Die Verfassung des nationalsozialistischen Staates Zwischen Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz. Berlin, 07. November 2015 Stipendiaten-Arbeitskreis Recht der Friedrich Ebert Stiftung Prof. Dr. Roland Rixecker Verfassungsgerichtshof des Saarlandes Von Sinn und Zweck Was kann man lernen, wenn man die „Verfassung“ einer „Gewalt- und Willkürherrschaft“ als Verfassung betrachtet? „Er ist wieder da?“ – oder ist er immer noch da? Ist das nicht ein Widerspruch: Willkür und Verfassung? Man kann etwas lernen über die Voraussetzungen einer Verfassung die denkbaren Inhalte einer Verfassung die schrecklichen Folgen einer Verfassung und die Schöpfer und Interpreten einer Verfassung: Furchtbare Juristen! Vorgeschichte Verfassung des Deutschen Reichs von 1919 (Weimarer Reichsverfassung) Politische Konsequenz der Weltwirtschaftskrise: Bruch der letzten „Weimarer Koalition“ Präsidialregierungen von Gnaden des Reichspräsidenten „Preussenschlag“ (Aufgrund des Notverordnungsrechts des RP erreicht Reichskanzler von Papen die Einsetzung seiner selbst als Reichskommissar für Preussen zur Ersetzung der geschäftsführenden Landesregierung) Novemberwahlen 1932 (NSDAP 33.1 %, DNVP 8,3 %, SPD 20,4 %, KPD16,9 %, Zentrum 11,9 %, DVP 1,9 %) Scheitern des vorletzten Präsidialkabinetts des Generalleutnants von Schleicher Übertragung des Amts des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg auf Druck von Großindustriellen von Großgrundbesitzern an Adolf Hitler! Zielsetzung Adolf Hitler im Ulmer Reichswehrprozess vor dem Reichsgericht am 25.09.1930: „Die nationalsozialistische Bewegung wird in diesem Staate mit den verfassungsmäßigen Mitteln das Ziel zu erreichen suchen. Die Verfassung schreibt uns nur die Methoden vor, nicht aber das Ziel. Wir werden auf diesem verfassungsmäßigen Wege die ausschlaggebenden Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften zu erlangen suchen, um in dem Augenblicke, wo uns das gelingt, den Staat in die Form zu gießen, die unseren Ideen entspricht.“ Herkömmliche Kritik der „Weimarer Reichsverfassung“ aus der Sicht des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland Keine Sicherung der Stabilität der Exekutive (destruktives Misstrauensvotum statt konstruktives Misstrauensvotum) Zu starke Stellung des Reichspräsidenten („Ersatzkaiser“ mit Notverordnungsrecht statt „pouvoir neutre“) Fehlende Wehrfähigkeit der Republik (Keine Parteienverbote) Grundrechte als bloße Programmsätze Kann die normative Verfassung einer Republik die reale „Verfassung“ einer Republik wirklich gewährleisten? „Nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft“ (§ 130 Abs. 3 StGB) Kennzeichen des Verfassungsrechts des „Dritten Reichs“: Aufhebung der vertikalen Gewaltenteilung Aufhebung der horizontalen Gewaltenteilung Aufhebung gesellschaftlicher Selbstorganisationsrechte Aufhebung des Schutzes von Freiheitsrechten Aufhebung des Schutzes von Gleichheitsrechten Beschluss des Großdeutschen Reichstags vom 26.04.1942: „Der Führer muss - ohne an bestehende Rechtsvorschriften gebunden zu sein – … jederzeit in der Lage sein, nötigenfalls jeden Deutschen … mit allen ihm geeignet erscheinenden Mitteln zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten“ Staatsorganisatorischer Neuaufbau: Aufhebung der vertikalen Gewaltenteilung Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31.03.1933 • • Ermächtigung der Landesregierungen zum Erlass von Gesetzen • Auflösung der Volksvertretungen der Länder • und der gemeindlichen Volksvertretungen Neubildung nach den Stimmenzahlen bei den Reichstagswahlen vom 05.03.1933 unter Ausschluss der für die KPD abgegeben Stimmen Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 07.04.1933 Einführung des Amtes des Reichsstatthalters in den deutschen Ländern Befugnisse: Ernennung der Ministerpräsidenten und der Landesregierungen Auflösung der Landesparlamente Ernennung und Entlassung der Staatsbeamten Staatsorganisatorischer Neuaufbau Aufhebung der vertikalen Gewaltenteilung Gesetz (des Reichstags) über den Neuaufbau des Reichs vom 30.01.1934 Art.1: Die Volksvertretungen der Länder werden aufgehoben. Art.2: (1)Die Hoheitsrechte der Länder gehen auf das Reich über. (2)Die Landesregierungen unterstehen der Reichsregierung. Art.4: Die Reichsregierung kann neues Verfassungsrecht setzen Staatsorganisatorischer Neuaufbau Aufhebung der vertikalen Gewaltenteilung Gesetz (der Reichsregierung) über die Aufhebung des Reichsrats vom 14.02.1934 §1 (1) Der Reichsrat wird aufgehoben. (Das war nicht einmal von dem Ermächtigungsgesetz gedeckt!) §2 (1) Die Mitwirkung des Reichsrats in Rechtsetzung und Verwaltung fällt fort. Reichsstatthaltergesetz vom 30.01.1935 Der Führer und Reichskanzler kann den Reichsstatthalter mit der Führung der Landesregierung beauftragen. Auf Vorschlag des Reichsstatthalters ernennt und entlässt der Führer und Reichskanzler die Mitglieder der Landesregierung. Vereinheitlichung der staatlichen Institutionen Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs vom 01.08.1934: (Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird) § 1: Das Amt des Reichspräsidenten wird mit dem des Reichskanzlers vereinigt. Infolgedessen gehen die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler über. § 2: Dieses Gesetz tritt mit Wirkung von dem Zeitpunkt des Ablebens des Reichspräsidenten von Hindenburg in Kraft. Berlin, den 1. August 1934 Der Reichskanzler Adolf Hitler Sicherstellung der Loyalität der Exekutive Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 07.04.1933 § 1 Abs. 1 „Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte…aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.