Viсtor Molchanov

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Viсtor Molchanov
DEUTUNGSSUBJEKTIVISMUS UND ERFAHRUNGSANALYSE
Zu Kants Apriorismus-Explikation
(Kant im Spiegel der Russischen Kantforschung Heute.
Fromann-Holzboog, 2008. S. 87-104.)
...und kein Mensch war da,
den Boden zu bebauen (Gen. 2.5)
1. Analysetheorie und Interpretationspraxis
Die Vereinigung von ‚Planeten und Äpfeln’ in der newtonschen Physik
kann man nach K. Popper als ein Merkmal der Wissenschaftlichkeit
dieser Theorie anerkennen, man kann sie aber auch als eine Quelle des
Naturalismus, der Subsumtion der ganzen Weltvielfalt unter Gesetze
des physischen raumzeitlichen Kontinuums, auslegen. Das erstere
widerspricht nicht dem letzteren, und nach den Äpfeln haben
wissenschaftliche Psychologen und Physiologen versucht, mit den
Planeten
auch
die
Konsumenten
von
Äpfeln
zu
vereinigen,
insbesondere solche, die auf ein ‚subjektives Bild der objektiven Welt’,
unter anderem auch der Welt von Obst und Gemüse, Anspruch
erheben.
Für die Vereinigung von Inkommensurablem bedarf es des mächtigen
Herrschaftsinstruments der Abstraktion, mit deren Hilfe auch die Macht
über die Natur und den Menschen errungen wird. Die Abstraktion ist
nicht so sehr eine theoretische als eine praktische Prozedur. Schon die
Anfertigung jedes Haushaltsgegenstandes erfordert die Auswahl eines
bestimmten Materials, ein Absondern von Überflüssigem, Unnötigem,
ein Hervorheben von ‚wesentlichen Eigenschaften’. Die Unterwerfung
von Naturkräften basiert ebenfalls auf der Abstraktion, so wird z. B. die
Kraft eines Stromes aus dem Naturleben herausgelöst und auf die
Turbinen hingelenkt, die er in Bewegung bringt.
Vereinigung von Inkommensurablem ist nur durch eine Interpretation
möglich, die aggressiv genug sein muss, und der Grad ihrer
Aggressivität hängt davon ab, inwieweit sie auf Erfahrungsanalyse
beruht (in solchem Fall kann ihre Aggressivität zum Teil neutralisiert
werden) oder auf der interpretativen Aggressivität der Abstraktionen.
Die Möglichkeit eines Vergleichs von Unvergleichbarem liegt in dem
Bereich der verschiedensten Verwechselungen, der Deformationen der
Erfahrungshierarchien,
der
Herrschaft
der
Synthese
über
die
Unterscheidung. Verwechselungen führen in der Regel zu Fehlern,
Illusionen, Mißverständnissen, unter anderem der ‚Unverständlichkeit’
der philosophischen Lehren. Aber in der Neuzeit entsteht eine
fundamentale Verwechselung, die allen philosophischen und auch
nicht-philosophischen Verwechslungen und Diskrepanzen zugrunde
liegt: die theoretische und praktische Verwechselung von Theorie und
Praxis, oder genauer, der Versuch, die Theorie der Tätigkeit zu
unterwerfen. In der neuesten Zeit versucht man nicht nur einen Fluß,
sondern auch den ‚Bewußtseinsfluß’ für etwas Instrumentelles und
Praktisches zu halten. Ist denn diese Verwechselung nicht die
Grundlage für den von Kant festgestellten transzendentalen Schein?
Kants Philosophie repräsentiert nicht allein, sondern begründet auch
(sofern das möglich ist) eine solche Verwechselung, indem sie die
Anschauung der Tätigkeit unterwirft, und zwar der willkürlichen,
blinden ‚Tathandlung’ der Einbildungskraft. Eben das verursacht die
‚Unverständlichkeit’ von Kants theoretischer Philosophie, die viele
Kommentatoren, Nachfolger und Kritiker Kants ‚theoretisch’ zu
überwinden versucht haben und immer wieder versuchen. Man kann
diese Aufgabe aber kaum durch irgendeine Interpretation des
Begriffsystems der Philosophie Kants auflösen. Vielmehr darf man
Kants Philosophie hier nicht als ein System von Begriffen betrachten,
sondern man muß die Imperative dieser Philosophie analysieren.
Darunter sind natürlich nicht die Imperative der kantischen Ethik
gemeint, sondern Imperative der Unterwerfung der Anschauung unter
blinde synthetische Seelenkräfte, Imperative der Herrschaft der
Tätigkeit über die Wahrnehmung. In diesem Sinne kann man schon
innerhalb der theoretischen Philosophie Kants von einem Primat der
praktischen Vernunft sprechen.
Man kann versuchen, das Dilemma zwischen dem phänomenologischen
Imperativ ‚zu den Sachen selbst’ und dem Kantschen Imperativ ‚von
den Dingen selbst’ hin zu den Erscheinungen, zur Bearbeitung des
Urmaterials der Erfahrung ‚praktisch’, d. h. durch die Wahl einer
Einstellung, aufzulösen; das Dilemma zwischen dem Erkennen als
kategorialer Anschauung und dem Erkennen als Anlegen eines
Kategorialnetzwerks; zwischen der ‚mentalen Existenz’ (intentionalen
Inexistenz)
des
Gegenstandes
und
dem
Hineindenken
von
Vernunftstrukturen in die Gegenstände; zwischen der Erkenntnis als
einer deskriptiven Wiederherstellung der Gegenständlichkeit und der
konstruktiven Einmischung in die Gegenständlichkeit. Entweder man
wählt die theoretische Einstellung, vollzieht die radikale epoche und
findet sich im Bereich des ‚reinen Bewußtseins’, der kategorialen
Anschauung usw., oder aber man wählt die praktische Einstellung auf
die Bearbeitung der Gegenständlichkeit zunächst mit transzendentalen,
dann aber auch mit beliebigen anderen Werkzeugen. Ist eine
prinzipielle Auflösung dieses Dilemmas möglich? Dazu bedarf es
zunächst eines Verzichts auf ein Prinzip, das diese beiden
Alternativeinstellungen vereinigt, und zwar auf die Deutung des
Bewußtseins als einer Auffassung oder Synthese, und zweitens bedarf
es der Hinwendung zu einer Bewußtseinserfahrung, die weder
kategoriale Intuition des reinen Bewußtseins noch begriffliches
Konstrukt des transzendentalen Subjekts ist.
Diese Erfahrung, die keine ‚Erfassung’, weder im Sinne Husserls noch im
Sinne Kants oder der Kantianer, noch in irgendeinem anderen Sinne ist,
ist eine Erfahrung der Unterscheidungen. Nur eine unterscheidende,
analytische Tätigkeit kann uns den Zugang zur Urerfahrung der
Unterscheidungen möglich machen, die nicht nur in jeder Art der
sogenannten Sinneserfahrung, sondern auch in der Urteilserfahrung
notwendigerweise
gegenwärtig
ist.
Der
Unterschied
zwischen
Erfahrung und Nicht-Erfahrung (auch das ist Teil der Welt des
Menschen) reduziert sich nicht auf den Unterschied zwischen der
Sinnlichkeit und den logischen Konstruktionen des Verstandes.
