Viсtor Molchanov DEUTUNGSSUBJEKTIVISMUS UND ERFAHRUNGSANALYSE Zu Kants Apriorismus-Explikation (Kant im Spiegel der Russischen Kantforschung Heute. Fromann-Holzboog, 2008. S. 87-104.) ...und kein Mensch war da, den Boden zu bebauen (Gen. 2.5) 1. Analysetheorie und Interpretationspraxis Die Vereinigung von ‚Planeten und Äpfeln’ in der newtonschen Physik kann man nach K. Popper als ein Merkmal der Wissenschaftlichkeit dieser Theorie anerkennen, man kann sie aber auch als eine Quelle des Naturalismus, der Subsumtion der ganzen Weltvielfalt unter Gesetze des physischen raumzeitlichen Kontinuums, auslegen. Das erstere widerspricht nicht dem letzteren, und nach den Äpfeln haben wissenschaftliche Psychologen und Physiologen versucht, mit den Planeten auch die Konsumenten von Äpfeln zu vereinigen, insbesondere solche, die auf ein ‚subjektives Bild der objektiven Welt’, unter anderem auch der Welt von Obst und Gemüse, Anspruch erheben. Für die Vereinigung von Inkommensurablem bedarf es des mächtigen Herrschaftsinstruments der Abstraktion, mit deren Hilfe auch die Macht über die Natur und den Menschen errungen wird. Die Abstraktion ist nicht so sehr eine theoretische als eine praktische Prozedur. Schon die Anfertigung jedes Haushaltsgegenstandes erfordert die Auswahl eines bestimmten Materials, ein Absondern von Überflüssigem, Unnötigem, ein Hervorheben von ‚wesentlichen Eigenschaften’. Die Unterwerfung von Naturkräften basiert ebenfalls auf der Abstraktion, so wird z. B. die Kraft eines Stromes aus dem Naturleben herausgelöst und auf die Turbinen hingelenkt, die er in Bewegung bringt. Vereinigung von Inkommensurablem ist nur durch eine Interpretation möglich, die aggressiv genug sein muss, und der Grad ihrer Aggressivität hängt davon ab, inwieweit sie auf Erfahrungsanalyse beruht (in solchem Fall kann ihre Aggressivität zum Teil neutralisiert werden) oder auf der interpretativen Aggressivität der Abstraktionen. Die Möglichkeit eines Vergleichs von Unvergleichbarem liegt in dem Bereich der verschiedensten Verwechselungen, der Deformationen der Erfahrungshierarchien, der Herrschaft der Synthese über die Unterscheidung. Verwechselungen führen in der Regel zu Fehlern, Illusionen, Mißverständnissen, unter anderem der ‚Unverständlichkeit’ der philosophischen Lehren. Aber in der Neuzeit entsteht eine fundamentale Verwechselung, die allen philosophischen und auch nicht-philosophischen Verwechslungen und Diskrepanzen zugrunde liegt: die theoretische und praktische Verwechselung von Theorie und Praxis, oder genauer, der Versuch, die Theorie der Tätigkeit zu unterwerfen. In der neuesten Zeit versucht man nicht nur einen Fluß, sondern auch den ‚Bewußtseinsfluß’ für etwas Instrumentelles und Praktisches zu halten. Ist denn diese Verwechselung nicht die Grundlage für den von Kant festgestellten transzendentalen Schein? Kants Philosophie repräsentiert nicht allein, sondern begründet auch (sofern das möglich ist) eine solche Verwechselung, indem sie die Anschauung der Tätigkeit unterwirft, und zwar der willkürlichen, blinden ‚Tathandlung’ der Einbildungskraft. Eben das verursacht die ‚Unverständlichkeit’ von Kants theoretischer Philosophie, die viele Kommentatoren, Nachfolger und Kritiker Kants ‚theoretisch’ zu überwinden versucht haben und immer wieder versuchen. Man kann diese Aufgabe aber kaum durch irgendeine Interpretation des Begriffsystems der Philosophie Kants auflösen. Vielmehr darf man Kants Philosophie hier nicht als ein System von Begriffen betrachten, sondern man muß die Imperative dieser Philosophie analysieren. Darunter sind natürlich nicht die Imperative der kantischen Ethik gemeint, sondern Imperative der Unterwerfung der Anschauung unter blinde synthetische Seelenkräfte, Imperative der Herrschaft der Tätigkeit über die Wahrnehmung. In diesem Sinne kann man schon innerhalb der theoretischen Philosophie Kants von einem Primat der praktischen Vernunft sprechen. Man kann versuchen, das Dilemma zwischen dem phänomenologischen Imperativ ‚zu den Sachen selbst’ und dem Kantschen Imperativ ‚von den Dingen selbst’ hin zu den Erscheinungen, zur Bearbeitung des Urmaterials der Erfahrung ‚praktisch’, d. h. durch die Wahl einer Einstellung, aufzulösen; das Dilemma zwischen dem Erkennen als kategorialer Anschauung und dem Erkennen als Anlegen eines Kategorialnetzwerks; zwischen der ‚mentalen Existenz’ (intentionalen Inexistenz) des Gegenstandes und dem Hineindenken von Vernunftstrukturen in die Gegenstände; zwischen der Erkenntnis als einer deskriptiven Wiederherstellung der Gegenständlichkeit und der konstruktiven Einmischung in die Gegenständlichkeit. Entweder man wählt die theoretische Einstellung, vollzieht die radikale epoche und findet sich im Bereich des ‚reinen Bewußtseins’, der kategorialen Anschauung usw., oder aber man wählt die praktische Einstellung auf die Bearbeitung der Gegenständlichkeit zunächst mit transzendentalen, dann aber auch mit beliebigen anderen Werkzeugen. Ist eine prinzipielle Auflösung dieses Dilemmas möglich? Dazu bedarf es zunächst eines Verzichts auf ein Prinzip, das diese beiden Alternativeinstellungen vereinigt, und zwar auf die Deutung des Bewußtseins als einer Auffassung oder Synthese, und zweitens bedarf es der Hinwendung zu einer Bewußtseinserfahrung, die weder kategoriale Intuition des reinen Bewußtseins noch begriffliches Konstrukt des transzendentalen Subjekts ist. Diese Erfahrung, die keine ‚Erfassung’, weder im Sinne Husserls noch im Sinne Kants oder der Kantianer, noch in irgendeinem anderen Sinne ist, ist eine Erfahrung der Unterscheidungen. Nur eine unterscheidende, analytische Tätigkeit kann uns den Zugang zur Urerfahrung der Unterscheidungen möglich machen, die nicht nur in jeder Art der sogenannten Sinneserfahrung, sondern auch in der Urteilserfahrung notwendigerweise gegenwärtig ist. Der Unterschied zwischen Erfahrung und Nicht-Erfahrung (auch das ist Teil der Welt des Menschen) reduziert sich nicht auf den Unterschied zwischen der Sinnlichkeit und den logischen Konstruktionen des Verstandes. Vielmehr ist der erste Unterschied ein Korrelat des Unterschieds zwischen Differenz und Identität. Die methodologische Unterscheidungen ist Ausgangsebene der Unterschied der Erfahrung zwischen