1 Die WiEdergewinnung der Historizität in der Theorie DER

Werbung
DIE WIEDERGEWINNUNG DER HISTORIZITÄT IN DER THEORIE
DER SOZIALEN HANDLUNG
Urbano Ferrer
1. Zu einer Abgrenzung der sozialen Handlung
Die Handlung in das Zentrum der Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften zu
stellen, ist eine relativ späte Aufgabe gewesen, und zwar aufgrund der Bedingungen,
denen diese an ihrem Anfang wegen des allgemeinen Standes der damals vorbildenden
Wissenschaften unterworfen waren. Im französischen und angelsächsischen
Kulturbereich spürt man einen Einfluß der Naturwissenschaften —dabei insbesondere
zuerst der Physik, später der Biologie— auf die Sozialwissenschaften. In beiden Fällen
werden für die Thematisierung ihrer Objekte Kategorien aus jenen Wissenschaften
übernommen, ohne daß dadurch jedoch selbst die wesentlichen und ursprünglichen
Züge der sozialen Handlung hervortreten.
Hinsichtlich der Physik zeigt ein zusammenfassender Überblick über die moderne
wissenschaftliche Entwicklung, daß die von Galileo am Anfang der Renaissance
eingeführte Denkweise des objektivistischen und mechanischen Rationalismus bis weit
ins 19. Jahrhundert vorherrschte. Es ist bekannt, daß Husserl mitten im 20. Jahrhundert
die Krise der europäischen Wissenschaften mit dem allumfassenden Charakter der
galileischen Vernunft identifiziert, im Gegensatz zu dem in Griechenland entstandenden
Vernunftsbegriff. Die moderne Wissenschaft hätte das primitive und radikale Ideal der
echten Wissenschaft, das ihre Prinzipien rechtgibt, verlassen, und sich damit
zufriedengegeben, eine Art bloßer technischer Operation zu sein, die sich nicht für die
Einsicht der Prinzipien, von denen sie geleitet wurde, verantwortlich machte1.
Anzeichen dieser physich-mechanischen Ausrichtung findet man bei der
Anwendung auf die Studie der Gesellschaft in dem Begriff "Individuum" als jeder
konkret erlebten Verbindung entrückt sowie in dem daraus folgenden Begriff "Vertrag",
der als Ursprung der verschiedenen gesellschaftlichen Ausdrucksformen verstanden
1 "Die Wissenschaft ist in der spezialwissenschaftlichen Form zu einer Art theoretischer Technik geworden, die, wie die
Technik im gewöhnlichen Sinne, viel mehr auf einer in der vielseitigen und vielgeübten praktischen Betätigung selbst
erwachsenden 'praktischen Erfahrung' beruht als auf Einsicht in die Ratio der vollzogenen Leistung" (HUSSERL, E, Formale und
Transzendentale Logik, Husserliana, VII, Martinus Nijhoff, Den Haag, 1974, S.7).
2
wird. Beispiele für soziologische Anpassungen von Begriffen aus der Physik ist die von
A. Comte vorgenommene Unterteilung der Soziologie in Soziale Statik und Dinamik;
oder der Ersatz der Ursachenforschung durch die Untersuchung der Gesetze, die sich als
Bindeglied zwischen den Phänomenen verhalten und die Vorhersage erlauben, gemäß
des von Condorcet zum Höhepunkt der Aufklärung skizzierten Ansatzes zum
historischen Wissen...
Eine größere Reichweite und Bedeutung hat jedoch für die Sozialwissenschaften
die Übertragung von Begriffen, die aus der Biologie entstammen, wie z.B. sozialer
"Organismus", "Arbeitsteilung" (als Analogie zu dem, was die Zellen im lebenden
Organismus ausführen), "Funktionen" mit Bezug auf die Notwendigkeiten des Ganzen
und die ihre Anpassung an das Medium begünstigen... Diese Begriffe erscheinen
besonders bei H. Spencer und E. Durkheim. Aufgrund ihres Einflußes bemerkt man
hauptsächlich bei gewissen nordamerikanischen Autoren die Erfassung der sozialen
Entwicklung mit Hilfe von Kategorien, die aus der biologischen Evolutionstheorie
genommen wurden. Dieser Verflechtung der Wissenschaften miteinander —der Physik
und der Biologie mit der Soziologie— liegt der positivistische Grundgedanke der
Vereinigung der Wissenschaft zugrunde: die abstraktesten und einfachsten
Wissenschaften finden eine progressive Anwendung und Konkretisierung in den
heterogeneren und komplexeren.
In Deutschland finden wir ebenso im Festigungsprozeß der Sozialwissenschaften
als Geisteswissenschaften aus verschiedenen Blickwinkeln die Eingliederung von
Kategorien, die ursprünglich nicht für die Erklärung der sozialen Prozesse gedacht
waren. Wir sehen dies in den beiden Beispielen des soziologischen Formalismus und
des Marxismus.