Vielmehr ist der erste Unterschied ein Korrelat des Unterschieds
zwischen Differenz und Identität.
Die
methodologische
Unterscheidungen
ist
Ausgangsebene
der
Unterschied
der
Erfahrung
zwischen
Analyse
der
und
Interpretation. Diesem Unterschied liegt eine gewisse hierarchische
Erfahrung
der
Unterscheidungen
zugrunde,
und
zwar
die
Unterscheidung zwischen Unterscheidung und Unterschiedenem.
Ausgangspunkt und Gegenstand der Analyse ist die Erfahrung von
Unterscheidungen; Ausgangspunkt und Gegenstand der Interpretation
sind
unterschiedliche
Bedeutungen
der
Gegenständlichkeit
im
weitesten Sinne. Die Erfahrung ist immer eine Erfahrung von
Unterscheidungen, sei es eine Unterscheidung von Tönen oder von
Gerüchen, sei es eine Unterscheidung zwischen der Prämisse und der
Schlußfolgerung; die Interpretation aber ist eine Vergleichung und eine
Veränderung der Konstellationen von Identifiziertem.
Nicht alles in der Welt kann interpretiert werden. Es gibt Grenzen der
Interpretation, die nur von der Analyse festgestellt werden können. Das
bedeutet nicht, daß es im Bereich der Erfahrung etwas als reine Analyse
gibt. Die überaus wichtige Differenz der Erfahrung, die jede Differenz
ebenso wie ihre Untersuchung charakterisiert, ist die zwischen dem
Vordergrund und dem Hintergrund. Diese Differenz charakterisiert auch
die Differenz zwischen Analyse und Interpretation. Will man ein
Gleichgewicht zwischen beiden finden, so gerät man unweigerlich in die
Interpretationssphäre. Indem wir sagen ‚dasselbe kann man auf
verschiedene
Weisen
verstehen’,
fesselt
uns
schon
die
Deutungstätigkeit, da jenes ‚Dasselbe’ schon im voraus identifiziert und
irgendwie interpretiert werden muß.
In der Erfahrungs- und Untersuchungssphäre tritt jedoch die Analyse
der Unterscheidungen immer in den Vordergrund. Das bewahrt die
hierarchische und bewegliche Erfahrungs- und Untersuchungsstruktur.
Die Analyse fängt nicht mit der interpretierten Identität, sondern mit
der Differenz an, die keines Vermittlers zwischen Unterschiedenem
bedarf. In der Untersuchung steht die Analyse im Vordergrund, in der
Tätigkeit dagegen die Interpretation. Es ist einer der wichtigsten
Unterschiede zwischen Erkennen und Handeln.
Der
Unterschied
zwischen
Interpretation
und
Analyse
ist
Ausgangspunkt unserer Untersuchung des Apriorismus Kants. Jede
philosophische Untersuchung hat sowohl einen analytischen als auch
einen interpretativen Bestandteil. Die Kritik der reinen Vernunft macht
da keine Ausnahme, und wir werden zwischen Erfahrungsdifferenzen
unterscheiden, die zu weiteren Erfahrungsdifferenzen führen (eine
Erfahrungsdifferenz findet immer in einer bestimmten Hierarchie statt),
d. h. analytischen Differenzen, und interpretativen Differenzen,
Differenzen von bereits Identifiziertem. In diesem Sinne besteht die
philosophische
analytische
Reflexion
im
Unterscheiden
von
Unterscheidungen und Differenzen verschiedener Ebene.
Die Schwierigkeiten bei dem Verstehen von philosophischen Systemen
und
wissenschaftlichen
Theorien
sind
verschiedener
Art.
Ein
philosophisches System kann ‚unverständlich’ sein, nicht nur weil es
einem an Fleiß ermangelt, sondern auch deshalb, weil diejenigen
Schemata des Verstehens, die in Bezug auf dieses System anwendbar
sind, mit denjenigen Schemata des Verstehens, die dieses System
erarbeitet (oder genauer: deklariert), inkommensurabel sind. Um diese
Schemata oder Strukturen in Einklang miteinander zu bringen, könnte
man versuchen, als ersten und allerdings interpretativen Schritt, sie
sozusagen genetisch zu vergleichen. Das Inkommensurable kann sich
dem Ursprung nach als etwas erweisen, das einander nicht ganz fremd
ist: das (wenn man naiv urteilt) allereinfachste Sandkastenspiel der
Kinder und eines der schwierigsten Werke der Weltphilosophie – die
Kritik der reinen Vernunft. Den Sandkasten könnte man dabei durch
Bauen eines Hauses (Ton, Backsteine usw.) ersetzen, um sich keine
Vorwürfe von Seiten der Kantianer einzuhandeln, oder von Seiten
ernsthafter Personen, die Kinderspiele für etwas Leichtsinniges halten.
Jedoch haben bei weitem nicht alle Leute Häuser gebaut, dagegen
haben alle, oder fast alle, das ‚Rohmaterial’ des Sandes ‚bearbeitet’.
Die Kritik der reinen Vernunft zählt zu der Reihe jener philosophischen
Werke, deren Hauptbegriffe, ebenso wie auch das Werk als Ganzes,
grundverschieden interpretiert worden sind. Nach der Zahl der
Interpretationen kann sich in der Philosophie der Neuzeit nur noch
Hegels Phänomenologie des Geistes mit der Kritik der reinen Vernunft
messen.
Wo
liegt
der
Grund
für
eine
solche
Vielfalt
an
Interpretationen? Man kann hier freilich vom Zeitgeist, von der
‚Beschleunigung des Sozialfortschritts’ usw. reden. Das ist auch richtig.
Unter
allen
Begriffen
der
Philosophie
Kants
wurde
jedoch
bezeichnenderweise das „Ding an sich“, d. h. etwas Zeitloses und
Unveränderliches, am häufigsten und verschiedensten interpretiert.
Um Nietzsche zu paraphrasieren: Kants Dinge an sich gibt es nicht, es
gibt nur ihre Interpretationen.
Ohne die ‚externen’ Gründe zu verneinen, möchten wir die inneren
Gründe für die Interpretierbarkeit von philosophischen Lehren
thematisieren und dabei die Interpretation als die angeblich einzige
Methode zur Erforschung dieser Lehren in Frage stellen. Vielleicht hat
eben die Anarchie der Interpretationen Dilthey dazu bewegt, von einer
Anarchie der philosophischen Systeme zu sprechen.
Ist Kants Explikation (bzw. Begründung) des Apriorismus eine Analyse
oder eine Interpretation? Oder bestimmter: Ist sie eine Analyse des
Bewußtseins (in Kants Terminologie: des Erkenntnisvermögens) oder
eine Interpretation der eingeführten Abstrakta, die ein bestimmtes,
ebenfalls
auf
unterschiedliche
Weise
interpretierbares
System
ausmachen? Der Unterschied zwischen Analyse und Interpretation in
der Apriorismus-Explikation Kants erlaubt es uns, erneut die Frage zu
stellen, ob die transzendentale Ästhetik und die transzendentale
Analytik eine Erkenntnistheorie sind? Selbstverständlich bin ich nicht
der erste, und hoffentlich nicht der letzte, der diese Frage stellt. Jedoch
kann die spezifische Dimension der Fragestellung verschieden sein. Was
uns hier interessiert, ist die Diskrepanz zwischen den Fragen Kants und
den Antworten darauf: Kants theoretische Philosophie beantwortet
nicht so sehr die Fragen ‚Wie sind reine Mathematik und reine
Naturwissenschaft möglich?’ als vielmehr die Frage ‚Wie ist reine
Tätigkeit möglich?’, nicht so sehr die Frage ‚Wie ist Natur möglich?’ als
vielmehr die Frage ‚Wie ist die Herrschaft über die Natur möglich?’. Zu
einer solchen Interpretation der Fragen und Antworten Kants muß uns
aber erst die Analyse führen.
