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Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Philosophisches Seminar
Wintersemester 1996/1997
Seminarleiter: Dr. J.-G. Blühdorn
Proseminar: Einführung in die Ethik, Gruppe A
Der phänomenologische Ansatz in der Ethik unter
besonderer Berücksichtigung der Wertblindheit bei
Dietrich von Hildebrand
vorgelegt durch:
Hilko Röttgers
01. Fachsemester
Nebenfach: Philosophie
[email protected]
Inhaltsverzeichnis
2
Der phänomenologische Ansatz in der Ethik unter
besonderer Berücksichtigung der Wertblindheit
bei Dietrich von Hildebrand .................................... Seite 03
1
Der phänomenologische Ansatz als Grundtyp
ethischer Theoriebildung ......................................... Seite 05
2
Die Philosophie der materialen Wertethik............. Seite 06
3
Die Wertblindheit bei Dietrich von Hildebrand ..... Seite 06
3.1
Wertblindheit als absolute Größe ........................... Seite 09
3.1.1
Die kulturelle Dimension.......................................... Seite 09
3.1.2
Die historische Dimension ........................................ Seite 10
3.1.3
Die Perspektive des Betrachters .............................. Seite 10
3.2
Verhältnis von Wertblindheit und Wertsichtigkeit
zu moralischem und unmoralischem Verhalten .... Seite 12
3.3
Wertekollisionen ....................................................... Seite 13
3.4
Wertblindheit als selbstverschuldetes Manko? ..... Seite 15
4
Abschließende Bemerkung ...................................... Seite 15
3
Der phänomenologische Ansatz in der Ethik unter
besonderer Berücksichtigung der Wertblindheit bei
Dietrich von Hildebrand
In der vorliegenden Arbeit soll der phänomenologische Ansatz in der Ethik
behandelt werden.
Die Phänomenologie (griechisch: Erscheinungslehre) wurde von Edmund
Husserl begründet. Dieser ist jedoch selbst nicht als Moralphilosoph in Erscheinung getreten. Aus diesem Grunde wird auf ihn im Verlauf dieser Arbeit nicht
weiter eingegangen werden. Vielmehr waren es die Philosophen, Nicolai
Hartmann, Dietrich von Hildebrand, Hans Reiner und Max Scheler, die - in der
Nachfolge Husserls stehend - seine Phänomenologie auf die Ethik übertrugen. So
entstand der phänomenologische Ansatz - als Grundtyp ethischer Theoriebildung oder auch die materiale Wertethik.
Selbstverständlich würde es den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte man
den phänomenologischen Ansatz in aller Ausführlichkeit darstellen; darum kann
das Ziel dieser Semesterarbeit nur sein, den Ansatz eines der oben genannten
Philosophen näher vorzustellen und aufzuzeigen, wie sich dieser Ansatz von
denen anderer Philosophen abgrenzt. In der vorliegenden Semesterarbeit soll vor
allem auf den Ansatz Dietrich von Hildebrands eingegangen werden.
Die vorliegende Arbeit zerfällt also in drei Teile: Im ersten Teil ist es
notwendig, kurz auf die Frage einzugehen, mit welcher Berechtigung sich
überhaupt von einem phänomenologischen Ansatz als Grundtyp ethischer
Theoriebildung sprechen läßt. Hier werden die Frage behandelt, welche
Eigenschaften ein solcher Grundtyp aufweisen muß, und ob der phänomenologische Ansatz diese Kriterien erfüllt.
Im zweiten Teil dieser Arbeit werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen den Ansätzen der Philosophen Dietrich von Hildebrand, Max Scheler
und Hans Reiner kurz aufgezeigt werden. Dabei wird, wie bereits erwähnt, die
Philosophie Dietrich von Hildebrands im Vordergrund stehen. Der oben genannte
Nicolai Hartmann dagegen wird nicht behandelt werden.
4
Der dritte Teil dieser Arbeit wird sich mit einem speziellen Bereich der
materialen Wertethik bei Dietrich von Hildebrand befassen. Es soll hier an
verschiedenen Beispielen das Problem der Wertblindheit diskutiert und kritisiert
werden.
