Pharmakotherapie – alles gleich, oder doch nicht? Isabel Böge 27. Jahrestagung KJP - ZfP Südwürttemberg, 01.06.2016 [email protected] Frauen sind anders als Männer Eine Binsenweisheit. [email protected] La oder Le Computer? Die Mädchen entscheiden sich für Männlich Die Jungen entscheiden sich für Weiblich Um überhaupt etwas damit anfangen zu können, muss man sie anmachen Niemand außer dem Hersteller versteht die innere Logik sie können nicht selbständig denken die Sprache, die sie zur Kommunikation mit anderen Computern benutzen, ist für andere unverständlich sie sollen bei Problemen helfen, aber meist sind sie das Problem sobald man sich für ein Modell auch der kleinste Fehler wird entscheidet, kommt ein besseres raus. langfristig gespeichert sobald man sich für einen entschieden hat, geht das halbe Gehalt für Zubehör drauf ordinateur [m], computer[m] Frauen sind anders krank als Männer alles andere als eine Binsenweisheit, sondern eine wichtige Erkenntnis, die sich langsam durchsetzt und sich im Begriff Gender- Medizin manifestiert. [email protected] Inhaltlich • Epidemiologie • Kurzer Überblick über Wirkmechanismus und Erkrankungen welche mediziert werden • Verordnungshäufigkeiten von Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter • Geschlechterverteilung • Fazit [email protected] Geburten Hälftig (fast) [email protected] Krankheitskosten Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren (in Mio. Euro in Deutschland) 9000 8366 8000 7000 6856 6000 5000 4000 Jungen Mädchen 3000 2000 1167 1000 620 436 304 0 alle Diagnosen Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99) Verletzungen, Vergiftungen, bestimmte andere Folgen äußerer Einwirkung (S00-T98) [email protected] Psychische Auffälligkeiten (KIGGS) 40 40 (SDQ Elternurteil, Kinder 3-17 Jahre) 35 30 25 20 max möglich 15 8.5 Mädchen 1.3 1.5 2.7 3.6 2 2.3 8 10 10 10 10 2.2 8.1 10 1.9 5 9.3 10 Jungen 0 [email protected] Hölling et al, 2014 [email protected] Hölling et al, 2014 Ausgangslage • Jungen: – Mehr Hyperaktivität – Mehr Verhaltensprobleme – Mehr familiäre Belastung • Mädchen: – Mehr emotionale Probleme – Besseres Prosoziales Verhalten – Fallen später auf (eher im Jugendalter) [email protected] Psychopharmakotherapie? Soziale Faktoren Neurorezeptoren Hormonelle Regelkreisläufe Genetik Gender Hirnreife Verstoffwechselung Leber [email protected] Aspekte der Neuropsychopharmakologie • Biologische Faktoren – – – – Hirnmaturation (Mädchen 1-3 Jahre früher) Genetik Neurorezeptoren und ihre Überträgerstoffe Neuroendokrine Regelkreise / Zyklus (Cortisol, Östrogen, Testosteron, Oxytocin, Progesteron) – Zunahme der Fettmasse bei Mädchen – Zunahme der Muskelmasse bei Jungen – Wechselspiel mit Cytochrom P450 • Haben Einfluss auf: – – – Absorption, Verteilung, Biotransformation Kinetic (Verstoffwechselung) Response ? [email protected] Genetik • X-Chromosom: ungefähr 1500 Gene, die eine wichtige Funktion für Herz und Kreislauf, Hirnfunktion und Immunsystem haben. Dieses Chromosom haben Frauen doppelt, das zweite Exemplar dient wahrscheinlich als Reservepool. • das Y-Chromosom: auf dem aber nur 78 Gene liegen, die vor allem Aufgaben für die Sexualfunktion haben. Ist das der Unterschied? [email protected] Neurorezeptoren und ihre Überträgerstoffe • Neurotransmitter: – Noradrenalin – Dopamin – Serotonin (5HT1/ 5HT2 Rezeptoren) [email protected] Konzentration Wachheit Energie Angst Irritabilität Impulsivität Zwang Gedächtnis Stimmung kognitive Funktion Appetit Aggression Sex Aufmerksamkeit Multiple Interaktion und Homöostase Liegt da der Unterschied? Belohnung Motivation [email protected] Neurotransmitter: Serotonin • „Glückshormon“ • Kann die Bluthirnschranke nicht passierend und wird