Das abstrakte philosophiegeschichtliche Interesse bleibt dabei eher im
Hintergrund, denn nicht so sehr bedarf die Philosophie Kants einer
weiteren philosophiegeschichtlichen Erforschung, was sich ja von selbst
versteht, sondern vielmehr wir selbst, die wir heute leben, brauchen
eine Erforschung der Philosophie Kants. Kant stellt uns vor eine Vielfalt
von Fragen, und zu ihnen zählt auch die Frage, ob es einen
notwendigen Zusammenhang gebe zwischen der Herrschaft des
Menschen über die Natur und über andere Menschen und dem Wesen
des menschlichen Bewußtseins. Kant stellt uns auch vor die Frage,
worin die subjektiven Bedingungen und die inneren Schranken des
Zwanges, der Versklavung und der Selbstversklavung des Bewußtseins
bestehen, vor die Frage, inwieweit das menschliche Bewußtsein diesen
Tendenzen widerstehen könne. Und wenn Kants Vernunftkritik nun
einmal keine Kritik der Bücher und Systeme ist, so muß auch die Kritik
der Philosophie Kants zumindest indirekt etwas mehr sein als die bloße
Interpretation von Begriffen innerhalb des Systems dieser Philosophie.
2. Analyse der Interpretation der Erfahrung und des Raumes in der
Kritik der reinen Vernunft
Die Ausgangsfrage unserer Analyse werden wir wie folgt formulieren:
Wie ist transzendentale Erkenntnis im Sinne Kants möglich? Wie kann
man, mit anderen Worten, von einem Apriori reden, wie urteilt Kant
selbst über das Apriori sowie über das, wovon das Apriori eben
unabhängig ist, also über die Erfahrung? Ist die Erfahrung bei Kant ein
Gegenstand der Analyse oder der Interpretation? Werden die reinen
Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes einer Analyse unterworfen,
oder ist ihre Darstellung im Grunde genommen eine Interpretation?
Auf welche Weise und vermittelst welcher Argumente werden von Kant
die Strukturen a priori des Erkenntnisvermögens eingeführt?
„Erfahrung ist ohne Zweifel der erste Product, welches unser Verstand
hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen
bearbeitet“ – lesen wir ganz am Anfang der Einleitung zur ersten
Auflage der Kritik der reinen Vernunft (IV 17), jener Einleitung, die
gewöhnlich ganz weggelassen oder in Petitsatz gedruckt wird. Ganz am
Anfang der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft lesen wir schon etwas anderes: „Daß alle unsere Erkenntniß
mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel“ (III 27). Also steht
es nach Kant außer Zweifel, daß einerseits der Verstand die Erfahrung
erzeugt, und daß andererseits „der Zeit nach (Hervorhebung von Kant –
V. M.) [...] keine Erkenntniß in uns vor der Erfahrung vorher [geht]“ (III
27). Von welcher Zeit ist hier die Rede? Offenbar nicht von der
apriorischen Form der Sinnlichkeit oder dem transzendentalen Schema.
Vielmehr geht es um die Tätigkeitszeit, die Zeit der Vereinigung der
beiden grundlegenden Erkenntniskräfte. „Theoretisch“, d. h. in der
Exposition des Ausgangsproblems der Erkenntnis, erscheint diese Zeit
vorzeitig, vor der Einführung der Zeit als einer apriorischen Form, als
einer Erkenntniskraft. Nach Kant affizieren zunächst die Gegenstände
unser Erkenntnisvermögen, und erst dann wird dieses letztere in Gang
gesetzt. Was in der Erkenntniskraft ist es, um mit Kant zu sprechen, das
uns dieses ‚früher bzw. später’ unterscheiden läßt? Die Antwort darauf
kann
nur
wie
folgende
sein:
unser
Konstruktions-
und
Interpretationsvermögen.
Gleichgültig ob der Verstand Erfahrung hervorbringt und die letzte
dann ihre Stelle im Erkenntnisvermögen einnimmt oder ob die
Erfahrung vor der Verstandeshandlung vorhergeht, auf alle Fälle
erweisen sich die Erkenntniskräfte bei Kant als von ihren Erscheinungen
getrennt.
Wie kann man überhaupt die Erfahrung selbst und ihre Erscheinung
voneinander trennen? Oder den Verstand selbst von seiner Äußerung?
Nichtsdestoweniger ist eine solche interpretative Unterscheidung im
Rahmen der interpretativen Überlegungen über die zwei Stämme der
menschlichen Erkenntnis möglich: Es gibt also eine verborgene Wurzel
der Erkenntnis und deren zwei Arten von Erscheinungen. In Bezug auf
die Sinnlichkeit trennt Kant das rohe Material der Sinnlichkeit und die
Sinnlichkeit
selber.
Hinsichtlich
des
Verstandes
sieht
das
folgendermaßen aus: Die Kategorien sind reine Synthesen, die
Synthesis aber ist eine blinde Kraft der Seele. Kant analysiert nicht die
Erfahrung – dazu hätte er zumindest eine bestimmte Erfahrung
erforschen müssen; Kant interpretiert die Erfahrung, und zwar auf
verschiedene Weise, und doch zu demselben Zweck: die Erfahrung dem
Verstande zu unterwerfen, die Funktion der Erfahrung im System der
Erkenntnistätigkeit zu bestimmen.
In den Prolegomena finden wir eine weitere, diesmal eigentlich
strukturelle, Interpretation der Erfahrung: Die Erfahrung besteht aus
Anschauungen, die der Sinnlichkeit angehören, und aus Urteilen, die
ausschließlich eine Sache des Verstandes sind (vgl. IV 304). Jetzt ist die
Erfahrung
kein
Ausgangspunkt
der
Erkenntnis
und
kein
Bearbeitungsprodukt von rohen Empfindungen mehr, sondern eine
Struktur, die aus zwei Elementen – aus Anschauungen und Urteilen –
besteht.
Jedoch sind jetzt nicht alle Urteile, die vom Verstande aus
Sinnesanschauungen
gebildet
werden,
Erfahrungsurteile.
Hier
verändert Kant abermals die Bedeutung des Wortes Erfahrung, die nun
etwas
mehr
bedeutet
als
eine
bloße
Verbindung
von
Sinnesempfindungen. Erfahrungsurteile sind jetzt im Unterschied zu
Wahrnehmungsurteilen objektiv, die Vorstellungen werden darin mit
Notwendigkeit
verknüpft.
Zur
Sinneswahrnehmung
und
ihrem
logischen Zusammenhang fügen die Erfahrungsurteile einen Begriff
hinzu, durch den die Anschauung unter eine bestimmte Urteilsform
subsumiert und das synthetische Urteil als notwendig bestimmt wird:
„Erfahrung
besteht
in
der
synthetischen
Verknüpfung
der
Erscheinungen (Wahrnehmungen) in einem Bewußtsein, so fern
dieselbe nothwendig ist“ (IV 305).