Dietrich von Hildebrand ist der einzige der oben genannten Philosophen, der
eben dieses Problem der Wertblindheit behandelt. Es stellt somit einen besonderen
Aspekt seiner Philosophie dar. Aus diesem Grunde wurde es zur eingehenden
Betrachtung ausgewählt.
1
Der
phänomenologische
ethischer Theoriebildung
Ansatz
als
Grundtyp
5
Alle Grundtypen ethischer Theoriebildung haben bestimmte Merkmale
gemein, die sie als solche Grundtypen ausweisen. Das gilt auch für den
phänomenologischen Ansatz. Auch für ihn kann das Vorhandensein dieser
Merkmale nachgewiesen werden. Dieses soll im Folgenden geschehen.
Ein jeder Grundtyp ethischer Theoriebildung hat ein Ziel, welches mit einer
bestimmten Methode erreicht werden soll. Das Ziel des phänomenologischen
Ansatzes ist es, das moralische Wertbewußtsein zu analysieren. Um dieses Ziel zu
erlangen, wird eine deskriptive Methode gewählt. Das bedeutet, daß die
menschliche Praxis dahingehend beschrieben und analysiert wird, daß aus den
Handlungszusammenhängen das moralische Wertbewußtsein erkennbar und
greifbar wird. Das Moralprinzip, welches beim phänomenologischen Ansatz
gewählt wurde, ist das Wertfühlen.
Für andere Grundtypen ethischer Theoriebildung lassen sich durchaus andere
inhaltliche Konkretisierungen der Merkmale feststellen. Hierzu zwei Beispiele:
Der sprachanalytische und der evolutionäre Ansatz verwenden zwar ebenfalls eine
deskriptive Methode und haben ein theoretisches Erkenntnisinteresse, jedoch
verfolgen sie mit diesen Mitteln jeweils andere Ziele. Das Ziel des
sprachanalytischen Ansatzes ist die Klärung der Bedeutung moralischer Aussagen,
welches mittels des deskriptiven Vorgehens erreicht werden soll. Darüber hinaus
hat dieser Ansatz auch ein anderes Moralprinzip, nämlich die Neutralität.
Wieder anders verhält es sich mit dem evolutionären Ansatz, der durch das
deskriptiven Vorgehen ein anderes Ziel verfolgt. Es ist dies die Eruierung der
biologischen Wurzeln der Moral. Das Moralprinzip dieses Ansatzes ist die
Evolution.
Darüber hinaus gibt es eine Anzahl von Grundtypen ethischer Theoriebildung,
die im Gegensatz zur deskriptiven Methode eine präskriptive oder normative
Methode anwenden. Es sind dies zum Beispiel der eudämonistische oder der
vertragstheoretsiche Grundtyp. Selbstverständlich besitzen diese Grundtypen
wieder andere Ziele und Moralprinzipien, so daß jeder der verschiedenen Ansätze
einzigartig ist1.
1
Eine Zusammenschau verschiedener Grundtypen ethischer Theoriebildung findet sich in: Pieper,
Annemarie: Einführung in die Ethik, Tübingen und Basel, ³1994. S. 251
6
Dadurch, daß auch der phänomenologische Ansatz diesen Erfordernissen
nachkommt, dadurch, daß er sich inhaltlich in verschiedenen Punkten von anderen
Grundtypen ethischer Theoriebildung abgrenzt, indem er andere Schwerpunkte
setzt, und durch die Tatsache, daß er alle wesentlichen Kriterien eines solchen
Grundtyps erfüllt, ist es durchaus berechtigt, vom phänomenologischen Ansatz als
Grundtyp ethischer Theoriebildung zu sprechen.
2
Die Philosophie der materialen Wertethik
Der Philosoph Dietrich von Hildebrand war ein einflußreicher Vertreter der
phänomenologischen Schule und einer objektiven, materialen Wertethik. Sein
phänomenologischer Ansatz unterscheidet sich in wesentlichen Teilen von
anderen Ansätzen wie zum Beispiel dem von Max Scheler, dem er zum Teil zwar
folgt, ihn aber auch um neue Elemente erweitert.
Wie Scheler geht auch von Hildebrand von Werten aus, die apriorisch
gegeben sind. Diese Werte existieren unabhängig von der Güterwelt. Von
Hildebrand spricht in diesem Zusammenhang von einem Reich der Werte, in dem
die Werte an sich in einer idealen Form existieren - als Werte als solche. In der
Güterwelt werden die Werte an bestimmten Wertträgern haftend angetroffen.