Der soziologische Formalismus, der im diltheyischen Historismus und in der
Phänomenologie gründet, erforscht die sozialen Konstanten und versteht sie als
Organisationsformen, insofern diesen die variablen Inhalten entzogen werden, die ihnen
die historische Konkretisierung geben. Es wird demnach, um das Identische der sozialen
Bildungen zu verschiedenen historischen Etappen zu erkennen, von der den sozialen
Prozessen eigenen Zeitlichkeit abgesehen. Wir finden solche Merkmale bei den beiden
soeben genanten Ursprüngen.
Zum Ersten bezeichnet nämlich für Dilthey die Historizität nur die Tatsache, daß
die Bildungen aufeinander folgen und sie die Individuen überleben, die diese tragen.
"Diese Systeme beharren, während die einzelnen Individuen selber auf dem Schauplatz
des Lebens erscheinen und von demselben wieder abtreten... Die Religion, die Kunst,
3
das Recht sind unvergänglich, während die Individuen, in denen sie leben, wechseln"2.
Bekanntlich bezieht sich der historische Charakter nicht auf die Entwicklung der
sozialen Gestaltungen aus der geschichtlichen Handlung, sondern auf die Anordnung
dieser Gestaltungen in aufeinanderfolgenden Reihen, die eigentlich in konstanten
psychischen Elementen gründen3. Zum Zweiten berücksichtigt auf analoge Weise die
husserlsche Phänomenologie die objektiven Einheiten, die in verschiedenen zeitlichen
Bewußtseinsakten verharren, derart, daß die Zeitlichkeit nicht in einem ursprünglichen
Merkmal der objektiven Bildungen besteht.
Das Erbe dieser objektivistischen Fragestellungen —das heißt, von der
geschichtlichen Handlung als Ursprung der sozialen Bildungen absehenden— greifen
u.a. G. Simmel und L. von Miese auf, die die Sozialwissenschaft in diesem
Zusammenhang als Wissenschaft der sozialen Formen oder Beziehungen verstehen. Für
Simmel gleichen die festen sozialen Formen wie Über/Unterordnung,
Zusammenhaltung/Unterscheidung in den Gruppen insoweit den geometrischen und
grammatikalischen Formen, daß die einen und die anderen von ihren empirischen
Inhalten abstrahiert werden können. Ob es sich um eine Standes-, Industrie- oder in der
Entwicklung befindliche Gesellschaft handelt, die soeben genannten Strukturen
begleiten sie in jeder ihrer Phasen, wenn auch mit unterschiedlichen empirischen
Kennzeichen. Auf der anderen Seite, für von Wiese entstehen die sozialen Prozesse aus
einer mehr oder weniger großen Bindung bzw. Abstand zwischen den Gruppen, die
zwischen der verbindenden Beziehung der Verquickung, bei der der Abstand minimal
ist, und der trennenden Beziehung des Konfliktes, die durch die größte Entfernung
erkennbar ist, schwanken. Es handelt sich dabei wie schon zuvor um abstrakte Züge, die
die konkreten sozialen Bedingungen, aus denen sie hervorgehen, unberücksichtigt
lassen.
Ein anderes bedeutendes Beispiel für eine übertragende soziale Fassung finden
wir im Marxismus, in diesem Fall vom hegelschen Idealismus ausgehend. Das
Fortschreiten in Richtung auf die modernen Nationalstaaten, das Hegel in dialektischen
Termini deutet, wird von Marx auf die soziale Realität zugeschiebt, im Gegensatz zu
der vereinten unhistorischen Gesamtheit, die der absolute Staat für Hegel darstellt. Die
begrifflichen Gegensätze des hegelschen Systems werden auf die Gesellschaft als
Interessenantagonismen übertragen, und die von Hegel geförderte synthetische
Versöhnung im absoluten Staat wird durch die unerbittliche Spaltung der Glieder des
Gegensatzes ersetzt (Arbeit und Kapital, Gesellschaft und Staat, Herrsche und
Ausgebeutete...).
2 DILTHEY, W, Einführung in die Geisteswissenschaften I, B.G. Teubner Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 4ª Ed., 1959, S. 50.