Was ist dann aber die Erfahrung? Ist sie etwas, was uns ein bloß
zufälliges Wissen, oder etwas, was uns ein notwendiges Wissen gibt? Ist
das letztere der Fall, wozu dient dann überhaupt die Erkenntnis a
priori?
Einerseits behauptet Kant: „Alles Erkenntniß von Dingen aus bloßem
reinen Verstande oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein, und
nur in der Erfahrung ist Wahrheit.“ (IV 374, A 205). Andererseits
besteht das Wesen seiner ‚kopernikanischen’ Wende in der Philosophie
in der Annahme, daß „die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die
Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt
werden, sich nach diesen Begriffen“ richtet (III 12). Hier muß sich die
Erfahrung als ein Wahrnehmungszusammenhang nach den Begriffen
richten, die in diesen Zusammenhang Notwendigkeit hineinbringen.
Kants Vorhaben liegt auf der Hand: Indem er die Erfahrung und das
Apriori voneinander trennt, ist er bestrebt, ihre unzertrennliche
Verbindung aufzuweisen: „Die Möglichkeit der Erfahrung ist also das,
was allen unsern Erkenntnissen a priori objective Realität gibt“ (II 144).
Jedoch sind eben und gerade die Erkenntnis a priori, die Synthesen a
priori nichts anderes als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung.
Kant bewegt sich wie in einer Spirale: ‚Erfahrung – a priori – Erfahrung’,
wobei die erste ‚Erfahrung’ die Bedeutung des Rohmaterials gewinnt,
die
zweite
aber
die
des
synthetischen
und
notwendigen
Zusammenhangs der Wahrnehmungen.
Alle Definitionen der Erfahrung beziehen sich bei Kant entweder auf
das erstere oder auf das letztere. Indem wir zwischen diesen beiden
Grundbedeutungen von Erfahrung unterscheiden, bemerken wir einen
Mangel an Zwischenbedeutungen. Mit anderen Worten ist die
Erfahrung entweder rohes Empfindungsmaterial oder bearbeitete
Gegenständlichkeit. Zwischen diesen Erfahrungsstufen gibt es gar keine
Zwischenstadien.
Es
gibt
bei
Kant
eigentlich
gar
keinen
Erfahrungsprozeß, sondern nur einen Ausgangs- und einen Endpunkt
dieses Prozesses. Daher gibt es auch keine Analyse der Erfahrung,
sondern einzig und allein die Interpretation des Ausgangspunktes der
Erfahrung, die eigentlich auf etwas außerhalb der Erfahrung hindeutet,
– denn das Rohmaterial der Empfindungen ist in einem Sinne ebenso
eine Idee der Vernunft wie das Ding an sich. In einer folgerichtigen
Überlegung hätten wir zugeben müssen, daß wir dann das Rohmaterial
der Empfindung nicht erkennen, sondern nur denken können.
Die Endstufe der Erfahrung ist der synthetische Zusammenhang der
Wahrnehmungen. Hier wird Erfahrung als Synthese interpretiert, die
Synthese selbst aber als eine blinde Kraft der Seele, die prinzipiell
keiner Analyse zugänglich ist. Also bietet die transzendentale
Erkenntnis Kants jeweils eine Interpretation der Erfahrung, indem sie
im Grunde genommen nicht die Erfahrung, sondern verschiedene
Interpretationen derselben miteinander in Verbindung bringt.
Kants Erkenntnisvermögen als ganzes erscheint als eine interpretative
Struktur: Wir erkennen keine Dinge an sich, wir interpretieren nur die
Erscheinungen, indem wir in der Interpretation das Rohmaterial der
Empfindungen bearbeiten. Die Kategorien als reine Synthesen sind
nichts anderes als Interpretationsformen, die die Welt in das
Prokrustesbett von Quantität, Qualität, Relation und Modalität
hineinzwängen.
Dieses Interpretationssystem von Erkenntniskräften kann zunächst
analysiert, zweitens aber auch interpretiert werden. Einer Analyse
unterwerfen heißt die Kette der vom Verfasser eingeführten
Differenzen verfolgen und bestimmen, inwieweit diese Differenzen
weitere
Unterscheidungen
und
die
Unterscheidung
der
Unterscheidungen ermöglichen. Das läßt uns nicht nur die Bedingung
der Möglichkeit der Erfahrung, sondern auch die Bedingung der
Möglichkeit ihrer Interpretation bestimmen. Denn der Unterschied
zwischen Analyse und Interpretation gehört zur analytischen, nicht aber
zur interpretativen Dimension.
Der wichtigste Unterschied, der nicht nur die theoretische, sondern
auch die praktische Philosophie Kants konstituiert, ist der Unterschied
zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung. Wohl kein Begriff
Kants hat so vielfältige Interpretationen erfahren als dieser. Mit Recht
behauptet Markus Willaschek, daß die kantische Unterscheidung
zwischen Dingen an sich und Erscheinungen mehrdeutig ist, daß es
zwischen zwei konkurrierenden Interpretationen (zwei Welten oder
zwei Aspekten) keine eigentliche Alternative gibt, da der Unterschied
selbst
durchaus verschieden interpretiert werden kann. Dieser vortreffliche
Analyseschritt sollte mit der Frage fortgeführt werden: Warum kann
denn dieser fundamentale Unterschied in der Philosophie Kants
verschieden interpretiert werden? Meines Erachtens muß man vor
allem das folgende in Betracht ziehen: Dieser Unterschied selbst ist kein
analytischer, sondern ein interpretativer Unterschied.
Wie kann dieser Unterschied selbst analysiert werden? Gegenstand der
Analyse ist ja nicht ein Begriff, sondern ein Unterschied, mit dessen
Hilfe ein Begriff eingeführt wird. Eine erste analytische Frage bestände
darin,
ob
dieser
Unterschied
für
die
Formulierung
des
Erkenntnisproblems notwendig ist? Kann ein Ausgangsmoment des
Erkenntnisproblems, wie Kant es sieht, ohne „Dinge an sich“ formuliert
werden?
Dieses Ausgangsmoment ist nach Kant das folgende: Wir erkennen nur
die uns vermittelst unserer Sinnlichkeit erscheinenden Gegenstände;
Gegenstände, die uns nicht vermittelst der Sinnlichkeit gegeben sind,
können wir denken, und zwar, wie Kant behauptet, auf beliebige Weise.
Dies ist der Bereich der Metaphysik. Der Bereich der Wissenschaft ist
die Erforschung dessen, was uns erscheint, d. h. der Erscheinungen
(Kant
unterscheidet
nicht
zwischen
Erscheinungen
und
Erscheinendem). Am Anfang der Einleitung zur zweiten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft, wo Kant seine Sicht des Ausgangsproblems
der Erkenntnis am deutlichsten formuliert, fehlt der Terminus „Ding an
sich“ ganz und gar. Hierbei sei bemerkt, daß Cassirer in seiner
Darstellung von dem, was er für Kants Erkenntnistheorie hält, das Ding
an sich ebenfalls nicht erwähnt.