Solche Wertträger können sein Dinge, Sachverhalte und Personen. Für Scheler
bedeutet das Vorhandensein objektiver, apriorisch gegebener Werte, daß zwischen
ihnen eine Rangordnung besteht2.
Auch von Hildebrand unterscheidet zwischen höheren und niederen Werten,
die in einer festen Beziehung zueinander stehen. Diese Werte werden von den
Menschen erfaßt. Hier läßt sich ein Unterschied zwischen Scheler und von
Hildebrand beobachten. Während Scheler nur davon spricht, daß Werte „klare,
fühlbare Phänomene“ (Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die
2
Die so entstehende Rangordnung existiert ebenfalls unabhängig von der Güterwelt. Ausgehend
von dieser Rangordnung entwirft Scheler vier Modalitätenkreise der Werte: Auf der untersten Stufe
finden sich die Werte des sinnlichen Fühlens; es sind dies die Werte des Angenehmen und
Unangenehmen, wie zum Beispiel Lust und Schmerz. Auf der nächsthöheren Stufe finden sich die
Werte vitalen Fühlens; es sind dies die Werte des Edlen und Gemeinen, wie zum Beispiel gutes
oder schlechtes Befinden. Auf der folgenden Stufe finden sich die Werte des geistigen Fühlens; es
sind die unter anderem die Werte des Rechten und Unrechten, wie zum Beispiel Billigung und
7
materiale Wertethik, Bern 51960. S. 39) seien, und er demzufolge den Prozeß des
Erfassens der Werte Wertfühlen nennt, geht von Hildebrand in diesem Punkt
differenzierter vor.
Sein erstes Axiom lautet: Die in den Dingen, Sachverhalten und Personen
fundierten Werte werden intuitiv erfaßt. Dieses Werterfassen differenziert von
Hildebrand noch weiter aus. Zunächst unterteilt er es in intuitives Erfassen und
intuitives Kennen eines Wertes.
Charakteristisch für das intuitive Kennen eines Wertes ist es, daß der
Betreffende den Wert nicht jedesmal aufs Neue erfassen muß. Er wird nicht
immer wieder aufs Neue belehrt, wenn er dem Wert begegnet, sondern kann ihn
sich von sich aus vorstellen, auch ohne daß er in einer konkreten Situation fundiert
sein müßte.
Auch das intuitive Erfassen des Wertes wird bei von Hildebrand noch weiter
ausdifferenziert. Von Hildebrand unterscheidet hier zwischen Wertsehen und
Wertfühlen. Das Wertsehen meint das bloße Erfassen eines Wertes. Beim
Wertfühlen dagegen wird der Wert nicht einfach nur wahrgenommen, sondern er
berührt den Betreffenden in dessen Innerem - es besteht ein persönlicher Kontakt
zu dem erfaßten Wert, der nur so wirklich erlebt werden kann.
Auch zum phänomenologischen Ansatz bei Hans Reiner läßt sich die Theorie
von Hildebrands abgrenzen. So finden sich bei Reiner durchaus Gedanken, die in
von Hildebrands oder auch Schelers Ansatz nicht enthalten sind.
Auch Reiner geht von apriorisch gegebenen Werten aus, jedoch unterteilt er
diese in absolute, eigen- und fremdrelative Werte3. Darüber hinaus erweitert er
Schelers Ansatz dahingehend, daß er für moralisches Verhalten nicht mehr allein
die Werthöhe zugrunde legt, sondern auch Faktoren wie sachliche oder zeitliche
Dringlichkeit, die Wertmenge, die Berücksichtigung des zu erwartenden Erfolgs
bzw. der Nebenwirkungen und die Nichtverletzung bestehender Werte
berücksichtigt wissen will.
Diese kurzen Ausführungen über die Unterschiede zwischen den einzelnen
phänomenologischen Ansätzen sollen genügen, um sie voneinander abzugrenzen.
Eine ausführlichere Beschäftigung mit diesen Ansätzen würde über den Rahmen
Mißbilligung. Auf der höchsten Stufe finden sich die Werte des religiösen Fühlens; es sind dies die
Werte des Heiligen und Unheiligen, wie zum Beispiel Glaube und Unglaube.