“ § 3 Abs. 1 „Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“. § 4 Satz 1 „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden.“ Sicherstellung der „rassischen Reinheit“ der Verwaltung Sicherstellung der politischen Konformität der Verwaltung Beseitigung des Berufsbeamtentums als eines – soweit in diesen Zeiten überhaupt vorhandenen – rechtsstaatlichen „Widerlagers“ der Regierung. Mit Beamten waren damals auch Richter gemeint! Aufhebung der horizontalen Gewaltenteilung Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.03.1933 („Ermächtigungsgesetz“) „mit verfassungsändernder Mehrheit“ Reichsgesetze können auch von der Reichsregierung beschlossen werden. Die von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze können von der Reichsverfassung abweichen. War das auf der Grundlage der WRV zulässig? (Verfassungsändernde Mehrheit ist erzielt worden durch Verhaftung der Abgeordneten der KPD und eines Teils der Abgeordneten der SPD!) Historische Verantwortung der „bürgerlichen“ Parteien: Zustimmung! Staatliche Organisation der Gesellschaft Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14.07.1933 §1 „In Deutschland besteht als einzige politische Partei die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ §2 (Pönalisierung des Unternehmens, eine andere politische Partei aufrechtzuerhalten oder neu zu bilden) Gesetz über Treuhänder der Arbeit vom 19.05.1933 §2 (1)„Bis zur Neuordnung der Sozialverfassung regeln die Treuhänder“ (vom Reichskanzler ernannt) „an Stelle der Vereinigung von Arbeitnehmern oder…Arbeitgebern rechtsverbindlich …die Bedingungen für den Abschluss von Arbeitsverträgen“ (2)„Auch im Übrigen sorgen die Treuhänder für die Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens“ Übertragen auf das GG: Art. 21 GG wird aufgehoben! Übertragen auf das GG: Art.9 Abs. 3 GG wird aufgehoben! Aufhebung des Schutzes von Gleichheitsrechten Gesetz über die Rechtsstellung der weiblichen Beamten vom 30.05.1932 (!) Befugnis zur Entlassung verheirateter weiblicher Beamter bei Sicherstellung ihrer Versorgung in der Familie Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 07.04.1933 Entlassung nicht arischer und Ruhestandsversetzung politisch nicht konformer Beamter Geringere Besoldung weiblicher Beamter Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 07.04.1933 Versagung der Zulassung nicht arischer und politisch nicht konformer Beamter zur Rechtsanwaltschaft Reichsbürgergesetz vom 15.09.1935 (Teil der Nürnberger Gesetze) Unterscheidung von (arischen) Reichsbürgern (alleinige Träger der politischen Rechte) = Deutschen und Staatsangehörigen (inzident: Beseitigung der „Deutschengrundrechte“ für Nicht-Reichsbürger) Aufhebung des Schutzes von Gleichheitsrechten Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.09.1935 (Teil der Nürnberger Gesetze): Verbot von Eheschließungen zwischen Juden und „Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes“ 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 04.07.1939 Abschaffung der allgemeinen Schulpflicht für jüdische Kinder, Einführung jüdischer „Privatschulen“. Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden vom 04.12.1941: Aburteilung durch Sondergerichte, Versagung von Rechtsmitteln 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz: Entzug des Erbrechts für Juden Aburteilung von Juden durch die Polizei Aufhebung des Schutzes von Freiheitsrechten Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.02.1933 (Reichstagsbrandverordnung) Art.114 (Freiheit der Person: Art. 2 Abs. 2, Art. 104 GG) Art.115 (Unverletzlichkeit der Wohnung: Art. 13 GG) Art.117 (Briefgeheimnis: Art. 10 GG) Art.118 (Meinungsfreiheit: Art. 5 GG) Art.123 (Versammlungsfreiheit: Art. 8 GG) Art.124 (Vereinigungsfreiheit: Art. 9 GG) Art.153 (Eigentumsrecht: Art. 14 GG) werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Beschränkungen sind auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig. Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 03.12.1938: Enteignung von Juden Verbot des Erwerbs bestimmter Vermögensgegenstände „Verfassungsgeschichte als Lernprozess“ (Hubert Rottleuthner) Grundgesetz als „Lernerfolg“: Art. 1 Abs. 3 GG (Grundrechtsbindung der Legislative) Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsgarantie für Menschenwürde und Staatsstrukturprinzipien) Art. 67 GG (Stabilisierung der Funktionsfähigkeit des Parlaments) Artt. 93 bis 100 GG (Verfassungsgerichtliche Kontrolle) Aber: Wer sind die Bataillone des Grundgesetzes? Die Genialität seiner Mütter und Väter? Seine Artikel? Nein: Die Bataillone des Grundgesetzes sind wir!