Unabhängig von der Genese des Unterschiedes von Ding an sich und
Erscheinung – ob dieser aus den Reflexionen über Freiheit und
Sittlichkeit auf den Bereich der ‚Erkenntnistheorie’ übertragen worden
ist oder umgekehrt – ist der Unterschied von Ding an sich selbst und
Erscheinung eine Vermengung von zwei Differenzen: 1. der Differenz
des
Erscheinenden
und
des
Nichterscheinenden,
aber
Erscheinenkönnenden (Regenbogen – einzelnen Regentropfen) und 2.
der Differenz von Gegenständen, die in der sinnlichen Wahrnehmung
gegeben werden können, und Gegenständen, die durch Sinnlichkeit
prinzipiell nicht gegeben sind. Es ist eben eine derartige Vermengung
von zwei Differenzen, die den Unterschied zwischen Ding an sich und
Erscheinung zu einem ausschließlich interpretativen Unterschied
macht. Diese Vermengung von zwei Differenzen zwingt uns ferner, uns
nicht mit der Differenz selbst, sondern mit den unterschiedenen
Abstraktbegriffen, und zwar Abstraktbegriffen verschiedener Ebene, zu
befassen. In keiner Erfahrung, sei es in der Erfahrung der Differenz von
idealen Gegenständlichkeiten oder in der Erfahrung der Differenz
zwischen idealen und materialen Gegenständlichkeiten, kann man den
Unterschied von Ding an sich und Erscheinung realisieren, d. h. in eine
Erfahrungshierarchie einbeziehen.
Interpretativer Natur ist auch die Explikation des Raums und der Zeit als
reiner Formen der Sinnlichkeit. Wir konzentrieren uns im folgenden auf
die Erforschung der Differenzen des ersten Paragraphen der
transzendentalen Ästhetik, durch die Raum und Zeit als apriorische
Formen der Sinnlichkeit eingeführt werden.
Die erste Differenz Kants ist hier analytisch, nämlich die Differenz
zwischen der Erkenntnis und dem Gegenstand. Die Anschauung erklärt
Kant im Gegensatz zu der kopernikanischen Wende für eine primäre
Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände. Damit ist der Bereich
möglicher
Verifizierung
der
Erfahrung
angegeben,
und
diese
Möglichkeit steht einem jeden offen.
Aber schon der zweite Unterschied, den Kant in demselben Satz macht,
kann ebensowohl ein analytischer als auch ein interpretativer sein. Kant
trennt voneinander Anschauung und Denken. Eine solche Trennung
kann jeder nachvollziehen, der z. B. eine Wahrnehmung des
Gegenstandes von einem logischen Schluß unterscheidet. Kant meint
aber eine Differenz innerhalb der Wahrnehmung, die in Sinnlichkeit und
Verstand geteilt wird. „Vermittelst der Sinnlichkeit […] werden uns
Gegenstände gegeben“ (III 49). Was soll denn ein Gegebensein des
Gegenstandes bedeuten, in welchem wir weder Quantität noch
Qualität, weder Relationen noch Modalität auffinden? Dies sind ja eben
die Verstandeskategorien. Ein solches Gegebensein des Gegenstandes
ist ‚unverständlich’ – unverständlich in dem Sinne, daß wir dies
Gegebensein nicht in der Erfahrung reproduzieren können. Dann kann
die Interpretationsmöglichkeit verwirklicht werden: Man kann dieses
Gegebensein nämlich als ein Problem, und die Empfindungen selbst als
‚Lallen’ auslegen. Oder eine andere Möglichkeit: Man kann die
Rezeptivität der Sinnlichkeit als Endlichkeit der menschlichen
Erkenntnis und als Endlichkeit des Menschen schlechthin deuten. Diese
konkurrierenden Interpretationen – die des Neukantianismus und die
Heideggers – sind möglich geworden, weil der Ausgangsbegriff der
Sinnlichkeit selbst abstrakt und interpretationsbedürftig ist. Die
Neukantianer und Heidegger sind darin miteinander einig, daß die
transzendentale Ästhetik ‚unverständlich’ ist, nur haben beide Seiten
keinen Grund für diese Unverständlichkeit angegeben.
Es ist jedoch noch eine weitere Interpretation der transzendentalen
Ästhetik Kants im ganzen möglich, die Raum und Zeit weder in logische
Kategorien noch in Phaenomena der Phänomenologie (Heidegger)
verwandelt. Diese Interpretation basiert nicht so sehr auf der
Interpretation der von Kant eingeführten Abstrakta, als vielmehr auf
der Analyse der kantischen Differenzen. Grundlegend ist in dieser
Hinsicht Kants interpretative Unterscheidung des Denkens und des
Anschauens, indem eines der Unterschiedenen zum Mittel für das
andere dient; das Denken strebt nämlich zur Anschauung als seinem
eigenen Mittel. Kant sagt freilich, daß Gegenstände vom Verstand
gedacht werden, er sagt aber an keiner Stelle, daß das Denken auf den
Gegenstand gerichtet ist, vielmehr ist von einem Gerichtetsein des
Denkens auf die Anschauung die Rede.
Auf diese Differenz kommen wir unten noch zurück, jetzt wollen wir
uns der nachfolgenden Differenz zuwenden, deren Vollzug Kant
mißlungen ist. Es handelt sich dabei um die Wirkung des Gegenstandes
auf uns und um unsere Empfindung: „Die Wirkung eines Gegenstandes
auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden,
ist Empfindung“ (III 50). Kant teilt das Vorurteil seiner – und nicht nur
seiner – Zeit, daß Gegenstände Ursachen von Empfindungen sind; Kant
stellt sich die Verknüpfung des Bewußtseins mit den Gegenständen
nach Art eines Schlags vor oder eines Eidola-Ausflusses wie bei
Demokrit. Aber jedenfalls wird nirgends gesagt, was die Empfindung ist,
sondern nur, wodurch diese verursacht wird. Der Unterschied zwischen
den Empfindungen und der Wirkung eines Gegenstandes auf die
Vorstellungsfähigkeit bleibt jedoch dunkel.
Die nächste Differenz ist die zwischen der Anschauung und der
Empfindung. „Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand
durch Empfindung bezieht, heißt empirisch“ (III 50). Diese Differenz
konstituiert ebenfalls zwischen dem dabei Unterschiedenen ein ZweckMittel-Verhältnis.
Empfindungen
sind
Mittel
der
empirischen
Anschauungen, aber sie sind nicht als Werkzeuge gemeint, sondern als
Bearbeitungsgegenstände.
In einem weiteren Schritt unterscheidet Kant zwischen der Materie und
der Form der Erscheinung. Die Materie ist a posteriori gegeben, die
Form muß in unserem Gemüt „bereit liegen“ (III 50), „bereit“ nämlich
im Sinne der Einsatzbereitschaft. Besonders bemerkenswert ist die
Erläuterung Kants, wie man denn die reine Form oder reine
Anschauung erhalten kann: „So, wenn ich von der Vorstellung eines
Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft,
Theilbarkeit etc., imgleichen was davon zur Empfindung gehört, als
Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc. absondere, so bleibt mir aus
dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung
und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori [...] als
eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüthe stattfindet“ (III 50). Und
weiter: „In der transscendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die
Sinnlichkeit isolieren [...]“ (von Kant hervorgehoben – V. M.). Nun fragt
sich: Auf welche Weise sind solche Überlegungen überhaupt möglich,
sind sie auf der Basis von irgendeiner Erkenntniskraft – der Sinnlichkeit,
des Verstandes oder der Vernunft möglich? Offenbar ist dies nicht der
Fall.