Analyse der und Interpretation. Diesem Unterschied liegt eine gewisse hierarchische Erfahrung der Unterscheidungen zugrunde, und zwar die Unterscheidung zwischen Unterscheidung und Unterschiedenem. Ausgangspunkt und Gegenstand der Analyse ist die Erfahrung von Unterscheidungen; Ausgangspunkt und Gegenstand der Interpretation sind unterschiedliche Bedeutungen der Gegenständlichkeit im weitesten Sinne. Die Erfahrung ist immer eine Erfahrung von Unterscheidungen, sei es eine Unterscheidung von Tönen oder von Gerüchen, sei es eine Unterscheidung zwischen der Prämisse und der Schlußfolgerung; die Interpretation aber ist eine Vergleichung und eine Veränderung der Konstellationen von Identifiziertem. Nicht alles in der Welt kann interpretiert werden. Es gibt Grenzen der Interpretation, die nur von der Analyse festgestellt werden können. Das bedeutet nicht, daß es im Bereich der Erfahrung etwas als reine Analyse gibt. Die überaus wichtige Differenz der Erfahrung, die jede Differenz ebenso wie ihre Untersuchung charakterisiert, ist die zwischen dem Vordergrund und dem Hintergrund. Diese Differenz charakterisiert auch die Differenz zwischen Analyse und Interpretation. Will man ein Gleichgewicht zwischen beiden finden, so gerät man unweigerlich in die Interpretationssphäre. Indem wir sagen ‚dasselbe kann man auf verschiedene Weisen verstehen’, fesselt uns schon die Deutungstätigkeit, da jenes ‚Dasselbe’ schon im voraus identifiziert und irgendwie interpretiert werden muß. In der Erfahrungs- und Untersuchungssphäre tritt jedoch die Analyse der Unterscheidungen immer in den Vordergrund. Das bewahrt die hierarchische und bewegliche Erfahrungs- und Untersuchungsstruktur. Die Analyse fängt nicht mit der interpretierten Identität, sondern mit der Differenz an, die keines Vermittlers zwischen Unterschiedenem bedarf. In der Untersuchung steht die Analyse im Vordergrund, in der Tätigkeit dagegen die Interpretation. Es ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Erkennen und Handeln. Der Unterschied zwischen Interpretation und Analyse ist Ausgangspunkt unserer Untersuchung des Apriorismus Kants. Jede philosophische Untersuchung hat sowohl einen analytischen als auch einen interpretativen Bestandteil. Die Kritik der reinen Vernunft macht da keine Ausnahme, und wir werden zwischen Erfahrungsdifferenzen unterscheiden, die zu weiteren Erfahrungsdifferenzen führen (eine Erfahrungsdifferenz findet immer in einer bestimmten Hierarchie statt), d. h. analytischen Differenzen, und interpretativen Differenzen, Differenzen von bereits Identifiziertem. In diesem Sinne besteht die philosophische analytische Reflexion im Unterscheiden von Unterscheidungen und Differenzen verschiedener Ebene. Die Schwierigkeiten bei dem Verstehen von philosophischen Systemen und wissenschaftlichen Theorien sind verschiedener Art. Ein philosophisches System kann ‚unverständlich’ sein, nicht nur weil es einem an Fleiß ermangelt, sondern auch deshalb, weil diejenigen Schemata des Verstehens, die in Bezug auf dieses System anwendbar sind, mit denjenigen Schemata des Verstehens, die dieses System erarbeitet (oder genauer: deklariert), inkommensurabel sind. Um diese Schemata oder Strukturen in Einklang miteinander zu bringen, könnte man versuchen, als ersten und allerdings interpretativen Schritt, sie sozusagen genetisch zu vergleichen. Das Inkommensurable kann sich dem Ursprung nach als etwas erweisen, das einander nicht ganz fremd ist: das (wenn man naiv urteilt) allereinfachste Sandkastenspiel der Kinder und eines der schwierigsten Werke der Weltphilosophie – die Kritik der reinen Vernunft. Den Sandkasten könnte man dabei durch Bauen eines Hauses (Ton, Backsteine usw.) ersetzen, um sich keine Vorwürfe von Seiten der Kantianer einzuhandeln, oder von Seiten ernsthafter Personen, die Kinderspiele für etwas Leichtsinniges halten. Jedoch haben bei weitem nicht alle Leute Häuser gebaut, dagegen haben alle, oder fast alle, das ‚Rohmaterial’ des Sandes ‚bearbeitet’. Die Kritik der reinen Vernunft zählt zu der Reihe jener philosophischen Werke, deren Hauptbegriffe, ebenso wie auch das Werk als Ganzes, grundverschieden interpretiert worden sind. Nach der Zahl der Interpretationen kann sich in der Philosophie der Neuzeit nur noch Hegels Phänomenologie des Geistes mit der Kritik der reinen Vernunft messen. Wo liegt der Grund für eine solche Vielfalt an Interpretationen? Man kann hier freilich vom Zeitgeist, von der ‚Beschleunigung des Sozialfortschritts’ usw. reden. Das ist auch richtig. Unter allen Begriffen der Philosophie Kants wurde jedoch bezeichnenderweise das „Ding an sich“, d. h. etwas Zeitloses und Unveränderliches, am häufigsten und verschiedensten interpretiert. Um Nietzsche zu paraphrasieren: Kants Dinge an sich gibt es nicht, es gibt nur ihre Interpretationen. Ohne die ‚externen’ Gründe zu verneinen, möchten wir die inneren Gründe für die Interpretierbarkeit von philosophischen Lehren thematisieren und dabei die Interpretation als die angeblich einzige Methode zur Erforschung dieser Lehren in Frage stellen. Vielleicht hat eben die Anarchie der Interpretationen Dilthey dazu bewegt, von einer Anarchie der philosophischen Systeme zu sprechen. Ist Kants Explikation (bzw. Begründung) des Apriorismus eine Analyse oder eine Interpretation? Oder bestimmter: Ist sie eine Analyse des Bewußtseins (in Kants Terminologie: des Erkenntnisvermögens) oder eine Interpretation der eingeführten Abstrakta, die ein bestimmtes, ebenfalls auf unterschiedliche Weise interpretierbares System ausmachen? Der Unterschied zwischen Analyse und Interpretation in der Apriorismus-Explikation Kants erlaubt es uns, erneut die Frage zu stellen, ob die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Analytik eine Erkenntnistheorie sind? Selbstverständlich bin ich nicht der erste, und hoffentlich nicht der letzte, der diese Frage stellt. Jedoch kann die spezifische Dimension der Fragestellung verschieden sein. Was uns hier interessiert, ist die Diskrepanz zwischen den Fragen Kants und den Antworten darauf: Kants theoretische Philosophie beantwortet nicht so sehr die Fragen ‚Wie sind reine Mathematik und reine Naturwissenschaft möglich?’ als vielmehr die Frage ‚Wie ist reine Tätigkeit möglich?’, nicht so sehr die Frage ‚Wie ist Natur möglich?’ als vielmehr die Frage ‚Wie ist die Herrschaft über die Natur möglich?’. Zu einer solchen Interpretation der Fragen und Antworten Kants muß uns aber erst die Analyse führen. Das abstrakte philosophiegeschichtliche Interesse bleibt dabei eher im Hintergrund, denn nicht so sehr bedarf die Philosophie Kants einer weiteren philosophiegeschichtlichen Erforschung, was sich ja von selbst versteht, sondern vielmehr wir selbst, die wir heute leben, brauchen eine Erforschung der Philosophie Kants. Kant stellt uns vor eine Vielfalt von Fragen, und zu ihnen zählt auch die Frage, ob es einen notwendigen Zusammenhang gebe zwischen der Herrschaft des Menschen über die Natur und über andere Menschen und dem Wesen des menschlichen Bewußtseins. Kant stellt uns auch vor die Frage, worin die subjektiven Bedingungen und die inneren Schranken des Zwanges, der Versklavung und der Selbstversklavung des Bewußtseins bestehen, vor die Frage, inwieweit das menschliche Bewußtsein diesen Tendenzen widerstehen könne. Und wenn Kants Vernunftkritik nun einmal keine Kritik der Bücher und Systeme ist, so muß auch die Kritik der Philosophie Kants zumindest indirekt etwas mehr sein als die bloße Interpretation von Begriffen innerhalb des Systems dieser Philosophie. 2. Analyse der Interpretation der Erfahrung und des Raumes in der Kritik der reinen Vernunft Die Ausgangsfrage unserer Analyse werden wir wie folgt formulieren: Wie ist transzendentale Erkenntnis im Sinne Kants möglich? Wie kann man, mit anderen Worten, von einem Apriori reden, wie urteilt Kant selbst über das Apriori sowie über das, wovon das Apriori eben unabhängig ist, also über die Erfahrung? Ist die Erfahrung bei Kant ein Gegenstand der Analyse oder der Interpretation? Werden die reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes einer Analyse unterworfen, oder ist ihre Darstellung im Grunde genommen eine Interpretation? Auf welche Weise und vermittelst welcher Argumente werden von Kant die Strukturen a priori des Erkenntnisvermögens eingeführt? „Erfahrung ist ohne Zweifel der erste Product, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet“ – lesen wir ganz am Anfang der Einleitung zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (IV 17), jener Einleitung, die gewöhnlich ganz weggelassen oder in Petitsatz gedruckt wird. Ganz am Anfang der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft lesen wir schon etwas anderes: „Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel“ (III 27). Also steht es nach Kant außer Zweifel, daß einerseits der Verstand die Erfahrung erzeugt, und daß andererseits „der Zeit nach (Hervorhebung von Kant – V. M.) [...] keine Erkenntniß in uns vor der Erfahrung vorher [geht]“ (III 27). Von welcher Zeit ist hier die Rede? Offenbar nicht von der apriorischen Form der Sinnlichkeit oder dem transzendentalen Schema. Vielmehr geht es um die Tätigkeitszeit, die Zeit der Vereinigung der beiden grundlegenden Erkenntniskräfte. „Theoretisch“, d. h. in der Exposition des Ausgangsproblems der Erkenntnis, erscheint diese Zeit vorzeitig, vor der Einführung der Zeit als einer apriorischen Form, als einer Erkenntniskraft. Nach Kant affizieren zunächst die Gegenstände unser Erkenntnisvermögen, und erst dann wird dieses letztere in Gang gesetzt. Was in der Erkenntniskraft ist es, um mit Kant zu sprechen, das uns dieses ‚früher bzw. später’ unterscheiden läßt? Die Antwort darauf kann nur wie folgende sein: unser Konstruktions- und Interpretationsvermögen. Gleichgültig ob der Verstand Erfahrung hervorbringt und die letzte dann ihre Stelle im Erkenntnisvermögen einnimmt oder ob die Erfahrung vor der Verstandeshandlung vorhergeht, auf alle Fälle erweisen sich die Erkenntniskräfte bei Kant als von ihren Erscheinungen getrennt. Wie kann man überhaupt die Erfahrung selbst und ihre Erscheinung voneinander trennen? Oder den Verstand selbst von seiner Äußerung? Nichtsdestoweniger ist eine solche interpretative Unterscheidung im Rahmen der interpretativen Überlegungen über die zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis möglich: Es gibt also eine verborgene Wurzel der Erkenntnis und deren zwei Arten von Erscheinungen. In Bezug auf die Sinnlichkeit trennt Kant das rohe Material der Sinnlichkeit und die Sinnlichkeit selber. Hinsichtlich des Verstandes sieht das folgendermaßen aus: Die Kategorien sind reine Synthesen, die Synthesis aber ist eine blinde Kraft der Seele. Kant analysiert nicht die Erfahrung – dazu hätte er zumindest eine bestimmte Erfahrung erforschen müssen; Kant interpretiert die Erfahrung, und zwar auf verschiedene Weise, und doch zu demselben Zweck: die Erfahrung dem Verstande zu unterwerfen, die Funktion der Erfahrung im System der Erkenntnistätigkeit zu bestimmen. In den Prolegomena finden wir eine weitere, diesmal eigentlich strukturelle, Interpretation der Erfahrung: Die Erfahrung besteht aus Anschauungen, die der Sinnlichkeit angehören, und aus Urteilen, die ausschließlich eine Sache des Verstandes sind (vgl. IV 304). Jetzt ist die Erfahrung kein Ausgangspunkt der Erkenntnis und kein Bearbeitungsprodukt von rohen Empfindungen mehr, sondern eine Struktur, die aus zwei Elementen – aus Anschauungen und Urteilen – besteht. Jedoch sind jetzt nicht alle Urteile, die vom Verstande aus Sinnesanschauungen gebildet werden, Erfahrungsurteile. Hier verändert Kant abermals die Bedeutung des Wortes Erfahrung, die nun etwas mehr bedeutet als eine bloße Verbindung von Sinnesempfindungen. Erfahrungsurteile sind jetzt im Unterschied zu Wahrnehmungsurteilen objektiv, die Vorstellungen werden darin mit Notwendigkeit verknüpft. Zur Sinneswahrnehmung und ihrem logischen Zusammenhang fügen die Erfahrungsurteile einen Begriff hinzu, durch den die Anschauung unter eine bestimmte Urteilsform subsumiert und das synthetische Urteil als notwendig bestimmt wird: „Erfahrung besteht in der synthetischen Verknüpfung der Erscheinungen (Wahrnehmungen) in einem Bewußtsein, so fern dieselbe nothwendig ist“ (IV 305). Was ist dann aber die Erfahrung? Ist sie etwas, was uns ein bloß zufälliges Wissen, oder etwas, was uns ein notwendiges Wissen gibt? Ist das letztere der Fall, wozu dient dann überhaupt die Erkenntnis a priori? Einerseits behauptet Kant: „Alles Erkenntniß von Dingen aus bloßem reinen Verstande oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit.“ (IV 374, A 205). Andererseits besteht das Wesen seiner ‚kopernikanischen’ Wende in der Philosophie in der Annahme, daß „die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, sich nach diesen Begriffen“ richtet (III 12). Hier muß sich die Erfahrung als ein Wahrnehmungszusammenhang nach den Begriffen richten, die in diesen Zusammenhang Notwendigkeit hineinbringen. Kants Vorhaben liegt auf der Hand: Indem er die Erfahrung und das Apriori voneinander trennt, ist er bestrebt, ihre unzertrennliche Verbindung aufzuweisen: „Die Möglichkeit der Erfahrung ist also das, was allen unsern Erkenntnissen a priori objective Realität gibt“ (II 144). Jedoch sind eben und gerade die Erkenntnis a priori, die Synthesen a priori nichts anderes als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Kant bewegt sich wie in einer Spirale: ‚Erfahrung – a priori – Erfahrung’, wobei die erste ‚Erfahrung’ die Bedeutung des Rohmaterials gewinnt, die zweite aber die des synthetischen und notwendigen Zusammenhangs der Wahrnehmungen. Alle Definitionen der Erfahrung beziehen sich bei Kant entweder auf das erstere oder auf das letztere. Indem wir zwischen diesen beiden Grundbedeutungen von Erfahrung unterscheiden, bemerken wir einen Mangel an Zwischenbedeutungen. Mit anderen Worten ist die Erfahrung entweder rohes Empfindungsmaterial oder bearbeitete Gegenständlichkeit. Zwischen diesen Erfahrungsstufen gibt es gar keine Zwischenstadien. Es gibt bei Kant eigentlich gar keinen Erfahrungsprozeß, sondern nur einen Ausgangs- und einen Endpunkt dieses Prozesses. Daher gibt es auch keine Analyse der Erfahrung, sondern einzig und allein die Interpretation des Ausgangspunktes der Erfahrung, die eigentlich auf etwas außerhalb der Erfahrung hindeutet, – denn das Rohmaterial der Empfindungen ist in einem Sinne ebenso eine Idee der Vernunft wie das Ding an sich. In einer folgerichtigen Überlegung hätten wir zugeben müssen, daß wir dann das Rohmaterial der Empfindung nicht erkennen, sondern nur denken können. Die Endstufe der Erfahrung ist der synthetische Zusammenhang der Wahrnehmungen. Hier wird Erfahrung als Synthese interpretiert, die Synthese selbst aber als eine blinde Kraft der Seele, die prinzipiell keiner Analyse zugänglich ist. Also bietet die transzendentale Erkenntnis Kants jeweils eine Interpretation der Erfahrung, indem sie im Grunde genommen nicht die Erfahrung, sondern verschiedene Interpretationen derselben miteinander in Verbindung bringt. Kants Erkenntnisvermögen als ganzes erscheint als eine interpretative Struktur: Wir erkennen keine Dinge an sich, wir interpretieren nur die Erscheinungen, indem wir in der Interpretation das Rohmaterial der Empfindungen bearbeiten. Die Kategorien als reine Synthesen sind nichts anderes als Interpretationsformen, die die Welt in das Prokrustesbett von Quantität, Qualität, Relation und Modalität hineinzwängen. Dieses Interpretationssystem von Erkenntniskräften kann zunächst analysiert, zweitens aber auch interpretiert werden. Einer Analyse unterwerfen heißt die Kette der vom Verfasser eingeführten Differenzen verfolgen und bestimmen, inwieweit diese Differenzen weitere Unterscheidungen und die Unterscheidung der Unterscheidungen ermöglichen. Das läßt uns nicht nur die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit ihrer Interpretation bestimmen. Denn der Unterschied zwischen Analyse und Interpretation gehört zur analytischen, nicht aber zur interpretativen Dimension. Der wichtigste Unterschied, der nicht nur die theoretische, sondern auch die praktische Philosophie Kants konstituiert, ist der Unterschied zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung. Wohl kein Begriff Kants hat so vielfältige Interpretationen erfahren als dieser. Mit Recht behauptet Markus Willaschek, daß die kantische Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen mehrdeutig ist, daß es zwischen zwei konkurrierenden Interpretationen (zwei Welten oder zwei Aspekten) keine eigentliche Alternative gibt, da der Unterschied selbst durchaus verschieden interpretiert werden kann. Dieser vortreffliche Analyseschritt sollte mit der Frage fortgeführt werden: Warum kann denn dieser fundamentale Unterschied in der Philosophie Kants verschieden interpretiert werden? Meines Erachtens muß man vor allem das folgende in Betracht ziehen: Dieser Unterschied selbst ist kein analytischer, sondern ein interpretativer Unterschied. Wie kann dieser Unterschied selbst analysiert werden? Gegenstand der Analyse ist ja nicht ein Begriff, sondern ein Unterschied, mit dessen Hilfe ein Begriff eingeführt wird. Eine erste analytische Frage bestände darin, ob dieser Unterschied für die Formulierung des Erkenntnisproblems notwendig ist? Kann ein Ausgangsmoment des Erkenntnisproblems, wie Kant es sieht, ohne „Dinge an sich“ formuliert werden? Dieses Ausgangsmoment ist nach Kant das folgende: Wir erkennen nur die uns vermittelst unserer Sinnlichkeit erscheinenden Gegenstände; Gegenstände, die uns nicht vermittelst der Sinnlichkeit gegeben sind, können wir denken, und zwar, wie Kant behauptet, auf beliebige Weise. Dies ist der Bereich der Metaphysik. Der Bereich der Wissenschaft ist die Erforschung dessen, was uns erscheint, d. h. der Erscheinungen (Kant unterscheidet nicht zwischen Erscheinungen und Erscheinendem). Am Anfang der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant seine Sicht des Ausgangsproblems der Erkenntnis am deutlichsten formuliert, fehlt der Terminus „Ding an sich“ ganz und gar. Hierbei sei bemerkt, daß Cassirer in seiner Darstellung von dem, was er für Kants Erkenntnistheorie hält, das Ding an sich ebenfalls nicht erwähnt. Unabhängig von der Genese des Unterschiedes von Ding an sich und Erscheinung – ob dieser aus den Reflexionen über Freiheit und Sittlichkeit auf den Bereich der ‚Erkenntnistheorie’ übertragen worden ist oder umgekehrt – ist der Unterschied von Ding an sich selbst und Erscheinung eine Vermengung von zwei Differenzen: 1. der Differenz des Erscheinenden und des Nichterscheinenden, aber Erscheinenkönnenden (Regenbogen – einzelnen Regentropfen) und 2. der Differenz