3 DILTHEY, W, op. cit., S. 44 ff.
4
Von den zuvor genannten Ansätzen in der deutschen Kulturwelt betrachte ich den
formalistischen als denjenigen, der sich am meisten an die Abgrenzung der sozialen
Handlung als Element annähert. Es reicht dafür, darauf zu achten, daß sich in ihr die
Gründungsquelle der objektiven Bildungen befindet, die für die formalistischen Autoren
das Studienobjekt sind. Damit sich aber, ausgehend vom Formalismus, die soziale
Handlung in das thematische Zentrum verwandelt, gibt es zwei Möglichkeiten: die erste
besteht darin, die einzelne Handlung durch die Idealtypen zu erfassen, die der
Formalismus hervorgehoben hatte —aber ohne diese bereits zu der Handlung, die sie
interpretieren, in Beziehung zu setzen—, wie es der Fall der Verstehenden Soziologie
von Max Weber ist; die zweite Möglichkeit ist diejenige, die sich um die
phänomenologische Analyse der sozialen Handlung selbst erweitert, unter
Berücksichtigung der Zeitlich- und Freiwilligkeit, wie es bei der Phänomenologischen
Soziologie Alfred Schützes geschieht. Daher auch das Interesse daran, beide
Auffassungen der Handlung als letzte Einheiten, in die sich die soziale Welt auflöst, zu
untersuchen, auf die ich jeweils in gesonderten Abschnitten eingehen möchte. Der
Anschlußpunkt der beiden liegt in der Theorie der sozialen Handlung Parsons, die in
gewisser Weise einen theoretischen Schluß einiger Prämissen von Weber und ebenso
einen Bezugspunkt für die spätere Ausarbeitung von Schütz darstellt. Anschließend
werde ich auf den Ansatz von Habermas anspielen, da er von seiner eigener Perspektive
der kommunikativen Handlung aus den vorstehenden Fragestellungen eine große
Aufmerksamkeit gewidmet hat. Ein progressives Durchlaufen der genannten Autoren
erlaubt es, den Grad hervorzuheben, in dem jeder einzelne auf die für die soziale
Handlung konstitutive historische Dimension zurückgreift.
2. Die Theorien der sozialen Handlung von Weber und Parsons
Ich beginne mit der Skizzierung der sozialen Handlung nach Weber, da er nicht
nur chronologisch der erste in der Reihe der genannten Autoren ist (1864-1920),
sondern, wie wir sehen werden, die rekonstruktiven historischen Bestandteile der
sozialen Handlung erstens zurückgewinnt. Für Weber kann in den Sinn der sozialen
Tatsachen hineingesehen werden —sie sind Objekt eines "Verstehens"—, womit sie
sich von den psychischen Tatsachen unterscheiden, die sich in dem sich Ereignen
erschöpfen; nach der sinngemäßen Begrenzung erklärt er diese, indem er sie mit ihren
Ursachen und Wirkungen in Beziehung setzt. Beide Merkmale, das Verstehen und das
Erklären, werden in dem Kennzeichnen der "sozialen Handlung" ausgeführt, wobei er
diese als diejenige versteht, in der sich der vom Subjekt gemeinte Sinn auf das
Verhalten eines anderen (oder anderer) bezieht, und sich in der Entwicklung an diesem
5
orientiert4. Weber übernimmt in gewissem Maße das Erbe des neokantianiers H.
Rickert, der das Verständnis des Sinnes als charakteristische Moment der
Sozialwissenschaften hervorgehoben hatte, der das Ergebnis der Inbeziehungsetzung
einer einzelnen Handlung zu einem Wert ist5. Wenn ich z.B. jemandem die Hand
ausstrecke, so sehe ich das als Ausdruck des Grußes an, und ebenso interpretiert es mein
Gesprächspartner, der dementsprechend handelt und eventuell meinen Gruß
beantwortet, auf meine Frage antwortet, sich für mich un meine Familie interessiert...
Für Weber ist das Verständnis des Sinnes insoweit ein Bestandteil der sozialen
Handlung, als der Handelnde mit seiner Handlung zeigt, daß er die fremden
Erwartungen verstanden hat und diese beantwortet. Diejenige dagegen, die gemeinsam
handeln, aber ohne Wechselwirkung, ohne sich gegenseitig zu beeinflußen, handeln
nicht sozial; zum Beispiel ein Ausbildungskommando, eine Kartenspielergruppe, die
Patiencen legt usw. Im Sinne der Handlung kommen ein Ziel und einige Mittel
zusammen, die sich auf verschiedene Weise nach der Art der sozialen Beziehung, die
sie ins Spiel bringt, anpassen, wobei diese technisch oder wirksam, bewertend oder
symbolisch, empfindsam oder emotional und traditionell oder vom Respekt für eine
Autorität geprägt sein können. Aber zu dem Verständnis des Sinnes muß die
ursächliche Erklärung der Entwicklung und der Wirkungen der Handlung hinzugefügt
werden, da der Sinn nicht nur abstrakt verstanden wird, sondern ebenfalls die laufende
Handlung auslöst und diese mit den restlichen natürlichen und historischen Ereignissen
verkettet.
Da laut Weber die interpretierenden Sinne der Handlung von den Handelnden
gesetzt werden, und zwar als Hilfsmittel, die in das Geflecht eines einzigen Verlaufes
eingefügt werden, müssen es die Ergebnisse sein, die die Wirksamkeit der sozialen
Handlung ausstellen, ohne daß diesen eigentlich eine eigene Bedeutung zusteht. Was
wir "Kultur" nennen, ist nur ein Querschnitt —durch einen Sinn definiert—, den der
Handelnde in das Geflecht der Ereignisse, denen für sich selbst die Richtung fehlt,
einführt6. Die identischen sozialen Bildungen, die eine Kultur ausmachen (wie es der
Gruß, die Ehrerbietung vor der Autorität oder das Regelwerk für das Leben in
Gemeinschat sein können), die für Simmel und von Wiese im Vordergrund standen,
werden hier auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen mit Hanlungssequenzen reduziert,
4 "Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sonder nur ein sinnhaft am
Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten" (WEBER, M, Grundriss der Sozialökonomie I,
J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1921, S. 11).