3
Diese Einteilung der Werte findet sich in folgendem Werk: Reiner, Hans: Die Grundlagen der
Sittlichkeit, Meisenheim/Glan, 1974. S.486
8
dieser Arbeit hinausgehen. Jedoch erschien es notwendig, diese Abgrenzung in
aller
Kürze
vorzunehmen,
bevor
auf
einen
speziellen
Aspekt
des
phänomenologische Ansatzes bei Dietrich von Hildebrand eingegangen wird.
3
Die Wertblindheit bei Dietrich von Hildebrand
Die Werte sind apriorisch gegeben, sie sind in bestimmten Trägern fundiert
und werden von den Menschen intuitiv erfaßt. Von Hildebrand stellt mit seinem
ersten Axiom also fest, daß es jedem Menschen möglich ist, die sittlichen Werte
zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln.
Nun ist es aber eine Tatsache, daß eben nicht alle Menschen entsprechend der
sittlichen Werte handeln, obwohl ihnen diese Werte ja sehr wohl intuitiv
zugänglich sind. Dieses Faktum erklärt von Hildebrand mit seinem zweiten
Axiom. Er führt das Konzept der Wertblindheit ein. Unter Wertblindheit versteht
er die Ignoranz des Betreffenden gegenüber einem, einigen oder allen sittlichen
Werten.
Die
Wertblindheit
ist
nach
von
Hildebrand
in
jedem
Fall
selbstverschuldet und kann sich nur durch den Vorgang der Bekehrung verlieren.
Diese Bekehrung erfolgt entweder plötzlich oder allmählich4.
Die Wertblindheit sollte jedoch nicht als absolute Gegebenheit hingenommen
werden. Vielmehr bedarf es einer Überprüfung einiger Umstände und Situationen,
in denen man von Wertblindheit sprechen könnte. Hier gilt es dann zu fragen, ob
tatsächlich Wertblindheit in von Hildebrands Sinne vorliegt, und - wenn dies der
Fall sein sollte - ob sie wirklich selbstverschuldet ist im Sinne eines vorsätzlichen
Ignorierens oder schuldhaften Nichtwissens, oder ob sich Gründe finden lassen,
welche die Wertblindheit entschuldigen können.
3.1 Wertblindheit als absolute Größe
4
Das Konzept der Wertbilndheit ist in folgendem Werk ausfürlich beschrieben: Hildebrand,
Dietrich von: Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis, Halle a.d.S., 1921. S. 483-486, 486 ff.
9
Das Konzept der Wertblindheit, welches Dietrich von Hildebrand einführt,
beeinhaltet eine absolute Gültigkeit. Für ihn ist ein jeder, der wider die sittlichen
Werte handelt, also diese Werte nicht intuitiv erfaßt, in der einen oder anderen
Form wertblind5.
Dieser Anspruch auf absolute Gültigkeit läßt sich in der Theorie zwar
aufstellen, jedoch findet man ihn in der Praxis nicht bestätigt, so daß man ihn als
widerlegt oder zumindest als eingeschränkt betrachten muß. Hierzu sollen im
Folgenden einige Beispiele gegeben werden.
3.1.1 Die kulturelle Dimension
Der Wert der ehelichen Treue ist in der westlichen Kultur fest verankert.
Jeder, der in unserer Kultur neben seinem Ehepartner oder seiner Ehepartnerin
noch zu einer oder mehreren Personen ein sexuelles Verhältnis unterhält, ist sich
sehr wohl bewußt, daß er etwas Unrechtes tut. Mit von Hildebrand gesprochen:
Bei dem Betreffenden liegt eine Subsumptionsblindheit vor - obwohl ihm der
Wert der ehelichen Treue durchaus bekannt ist, erfaßt er ihn in seiner konkreten
Situation nicht, ist für ihn blind. Hier findet sich von Hildebrands Theorie noch
bestätigt.