Wir können jedoch die Schranken der kantischen Einteilung von
Erkenntniskräften überschreiten und nach der Legitimität einer solchen
Überlegung überhaupt fragen. Kann man die Sinnlichkeit ‚im
Bewußtsein’, d. h. durch Reflexion, isolieren, kann man danach in der
isolierten Sinnlichkeit Materie und Form aussondern? Wir haben es hier
offenbar mit einer Konstruktion zu tun, nicht jedoch mit der
Bewußtseinserfahrung oder mit der Reflexion, die auch auf einer
Erfahrung beruhen muß. Konstruktion bedeutet aber nicht eine
Phantasie, und in einer Praxis kann man wohl „die Sinnlichkeit
isolieren“. Es gibt verschiedene Weisen der ‚Bearbeitung des
Bewußtseins’. Manchmal benutzt man dafür auch die Psychopharmaka.
Vom Standpunkt der Differenz zwischen Konstruktion und Überlegung
muß man auch auf Kants Einführung des Raumes als Form der
Sinnlichkeit achten. Ein solcher Ausgangspunkt ist bei Kant die
Abstraktion Körper. Auf diese Weise geschieht es eben – durch den
Körper, aber durch einen leblosen Körper –, daß Kant den newtonschen
Raum (und Zeit) in den Kopf des Menschen ‚versetzt’, ohne seine
Eigenschaften zu transformieren, die nach wie vor die Eigenschaften
des physischen (newtonschen) und geometrischen Raumes bleiben.
Also
werden
die
wissenschaftlichen
Abstraktionen
zu
Erkenntniskräften, was bedeutet, daß diese angeblich primären
Charakteristiken des Bewußtseins einem Bereich entnommen sind, der
selbst Bewußtseinsprodukt ist.
Man bemerke dabei das eigentümliche Argument für diese
‚Versetzung’: Wenn wir den Raum (und die Zeit) nicht in den Dingen
selbst vorfinden, wie können sie sich denn irgendwo anders befinden
als in unserem Erkenntnisvermögen? Es liegt auf der Hand, daß in
diesem streng definierten Subjekt-Objekt-Feld kein Platz für die
Leiblichkeit und den lebensweltlichen Raum übrigbleibt. Im Gegenteil
werden dabei die Leiblichkeit und die Lebenswelt gefährdet, weil die
Versetzung der Prämissen der newtonschen Mechanik (das betrifft
zumindest den Raum) in den Kopf des Menschen, um mit Heine zu
sprechen, den Terrorismus, und zwar den der Interpretationen,
verlangte, der sich in einer Interpretation der newtonschen
Interpretation ausgedrückte: Das sensorium Dei Newtons verwandelt
sich in der Kritik der reinen Vernunft in eine Form der menschlichen
Sinnlichkeit.
Bemerkenswert dabei ist, daß Kant im Paragraphen 1 die Zeit als eine
Form a priori nur erwähnt, aber keineswegs terminologisch einführt.
Auch wenn man annimmt, daß Kants Isolierung der Sinnlichkeit
gelingen könnte, handelt es sich nur um den Raum. Ferner weiß Kant
nichts besseres anzubieten als alle Argumente für die Apriorität des
Raumes einfach auf die Zeit zu übertragen. Diese Übertragung ist
gleichfalls eine Interpretation, nicht aber eine Analyse. Nach Kant ist die
Zeit die allgemeine Form der Sinne: unmittelbar (soweit man hier
überhaupt von Unmittelbarkeit reden kann) des inneren Sinnes,
mittelbar aber auch des äußeren. Diese Übertragung ist desto
seltsamer, weil bei der Übertragung von Eigenschaften vielmehr der
Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen üblich ist.
Indem Kant Raum und Zeit als ‚Äußeres’ und ‚Inneres’ unterscheidet,
analysiert er doch nicht diese Begriffe. Nichts als bloße Tautologie
findet man im ersten Satz des Paragraphen 2: „Vermittelst des äußeren
Sinnes
(einer
Eigenschaft
unsres
Gemüths,)
stellen
wir
uns
Gegenstände als außer uns und diese insgesammt im Raume vor“ (III 51
f.). Hinsichtlich des „außer uns“ hat Russell auf Folgendes aufmerksam
gemacht: „The phrase ‚outside me [i. e. in a different place from that in
which I find myself]’ is a difficult one. As a thing-in-itself, I am not
anywhere, and nothing is spatially outside me; it is only my body as a
phenomenon that can be meant. Thus all that is really involved is what
comes in the second part of the sentence, namely that I perceive
different objects as in different places. The image which arises in one's
mind is that of a cloak-room attendant who hangs different coats on
different pegs; the pegs must already exist, but the attendant's
subjectivity arranges the coats. There is here, as throughout Kant's
theory of the subjectivity of space and time, a difficulty which he seems
to have never felt. What induces me to arrange objects of perception as
I do rather than otherwise? [...] Kant holds that the mind orders the
raw material of sensation, but never thinks it necessary to say why it
orders it as it does and not otherwise”.
Wie man sieht, haben nicht nur Neukantianer und Heidegger die
transzendentale Ästhetik für unverständlich, oder zumindest für schwer
verständlich, gehalten. Ist das nicht ein Symptom dafür, daß die
transzendentale Ästhetik kein Kapitel aus der Erkenntnistheorie ist?
Warum verstehen wir denn aber trotzdem den allgemeinen
Gedankengang Kants, und warum kann dieser Gedankengang
verschieden interpretiert werden? Eine Antwort auf diese Frage ist in
der Differenz zwischen den „Schemata“ des theoretischen und des
praktischen Verstehens zu suchen. Indem wir Kant interpretieren,
gebrauchen wir mehr unser praktisches Verstehensvermögen als unser
theoretisches,
d.
h.
Schemata,
vermittelst
deren
wir
das
Gegenständliche praktisch ordnen, Schemata, die wir uns schon in
unserer frühen Kindheit aneignen. Nicht ohne Grund ist bei Russell das
Bild des Garderobenhüters entstanden, der die Mäntel ordnet, nicht
aber das eines Wissenschaftlers, der eine physische Raumtheorie
entwickelt.
Kant hat die Formen der Sinnlichkeit und die Formen des Verstandes
aus zwei wesensverschiedenen Quellen geschöpft: Raum und Zeit aus
der für ihn zeitgenössischen Wissenschaft, die Kategorien hingegen aus
der überlieferten, auf Aristoteles zurückgehenden Metaphysik. Kant hat
versucht, zwei Weltbilder zu einem einheitlichen zu vereinigen. Dazu
werden auch die Kategorien subjektivistisch umgedeutet: Kant
interpretiert sie als die reinen Synthesen des Verstandes, und die Zeit
als ein transzendentales Schema, das die Anwendung der Kategorien
auf empirische Anschauungen gewährleistet.
Ist die Interpretation gegenständlicher Charakteristiken (wie Raum, Zeit
und Kategorien) als Erkenntniskräfte nun nicht eine eigentümliche
Form des Naturalismus: Die Beschaffenheiten des Verstandes (und der
Sinnlichkeit) werden von der in besonderer Weise interpretierten Natur
entlehnt, und erscheinen dann als Kräfte, die der Natur Gesetze
vorschreiben.