5 Über die Schnittpunkte und Unterschiede zwischen beiden Autoren, B RUNN, H.H., Science, Values
and Politics in Max Weber´s Methodology, Munksgaard, Kopenhagen, 1972.
6
Für Weber ist Kultur verstanden als ein "vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und
Bedeutung bedachte endliche Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens" (W EBER,
M, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1973, S. 180).
6
sobald unter dem idealistischen Einfluß die Bedeutung der Ereignisse in den Interpreten
liegt, die dazu Stellung nehmen, und nicht in der Wirksamkeit ihres Verlaufes.
Die Handlung ist historisch, da sie Folgen ausgesetzt ist, auf die wiederum andere
folgen u.s.w. Um diese historische Dimension der Handlung einzugreiffen, weist Weber
auf die "Idealtypen" hin: diese bestehen in helfenden Näherungsbegriffen, die als
Mittelwerte in das unbestimmte Ganze des sich universell Ereignenden eingeschoben
werden. Man gelangt zu ihnen nicht durch Abstraktion der allgemeinsten Aspekte, die
sich in verschiedenen Umständen wiederholen, sondern durch die einseitige Steigerung
einiger der die Handlung hervorrufenden Züge. Wenn man die Realität unter einen
bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, zeigen sich in ihr gewisse "reine" oder irreale
Weisen, die als Rahmen für die Kategorisierung der soziohistorischen Wechselfälle
gehalten werden. Beispiele für Idealtypen sind die charismatische Autorität, die
verbürokratisierte Ordnungsmässigkeit der westlichen Gesellschaft, der kalvinistische
Glaube an der Vorherbestimmung als Motiv für eine intensive weltliche Aktivität...
Eine neue Auffassung der sozialen Handlung schlägt Talcott Parsons (1902-1979)
vor. In den Jahren seiner Doktorarbeit an der Universität Heidelberg (1925-27) erfährt
er den Einfluß, den Weber seit 1897 an dieser Universität, sogar noch nach seinem Tod
im Jahre 1920, hinterlassen hatte. Die erste Übersetzung ins Englische der berühmten
Weberstudie über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus verdanken
wir Parsons. In einer thematischen Hinsicht erkennt man die Kontinuität zwischen
beiden Soziologen an dem weberschen Begriff "Idealtypen". Da diese nur fingierte
Hypothesen sind, die es erlauben, mehr oder weniger angemessen das formlose Material
der Ereignisse zu ordnen, besteht der nächste Schritt in ihrer Beiseitigung, indem man
annimmt, daß die Systeme, in die sich die Handlung einschaltet, sich selbst anpassen
und das Gleichgewicht leisten. So wie für Weber der Sinn im dynamischen
Zusammenhang der Ereignisse versunken war, integriert sich für Parsons analog die
Handlung in ein System, das durch die normative Orientierung nach Werten und durch
die definierte Situation, die Ausgangspunkt für die Handlungsweise ist, gekennzeichnet
wird. So lassen sich bei jeder Handlung die Normativität des Wertes und die de facto
konditionale Situation, von der ausgegangen wird, unterscheiden: zwischen beiden steht
die Spannung oder eigene Anstrengung der Handlung, die einem Ergebnis oder
zukünftigen Sachverhalten zuführt7.
Wir verdanken Parsons eine sehr weite Kategorisierung der strukturellfunktionellen Faktoren, die es erlauben, die soziale Handlung systematisch einzuordnen,
7 "Action must always be thought of as involving a state of tension between two different orders of
elements, the normative and the conditional. As process, action is, in fact, the process of alteration of the
conditional elements in the direction of conformity with norms" (P ARSONS, T, The Structure of Social
Action, The Free Press, Glincoe, Illinois, 1949, S. 732).
7
wie z.B. "Rolle", "Status", "Rollenerwartungen", "Institutionalisierung", "kulturelle
Pattern".... Daraus leiten sich die für die Erhaltung der Funktionalität des Systems
notwendigen Verhaltensnormen ab, ohne die keinerlei Interaktion möglich wäre. Zum
Zwecke der Beibehaltung der Vollständigkeit des Systems werden die sozialen
Elemente gemäß iherer jeweiliger Funktion eingegrenzt. Wie man sehen kann, behält
der Funktionsbegriff bei Parsons teilweise den organizistischen Charakter, den er
ursprünglich bei Durkheim8 hatte; Parsons versteht ihn bevorzugt als den Beitrag der
Teile zum gesamten Mechanismus und als gegenseitige Abhängigkeit zwischen den
Teilen selbst.
