Paper) ist das Zentrum eines Sachverhaltsausdrucks (= Satz), und es entscheidet (i) kraft seiner individuellen Bedeutung und (ii) seiner individuellen Fähigkeiten, Formales per Rektion oder Notwendigkeit festzulegen, - wie viele = QUANTITATIVE VALENZ (mono-, bi-, tri-, tetravalente Verben) - und welche = QUALITATIVE VALENZ (z. B. SUBJ/AKKO, SUBJ/AKKO/DATO etc.) Sachverhaltsmitspieler es in den von ihm konstituierten Satz einfordert. (Diese Mitspieler sind mit den Satzgliedern um das Prädikat herum gleichzusetzen.) So gehört zum Sachverhalt (Geschehen, Prozess) des Blühens etwas, das blüht; zu dem des Beißens (Handlung), dass jemand jemanden beißt (das Krokodil den Krokodiljäger) und zu dem des Überreichens, dass jemand jemandem etwas überreicht. Blühen ist ein monovalentes (einwertiges) Verb mit Subjektforderung, beißen ist ein bivalentes (zweiwertiges) Verb und überreichen schließlich ein trivalentes (dreiwertiges) Verb (z. B. Er überreichte ihr Blumen). Dass alle drei Sachverhalte zeitlich situiert werden können (in den Beispielen durch gestern), gehört zum Bereich der „Umstände“, also der Angaben (kurz: A), denn das ist nicht spezifisch für eines dieser Verben. Die verbalen Valenzen sind in (1) durch dickere Striche markiert. 1 Tesnière, Lucien (1980). Grundzüge der strukturalen Syntax. Hg. u. übersetzt v. U. Engel. Stuttgart: Klett-Cotta. Dr. Wolfgang Schindler. Info: Valenz. Seite 2 (1) blühte Baum Der gestern biss überreichte Kroko Krokojäger gestern Das Er ihr Blumen gestern den Eine kleine (mit Vorsicht zu genießende) Hilfe besteht in dem Grad der Aufdrängung von wFragen. Wenn jemand von x blühte spricht, will ich am dringlichsten wissen: Was blüht? und weniger oder gar nicht Wann blühte x? Bei biss will ich dringend wissen, wer da wen biss; wann das geschah, ist oft schon weniger interessant. 2. Ergänzungen (Mitspieler, actants) und Angaben (Umstände, circonstants) Ergänzungen (kurz: E) werden durch das Verb (und dessen Bedeutung) mittels verschiedener Beziehungen gebunden; die allerwichtigsten sind: - Notwendigkeit: *Die Schriftstellerin legt das Buch, *Sie legt auf den Tisch Rektion: Die Schriftstellerin legt das Buch/ *des Buches/ *dem Buch auf den Tisch Die Notwendigkeit kann mit der Weglassprobe ausgetestet werden. Wenn ein Satz nicht um ein bestimmtes Satzglied (ein Objekt, ein Adverbial, ...) reduzierbar ist, dann ist dieses Satzglied eine OBLIGATORISCHE ERGÄNZUNG. Ein weiterer Test, der Angaben ermitteln soll und deshalb bei E nicht funktionieren dürfte, ist der Nachtragstest mit und zwar: (2) *Sie legte das Buch, und zwar auf den Tisch (keine A, sondern E) (3) Sie legte das Buch auf den Tisch, und zwar gestern (gestern = A) Damit leider nicht genug, denn es gibt auch FAKULTATIVE ERGÄNZUNGen. Diese haben meist die Eigenschaft, zwar doch weglassbar (5), aber formal festgelegt (regiert) zu sein (4). Das AKKO bei heiraten kann man sogar – unerhörterweise – mit und zwar rechts nachtragen! Dennoch ist es wegen der Akkusativrektion (4) keine Angabe, sondern „Akkusativergänzung“. (4) Sie heiratet einen Filmstar (*einem Filmstar/ *eines Filmstars) (5) Sie heiratet wieder (6) Sie heiratet, und zwar einen Filmstar Heiraten fordert mithin zwei Ergänzungen: eine obligatorische (SUBJ) und eine