Überträgt man dieses Beispiel jedoch auf eine andere Kultur, so zeigt sich
schnell, daß für die Wertblindheit keine absoluten Maßstäbe gelten dürfen. In
orientalischen Kulturen ist es durchaus anzutreffen, daß ein Mann mehrere
Ehefrauen besitzt und einen Harem unterhält. In diesem Fall kann man jedoch
nicht von einer Wertblindheit sprechen, da der betreffende Orientale die Situation
nicht aus der Warte eines westlichen Kulturkreises betrachtet, sondern vielmehr
die Maßstäbe seiner eigenen Kultur anlegt, die ein solches Verhalten keineswegs
verurteilt.
Aus diesem Beispiel wurde schon deutlich, daß das Konzept der
Wertblindheit keine absolute Gültigkeit besitzt; man muß es in der kulturellen
5
Dietrich von Hildebrand unterscheidet mehrere Formen der Wertblindheit. Die einfachste Form
ist die Subsumptionsblindheit, bei der lediglich das Verständnis für eine Fundierung eines
konkreten Wertes fehlt. Die nächste Stufe ist partielle, konstitutive Wertblindheit, bei der das
Verständnis für eine oder mehrere Wertgruppen fehlt. Die letzte Stufe ist die totale, konstitutive
Wertblindheit. Hier hat der Betreffende überhaupt kein Verständnis für die sittlichen Werte,
entweder, weil sie ihn nicht interessieren, oder weil er sie ablehnt (Hildebrand, Dietrich von:
Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis, Halle a.s.S., 1921. S. 485).
10
Dimension dahingehend einschränken, daß man die jeweiligen Werte der
betreffenden Kultur, die betrachtet werden soll, zugrunde legt, bevor man die
Verhaltensweisen dieser Kultur beurteilt.
Dieses Vorgehen bedeutet jedoch keineswegs, daß man sämtliche Sitten und
Gebräuche fremder Kulturen unkritisch akzeptieren soll. Es soll lediglich eine
Vorverurteilung der Gebräuche anderer Menschen verhindern.
3.1.2 Die historische Dimension
Auch in der historischen Dimension besitzt das Konzept der Wertblindheit
keine uneingeschränkte Gültigkeit, wie das folgende Beispiel illustrieren soll:
Die Wertvorstellungen der Menschen sind unter anderem verknüpft mit der
Durchführbarkeit wissenschaftlicher Experimente und der Nutzung neuer
Technologien.
Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das Schaf Dolly, welches der britische
Wissenschaftler Dr. Ian Wilmut durch Klonierung geschaffen hat. Dadurch, daß
erstmals ein solcher Vorgang Erfolg gehabt hat, rückt die Frage nach der
Zulässigkeit eines solchen Verfahrens in den Mittelpunkt nicht nur ethischer
Diskussionen: Dürfen Menschen Lebewesen klonen, also künstlich identische
Lebewesen schaffen und dadurch die natürliche Art der Fortpflanzung aufheben?
Vor Gelingen dieses Experiments hatte sich die Frage in dieser Form noch
nicht gestellt. Der Wert des Lebens erscheint also in einem anderen Licht; er
gewinnt einen neuen Aspekt hinzu. Durch die in Gang gekommene Diskussion
werden sich die Vorstellungen über den Wert des Lebens verändern, da dieser nun
unter neuen Gesichtspunkten betrachtet und diskutiert wird.
Nach von Hildebrands Theorie muß man die Wissenschaftler als blind
gegenüber dem Wert des Lebens bezeichnen, da sie in den natürlichen
Fortpflanzungsprozeß eingreifen und diesen zu steuern suchen.
Die Wissenschaftler jedoch erfassen nach eigener Aussage den Wert des
Lebens sehr wohl; schließlich diene ihre Forschung dazu, Medikamente zu
entwickeln oder Krankheiten zu heilen, und so Menschenleben zu retten. Sie sind
also keineswegs blind gegenüber dem Wert des Lebens6.
Vergleiche zu den Ausführungen über das Klon-Schaf Dolly den Artikel „Jetzt wird alles
machbar“, in: Der Spiegel, Nr. 10 vom 03. 03. 1997, S. 216-225.
6
11
Diese Entwicklung in der Wissenschaft hat dazu geführt, daß in diesem Fall
eine eindeutige Einteilung in wertblind und wertsichtig nicht mehr möglich ist; die
Wertvorstellungen sind also Veränderungen unterworfen, was das Konzept der
Wertblindheit auch in der historischen Dimension einschränkt. Man muß bei der
Betrachtung von Verhaltensweisen also auch den historischen Hintergrund
bedenken.