im Gehirn aus Tryptophan gebildet. • Man geht davon aus, dass ein Hauptgrund für die Entwicklung einer Depression in der Abnahme der Serotonin-Neurotransmitteraktivität liegt (»Serotonin hypothesis of depression«). • Dies ist auch der Grund, warum alle antidepressiv wirksamen Medikamente darauf ausgelegt sind, die Serotoninspiegel an den Nervenzellen durch die Hemmung der Wiederaufnahme zu erhöhen und damit die Serotoninwirkung zu verstärken. • Den gleichen Ansatz verfolgt die Gabe von 5-HTP, nämlich die Erhöhung des Serotonins an den Nervenzellen, allerdings nicht durch eine Hemmung der Wiederaufnahme sondern durch eine Förderung der Serotoninsynthese. [email protected] Neurotransmitter Dopamin • „auch ein Glückshormon“ • Die psychotrope Bedeutung des Dopamins wird hauptsächlich im Bereich der Antriebssteigerung und Motivation vermutet • Dopamin beeinflusst die extrapyramidale Motorik (hier besteht möglicherweise ein Zusammenhang mit Parkinson) • Ebenso steht der Dopaminhaushalt im Zusammenhang mit den neurobiologischen Aspekten von Psychosen und verschiedenen anderen psychischen Störungen. • Auch in die Regulation des Hormonhaushaltes greifen dopaminerge Systeme ein. So hemmt Dopamin aus Neuronen, an der Hypophyse die Ausschüttung des Hormones Prolaktin. [email protected] Neurotransmitter Noradrenalin • Neurotransmitter im ZNS • Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer führen analog den SSRI führen zu einer Erhöhung der Noradrenalin-Konzentration und somit zu einer Erhöhung des Sympathikotonus. • Noradrenalin steuert u.a. die Reaktionskette der Stresshormone und neuronalen Botenstoffen (Neurotransmitter), um den Körper bei psychischen und physischen Belastungen entsprechend zu aktivieren und die Körperfunktionen anzupassen. • Bei Stress entsteht ein Überschuss an Noradrenalin, meist parallel zu einem Serotoninmangel. Die Auswirkungen sind • Motivationsabfall, • Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. • Stimmungsabfall [email protected] Neuroendokrine Regelkreise Depression • Wir haben die Rolle, die die Hormone spielen, zum größten Teil überhaupt noch nicht richtig verstanden. Testosteron: • • • bei depressiven Männern häufig ein niedrigerer Testosteronspiegel => unlogisch, da depressive Männer eher hyperaktiv und aggressiv sind, was eigentlich einem höheren Testosteronspiegel entsprechen würde. Testosteron interagiert dabei mit Serotonin. Serotonin hat zur Folge dass das Testosteron Im Sinne der Behandlung konnte gezeigt werden: – dass selektive Serotonin- Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) den Testosteronspiegel anheben. – Außerdem hat man nachgewiesen, dass die depressive Symptomatologie beim Mann durch eine kontinuierliche Testosterongabe verbessert werden kann. [email protected] Neuroendokrine Regelkreise Depression • Östrogen – In der Pubertät findet ein Anstieg von Depressionen statt – gerade bei Mädchen, was eine hormonelle Genese nahe legt. – Östrogen greift dabei in den Regelkreis des Tryptophan (Vorstufe des Serotonin) ein, Östrogen = Tryptophan-Pyrolase (das die Tryptophan Serum Konzentration senkt) = Tryptophan = Stimmung gut – Östrogene können die durch SSRI verursachte Down Regulation des 5HT2 Rezeptors verstärken = mehr Serotonin, = Stimmung • Oxytocin, Prolactin, Progesteron… spielen auch eine Rolle • Cortisol – Stressantwort des Körpers – Höhere Cortisolantwort je weiter entwickelt Mädchen nach Tanner Stadien sind. D.h. bei Stress = Cortisol was die Gefahr einer depressiven Stimmung erhöht – Jungs zeigen nicht diesen Anstieg nach Tanner Stadien Soziale Theorien – Warum kommen Depression häufiger bei Mädchen vor? – Mädchen fokussieren mehr auf interpersonelle