von Gegenständen, die in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben werden können, und Gegenständen, die durch Sinnlichkeit prinzipiell nicht gegeben sind. Es ist eben eine derartige Vermengung von zwei Differenzen, die den Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung zu einem ausschließlich interpretativen Unterschied macht. Diese Vermengung von zwei Differenzen zwingt uns ferner, uns nicht mit der Differenz selbst, sondern mit den unterschiedenen Abstraktbegriffen, und zwar Abstraktbegriffen verschiedener Ebene, zu befassen. In keiner Erfahrung, sei es in der Erfahrung der Differenz von idealen Gegenständlichkeiten oder in der Erfahrung der Differenz zwischen idealen und materialen Gegenständlichkeiten, kann man den Unterschied von Ding an sich und Erscheinung realisieren, d. h. in eine Erfahrungshierarchie einbeziehen. Interpretativer Natur ist auch die Explikation des Raums und der Zeit als reiner Formen der Sinnlichkeit. Wir konzentrieren uns im folgenden auf die Erforschung der Differenzen des ersten Paragraphen der transzendentalen Ästhetik, durch die Raum und Zeit als apriorische Formen der Sinnlichkeit eingeführt werden. Die erste Differenz Kants ist hier analytisch, nämlich die Differenz zwischen der Erkenntnis und dem Gegenstand. Die Anschauung erklärt Kant im Gegensatz zu der kopernikanischen Wende für eine primäre Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände. Damit ist der Bereich möglicher Verifizierung der Erfahrung angegeben, und diese Möglichkeit steht einem jeden offen. Aber schon der zweite Unterschied, den Kant in demselben Satz macht, kann ebensowohl ein analytischer als auch ein interpretativer sein. Kant trennt voneinander Anschauung und Denken. Eine solche Trennung kann jeder nachvollziehen, der z. B. eine Wahrnehmung des Gegenstandes von einem logischen Schluß unterscheidet. Kant meint aber eine Differenz innerhalb der Wahrnehmung, die in Sinnlichkeit und Verstand geteilt wird. „Vermittelst der Sinnlichkeit […] werden uns Gegenstände gegeben“ (III 49). Was soll denn ein Gegebensein des Gegenstandes bedeuten, in welchem wir weder Quantität noch Qualität, weder Relationen noch Modalität auffinden? Dies sind ja eben die Verstandeskategorien. Ein solches Gegebensein des Gegenstandes ist ‚unverständlich’ – unverständlich in dem Sinne, daß wir dies Gegebensein nicht in der Erfahrung reproduzieren können. Dann kann die Interpretationsmöglichkeit verwirklicht werden: Man kann dieses Gegebensein nämlich als ein Problem, und die Empfindungen selbst als ‚Lallen’ auslegen. Oder eine andere Möglichkeit: Man kann die Rezeptivität der Sinnlichkeit als Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis und als Endlichkeit des Menschen schlechthin deuten. Diese konkurrierenden Interpretationen – die des Neukantianismus und die Heideggers – sind möglich geworden, weil der Ausgangsbegriff der Sinnlichkeit selbst abstrakt und interpretationsbedürftig ist. Die Neukantianer und Heidegger sind darin miteinander einig, daß die transzendentale Ästhetik ‚unverständlich’ ist, nur haben beide Seiten keinen Grund für diese Unverständlichkeit angegeben. Es ist jedoch noch eine weitere Interpretation der transzendentalen Ästhetik Kants im ganzen möglich, die Raum und Zeit weder in logische Kategorien noch in Phaenomena der Phänomenologie (Heidegger) verwandelt. Diese Interpretation basiert nicht so sehr auf der Interpretation der von Kant eingeführten Abstrakta, als vielmehr auf der Analyse der kantischen Differenzen. Grundlegend ist in dieser Hinsicht Kants interpretative Unterscheidung des Denkens und des Anschauens, indem eines der Unterschiedenen zum Mittel für das andere dient; das Denken strebt nämlich zur Anschauung als seinem eigenen Mittel. Kant sagt freilich, daß Gegenstände vom Verstand gedacht werden, er sagt aber an keiner Stelle, daß das Denken auf den Gegenstand gerichtet ist, vielmehr ist von einem Gerichtetsein des Denkens auf die Anschauung die Rede. Auf diese Differenz kommen wir unten noch zurück, jetzt wollen wir uns der nachfolgenden Differenz zuwenden, deren Vollzug Kant mißlungen ist. Es handelt sich dabei um die Wirkung des Gegenstandes auf uns und um unsere Empfindung: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden, ist Empfindung“ (III 50). Kant teilt das Vorurteil seiner – und nicht nur seiner – Zeit, daß Gegenstände Ursachen von Empfindungen sind; Kant stellt sich die Verknüpfung des Bewußtseins mit den Gegenständen nach Art eines Schlags vor oder eines Eidola-Ausflusses wie bei Demokrit. Aber jedenfalls wird nirgends gesagt, was die Empfindung ist, sondern nur, wodurch diese verursacht wird. Der Unterschied zwischen den Empfindungen und der Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit bleibt jedoch dunkel. Die nächste Differenz ist die zwischen der Anschauung und der Empfindung. „Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch“ (III 50). Diese Differenz konstituiert ebenfalls zwischen dem dabei Unterschiedenen ein ZweckMittel-Verhältnis. Empfindungen sind Mittel der empirischen Anschauungen, aber sie sind nicht als Werkzeuge gemeint, sondern als Bearbeitungsgegenstände. In einem weiteren Schritt unterscheidet Kant zwischen der Materie und der Form der Erscheinung. Die Materie ist a posteriori gegeben, die Form muß in unserem Gemüt „bereit liegen“ (III 50), „bereit“ nämlich im Sinne der Einsatzbereitschaft. Besonders bemerkenswert ist die Erläuterung Kants, wie man denn die reine Form oder reine Anschauung erhalten kann: „So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Theilbarkeit etc., imgleichen was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori [...] als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüthe stattfindet“ (III 50). Und weiter: „In der transscendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren [...]