Es ist bekannt, dass als Professor von der

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Zur Kants Anthropo-Logie
Tomas Sodeika
Technologische Universität Kaunas
Es ist wohlbekannt, dass Professor der Königsberger Universität Immanuel Kant vielmals
Vorlesungen über die Logik gehalten hat. Was da unterrichtet wurde, berichtet uns ein
Buch von Gottlob Benjamin Jäsche, einem Freund und Anhänger Kants. Jäsches Buch
erschien im Jahre 1800 unter dem Titel „Logik“. Größtenteils werden darin traditionelle
Themen der Logik, wie „Begriff“, „Urteil“, „Schluss“ u.ä. behandelt. In der Einleitung
aber finden wir eine merkwürdige Überlegung Kants über die Natur der Philosophie
selbst. Kant unterscheidet da zwei Arten der Philosophie – die Philosophie nach dem
“Schulbegriffe” und die Philosophie “nach dem Weltbegriffe“. Die erstere bestimmt Kant
als „das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus
Begriffen“. Den Wert dieser „Schulphilosophie“ sieht Kant nicht nur darin, dass sie „ein
zureichender Vorrath von Vernunfterkenntnissen“ ist, auch aber darin, dass „sie ist sogar
die einzige Wissenschaft, die im eigentlichsten Verstande einen systematischen
Zusammenhang hat und allen andern Wissenschaften systematische Einheit giebt“. Und
doch, bemerkt Kant, ist dieser Wert bloß relativ, da die „Schulphilosophie“ „strebt bloß
nach speculativem Wissen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten
Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage“. Zwar gibt sie „Regeln für den Gebrauch
der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken“, sagt aber über diese Zwecke selbst nichts
aus. Dagegen bestimmt Kant die Philosophie „nach dem Weltbegriffe“ als „die
Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den
Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke
subordinirt sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen“. Daraus aber folgt, das
sie „allein nur innern Werth hat, und allen andern Erkenntnissen erst einen Werth giebt“.
Den vorläufigen Einblick in den Inhalt dieser Wissenschaft verschafft uns ein in meisten
Lehrbüchern der Philosophie angeführtes Zitat:
“Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende
Fragen bringen:
2
1) Was kann ich wissen?
2) Was soll ich thun?
3) Was darf ich hoffen?
4) Was ist der Mensch?
Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion
und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur
Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“1
Wenn so, dann sollte aber die Antropologie „die Wissenschaft von den letzten Zwecken
der menschlichen Vernunft“ sein.
Was versteht aber Kant unter „Antropologie“? Das Wort „Antropologie“ selbst will uns
schon einen ganz bestimmten Wink geben. „Antropologie“ ist ja das „Wissen“ (logos)
vom „Menschen“ (anthropos). Wie aber sollen wir durch Erforschung des Menschen zum
Wissen kommen, das „allein nur innern Werth hat, und allen andern Erkenntnissen erst
einen Werth giebt“?
Einer ausführlicheren Erklärung wegen lasset uns ein anderes Buch aufschlagen, das zwei
Jahre früher als die von Jäsche herausgegebene „Logik“ erschienen ist, und zwar – die
Kantische „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Um zu betonen, dass es ihm um
die
„pragmatische“
„physiologischen“.
Anthropologie
Der
Untersched
geht,
besteht
unterscheidet
darin,
dass:
Kant
“Die
sie
von
der
physiologische
Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen
macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht,
oder machen kann und soll.“2
Es ist anzunehmen, dass wir da mit zwei Wissenschaften, die auf Erforschung von
verschiedenen Gegenständen gehen, zu tun haben: die erstere erforscht den „natürlichen“
Menschen, die letztere – den „freien“. Es sieht so aus, dass die „physiologische“
Anthropologie die spezielle (d.h. nicht-philosophische) Wissenschaft ist, oder mindestens
eine „Philosophie nach dem Schulbegriffe”. Wenn so, dann dürfen wir annehmen, dass
die fundamentale philosophische Disziplin, die Philosophie „nach dem Weltbegriffe“, die
„pragmatische“ Antropologie sein sollte, d.h. die Antropologie, die den Menschen als das
1
2
Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Bd. 9, S.25
Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Bd. 7, S.119
3
erforscht, „was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und
soll“. In der Wissenschaft geht es um das Wissen. Ist aber das Wissen (logos), das durch
die pragmatisch-anthropologische Erkenntnis gewonnen wird, das Wissen in demselben
Sinne, wie das Wissen der „physiologischen Anthropologie“? Und was überhaupt heisst
in diesem Fall „das Wissen“?