Beziehungen/Abhängigkeitsverhältnisse, was sie für Depressionen empfänglicher macht Jungen focussieren mehr auf Unabhängigkeit, Selbstkritik und Leistungserwartungen (Aron Beck) – Mädchen stellen sich und ihre Problemlösungsstategien mehr in Frage, haben eher negative Denkschemata. Jungen gaben sich selbst mehr Wert aber zeigen auch häufiger dissoziale Verhaltensmuster (Calvete) – Mädchen gehen eher den Weg der Reflektion und Realisation von Gefühlen, Jungen eher den Weg der Vermeidung (Ahnlund) – Mädchen erleben häufiger negative „life-events“ wie sex. Missbrauch, Armut, was z.B. zu Depression führen kann (Cyranowski) – Mädchen sind empfänglicher für soziale Erwartungen und tendieren mehr dazu diese erfüllen zu wollen (Sands and Hamilton) – Mädchen fühle sich durch das Ideal „dünn sein zu müssen“ mehr unter Druck gesetzt – als Jungen (Hankin) – Mädchen achten mehr auf sich, gehen mehr zum Arzt, tendieren mehr dazu Erkrankung auch für sich anzuerkennen als Jungen (Frackiewicz) [email protected] Psychopharmakotherapie! Soziale Faktoren Neurorezeptoren Hormonelle Regelkreisläufe Genetik Gender Hirnreife Verstoffwechselung Leber [email protected] Off-Label Use • Vorraussetzung für die Zulassung eines neuen Medikaments: Klinische Erprobungen an einer hinreichenden Menge von Patienten der jeweiligen Altergruppe • Hersteller des Medikaments müssten umfangreiche Untersuchungsreihen an Kindern und Jugendlichen durchführen – aber es ist kein entsprechender Absatzmarkt zu erwarten – solche Versuchsreihen werden erst gar nicht angestrebt. • • • Rein experimentelle Studien an Kindern und Jugendlichen zum Gewinn von Daten sind ethisch nicht vertretbar. Eltern dürfen diesbezüglich nicht für ihre Kinder einwilligen, wenn nicht eine Medikation unabdingbar erforderlich ist, um gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Folge: fast alle Psychopharmaka, welche im Alltag der Kinder- und Jugendpsychiatrie regelhaft eingesetzt werden, werden außerhalb ihrer offiziellen Zulassung im Kindes- und Jugendalter (in Bezug auf Alter oder offizielle Indikation) eingesetzt [email protected] Gender Probleme in der Übertragbarkeit der Studienergebnisse • Medikamentenstudien beginnen meist mit männlichen Mäusen und bei klinischen Studien sind auch die meisten Teilnehmer Männer. d.h. wirksame und zugleich verträgliche Dosierungen orientieren sich in der Regel an dem männlichen Stoffwechsel und der männlichen Konstitution Dosierungen bei Frauen eher niedriger, da Verteilungsvolumen von Medikamenten bei Frauen (Muskelmasse, Fett- und Wassergehalt im Körper) anders fettlösliche Medikamente verteilen sich anders im Blut, wodurch Frauen höhere Medikamenten-Spiegel erreichen als Männer Stellt die 1:1 Übertragbarkeit auf Kinder erst Recht in Frage [email protected] Behandlung [email protected] Störungsspezifische Behandlung Störungsbild Medikation Depression, Angst, Zwang, PTSD, Mutismus SSRI, Tricyclische AD ADHD Methylphenidat, Atomexetin, Amphetamin, Guanfacin affektive Psychosen/bipolare Störungen Phasenther./Moods Schizophrene Psychosen Neuroleptika Autismus SSRI/ Neuroleptika Disruptive Störungen, Stör. Des Sozialverhaltens Neuroleptika Esstörungen Anorexie: Esstörungen Bulimie: Neuroleptika SSRI Suizidalität, Stupor, Erregungszustände kurzfristig Benzodiazepine Angst/Zwang SSRI Verschreibungshäufigkeit Wer bekommt was? • Anstieg der Verordnungshäufigkeit! • Aber kein Anstieg der psychischen Erkrankungen! • Jungen bekommen mehr Antipsychotika • Jungen bekommen häufiger Stimulanzien • Mädchen bekommen häufiger Antidepressiva [email protected] Steinhausen et al, 2013 Antidepressiva • Fluoxetin (SSRI) Verordnungshäufigkeit ist von 15,2% auf 24,3% gestiegen (Zeitraum 2000-2012) • Citalopram (SSRI) von 9,4% auf 15,7% • Tricyclische Antidepressiva sind deutlich zurückgegangen (Amitryptilin 6,4% auf 5,5%, Imipramin von 8,1% auf 3,4%) • Johanneskraut zu Beginn 2000 noch > Hälfte aller Verordungen, seitdem kontinuierlich gesunken (Franke et al, 2016) • Generell: V.a. Mädchen im Alter von 15-19 Jahren bekommen Antidepressiva [email protected] Psychostimulanzien • Anzahl der neuen Diagnosen von ADHS stieg langsamer als die Anzahl an Methylphenidat Verordnungen • Unterschiedliche Studien: – Jungen erhalten 4-5x so häufig Psychostimulanzien wie Mädchen (Knopf et al, 2012, Schubert et al 2010) – Mädchen erhalten zu 34,1% Psychostimulanzien, alle Kindermit ADHS diagnostizierten Kinder und Jugendlichen erhalten zu 37,7% Psychostimulanzien (Lindemann, 2012) – Verschreibungsalter stieg von 2000-2007 von 10,3 auf 11,9 Jahre (Schubert et al, 2010) – Am häufigsten erfolgte eine Verordnung im Alter von 6-14 Jahren (Knopf et al, 2012, Lindemann et al, 2012, Zito, et al 2008) • Am häufigsten wird immer noch Methylphenidat verschrieben [email protected] Antipsychotika I • 80% aller Neuroleptika werden von Jungen eingenommen (KiGGs) • Anstieg der Verordnung von 2005 bis 2012 von 0,23% auf 0,32% (Bachmann et al, 2014) • Insbesondere ältere Jugendliche – 10-14jährige von 0,24% auf 0,43% – 15-19jährige von 0,34 auf 0,54% – 0-4jährige von 0.15% auf 0,01% [email protected] Bachmann et al, 2014 [email protected] Steinhausen et al, 2014 [email protected] Antipsychotika II • Häufigste Verordnung in Deutschland bei – Hyperkinetische Störungen (61,5%) – Störung des Sozialverhaltens (36,5%) – Intelligenzminderungen (23%) …. Nicht Psychosen! (Franke et al, 2016) • Häufigste Verordnung in Canada bei – Psychose (31%) – ADHS (16%) allerdings bei Risperidon: ADHS 31%, Psychose 21% – Störung des Sozialverhaltens (10%) – Angststörung (15%) – Depression (8%) – Bipolare Störung (7%) (Murphy et al, 2013) [email protected] Diagnosebezogen • Tic Störungen (21,2%): Jungen (24,9%) mehr als Mädchen (11,8%) • Autismus (33%): Kein Unterschied ob Jungen oder Mädchen, aber Jungen erhielten häufiger Psychostimulanzien als Mädchen, Mädchen häufiger Antiepileptika und Anxiolytika [email protected] Welcher Arzt verordnet? • Bis zu Beginn 2000 wurden noch 60-70% der Psychopharmaka von Allgemeinärzten und Pädiatern verordnet. Inzwischen: – 27,9% Kinder und Jugendpsychiater – 25,4% Pädiater – 16,2% Allgemeinärzte – 7,4% Neurologen und Psychiater – 23,2% „andere“ Ärzte [email protected] Welcher Arzt verordnet? (nach Alter) • 0-4jährige: Pädiater 57,3% • 5-9jährige: Pädiater (35,6%) oder Kinder und Jugendpsychiater (32,1%) • 10-14jährige: Pädiater (32,0%) oder Kinder und Jugendpsychiater (32,1%) • 15-19jährige: Kinder und Jugendpsychiater (23,5%) oder Allgemeinärzte (20,5%) [email protected] Fazit • Noch nicht eindeutig geklärt ist welche Neuropsychopharmakologischen Mechanismen jeweils eine Rolle spielen – es ist ein komplexes Zusammenspiel • Verordnungshäufigkeit nimmt generell zu! • Ungleiche Gender-Verteilungen in der Indikation sind eher Diagnosebedingt zu sehen: – Jungen zeigen häufiger expansive Störungen und erhalten in dem Kontext auch häufiger Antipsychotika, v.a. Risperidon – Stimulanzien werden v.a. Jungen verordnet – Mädchen im Jugendalter erhalten häufiger Antidepressiva – Dabei zeigen Mädchen im Jugendalter eine bessere Wirkung von SSRI als Jungen, u.a. da sich lipophile Substanzen besser im Fettgewebe anreichern können. [email protected] Fazit II • Psychopharmakotherapie ist und bleibt eine individuelle Indikation, welche keine Binsenweisheit ist. • Auch in der Psychopharmakotherapie sollte das Geschlecht mit berücksichtigt werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!