Aus diesem Grunde gibt es seit Scheler Versuche, die absolute
Werterkenntnis mit den historischen und kulturellen Entwicklungen zu
verknüpfen: Man unterscheidet daher zwischen einem absoluten Wertgehalt und
der relativen Werterkenntnis.
3.1.3 Die Perspektive des Betrachters
Unabhängig von Unterschieden, die durch Kultur oder historische
Entwicklungen den absoluten Geltungsanspruch der Wertblindheit einschränken,
läßt sich auch ein Beispiel dafür aufzeigen, daß innerhalb einer Kultur zum
gleichen Zeitpunkt in einer Situation nicht geklärt werden kann, ob und wo eine
Wertblindheit vorliegt.
Als Beispiel soll hier der Wert der Gerechtigkeit dienen, über den zwei
Gruppen diskutieren. Die eine Gruppe ist der Meinung, der Gerechtigkeit sei erst
Genüge getan, wenn ein Schwerverbrecher für seine Tat hingerichtet werde. Die
andere Gruppe widerspricht dieser Auffassung und spricht sich gegen die
Todesstrafe aus, da diese nicht Gerechtigkeit, sondern Mord bedeute. Die
Befürworter der Todesstrafe dagegen sehen in einer lebenslänglichen Haftstrafe
eine unnötige Qual aller Beteiligten (Verbrecher, Gefängnispersonal, Verwaltung,
Steuerzahler usw.); darüber hinaus diene die Todesstrafe der Abschreckung. Im
Verlauf der Diskussion wirft jede Gruppe der anderen vor, überhaupt nicht zu
wissen, was Gerechtigkeit sei.
Betrachtet man die Angelegenheit aus nur einer Perspektive, so ist der
Vorwurf gerechtfertigt; die Gerechtigkeit kann sich für jede der beiden Gruppen
nur auf die von ihnen vertretene Art einstellen. Der Wert der Gerechtigkeit wird
von der eigenen Gruppe erfaßt, von der jeweils anderen Gruppe aber nicht; diese
ist in diesem Falle also wertblind.
12
Sieht man die Diskussion jedoch aus der Perspektive eines neutralen
Beobachters, so wird deutlich, daß die Wertblindheit nicht absolut ist und es
keineswegs immer möglich ist, exakt zu bestimmen, wer wann warum wertblind
ist. In diesem Beispiel ist keine der beiden Gruppen blind gegenüber dem Wert der
Gerechtigkeit - und doch sind sie es beide.
Die Wertblindheit hängt also wesentlich ab von der Perspektive, unter der ein
Sachverhalt angeschaut wird, und zwar in Bezug auf kulturelle und historische
Dimension, sowie unter Berücksichtigung der Perspektive des Betrachters.
3.2 Verhältnis von Wertblindheit und Wertsichtigkeit zu
moralischem und unmoralischem Verhalten
In den oben genannten Beispielen wurde als Ergebnis jedes Mal festgestellt,
daß keine absolute Wertblindheit vorliege. Darüber hinaus kann man jedoch auch
Situationen anführen, in denen die Betreffenden sehr wohl blind in von
Hildebrands Sinne gegenüber einem sittlichen Wert sind, diese Wertblindheit
jedoch nicht zu unmoralischem Verhalten führt. Dazu folgendes Beispiel:
Es herrscht Krieg. Die Soldaten eines Landes verteidigen sich gegen
feindliche Armeen, die ihr Land überfallen haben. Die Verteidiger sind durchaus
darauf aus, ihre Gegner zu töten. Sie verstoßen damit eindeutig gegen den Wert
des Lebens. Grund dafür ist der wertverdunkelnde Faktor des Interesses. Ihr
Interesse ist es nämlich, ihr Heimatland vor den Feinden zu schützen. Mit dieser
Konstellation liegt ein Beispiel für Subsumptionsblindheit vor. Das Verhalten der
verteidigenden Soldaten kann jedoch nur schwerlich als unmoralisch bezeichnet
werden, obwohl ganz offensichtlich ein Fall von Wertblindheit gegeben ist. Das
beweist, das moralisches Verhalten und Wertblindheit sich nicht zwingend
ausschließen.