Die Frage nach dem Wissen kann als die Grundfrage der Philosophie überhaupt
betrachtet werden. Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung der Philosophie erwachte ja
aus dem Unterschiede zwischen dem „Wissen“ (episteme) und „Meinung“ (doxa). Dieser
Unterschied besteht darin, dass das Wissen begründet sein soll, die Meinung dagegen
bleibt unbegründet. Die Begriffe wie „Begründung“, „Grundlegung“ oder „Grund“
drücken die Paradigma von unserer erkenntnismässigen Beziehung zur Wirklichkeit aus.
Das Paradigmatische besteht aber in gewisser Metaphorik dieser Begriffe: es ist leicht zu
bemerken, dass wir in dieser Metaphorik mit einer „tektonischen“ Vorstellung zu tun
haben. Sobald es um die Begründung geht, stellen wir uns intuitiv etwas als ein Bauwerk
vor – eine zweiteilige Struktur. Der eine Teil dieser Struktur kann als Fundament
bezeichnet werden, der andere – als Überbau. Das Fundament soll dem Überbau einen
Grund verleihen, d.h. die Funktion der „Grund-legung” ausüben. Außerdem soll bemerkt
werden, dass die ganze Struktur der Begründung „objektiv“ sein soll, d.h. ohne unsere
Teilnahme funktionieren. Dieser Struktur gegenüber bin ich ein passiver Beobacher, ein
bloßer Zuschauer, der das Ganze der Begründungs-Konstruktion unbeteiligt betrachtet.
Die ganze Struktur der Begründung, heißt es, ist für mich ein Gegen-stand, also etwas,
was mir gegenüber steht, mir entgegen-steht. Und wie sollte es auch anders sein – die
Distanz des Entgegen-stehens ist die Bedingung der Möglichkeit der Beobachtung
überhaupt. Es ist leicht zu bemerken, dass wir da mit allgemeiner „visuellen“ Metaphorik
zu tun haben, die für alle indogermanische Sprachen gemein ist, wenn es um „kognitive“
Kontexte geht. Wenn so, dann ist es nicht zu verwundern, dass die ganze vorkantische
Philosophie als Bemühung um solches „visuell“ konzipiertes gegen-ständliches Wissen
betrachtet werden kann.
Falls die “pragmatische” Anthropologie die Philosophie „nach dem Weltbegriffe“ sein
sollte, soll sie sich mit dieser Art des Erkennens und des Wissens beschäftigen?
Bedenken wir zuerst, dass Kantische Philosophie die transzendentale Philosophie ist.
4
Wenn so, dann sollte auch das „weltbegtrifflich“-philosophische Wissen transzendental
sein. „Transzendental“ aber nennt Kant „alle Erkenntnis (...), die sich nicht sowohl mit
Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a
priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“.3 Seiner Form nach ist dieser Satz eine
klassische Definition per genus proximum et differentiam specificam. Kant setzt ja den
Gattungsbegriff „Erkenntnis“ voraus und bestimmt anhand des Art-Unterschiedes
„transzendentale“ den Begriff der „transzendentalen Erkenntnis“. Diese Art ist der
Gattung „Erkenntnis“ subordiniert, deswegen soll für sie die Forderung der
Begründetheit in obengenanntem Sinne gültig sein. Doch “unsere Erkenntnisart von
Gegenständen“, die da gemeint ist, ist nichts anderes als Bedingung der Möglichkeit des
Gegenstandes als solchen. Die transzendentale Philosophie fragt ja nach dem Grund der
„Gegenständlichkeit“ überhaupt. Wenn so, dann ist es klar, dass dieser Grund selbst kein
Gegenstand sein kann. Und so ist es in der Tat. Nach der Erforschung der Bedingungen
der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt stellt Kant fest, dass für jede
Gegenständlichkeit ein Moment der Einheit der Mannigfaltigkeit konstitutiv ist und dass
dieses Moment selbst nicht als Gegenstand betrachtet werden kann. Vielmehr ist es ein
Akt der Spontanäität, die Kant als “transzendentale Apperzeption” bestimmt. In der
„Kritik der reinen Vernunft“ können wir darüber folgendes lesen: “Nämlich diese
durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen
Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das
Bewußtsein dieser Synthesis möglich. Denn das empirische Bewußtsein, welches
verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die
Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede
Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und
mir der Synthesis derselben bewußt bin. Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges
gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich
mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die
analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner
synthetischen möglich.“4 Aufgrund dieses Zitats können wir vermuten, dass Kant von
3
4
Kant I. Kritik der reinen Vernunft. Reclam Vlg. 1979, S.83
Ibid., S.175
5
gewisser ursprünglicher und universaler Erfahrung des Philosophierens ausgeht und zwar
– von der Erfahrung, dass die Wirklichkeit an sich etwa eine chaotische
„Mannigfaltigkeit“ ist. Das ist ein Chaos, der von keinem ordnenden Prinzip
durchdrungen ist. Anscheinend ist es dieselbe Erfahrung von ursprünglichem Chaos als
horror metaphysicus, die schon die ersten Philosophen bewogen hat, die Frage nach der
Begründung zu stellen, d.h. zu fragen: warum ist überhaut Etwas und nicht vielmehr
Nichts? In gewissem Sinne kann ja die ganze vorkantische Philosophie als Suche nach
dem Sinn des Seienden, als nach irgendeinem tektonischen Prinzip, betrachtet werden,
d.h. als Suche nach gewisser „Vertikale“, die die Frage nach der Begründung und dem
Grund ermöglichen würde.