Angesichts der Schwierigkeit, die Systeme von den islolierten
Handlungseinheiten aus aufzubauen, geht Parsons in seiner zweiten Etappe (begonnen
mit The social System im Jahr 1953) auf durkheimersche Art von den kulturellen
Pattern als Komponenten des Gesamtsystems, bevor die Handelnden in Interaktion
treten, aus. Diese Pattern werden später zu normativen Orientierungen für das soziale
Subsystem und zu motivationellen Orientierungen für das Subsystem der
Persönlichkeit. Auf diese Weise stellen Persönlichkeit, Gesellschaft und Kultur die drei
gegenseitig offenen Subsysteme dar, die das gesamte System der sozialen Handlung
ausmachen. Das niedrigste Subsystem, das in der Persönlichkeit besteht, trägt die
Energie zur Handlung bei, während in der Kultur die Information und die notwendigen
Werte innewohnen, wodurch die Personen ihre zeitlichen Erwartungen im
Gesamtsystem der sozialen Handlung koordinieren können. Die Eingliederung der
Persönlichkeit in die Gesellschaft durch die Rollen versteht Parsons als Sozialisierung;
und andererseits ist die Einbindung der Pattern, die für die Kultur wesentlich sind, in
das soziale Subsystem das, worin die Institutionalisierung der Kultur besteht.
Sowohl die progressive dem System interne Differenzierung —was Parsons
Gleichgewichtswechsel nennt— als auch der Wechsel in dem Wertuniversum, das zur
Konsolidierung des Systems beiträgt (Strukturwechsel genannt), gehen auf die
funktionellen Anpassungsnotwendigkeiten bzw. die Suche nach neuen Gleichgewichten
zurück, wobei sich in diesem Zusammenspiel die gesamte vektorielle Bedeutung der
Handlung zeigt. Danach erklärt die Integration die Unterschiedlichkeit der Teilen und
ihrer Beziehungen, sei es in Form der Anpassung an ein Medium, sei es als
Wiederherstellung des Gleichgewichtes der Gesamtheit.
Die Grenzen der Parsons´schen Theorie der sozialen Handlung sind aus
verschiedenen Blinkwinkeln von der zuvor genannten phänomenologischen Soziologie
von A. Schütz und der Theorie des kommunikativen Handelns von J. Habermas
aufgezeigt worden. Im nächsten Abschnitt werde ich mich an dem ersten Autor halten.
8
Vgl. WERLEN, B, Society, Action and Space, Routledge Kegan Paul, London, 1993, S. 100-138.
8
3. Alfred Schütz: von den sozialen Sinnen zur primordialen sinngebenden
Aktivität
Für Alfred Schütz stellen die objektive Begriffe der Sozialwissenschaften, mit
denen das parsons´sche System9 aufgebaut wird, Idealisierungen und Formalisierungen
dar, die sich mit den Bedeutungskategorien, die aus den sozial Handelnden10
entstammen, überdecken müssen. Im Ursprung der Bedeutungssysteme und der
gemeinsam angenommenen ordnenden Typiesierungen befinden sich die aus der
Interaktion entwickelten Gebräuche in Bezug auf einen weltlichen Bereich, der als
mögliches Handlungsfeld verstanden ist. Ich verstehe z.B. eine Uhr von der
orientierenden Funktion des individuellen und sozialen Verhaltens her, das ich der
Uhrzeit zuordne; oder ich verstehe eine Schachtel Streichhölzer, sobald ich sie in
Beziehung zu der Aktivität des Feuermachens setze, in Abhängigkeit von verschiedenen
Bedürfnissen11.
Im Gegensatz zu Weber und Parsons, die die Handlung aufgrund ihrer Effekten
als externe Beobachter studieren, betrachtet Schütz die Handlung als von den sozialen
Handelnden vorgenommene. Der Entwurf und die Motive sind die Merkmale, die es
ihm erlauben, von der ausgeführten sozialen Handlung bis zu den einzelnen
ursprünglichen Agenten zu überführen (in diesem Zusammenhang ordnet sich der
Vermittlungsversuch von Ricoeur zwischen beiden Blickrichtungen ein durch die, wie
er es nennt, "Dialektik der Freiheit"). Ich werde nachfolgend eingehend jedes einzelne
untersuchen12.
Vor ihrer Ausführung wird die Handlung von ihrem individuellen Agenten
entworfen, als ob sie bereits ausgeführt worden wäre, so wie es das Futur II ausdrückt
(A ist das, was ich "ausgeführt haben werde"). Diese Handlungseinheit, die sie vor der
9
Vgl. KASSAB, E.S., The Theory of Social Action in the Schütz-Parsons Debate, Ed. Universitaires,
Freiburg (Schweiz), 1991; auch WERLEN, art. cit.
10 "But it will be usefull to remember that what the sociologist calls 'system', 'role', 'status', 'role
expectation'... are elements of a network of typifications —typifications of human individuals, of their
coure-of-action patterns, of their motives and goals, or of the sociocultural products which originated in
their actions" (SCHÜTZ, A, "Equaly and the Meaning Structure of the Social World", Studies in Social
Theory, Collected Papers II, Martinus Nijhoff, The Hague, 1976, S. 232).