„Der Naturalismus ist eine Folgeerscheinung der Entdeckung der
Natur,“ so Husserl, „der Natur im Sinne der Einheit des raumzeitlichen
Seins nach exakten Naturgesetzen“.
Die wichtigste Folge des
Naturalismus ist eine Naturalisierung des Bewußtseins, wenn man das
Bewußtsein für einen Teil der Natur hält. Kants Transzendentalismus
scheint mit einem derartigen Naturalismus nichts gemein zu haben,
denn
‚innerhalb’
des
Erkenntnisvermögens
haben
die
Kausalitätsgesetze keine Geltung, das Erkenntnisvermögen selbst wird
von Kant sorgfältig von den rohen Empfindungen abgetrennt, und die
reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sind nur die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung; in sich selbst sind sie
nichts. Das wäre wirklich der Fall, wenn die Kausalitätsgesetze nicht
durch Funktionalgesetze ersetzt würden und wenn Kants ‚theoretische
Philosophie’ wirklich von der Erkenntnis handelte. Betrachtet man
Kants vermeintliche Epistemologie jedoch als eine Theorie der reinen
Tätigkeit, die ihre Formen dem natürlichen (und letzten Endes dem
menschlichen)
‚Material’
aufzwingt,
so
kann
man
Kants
Transzendentalismus durchaus als einen verkehrten Naturalismus
begreifen. Was hier naturalisiert wird, ist, wie paradox es auch klingen
mag, die Natur, denn der Natur werden exakte Gesetze des
raumzeitlichen Seins vorgeschrieben. Kants Beantwortung der Frage
„Wie ist Natur möglich?“ ist in Wahrheit von der Überzeugung, daß die
Natur ein allgemeiner Arbeitsgegenstand sei (Marx), durch keine allzu
große Kluft getrennt. Und doch werden nicht nur der Natur exakte
Gesetze vorgeschrieben, Gesetze des geometrischen räumlichen Seins
werden auch dem Bewußtsein vorgeschrieben. Ist es möglich, dem
Bewußtsein diese Gesetze aufzuzwingen und das Bewußtsein in diesem
Sinne zu naturalisieren? Eine bejahende Antwort ist offensichtlich,
denn die Naturalisierung des Bewußtseins ist nicht nur ein
theoretisches Ergebnis, sondern eine praktische Möglichkeit, ihm diese
oder jene Weltanschauung, dieses oder jenes Weltbild aufzuzwingen.
3. Praktische Interpretation der theoretischen Philosophie
Die meisten Kant-Interpreten verstehen die transzendentale Ästhetik
und Analytik als Abschnitte oder Teile der theoretischen Philosophie.
Ich denke nicht nur an die neukantianische Deutung, sondern auch an
Russell, der Kants Raumkonzept für eine Betrachtungsweise gehalten
hat: „If you always wore blue spectacles, you could be sure of seeing
everything blue (this is not Kant's illustration). Similarly, since you
always wear spatial spectacles in your mind, you are sure of always
seeing everything in space. Thus geometry is a priori in the sense that it
must be true of everything experienced, but we have no reason to
suppose that anything analogous is true of things in themselves, which
we do not experience“ .
Hegel dagegen, der denjenigen, die schwimmen lernen wollen, ohne ins
Wasser zu springen, nicht vertrauen wollte, gibt eine ganz andere,
ironische, aber adäquate Interpretation der Kantischen Formen der
Sinnlichkeit als Formen der Tätigkeit: „Es sind da draußen Dinge an sich,
aber ohne Zeit und Raum; nun kommt das Bewußtsein und hat vorher
Zeit und Raum in ihm, als die Möglichkeit der Erfahrung, sowie um zu
essen es Mund und Zähne usw. hat, als Bedingungen des Essens. Die
Dinge, die gegessen werden, haben den Mund und Zähne nicht, und
wie es den Dingen das Essen antut, so tut es ihnen Raum und Zeit an;
wie es die Dinge zwischen Mund und Zähne legt, so in Raum und Zeit“ .
Wenn man diese Analogie fortführen darf, so kann man wohl sagen,
daß Hermann Cohen die Rolle des ‚Zahnarztes’ übernehmen mußte, der
diese Zähne gezogen, sich dadurch die Lösung des Problems der
Gleichartigkeit der Erkenntnis ermöglicht und den „bestirnten Himmel
über
mir“
recht
schmerzlos
in
ein
Astronomiehandbuch
hinübertransportiert hat.
Ähnlich wie Hegel hat Heidegger Kant nicht aufs Wort geglaubt, und es
wäre
daher
verfehlt
anzunehmen,
daß
Heidegger
Kants
Erkenntnistheorie als Ontologie interpretiert. Was Heidegger vornimmt,
ist eine totale Interpretation. Er schreibt im Grunde die ganze Kritik der
reinen Vernunft von neuem um, indem er alle quasi-epistemischen
Quellen Kants aus einer einheitlichen Wurzel der transzendentalen
Einbildungskraft herleitet, die schon bei Kant selbst als etwas mehr als
eine bloße Erkenntniskraft auftritt. Man kann auch vermuten, daß
Heidegger in der Kritik der reinen Vernunft von Anfang an keine
Erkenntnistheorie, sondern eine aktivistische Weltanschauung erblickt
hat, die sich in Ontologie umdeuten läßt. Darauf weist die
Schlußpassage des Buchs Kant und das Problem der Metaphysik hin:
„Oder sind wir allzusehr schon zu Narren der Organisation, des Betriebs
und der Schnelligkeit geworden, als daß wir die Freunde des
Wesentlichen, Einfachen und Stetigen sein könnten“ .
Die Analyse der von Kant eingeführten Differenzen macht noch eine
weitere Interpretation der ‚theoretischen Philosophie’ Kants möglich, in
der diese weder als Erkenntnistheorie noch als Fundamentalontologie,
sondern vielmehr als eine Theorie der reinen Tätigkeit erscheint. Kant
entwickelt das Paradigma der Herrschaft über die Natur, u. a. auch über
die Natur des Menschen. Das Begriffsystem der transzendentalen
Ästhetik und der transzendentalen Analytik stellt ein Modell der
Produktion dar, wo Empfindungen die Rolle der zu verarbeitenden
Rohstoffe spielen, Raum und Zeit als reine Formen der Sinnlichkeit die
Funktion der Bearbeitungsmaschinen und Anlagen ausüben, und die
Kategorien als reine Synthesen die Rolle der verschiedenartigen
Projekte übernehmen, die eine empirische Anwendung finden müssen.
Die Zeit als transzendentales Schema und der Schematismus der reinen
Verstandesbegriffe entsprechen der konkreten Projektumsetzung.
Diese ganze ungeheure Maschinerie – von den zu verarbeitenden
Rohstoffen bis hin zur projizierenden synthetischen Tätigkeit – wird
durch die transzendentale produktive Einbildungskraft in Gang gesetzt.
Kant errichtet ein System von Funktionalbeziehungen, in dem jede neu
eingeführte Abstraktion bzw. Kraft ein Mittel für die jeweils
nachfolgende ist: Die Empfindung ist ein Mittel für die Anschauung, die
Anschauung für das Denken, die Materie – für die Form, das Denken
und die Anschauung sind beide Mittel für die transzendentale
Einbildungskraft.