Die transzendentale Philosophie Kants kann dagegen als ein Vorschlag der alternativen
Strategie der Bekämpfung des Chaos der „Mannigfaltigkeit“ betrachtet werden. Zuerst
wollen wir bedenken, dass die „transzendentale Apperzeption“ keine gegenständliche
Gegebenheit ist, die vom „blossen Zuschauer“ beobachtet werden kann. Sie ist vielmehr
ein Akt, den der transzendentale Subjekt selbst vollziehen soll. Wenn so, dann kann dieser
als „Grund“ konzipierter Akt nicht als Grund in üblicher Weise betrachtet werden, d.h.
nicht als Gegen-stand, nicht als etwas, wem gegenüber ich die Stellung eines
unbeteiligten Zuschauers annehmen kann. Strenggenommen kann dieser „Grund“
überhaupt nicht betrachtet werden, weil „betrachten“wird gewöhnlich verstanden als
synomym mit „zuschauen“. Denken wir uns als einen „Betrachter“ in diesem Sinne, so
verwandeln wir uns selbst in einen außerstehenden Zuschauer dank der in diesem Wort
implizierten visuellen Metaphorik.
Es ist klar, dass transzendentale Erkenntnis die Erkenntnis der Reflexion ist (der Genitiv
sollte da zugleich als genitivus obiectivus und genitivus subiectivus verstanden werden,
weil die Reflexion eine Weise des Selbst-erkennens ist, wo der Erkennende und das
Erkannte zusammenfallen). In der „Kritik der reinen Vernunft“ bemerkt aber Kant
folgendes dazu: “Die Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu
tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüts,
in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig
zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können. Sie ist das Bewußtsein des
Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen,
6
durch welches allein ihr Verhältnis untereinander richtig bestimmt werden kann.“5 Es
scheint kein Zufall zu sein, dass Kant da sagt: “Zustand des Gemüts“ und “Bewusstsein”
und nicht z.B.: „Wissen“ oder „Erkenntnis“. Höchstwahrscheinlich gebraucht diese
Redewendung Kant, um der Gefahr der „Vergegenständlichung“ zu entgehen, die durch
die im letzteren Begriffe implizierte Metaphorik der „Begründung“ bzw. der
„Gegenständlichkeit“ entstehen kann. Die transzendentale Reflexion ist ja keine
Erkenntnis im üblichen Sinne, weil das reflektierende transzendentale Bewusstsein sich
selbst nicht in den Gegenstand verwandelt. In der „Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht“ werden zwei Arten der Reflexion unterschieden: „Wenn wir uns die innere
Handlung (Spontaneität), wodurch ein Begriff (ein Gedanke) möglich wird, die
Reflexion, die Empfänglichkeit (Receptivität), wodurch eine Wahrnehmung (perceptio),
d.i. empirische Anschauung, möglich wird, die Apprehension, beide Acte aber mit
Bewußtsein vorstellen, so kann das Bewußtsein seiner selbst (apperceptio) in das der
Reflexion und das der Apprehension eingetheilt werden. Das erstere ist ein Bewußtsein
des Verstandes, das zweite der innere Sinn; jenes die reine, dieses die empirische
Apperception, da dann jene fälschlich der innere Sinn genannt wird. (...) Hier scheint uns
nun das Ich doppelt zu sein (welches widersprechend wäre): 1) das Ich als Subject des
Denkens (in der Logik), welches die reine Apperception bedeutet (das blos reflectirende
Ich), und von welchem gar nichts weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache
Vorstellung ist; 2) das Ich als das Object der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes,
was eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen enthält, die eine innere Erfahrung möglich
machen.“6
Man
kann
sagen,
die
empirische
Apperzeption
ist
eine
“vergegenständlichende” Reflexion, d.h. die Reflexion, die sich selbst zum Gegenstand
macht und sich als den Gegenstand betrachtet. Empirisch reflektierender Subjekt
beobachtet sich selbst „von außen“ und ist deswegen „in diesem Spiel seiner
Vorstellungen bloßer Zuschauer“7. Mit der reinen oder transzendentalen Apperzeption
dagegen haben wir dann zu tun, wenn auf sich selbst reflektierendes Bewusstsein keinen