fakultative (AKKO). Die Ergänzungen subklassifizieren die Vollverben. So gibt es Verben mit Subjekt und AkkO, mit Subjekt und AKKO und DATO, mit Subjekt, AKKO und direktionaler Adverbiale (DIR) usw.: (7) SUBJ/AKKO: beißen, lieben, loben, reinigen, versalzen (*helfen, *gedenken, *zweifeln) (8) SUBJ/AKKO/DATO: empfehlen, schenken, überreichen (*anklagen, *legen) (9) SUBJ/AKKO/DIR: hängen, legen, setzen, stellen (*empfehlen, *helfen, *gedenken) Temporale Adverbiale wie gestern (siehe (1) und (3)) oder kausale Adverbiale subklassifizieren normalerweise keine Verben. Aber leider ist es noch ein wenig verwickelter. Einige wenige Verben haben temporale Ergänzungen, zum Beispiel dauern, was man daran merkt, dass zwar oberflächlich betrachtet die durative Adverbiale weglassbar ist, dass dann aber der Interpretations- Dr. Wolfgang Schindler. Info: Valenz. Seite 3 spielraum des Verbs beschränkt ist. Dauern kann etwas lang oder kurz! Bei Weglassung dauert es automatisch lang, die Interpretation ‚kurz‘ ist nicht mehr möglich: (10) (11) Die Sitzung dauerte fünf Minuten/ fünfzehn Stunden Die Sitzung dauert aber (impliziert ‚lang‘)! Während Subjekte (im Aktivsatz nie weglassbar), Objekte (regiert) und Prädikative (Kunibert ist ein furchtloser Ritter) stets Ergänzungen sind, muss man bei den Adverbialen genauer hinsehen. Lokale, direktionale und modale Adverbiale (sehr selten auch temporale) können Ergänzungen (12) oder Angaben (13) sein, vgl.: (12) Pia (E) wohnt in Ulm (LOK als E) < *Pia wohnt; *Pia wohnt, und zwar in Ulm Die Kinder (E) verhielten sich ruhig (E) < *Sie verhielten sich; *Sie verhielten sich, und zwar ruhig (13) Pia (E) arbeitet in Ulm (LOK als A) < Pia arbeitet; Pia arbeitet, und zwar in Ulm Die Kinder (E) schliefen ruhig (A) < Sie schliefen; Sie schliefen, und zwar ruhig Satzadverbiale (bedauerlicherweise, vielleicht etc.), kausale Adverbiale, fast alle temporalen Adverbiale sowie relativ viele lokale und modale Adverbiale sind bei den meisten Verben Angaben. DIR tendieren deutlich dazu, E zu sein; lokale und modale ADVB können E sein, aber bitte bei jedem Verb genau hinsehen und sauber austesten! Im Bereich der Dativ-NPs haben wir noch das Problem, dass es „freie Dative“ (A) und Dativ-E gibt. In (14) muss der DATIVUS ETHICUS frei sein, denn das Kopulaverb sein kann niemals einen Dativ regieren. Allerdings kommt der ethische Dativ nicht nur bei KV vor. In (15) und (16) findet sich jeweils ein DATIVUS IUDICANTIS. Auch hier zeigt die Kombination mit dem KV, dass der Dativ ein freier und kein regierter sein muss. Aber auch der d. iudicantis kommt neben Vollverben vor, also achtgeben! Das klassische Dativobjekt (17) ist im Kasus regiert. Leider sind weder Weglass- noch Nachtragsprobe stets eindeutig. Aber eines erweist die Dativ-NP sicher als E: die Möglichkeit des Dativpassivs. Auch bei den teilweise umstrittenen Dativen des Typs d. commodi (18) und Pertinenzdativ (19) gibt es, zumindest gelegentlich, die Möglichkeit des Rezipientenpassivs.2 (14) (15) (16) (17) 2 Du bist [mir (A)] vielleicht ein durchtriebenes Bürschlein! Halt [mir (A)] ja die Klappe! Die Klasse war [dem Lehrer (A)] nicht ruhig genug Der Schüler schrieb [dem Lehrer (A)] nicht deutlich genug Die Klasse war [dem Lehrer] zu laut Er