Aber auch das genaue Gegenteil ist denkbar: Es ist möglich, daß sich eine
Person unmoralisch verhält, obwohl sie die zu Grunde liegenden sittlichen Werte
erfaßt. Als Beispiel können hier die angreifenden Soldaten dienen:
Unter den Angreifern mag es durchaus Soldaten geben, die sich der sittlichen
Werte bewußt sind, gegen welche sie mit ihrem Verhalten verstoßen, wie zum
Beispiel der Wert des Lebens oder jener der Freiheit der anderen. Trotzdem
13
werden sie zu ihrem unmoralischen Verhalten geradezu gezwungen; es gibt für sie
in ihrer Situation trotz ihres vorhandenen Werterfassens keine Möglichkeit, sich
moralisch zu verhalten. Wertsichtigkeit und unmoralisches Verhalten schließen
sich also ebenfalls nicht zwingend aus.
Diese kurzen Ausführungen sollen genügen, um zu belegen, daß es nicht
zulässig ist, pauschal festzustellen, daß derjenige, der die sittlichen Werte erfaßt
auch moralisch handelt, und derjenige, der sie nicht erfaßt, unmoralisch handelt.
Der Zusammenhang von Werterfassen und moralischer Handlungsweise kann auf
diese Art und Weise nicht verallgemeinert werden. Bevor man die Moralität einer
Handlung beurteilen kann und bevor überhaupt die Frage nach der Wertblindheit
sinnvoll gestellt werden kann, müssen zunächst die äußeren Ursachen und
Umstände betrachtet werden, da zunächst sie maßgeblich für die Handlung und
deren Moralität sind.
3.3 Wertekollisionen
Die Moralität einer Handlung läßt sich - wie oben gezeigt - nicht nur durch
die Überprüfung feststellen, ob der Betreffende die in der konkreten Situation
fundierten sittlichen Werte erfaßt hat oder nicht. Die Moralität einer Handlung
läßt sich aber auch nicht feststellen durch die Frage, ob in einer konkreten
Situation der höchste sittliche Wert verwirklicht wurde. Es sind durchaus Fälle
denkbar, in denen höhere sittliche Werte zunächst bewußt ignoriert werden
(müssen), ohne daß man dieses Verhalten unmoralisch oder wertblind nennen
könnte. Ein Beispiel:
Eine Frau reist mit ihren kleinen Kindern mit dem Flugzeug. Unterwegs
geschieht an Bord ein Unglück, die Kabine verliert an Druck, die Maschine droht
abzustürzen. Die Notmaßnahmen werden eingeleitet. Die Passagiere sollen sich
die
Sauerstoffmasken,
welche
von
der
Kabinendecke
herunterhängen,
überstreifen. Die kleinen Kinder der Frau allerdings sind noch zu jung und
unbeholfen, als daß sie dies allein schaffen könnten. Sie sind auf die Hilfe ihrer
Mutter angewiesen. Diese streift jedoch zunächst sich selbst eine Sauerstoffmaske
über - und verstößt damit gleich gegen mehrere sittliche Werte, wie zum Beispiel
14
die der Hilfsbereitschaft oder der Fürsorge. In ihrem Fall kollidieren diese Werte
mit dem Wert der Selbsterhaltung.
Jedoch hat das Verhalten der Frau einen guten Grund: Nur dadurch, sie
zunächst vermeintlich egoistisch handelt und sich selbst mit Sauerstoff versorgt,
ist es ihr möglich, bei Bewußtsein zu bleiben und sich auch später noch um ihre
Kinder kümmern zu können. In wieweit man hier von Subsumptionsblindheit
sprechen kann, ist schwierig zu beurteilen. Grundsätzlich erfüllt das Verhalten der
Frau alle Kriterien dieser Art der Wertblindheit. Auch der wertverdunkelnde
Faktor des Interesses liegt hier vor. Nun ist es allerdings ihr Interesse, ihre Kinder
zu schützen, und nur deshalb versorgt sie zunächst sich selbst mit Sauerstoff. Was
würde es nützen, wenn sie einem Kind eine Maske anlegen könnte, danach aber
das Bewußtsein verlöre?