Es
Bewußtseinserfahrung,
ist
gewiß
sondern
keine
die
Beschreibung
Beschreibung
der
eines
Tätigkeitsschema.
Meine Interpretation der ‚theoretischen Philosophie’ Kants zielt nicht
auf die Klärung jedes einzelnen Gedankenschrittes in den Überlegungen
Kants. Es handelt sich bei ihr jedoch auch nicht um eine bloße
Illustration.
Zunächst
lassen
sich
durch
den
Vergleich
des
Begriffssystems Kants mit der industriellen Produktion manche
Paradoxien des kantischen Systems auflösen, unter anderem auch die
Paradoxie eines unsere Sinnlichkeit affizierenden Dinges an sich. Streng
gesprochen wird in der Kritik der reinen Vernunft nichts desgleichen
behauptet, Kant spricht zwar von Gegenständen, die die Sinnlichkeit
affizieren, erläutert aber nicht, welcher Art die hier gemeinten
Gegenstände sind. Sind dies Erscheinungen, und sind die Gegenstände
uns ‚gegeben’, wozu sollten sie uns denn ‚reizen’, d. h. affizieren, wenn
sie einmal schon gegeben sind? Oder stimmt etwas nicht ganz mit
diesem Gegebensein? Jedenfalls entstehen hier sogar serienweise
Diskrepanzen und Unklarheiten. Ganz besonders paradox sieht die
Variante aus, wonach die Sinnlichkeit von etwas affiziert wird, was zur
Sinnlichkeit in gar keinem Verhältnis, das Kausalverhältnis mit
einbegriffen, steht, nämlich von einem Ding an sich selbst. Stellen in
diesem Sinne sind in den Prolegomena und in der Kritik der praktischen
Vernunft zu finden.
Die ‚Produktions’-Interpretation Kants erlaubt es uns, diese Paradoxien
und Diskrepanzen aufzuheben. Friedrich Engels hat sich im Grunde
genommen Kants ‚Entdeckung’ angeeignet: Kein anderer als Kant habe
nämlich erläutert, wie wir Dinge an sich in Dinge für uns verwandeln.
Die von uns unabhängige Realität machen wir zu einer von uns
abhängigen, und fragen danach, ob diese Realität von uns grundsätzlich
abhängig ist oder nicht. Kann ein Sklave ‚grundsätzlich’ vom
Sklavenhalter unabhängig sein, nachdem er schon sein Sklave ist? Er
kann wohl rebellieren (Erdbeben, Orkane sind Rebellionen der Natur),
er kann aber nicht mehr kein Sklave ‚an sich selbst’ sein.
Das Hauptziel unserer Interpretation lag jedoch nicht darin, die
Paradoxien in Kants System aufzulösen. Die Interpretation bringt das
funktionell-instrumentelle Verstehensschema an den Tag, das in der
angeblich theoretischen Philosophie Kants dargelegt ist. Es handelt sich
nicht um eine Beschreibung des theoretischen Verstehens, sondern um
Tätigkeitsschemata, die als solche zunächst zur Tathandlung und
Wirkungsgeschichte des absoluten Geistes, dann aber zur Theorie der
absoluten, d. h. der revolutionären Praxis umgedeutet wurden.
Die Kritik der reinen Vernunft eröffnet den Weg für die Philosophie als
eine Wirklichkeitskritik, und zwar nicht so sehr als eine Kritik, sondern
vielmehr als ein Entwurf der neuen Wirklichkeit sowie als die
Entwicklung eines Modells ihrer Verwirklichung. Im Rahmen dieses
Modells spielt auch der Begriff ‚Ding an sich’ eine besondere negative
Rolle. Das Ding an sich ist ein Grenzbegriff, der uns von aller
Verantwortung für das Dasein der Dinge selbst, u. a. auch ‚der
Menschen selbst’, befreit. Innerhalb des Tätigkeitsparadigma wollen
wir mit den Dingen selbst nicht zu tun haben. Es reicht schon aus, wenn
diese die Funktion des Reizes für unser Erkenntnisvermögen erfüllen.
Von ihnen etwas darüber hinaus zu wissen, wäre überflüssig. Uns reicht
es völlig aus, wenn wir uns vor dem Absurden durch die Annahme
schützen können, daß doch etwas hinter der Erscheinung da ist.
Die kritische Analyse und die dargelegte Interpretation der Philosophie
Kants sind wohl am allerwenigsten darauf gerichtet, ihre Bedeutung in
der Geschichte des Denkens und in der modernen Welt herabzusetzen.
Kants Gedankenkonstruktionen haben sowohl die Philosophie als auch
die Sozialtheorie der Folgezeit stark beeinflußt und in vielem die
moderne und postmoderne Welt mit ihren deformierten und schnell
deformierenden
Organisations-,
Produktions-
und
Interpretations¬strukturen mitbestimmt.
Die Kritik der reinen Vernunft eröffnet auch ein Zeitalter ‚nostalgischer’
Interpretationen – zurück zu Kant selbst, zu Hegel, zu den
Vorsokratikern, zu Platon, zu Aristoteles, dann zu Marx, zu Nietzsche
usw. usw. Aus diesen Interpretationen sind nicht so sehr analytische
Forschungsprojekte als vielmehr Neugründungen von philosophischen
Schulen und Strömungen entstanden, die das soziale und politische
Leben stark beeinflußt haben, und zwar hinsichtlich des Tätigskeits- und
Interpretationsprimats. Es geht heutzutage schon nicht mehr um eine
Interpretation der Ereignisse oder Fakten, sondern um ein Erwachsen
der Ereignisse aus einer Deutung.
Worin
liegt
jedoch
der
innere
Grund
einer
so
flexiblen
Interpretierbarkeit der Kants Philosophie? Vielleicht darin, daß sie
selbst eine große Interpretation ist, d. h. die Verarbeitung und
Umstrukturierung
der
Ergebnisse
bzw.
der
Prämissen
wissenschaftlicher Erkenntnis und der früheren philosophischen
Systeme. Das bedeutet keineswegs, daß Kant kein Entdecker gewesen
ist, nur fragt es sich, ob er ein Neuerer in der erfahrungsanalytischen
Bewußtseinsphilosophie und für die weitere Entwicklung einer solchen
Philosophie gewesen ist, oder ob seine Vernunftkritik einerseits zur
positivistischen Vernachlässigung aller Metaphysik, andererseits aber
zum Hegelschen Ende der Philosophie, und später dann auch zu
anderen
Transplantationen
der
Philosophie
in
bestimmte
Tätigkeitsarten, den Weg gebahnt hat. Kants Interpretation des
Bewußtseins als reiner Tätigkeit, die verschiedene Deutungen erlaubt
und keiner Analyse zugänglich ist, ist die tiefste Grundlegung des
Subjektivismus der Interpretation, der im Grunde eines jedes
Subjektivismus liegt.
Der Deutungssubjektivismus hat gegenwärtig stark zugenommen. Es ist
jedoch immerhin noch möglich, etwas, was ‚für wahr gehalten werden
muß’ (Nietzsche), von dem, was wahr ist, zu unterscheiden: ‚Nützliche
Irrtümer’ kann und muß man einer Interpretation unterwerfen; die
erfahrene Wahrheit aber läßt sich nicht eindeutig oder verschieden
auslegen, sondern nur als Hierarchie des Unterscheidens und der
Unterschiedlichkeit analysieren.
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