11
"I cannot understand a social thing without reducing it to the human activity which has created it
and, beyond it, without refering this human activity to the motives out of which it springs. I do not
understand a tool without knowing the purpose for which it designed, a sign or simbol without knowing
what it stands for, an institution if I am unfamiliar with its goals, a work of art if I neglect the intentions
of the artist which it realizes" (SCHÜTZ, A, The social world and the theory of social action, Collected
Papers II, S. 10).
12
Dafür greife ich einige der bereits bei Ferrer, U, "El significado de la acción intersubjetiva según
Alfred Schütz", Daimon, 3 (1991), S. 159-172 wiedergegebenen Ergebnisse auf und erweitere diese.
9
fortlaufenden Umsetzung in die Praxis identifiziert, ist dasjenige, das Schütz als ihre
Bedeutung versteht. Damit bezeichnen wir keinen von außen eingebrachten Aspekt in
der Analyse der Handlung und gleichfalls anwendbar an die verschiedenen an ihr
beteiligten Handelnden; vielmehr fügt sie jeder Handelnde in seine zeitlichen
Koordinaten ein, sei es, um sie zu verleihen, wenn die Handlung vorgenommen wird,
oder um sie zu interpretieren, wenn es um einen anderen Handelnden als den
Ausführenden geht, der darauf antwortet.
Der von Schütz durchgeführten Analyse der sozialen Handlung liegt
ununterbrochen zugrunde der doppelte Einfluß der dem Bewußtsein innewohnenden
Zeitlichkeit, die Husserl als den letzten Rest seiner phänomenologischen Analysen
kennzeichnete, und der bergsonschen durée, die man weder messen noch zu anderer
Zeiten hinzufügen kann. Die husserl´sche immanente Zeit wird ausgehend von dem
akkumulierenden Retentionen von dem, was gerade als ein Kometenschweif vorbeizog,
und Protentionen, in Richtung auf das, was noch kommen wird, gebildet; aus der
Verlängerung der Gegenwart in die Vergangenheit über die Retentionen und in die
Zukunft mittels der Protentionen ergibt sich, laut Husserl, die fortlaufende Zeitlichkeit
des Bewußtseinslebens. Die Dauer ist andererseits für Bergson nicht in überdeckbare
Augenblicke auflösbar, sondern eine fließende Einheit, wie das Ausdehnen einen
elastischen Bandes oder das Auflösen eines Zuckerstückchens im Wasser.
Diese zeitlichen Differenzen, die von einem zum anderen Bewußtseinsstrom
variieren, wurden von Weber nicht berücksichtigt, indem er den Sinn für einen und
demselben erklärte, der mit Ursprung in jedem einzelnen der mehreren Agenten jeweils
an der Handlung beteiligt ist. Aber die Bedeutung kann zeitlich bei den verschiedenen
Handelnden nicht überschieben —erwidert Schütz— , da es für dem Empfänger erst
möglich ist, diese durch Auflösung zu deuten, wenn der Absender diese vermittelt hat.
Die Abweichung zwischen Schütz und Weber hinsichtlich der Bedeutung in der
sozialen Handlung wird wie folgt zusammengefasst: Da Weber die selektive
Kategorisierung in den kulturellen Inbegriff einführte, achtete er auf den die Handlung
identifizierenden Wert; da er ihn jedoch beschreibend in den historischen Verlauf
eingliederte, verwechselte er ihn mit der Typisierung in Ereignisse aufgrund der
vorherigen Bewertung seitens der Agenten. Schütz dagegen unterscheidet zwischen
"entworfener Handlung" und "empirischen Typen", wobei die erste als Einheit vor ihrer
Ausführung verstanden wird, und die zweitgenannte als quasianonyme Klassifikation
nach dem Entwerfen der Handlungen.
Die Art, diesen Unterschied hervorzuheben, besteht in der parallelen
Unterscheidung "Motive-für" und "Motive-weil". Damit gehen wir zum zweiten der
zuvor genannten individualisierenden Merkmake der Handlung über. Während die
10
"Motive-für" auf die Zukunft abzielen, mit Ursprung im Agenten, der sich für ein
Handeln entscheidet, beziehen sich die "Motive-weil" auf äußere Formen, in die die
Handlung eingeordnet wird, und die ihr Agent rückwärts findet, nachdem er diese
entworfen hat. "Ich öffne den Regenschirm, um nicht nass zu werden" weist auf das
"Motiv-für" als Ausgangspunkt für die Ausführung der Handlung hin; "ich öffnete den
Regenschirm, weil es regnete" spricht den Umstand an, auf den ich zurückkomme, um
die Handlung zu erklären, nachdem ich diese in Angriff genommen habe. Der
vollkommen im "Motiv-für" entwickelte Entwurf ist genau das, was in der Handlung
ausgeführt wird; das "Motiv-weil" dagegen betrifft die bedeutenden variablen
Zusammenhänge, die sie anonym für einen beliebigen Handelnden typisieren. "Regnen
erklärt —im allgemeinen—, daß der Regenschirm geöffnet wird". Dabei ist klar, daß
der zweite Ausdruck nur auf abgeleitete Weise Bedeutung hat, wenn man bereits über
eine aktiv entworfene Bedeutung verfügt. Die "Motive-weil" erscheinen kraft der
Aufmerksamkeit, die sich auf die bereits entworfene Handlung richtet und diese in eine
erklärende Beziehung zu ihren vorherigen Umständen setzt.