Die Tatsache, daß hier die Werte miteinander kollidieren, erschwert die
Beurteilung der Situation. Es wird aber deutlich, daß die Frau sich moralisch
richtig verhält, wenn sie sich zunächst selbst die Sauerstoffmaske anlegt. Zwar
verstößt sie so gegen höherstehende und verwirklicht zunächst einen niederen
sittlichen Wert; unmoralisch ist dieses Verhalten jedoch nicht. In dieser Situation
sind andere Faktoren als die bloße Werthöhe - wie zum Beispiel der zu erwartende
Nutzen - ausschlaggebend.
3.4 Wertblindheit als selbstverschuldetes Manko?
Ein weiterer zentraler Punkt bezüglich des Konzepts der Wertblindheit ist,
daß diese selbstverschuldet sei. Jedoch lassen sich auch hier Gegenbeispiele
konstruieren, von denen im Folgenden eines genannt sei:
Das Erfassen der sittlichen Werte muß von den Individuen offensichtlich
erlernt werden7. Daß hier nur vom absoluten Wertgehalt die Rede sein kann,
wurde oben schon angesprochen; es gilt, die kulturellen und historischen
Entwicklungen im Werterfassen auszuklammern.
Jedoch setzt das Erlernen der sittlichen Wertgehalte eine für alle Individuen
gleiche, ideale Lernsituation voraus. Nur, wenn alle Individuen tatsächlich unter
identischen Bedingungen die identischen Wertgehalte erfassen lernen, dann ist es
7
Wäre es eine Anlage, welche durch Vererbung an alle Nachkommen weitergegeben würde, dann
wäre es widersinnig von einem selbstverschuldetem Ausfall des Werterfassens zu sprechen, denn
kein Lebewesen ist für sein Erbgut verantwortlich.
15
gerechtfertigt, bei Nichterfassen eines sittlichen Wertes von der Schuld des
Individuums zu sprechen.
In der Realität läßt sich eine solch Idealsituation jedoch nicht verwirklichen.
Zu viele unterschiedliche Einflüsse wirken auf die Entwicklung und den
Lernprozeß eines Individuums ein, als daß man hier von identischen Bedingungen
für alle Individuen sprechen könnte. Damit ist das Nichterfassen eines sittlichen
Wertes aber nicht mehr zwangsläufig vom Individuum selbst verschuldet. Es
besteht nun die Möglichkeit, daß die Entwicklung dieses Individuums vom Ideal
abgewichen ist und das Individuum deshalb einfach nicht gelernt hat, einen
bestimmten Wert zu erfassen. Zwar kann man hier von Wertblindheit sprechen,
jedoch ist diese nicht - wie von Hildebrand behauptet - selbstverschuldet.
4
Abschließende Bemerkung
Anhand der im Rahmen dieser Arbeit gegebenen Beispiele sollte es
nachvollziehbar geworden sein, daß man sich dem Konzept einer absoluten,
selbstverschuldeten Wertblindheit, wie Dietrich von Hildebrand sie entwirft, nicht
anschließen kann.
Zu viele Faktoren spielen eine Rolle bei der Beurteilung einer Handlung
sowohl bei der Frage, ob eine Wertblindheit überhaupt vorliegt, und ob das
Erfassen bzw. Nichterfassen eines sittlichen Wertes überhaupt Einfluß auf die
Moralität dieser Handlung hat.
Im Wesentlichen bleibt festzuhalten, daß man das Konzept der Wertblindheit
sehr differenziert verwenden kann und muß, und daß nicht nur das bloße
Werterfassen bzw. Nichterfassen eine Rolle spielt, sondern im großen Maße auch
der Kontext, in dem eine Handlung abläuft.
Literaturverzeichnis
16
 Henckmann, Wolfhart: Materiale Wertethik, in: Pieper, Annemarie (Hrsg.),
Geschichte der neueren Ethik, Band 2, Tübingen und Basel, 1992.
 Hildebrand, Dietrich von: Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis, Halle
a.d.S., 1921.
 Pieper, Annemarie: Einführung in die Ethik, Tübingen und Basel, ³1994.
 Reiner, Hans: Die Grundlagen der Sittlichkeit, Meisenheim/Glan, 1974.
 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern,
5
1960.
 Schischkoff, Georgi: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart, 221991.
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