überreichte ihr Blumen > ?Er überreichte Blumen ?Er überreichte Blumen, und zwar ihr Sie bekam von ihm Blumen überreicht (Dativpassiv möglich!) Es ist nun nicht so, dass bei einem einzelnen nicht passivierbaren Pertinenzdativ plötzlich keine E mehr vorläge (Meinem Vater schmerzt der Kopf, Der Kopf meines Vaters schmerzt, aber nicht *Mein Vater bekommt von dem Kopf geschmerzt); vielmehr läuft das Argument so: Wenn gelegentlich Pertinenzdative dativpassivierbar sind, gilt für diese Funktion insgesamt, dass es sich um E handelt. Dr. Wolfgang Schindler. Info: Valenz. Seite 4 (18) (19) Opa las den Kindern (d. commodi) ein Märchen vor Die Kinder bekamen vom Opa ein Märchen vorgelesen Der Arzt operierte dem Kranken (Pertinenzdativ) den Magen (den Magen des Kranken) Der Kranke bekam von dem Arzt den Magen operiert Den Rezipientenpassiv-Test behalten wir uns also vor, wenn wir auf Dativ-NPs treffen. 3. Testbatterie Die Unterscheidung in E und A kann man mit der folgenden kleinen Testbatterie vornehmen. (Den Dativpassivtest habe ich der Übersichtlichkeit wegen fortgelassen, aber bitte nicht vergessen.) Die wichtigsten Entscheidungen habe ich durch Fettdruck und Schriftgrad hervorgehoben: obligatorische E (20) weglassbar regiert und zwar (20) (21) (22) – fakultative E (21) + 3 +/– – Angabe (22) + + – –/?/+4 + *Sie stellt die Vase, *Sie stellt auf den Tisch, *Die Vase stellt auf den Tisch Sie [- regiert] stellt die Vase [akk.regiert] auf den Tisch [- regiert, da ADVB] *Sie stellt die Vase, und zwar auf den Tisch, *Sie stellt auf den Tisch, und zwar die Vase Sie erinnerte [ihn] an den Abgabetermin Sie erinnerte ihn/ *ihm [akk.regiert] an den Abgabetermin ?Sie erinnerte an den Abgabetermin, und zwar ihn Sie stellte die Vase auf den Tisch Sie stellte die Vase gestern [- regiert] auf den Tisch Sie stellte die Vase auf den Tisch, und zwar gestern. 4. Weitere Probleme Bei riechen mit der Valenz SUBJ/MOD kann man augenscheinlich die modale Adverbiale weglassen, doch ändert sich dadurch die Verbinterpretation. Während etwas normalerweise gut oder schlecht riechen kann, ist bei getilgter MOD nur noch ‚schlecht’ interpretierbar: (23) Die Pilze riechen gut/ appetitanregend/ schlecht/ zum Davonlaufen Die Pilze riechen aber! (dann nur ‚schlecht’) Obwohl die Weglassbarkeit gegeben ist, muss man die MOD wohl doch als obligatorische ADVB werten, denn die Verbinterpretation darf sich nicht ändern. 3 4 Nicht selten regiert, das Minus aber deshalb, weil Subjekte nicht von spezifischen Verbsubklassen regiert werden, sondern zu (fast) allen Vollverben als erste E hinzutreten müssen. Und weil obligatorische Adverbialergänzungen wie das DIR bei stellen nicht regiert sind. Eigentlich Minus, das Plus deshalb, weil leider doch ein paar fak. E nach rechts herausgestellt werden können, vgl. Sie heiratet wieder, und zwar einen Filmstar. – Er macht sauber, und zwar die ganze Wohnung. Es handelt sich mithin um Verben der Valenzklasse SUBJ/(AKKO). Insgesamt ist der und-zwar-Test hier mit Vorsicht zu genießen. Dr. Wolfgang Schindler. Info: Valenz. Seite 5 5. Tipp Eine anschauliche Einführung in die Ideen der Dependenzgrammatik und in den Valenzbegriff finden Sie unter: http://web.uni-marburg.de/dsa//Direktor/Rabanus/SS2005/Valenz-Dependenz.pdf