In ihrer Anwendung auf die historisch-soziale Welt schlägt die sinnhafte
Handlung in von einem beliebigen Beobachter allgemein angenommene Abkommen
nieder, die in einem größeren oder kleineren Grad die Motive-für verdecken. Das
Verdecken erfolgt durch die Umwandlung der Bedeutung der Handlung, so wie sie der
Agent in Bezug auf die anderen entwirft, in Motive-weil, die ausgehend von
situationsmässigen Zusammenhängen festgesetzt werden. Andererseits erscheinen die
Motive-weil selbst mittels einer vom Beobachter, der sie hervorhebt —nicht von dem
Agent, der sich selbst bestimmt—, frei ausgeführten Zäsur, da sie selbst fester Grenzen
entbehren, sondern eine offene Struktur haben. "Ich besuchte ihn, weil er in seinem
Büro war, weil ich über die Transportmittel verfügte, weil es eine passende Zeit war,
etc..." sind alles ebenfalls mögliche freie Zusammenhänge einer einzigen entworfenen
Handlung in Termini, wie z.B. "ich werde ihn besuchen, um ihm das Buch
zurückzugeben", das heißt, so wie sie ihr Agent zuvor sieht, als von ihr selbst motivierte
und angesichts eines Anderen. Die Einheit der entwerfbaren Bedeutung ist jedoch noch
kein Indiz für die Selbstbestimmung ihres Agenten. Diese Einheit kennzeichnet nicht
die Handlung in ihrer Ausführung, sondern ab dem Akt der Aufmerksamkeit, in dem
das Bewußtsein dieses als ein bereits verlaufenes Ganzes integriert, obwohl sie noch
nicht ausgeführt worden ist. Schütz trennt den bedeutenden Akt von dem laufenden
Strom der Erlebnisse, indem er eine spezifische intentionale Richtung fordert, damit
jener sich bildet. Dem Entwurf fehlt die Durchführungsabsicht, um von neutral zu
positional zu gelangen und sich damit im Vorsatz zu verwandeln, das die Handlung
einleitet.
11
Indem sein Agent einem regelsmäßigen Verhaltenstyp eine konkrete Bedeutung
zuordnet, werden die allgemeine Termini im Hinblick auf das, was ein anonymer
Beobachter interpretiert, überschritten: so verhält sich der Handelnde frei und gliedert
seinen Verhalten in seine Biographie ein. Anders gesagt: die primordiale bedeutende
Aktivität entspricht dem ersten Auftreten der sozialen Freiheit, da sich in ihr die
Nichtübereinstimmung zwischen dem Agenten und seiner sozialen Rolle enthüllt. "In
typical situations of our daily life we all, too, assume certain typical roles... The traveler,
for instance, has to behave in the specific way he believes the type "railway agent" to
expect from a typical passenger. For us in our daily lives these attitudes are but roles
which we voluntarily assume as expedients and which we may drop whenever we want
to do so"13. Die funktionelle Beschreibung der Rolle sieht korrelativ aus, nicht vom
Agenten, der die Bedeutung leistet, sondern von der Abstraktion, die wir den "other
generalised" nennen14. Mit dem Übergang der sozialen Rolle an den Agenten, dessen
Handlungen eine unübertragbare Zeitlichkeit und biographische Bedeutung haben, wird
die eigene Perspektive der historischen Subjekte gewonnen. Die geschichtlichen
Handlungen sind in der Tat keine Beispiele allgemeiner Rolle, sondern besitzen eine
indivuelle Motivation. Auf diese Weise finden wir bei Schütz eine Weiterentwicklung
der systematischen Theorie Parsons über hinaus im Hinblick auf die Rückgewinnung
der spezifischen historischen Aspekte der sozialen Handlung.
4. Von den sozialen Bedeutungen zu der kommunikativen Interaktion
Ein gemeinsames Merkmal der zuvor genannten Auffassungen der sozialen
Handlung ist, daß die Handelnden sich allein Ziele setzen, ohne daß die Interaktion mit
den anderen Handelnden das teleologische Paradigma verändert, nach dem die
Handlung gedeutet wird. Dies sind vorsprachliche Ziele, da ihr Ausdruck nicht auf den
Vorsatz derselben Einfluß hat, sondern ihnen gegenüber konventionell ist. Dies ist der
Hauptmotiv der Kritik von Habermas an einer Vernünftigkeit nur der Ziele, wie sie
Weber beschreibt.
Die kommunikative Interaktion unterscheidet sich von der strategischen
Zielhandlung, indem sie über die Verabredungen der Sprache, in denen bereits das
festgeschrieben ist, was die Agenten sagen wollen, ausgeübt ist. Handlungen wie
13
SCHÜTZ, A, The Problem of Rationality in the Social World, Collected Papers II, Martinus Nijhoff,
The Hague, 1976, p. 82.