“ (von Kant hervorgehoben – V. M.). Nun fragt sich: Auf welche Weise sind solche Überlegungen überhaupt möglich, sind sie auf der Basis von irgendeiner Erkenntniskraft – der Sinnlichkeit, des Verstandes oder der Vernunft möglich? Offenbar ist dies nicht der Fall. Wir können jedoch die Schranken der kantischen Einteilung von Erkenntniskräften überschreiten und nach der Legitimität einer solchen Überlegung überhaupt fragen. Kann man die Sinnlichkeit ‚im Bewußtsein’, d. h. durch Reflexion, isolieren, kann man danach in der isolierten Sinnlichkeit Materie und Form aussondern? Wir haben es hier offenbar mit einer Konstruktion zu tun, nicht jedoch mit der Bewußtseinserfahrung oder mit der Reflexion, die auch auf einer Erfahrung beruhen muß. Konstruktion bedeutet aber nicht eine Phantasie, und in einer Praxis kann man wohl „die Sinnlichkeit isolieren“. Es gibt verschiedene Weisen der ‚Bearbeitung des Bewußtseins’. Manchmal benutzt man dafür auch die Psychopharmaka. Vom Standpunkt der Differenz zwischen Konstruktion und Überlegung muß man auch auf Kants Einführung des Raumes als Form der Sinnlichkeit achten. Ein solcher Ausgangspunkt ist bei Kant die Abstraktion Körper. Auf diese Weise geschieht es eben – durch den Körper, aber durch einen leblosen Körper –, daß Kant den newtonschen Raum (und Zeit) in den Kopf des Menschen ‚versetzt’, ohne seine Eigenschaften zu transformieren, die nach wie vor die Eigenschaften des physischen (newtonschen) und geometrischen Raumes bleiben. Also werden die wissenschaftlichen Abstraktionen zu Erkenntniskräften, was bedeutet, daß diese angeblich primären Charakteristiken des Bewußtseins einem Bereich entnommen sind, der selbst Bewußtseinsprodukt ist. Man bemerke dabei das eigentümliche Argument für diese ‚Versetzung’: Wenn wir den Raum (und die Zeit) nicht in den Dingen selbst vorfinden, wie können sie sich denn irgendwo anders befinden als in unserem Erkenntnisvermögen? Es liegt auf der Hand, daß in diesem streng definierten Subjekt-Objekt-Feld kein Platz für die Leiblichkeit und den lebensweltlichen Raum übrigbleibt. Im Gegenteil werden dabei die Leiblichkeit und die Lebenswelt gefährdet, weil die Versetzung der Prämissen der newtonschen Mechanik (das betrifft zumindest den Raum) in den Kopf des Menschen, um mit Heine zu sprechen, den Terrorismus, und zwar den der Interpretationen, verlangte, der sich in einer Interpretation der newtonschen Interpretation ausgedrückte: Das sensorium Dei Newtons verwandelt sich in der Kritik der reinen Vernunft in eine Form der menschlichen Sinnlichkeit. Bemerkenswert dabei ist, daß Kant im Paragraphen 1 die Zeit als eine Form a priori nur erwähnt, aber keineswegs terminologisch einführt. Auch wenn man annimmt, daß Kants Isolierung der Sinnlichkeit gelingen könnte, handelt es sich nur um den Raum. Ferner weiß Kant nichts besseres anzubieten als alle Argumente für die Apriorität des Raumes einfach auf die Zeit zu übertragen. Diese Übertragung ist gleichfalls eine Interpretation, nicht aber eine Analyse. Nach Kant ist die Zeit die allgemeine Form der Sinne: unmittelbar (soweit man hier überhaupt von Unmittelbarkeit reden kann) des inneren Sinnes, mittelbar aber auch des äußeren. Diese Übertragung ist desto seltsamer, weil bei der Übertragung von Eigenschaften vielmehr der Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen üblich ist. Indem Kant Raum und Zeit als ‚Äußeres’ und ‚Inneres’ unterscheidet, analysiert er doch nicht diese Begriffe. Nichts als bloße Tautologie findet man im ersten Satz des Paragraphen 2: „Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unsres Gemüths,) stellen wir uns Gegenstände als außer uns und diese insgesammt im Raume vor“ (III 51 f.). Hinsichtlich des „außer uns“ hat Russell auf Folgendes aufmerksam gemacht: „The phrase ‚outside me [i. e. in a different place from that in which I find myself]’ is a difficult one. As a thing-in-itself, I am not anywhere, and nothing is spatially outside me; it is only my body as a phenomenon that can be meant. Thus all that is really involved is what comes in the second part of the sentence, namely that I perceive different objects as in different places. The image which arises in one's mind is that of a cloak-room attendant who hangs different coats on different pegs; the pegs must already exist, but the attendant's subjectivity arranges the coats. There is here, as throughout Kant's theory of the subjectivity of space and time, a difficulty which he seems to have never felt. What induces me to arrange objects of perception as I do rather than otherwise? [...] Kant holds that the mind orders the raw material of sensation, but never thinks it necessary to say why it orders it as it does and not otherwise”. Wie man sieht, haben nicht nur Neukantianer und Heidegger die transzendentale Ästhetik für unverständlich, oder zumindest für schwer verständlich, gehalten. Ist das nicht ein Symptom dafür, daß die transzendentale Ästhetik kein Kapitel aus der Erkenntnistheorie ist? Warum verstehen wir denn aber trotzdem den allgemeinen Gedankengang Kants, und warum kann dieser Gedankengang verschieden interpretiert werden? Eine Antwort auf diese Frage ist in der Differenz zwischen den „Schemata“ des theoretischen und des praktischen Verstehens zu suchen. Indem wir Kant interpretieren, gebrauchen wir mehr unser praktisches Verstehensvermögen als unser theoretisches, d. h. Schemata, vermittelst deren wir das Gegenständliche praktisch ordnen, Schemata, die wir uns schon in unserer frühen Kindheit aneignen. Nicht ohne Grund ist bei Russell das Bild des Garderobenhüters entstanden, der die Mäntel ordnet, nicht aber das eines Wissenschaftlers, der eine physische Raumtheorie entwickelt. Kant hat die Formen der Sinnlichkeit und die Formen des Verstandes aus zwei wesensverschiedenen Quellen geschöpft: Raum und Zeit aus der für ihn zeitgenössischen Wissenschaft, die Kategorien hingegen aus der überlieferten, auf Aristoteles zurückgehenden Metaphysik. Kant hat versucht, zwei Weltbilder zu einem einheitlichen zu vereinigen. Dazu werden auch die Kategorien subjektivistisch umgedeutet: Kant interpretiert sie als die reinen Synthesen des Verstandes, und die Zeit als ein transzendentales Schema, das die Anwendung der Kategorien auf empirische Anschauungen gewährleistet. Ist die Interpretation gegenständlicher Charakteristiken (wie Raum, Zeit und Kategorien) als Erkenntniskräfte nun nicht eine eigentümliche Form des Naturalismus: Die Beschaffenheiten des Verstandes (und der Sinnlichkeit) werden von der in besonderer Weise interpretierten Natur entlehnt, und erscheinen dann als Kräfte, die der