14 Dies ist ein von G.H. Mead im Zusammenhang mit den spezifischen Aktivitäten der sekundären
Sozialisierung wie dem Sport oder dem geregelten Spiel eingeführter Begriff, in dem jedes Individuum
die eigenen Erwartungen des anderen beliebigen Mitglieder der Gruppe übernehmen muß, um sich an
diesen Aktivitäten beteiligen zu können.
12
versprechen, beipflichten, wetteifern, einen Vertrag unterschreiben, Befehle erteilen
usw. haben eine sprachliche Prägung, und gehören zu den Dingen, die man mit Worten
macht, wie sie John Austin identifizierte. Die kommunikative Vereinbarung muß
außerdem durch Sätze ausgedrückt werden können und sich auf öffentliche Argumente
stützen.
Hinsichtlich des Parsons´schen Begriffs des Systems hat Habermas ebenfalls seine
Grenzen vom Gesichtspunkt der kommunikativen Handlung aus hervorgehoben, und
hat damit den Begriff der Lebenswelt als historisch variablen Zusammenhang
gewonnen, der auf jedem Fall unentbehrlich ist, um das dialogische Verstehen zu
erreichen. Die Lebenswelt ist der gemeinsame Hintergrund, an dem sich die
verschiedene Sendungen jedes einzelnen Gesprächspartners orientieren; ohne ihn —als
impliziten Zusammenhang in der Kommunikation— könnten diese von ihrer
verschiedenen Sätzen aus zu keiner Vereinbarung kommen. Wie überschreitet
Habermas mit dieser neuen Perspektive die als System verstandene Handlung auf
Parsons´sche Weise? Wir werden die drei Auffassungen nacheinander überprüfen.
An Stelle des zusammenhangsbildenden Hintergrundes des dialogischen
Verstehens, das für Habermas die Lebenswelt darstellt, greift Parsons als Grundlage für
die Kommunikation auf gemeinsame Werte zurück, die das kulturelle Subsystem der
sozialen Handlung ausmachen; und statt der Lebenswelt als Bedingung der der
Interaktion innewohnenden Dialogfähigkeit, stellt Parsons die Koordinierung zwischen
teleologisch orientierten Einzelhandlungen. Wie wir jedoch zuvor gesehen haben,
erweist sich die ensprechende Synthese zwischen System und sozialer Handlung als
zusammenhalteslos. Daher kommt er dazu, vor der sozialen Handlung die kulturelle
Pattern und ihre nachfolgende Umsetzung in normative Orientierungen für das soziale
Subsystem und in motivationelle Orientierungen für die Persönlichkeit vorauszusetzen.
Auf diese Weise betont er die objektive Gestaltung der Kultur, aus der die Agenten die
Interpretationen nehmen, die sie ihren Handlungen geben. Wie Habermas selbst in
Bezug auf Parsons bemerkt: "Im Rahmen einer Kultur zu handeln bedeutet, daß die
Interaktionsteilnehmer aus einem kulturell gesicherten und intersubjektiv geteilten
Wissensvorrat Interpretationen beziehen, um sich über ihre Situation zu verständigen
und auf dieser Basis ihre jeweiligen Ziele zu verfolgen"15.
Im Gegensatz zu Parsons berücksichtigt Schütz die Lebenswelt, indem er sie als
Inbegriff der sozial nidergeschlagenen wahrnehmungsmäßigen und kulturellen
Strukturen bezeichnet, aus denen das gegenseitige Verständnis der sozialen Agenten
ermöglicht wird. Die Lebenswelt erscheint als beweglicher Horizont, der in jedem
einzelnen Fall durch die variable Situation definiert wird. Aus diesem Ansatz kann man
15
HABERMAS, J, Theorie des kommunikativen Handelns II, Suhrkamp, Frankfurt, 1981, S. 327.
13
schon erkennen, daß der Begriff von Schütz über die Lebenswelt nicht mit dem
Habermasschen
übereinstimmt.
Der
frankfurter
Soziologe
ersetzt
den
wahrnehmungsmäßigen Rahmen durch die semantischen Geflechte, die die
kommunikative Handlung performativ einführt. Die sprachlichen Sendungen sind kein
Teil der objektiven Welt, deren Strukturen schon bereit sind, sondern stellen das Mittel
für die Interaktion und Sozialisierung der Agenten dar; die Gesprächspartner greifen
nicht bei der Durchführung oder dem Verständnis einer Sprechhandlung auf die Sprache
als ein Werkzeug zurück, mit dem sie ein Ziel erreichen können, sondern sie nehmen
mit dem Sprechakt sozial gesehen die eine oder andere Haltung ein —wer hat eine
Wette gesetzt, wer hat sich mit seiner Versprechenshandlung eingelassen...—, die sie
identifiziert und in Verbindung setzt. Der Mensch ist also ein soziales Wesen aus
demselben Grund, aus dem er ein sprechendes Wesen ist, wie bereits Aristoteles
bemerkte.
Herunterladen