Natur Gesetze vorschreiben. „Der Naturalismus ist eine Folgeerscheinung der Entdeckung der Natur,“ so Husserl, „der Natur im Sinne der Einheit des raumzeitlichen Seins nach exakten Naturgesetzen“. Die wichtigste Folge des Naturalismus ist eine Naturalisierung des Bewußtseins, wenn man das Bewußtsein für einen Teil der Natur hält. Kants Transzendentalismus scheint mit einem derartigen Naturalismus nichts gemein zu haben, denn ‚innerhalb’ des Erkenntnisvermögens haben die Kausalitätsgesetze keine Geltung, das Erkenntnisvermögen selbst wird von Kant sorgfältig von den rohen Empfindungen abgetrennt, und die reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sind nur die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung; in sich selbst sind sie nichts. Das wäre wirklich der Fall, wenn die Kausalitätsgesetze nicht durch Funktionalgesetze ersetzt würden und wenn Kants ‚theoretische Philosophie’ wirklich von der Erkenntnis handelte. Betrachtet man Kants vermeintliche Epistemologie jedoch als eine Theorie der reinen Tätigkeit, die ihre Formen dem natürlichen (und letzten Endes dem menschlichen) ‚Material’ aufzwingt, so kann man Kants Transzendentalismus durchaus als einen verkehrten Naturalismus begreifen. Was hier naturalisiert wird, ist, wie paradox es auch klingen mag, die Natur, denn der Natur werden exakte Gesetze des raumzeitlichen Seins vorgeschrieben. Kants Beantwortung der Frage „Wie ist Natur möglich?“ ist in Wahrheit von der Überzeugung, daß die Natur ein allgemeiner Arbeitsgegenstand sei (Marx), durch keine allzu große Kluft getrennt. Und doch werden nicht nur der Natur exakte Gesetze vorgeschrieben, Gesetze des geometrischen räumlichen Seins werden auch dem Bewußtsein vorgeschrieben. Ist es möglich, dem Bewußtsein diese Gesetze aufzuzwingen und das Bewußtsein in diesem Sinne zu naturalisieren? Eine bejahende Antwort ist offensichtlich, denn die Naturalisierung des Bewußtseins ist nicht nur ein theoretisches Ergebnis, sondern eine praktische Möglichkeit, ihm diese oder jene Weltanschauung, dieses oder jenes Weltbild aufzuzwingen. 3. Praktische Interpretation der theoretischen Philosophie Die meisten Kant-Interpreten verstehen die transzendentale Ästhetik und Analytik als Abschnitte oder Teile der theoretischen Philosophie. Ich denke nicht nur an die neukantianische Deutung, sondern auch an Russell, der Kants Raumkonzept für eine Betrachtungsweise gehalten hat: „If you always wore blue spectacles, you could be sure of seeing everything blue (this is not Kant's illustration). Similarly, since you always wear spatial spectacles in your mind, you are sure of always seeing everything in space. Thus geometry is a priori in the sense that it must be true of everything experienced, but we have no reason to suppose that anything analogous is true of things in themselves, which we do not experience“ . Hegel dagegen, der denjenigen, die schwimmen lernen wollen, ohne ins Wasser zu springen, nicht vertrauen wollte, gibt eine ganz andere, ironische, aber adäquate Interpretation der Kantischen Formen der Sinnlichkeit als Formen der Tätigkeit: „Es sind da draußen Dinge an sich, aber ohne Zeit und Raum; nun kommt das Bewußtsein und hat vorher Zeit und Raum in ihm, als die Möglichkeit der Erfahrung, sowie um zu essen es Mund und Zähne usw. hat, als Bedingungen des Essens. Die Dinge, die gegessen werden, haben den Mund und Zähne nicht, und wie es den Dingen das Essen antut, so tut es ihnen Raum und Zeit an; wie es die Dinge zwischen Mund und Zähne legt, so in Raum und Zeit“ . Wenn man diese Analogie fortführen darf, so kann man wohl sagen, daß Hermann Cohen die Rolle des ‚Zahnarztes’ übernehmen mußte, der diese Zähne gezogen, sich dadurch die Lösung des Problems der Gleichartigkeit der Erkenntnis ermöglicht und den „bestirnten Himmel über mir“ recht schmerzlos in ein Astronomiehandbuch hinübertransportiert hat. Ähnlich wie Hegel hat Heidegger Kant nicht aufs Wort geglaubt, und es wäre daher verfehlt anzunehmen, daß Heidegger Kants Erkenntnistheorie als Ontologie interpretiert. Was Heidegger vornimmt, ist eine totale Interpretation. Er schreibt im Grunde die ganze Kritik der reinen Vernunft von neuem um, indem er alle quasi-epistemischen Quellen Kants aus einer einheitlichen Wurzel der transzendentalen Einbildungskraft herleitet, die schon bei Kant selbst als etwas mehr als eine bloße Erkenntniskraft auftritt. Man kann auch vermuten, daß Heidegger in der Kritik der reinen Vernunft von Anfang an keine Erkenntnistheorie, sondern eine aktivistische Weltanschauung erblickt hat, die sich in Ontologie umdeuten läßt. Darauf weist die Schlußpassage des Buchs Kant und das Problem der Metaphysik hin: „Oder sind wir allzusehr schon zu Narren der Organisation, des Betriebs und der Schnelligkeit geworden, als daß wir die Freunde des Wesentlichen, Einfachen und Stetigen sein könnten“ . Die Analyse der von Kant eingeführten Differenzen macht noch eine weitere Interpretation der ‚theoretischen Philosophie’ Kants möglich, in der diese weder als Erkenntnistheorie noch als Fundamentalontologie, sondern vielmehr als eine Theorie der reinen Tätigkeit erscheint. Kant entwickelt das Paradigma der Herrschaft über die Natur, u. a. auch über die Natur des Menschen. Das Begriffsystem der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Analytik stellt ein Modell der Produktion dar, wo Empfindungen die Rolle der zu verarbeitenden Rohstoffe spielen, Raum und Zeit als reine Formen der Sinnlichkeit die Funktion der Bearbeitungsmaschinen und Anlagen ausüben, und die Kategorien als reine Synthesen die Rolle der verschiedenartigen Projekte übernehmen, die eine empirische Anwendung finden müssen. Die Zeit als transzendentales Schema und der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe entsprechen der konkreten Projektumsetzung. Diese ganze ungeheure Maschinerie – von den zu verarbeitenden Rohstoffen bis hin zur projizierenden synthetischen Tätigkeit – wird durch die transzendentale produktive Einbildungskraft in Gang gesetzt. Kant errichtet ein System von Funktionalbeziehungen, in dem jede neu eingeführte Abstraktion bzw. Kraft ein Mittel für die jeweils nachfolgende ist: Die Empfindung ist ein Mittel für die Anschauung, die Anschauung für das Denken, die Materie – für die Form, das Denken und die Anschauung sind beide Mittel für die transzendentale Einbildungskraft. Es Bewußtseinserfahrung, ist gewiß sondern keine die Beschreibung Beschreibung der eines Tätigkeitsschema. Meine Interpretation der ‚theoretischen Philosophie’ Kants zielt nicht auf die Klärung jedes einzelnen Gedankenschrittes in den Überlegungen Kants. Es handelt sich bei ihr jedoch auch nicht um eine bloße Illustration. Zunächst lassen sich durch den Vergleich des Begriffssystems Kants mit der industriellen Produktion manche Paradoxien des kantischen Systems auflösen, unter anderem auch die Paradoxie eines unsere Sinnlichkeit affizierenden Dinges an sich. Streng gesprochen wird in der Kritik der reinen Vernunft nichts desgleichen behauptet, Kant spricht zwar von Gegenständen, die die Sinnlichkeit affizieren, erläutert aber nicht, welcher Art die hier gemeinten Gegenstände sind. Sind dies Erscheinungen, und sind die Gegenstände uns ‚gegeben’, wozu sollten sie uns denn ‚reizen’, d. h. affizieren, wenn sie einmal schon gegeben sind? Oder stimmt etwas nicht ganz mit diesem Gegebensein? Jedenfalls entstehen hier sogar serienweise Diskrepanzen und Unklarheiten. Ganz besonders paradox sieht die Variante aus, wonach die Sinnlichkeit von etwas affiziert wird, was zur Sinnlichkeit in gar keinem Verhältnis, das Kausalverhältnis mit einbegriffen, steht, nämlich von einem Ding an sich selbst. Stellen in diesem Sinne sind in den Prolegomena und in der Kritik der praktischen Vernunft zu finden. Die ‚Produktions’-Interpretation Kants erlaubt es uns, diese Paradoxien und Diskrepanzen aufzuheben. Friedrich Engels hat sich im Grunde genommen Kants ‚Entdeckung’ angeeignet: Kein anderer als Kant habe nämlich erläutert, wie wir Dinge an sich in Dinge für uns verwandeln. Die von uns unabhängige Realität machen wir zu einer von uns abhängigen, und fragen danach, ob diese Realität von uns grundsätzlich abhängig ist oder nicht. Kann ein Sklave ‚grundsätzlich’ vom Sklavenhalter unabhängig sein, nachdem er schon sein Sklave ist? Er kann wohl rebellieren (Erdbeben, Orkane sind Rebellionen der Natur), er kann aber nicht mehr kein Sklave ‚an sich selbst’ sein. Das Hauptziel unserer Interpretation lag jedoch nicht darin, die Paradoxien in Kants System aufzulösen. Die Interpretation bringt das funktionell-instrumentelle Verstehensschema an den Tag, das in der angeblich theoretischen Philosophie Kants dargelegt ist. Es handelt sich nicht um eine Beschreibung des theoretischen Verstehens, sondern um Tätigkeitsschemata, die als solche zunächst zur Tathandlung und Wirkungsgeschichte des absoluten Geistes, dann aber zur Theorie der absoluten, d. h. der revolutionären Praxis umgedeutet wurden. Die Kritik der reinen Vernunft eröffnet den Weg für die Philosophie als eine Wirklichkeitskritik, und zwar nicht so sehr als eine Kritik, sondern vielmehr als ein Entwurf der neuen Wirklichkeit sowie als die Entwicklung eines Modells ihrer Verwirklichung. Im Rahmen dieses Modells spielt auch der Begriff ‚Ding an sich’ eine besondere negative Rolle. Das Ding an sich ist ein Grenzbegriff, der uns von aller Verantwortung für das Dasein der Dinge selbst, u. a. auch ‚der Menschen selbst’, befreit. Innerhalb des Tätigkeitsparadigma wollen wir mit den Dingen selbst nicht zu tun haben. Es reicht schon aus, wenn diese die Funktion des Reizes für unser Erkenntnisvermögen erfüllen. Von ihnen etwas darüber hinaus zu wissen, wäre überflüssig. Uns reicht es völlig aus, wenn wir uns vor dem Absurden durch die Annahme schützen können, daß doch etwas hinter der Erscheinung da ist. Die kritische Analyse und die dargelegte Interpretation der Philosophie Kants sind wohl am allerwenigsten darauf gerichtet, ihre Bedeutung in der Geschichte des Denkens und in der modernen Welt herabzusetzen. Kants Gedankenkonstruktionen haben sowohl die Philosophie als auch die Sozialtheorie der Folgezeit stark beeinflußt und in vielem die moderne und postmoderne Welt mit ihren deformierten und schnell deformierenden Organisations-, Produktions- und Interpretations¬strukturen mitbestimmt. Die Kritik der reinen Vernunft eröffnet auch ein Zeitalter ‚nostalgischer’ Interpretationen – zurück zu Kant selbst, zu Hegel, zu den Vorsokratikern, zu Platon, zu Aristoteles, dann zu Marx, zu Nietzsche usw. usw. Aus diesen Interpretationen sind nicht so sehr analytische Forschungsprojekte als vielmehr Neugründungen von philosophischen Schulen und Strömungen entstanden, die das soziale und politische Leben stark beeinflußt haben, und zwar hinsichtlich des Tätigskeits- und Interpretationsprimats. Es geht heutzutage schon nicht mehr um eine Interpretation der Ereignisse oder Fakten, sondern um ein Erwachsen der Ereignisse aus einer Deutung. Worin liegt jedoch der innere Grund einer so flexiblen Interpretierbarkeit der Kants Philosophie? Vielleicht darin, daß sie selbst eine große Interpretation ist, d. h. die Verarbeitung und Umstrukturierung der Ergebnisse bzw. der Prämissen wissenschaftlicher Erkenntnis und der früheren philosophischen Systeme. Das bedeutet keineswegs, daß Kant kein Entdecker gewesen ist, nur fragt es sich, ob er ein Neuerer in der erfahrungsanalytischen Bewußtseinsphilosophie und für die weitere Entwicklung einer solchen Philosophie gewesen ist, oder ob seine Vernunftkritik einerseits zur positivistischen Vernachlässigung aller Metaphysik, andererseits aber zum Hegelschen Ende der Philosophie, und später dann auch zu anderen Transplantationen der Philosophie in bestimmte Tätigkeitsarten, den Weg gebahnt hat. Kants Interpretation des Bewußtseins als reiner Tätigkeit, die verschiedene Deutungen erlaubt und keiner Analyse zugänglich ist, ist die tiefste Grundlegung des Subjektivismus der Interpretation, der im Grunde eines jedes Subjektivismus liegt. Der Deutungssubjektivismus hat gegenwärtig stark zugenommen. Es ist jedoch immerhin noch möglich, etwas, was ‚für wahr gehalten werden muß’ (Nietzsche), von dem, was wahr ist, zu unterscheiden: ‚Nützliche Irrtümer’ kann und muß man einer Interpretation unterwerfen; die erfahrene Wahrheit aber läßt sich nicht eindeutig oder verschieden auslegen, sondern nur als Hierarchie des Unterscheidens und der Unterschiedlichkeit analysieren.