Gegenstand aus sich selbst macht. Solche Haltung kann als einfaches Dabeisein
bezeichnet werden: der reflektierende Subjekt ist kein „Zuschauer“, vielmehr aber ein
5
6
Ibid., S.354
Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Bd. 7, S.134
7
Teilnehmer, der bei der „inneren Handlung“ dabei ist. Dieses Dabeisein scheint zu sein
Theorie im ursprünglichem Sinne des griechischen Wortes θεωρια, wie dies von HansGeorg Gadamer erläutert wurde. So Gadamer: „Dabeisein ist mehr als bloße
Mitanwesenheit mit etwas anderem, das zugleich da ist. Dabeisein heißt Teilhabe. Wer
bei etwas dabei war, der weiß im ganzen Bescheid, wie es eigentlich war. (...) Man darf
an den Begriff der sakralen Kommunion erinnern, wie sie dem ursprünglichen
griechischen Begriff der Theoria zugrunde liegt. Theoros heißt bekanntlich der
Teilnehmer an einer Festgesandschaft. Teilnehmer an einer Festgesandschaft haben keine
andere Qualifikation und Funktion als dabei zu sein.“8 Dieses Dabeisein des Theoros
beschreibend bemerkt Gadamer folgendes: „Theoria ist wirkliche Teilnahme, kein Tun,
sondern ein Erleiden (Pathos), nämlich das hingerissene Eingenommensein von
Anblick.“9 Und genau so ist es ja mit dem Bewusstsein von den jemeinigen “Ich denke”.
Im Unterschied zur empirischen Reflexion, die von uns eine gewisse Bemühung
erfordert, welche mit einer Menge von Erkenntnisen über uns selbst belohnt, ist die
transzendentale Reflexion das reine Bewusstsein des „Ich denke“, das einfache Dabeisein
beim Vollzug des Denkens.
Daraus
folgt,
dass
die
von
Kant
erwähnte
Abwesenheit
von
irgendeinem
gegenständlichen Inhalt, die in Form der begründeten Sätze ausgedrückt sein kann, kein
Mangel ist. Vielmehr umgekehrt. Verzichten wir auf “tektonische” Art der Begründung,
so brauchen wir, um Chaos der Mannigfaltigkeit zu überwinden, ein ganz einfaches
Zentrum, das diese Mannigfaltigkeit rund um sich sammeln und damit den Charakter der
geordneten Ganzheit jenem Chaos verleihen würde. Die Philosophie „nach dem
Weltbegriffe“ kann als die Art der Kultivierung von diesem Zentrum verstanden werden
sein. Wenn so, dann sollte aber auch unsere Beziehung zur Philosophie überhaupt ganz
anders sein. So hat Kant selbst bemerkt: “[d]er philosophiren lernen will, darf dagegen
alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und
als Objecte der Übung seines philosophischen Talents. (...) Wir werden also zum Behuf
der Übung im Selbstdenken oder Philosophiren mehr auf die Methode unsers
Vernunftgebrauchs zu sehen haben als auf die Sätze selbst, zu denen wir durch dieselbe
7
8
Ibid, S.119
Gadamer H.-G. Wahrheit und Methode. Tübingen, 1960, S.118
8
gekommen sind.“10 Solches „zu sehen haben“ aber setzt genau die nichtvergegenständlichende, transzendentale Reflexion voraus, die ein reiner Vollzug des in
dem jemeinigen Existieren vollgezogenen „Ich denke“ ist.
Jetzt haben wir mehr Klarheit über die Eigentümlichkeit der Kantischen “Anthropologie
in pragmatischer Hinsicht” als Philosophie „nach dem Weltbegriffe“ gewonnen. Um
diese Philosophie möglich zu machen, soll das Wissen eine besondere Form gewinnen –
eine Form, die verschieden ist vom üblichen logos der „tektonischen“ Begründung. Es ist
anzunehmen, dass es da um den logos im ursprünglicherem Sinne geht, der von Martin
Heidegger in seiner Bemerkung gemeint ist: “Das Wort Ó ΛÒγος nennt Jenes, das alles
Anwesende ins Anwesen versammelt und darin vorliegen lässt“11
Also kann man sagen: der logos der Anthropologie als Philosophie „nach dem
Weltbegriffe“ ist kein logos der Schulphilosophie, die gewisse Menge von Erkenntnissen
nach der „tektonischen“ Paradigma produziert und explizite Antwort auf die Frage „was
ist der Mensch?“ gibt; vielmehr aber ist dieser logos ein gewisser „Zustand des Gemüts“
– verweilendes Dabeisein beim Gedanken „Ich denke“, als Zentrum, der um sich die
zersplitterte Mannigfaltigkeit des ursprünglichen Chaos sammelt und zusammenhält. Das
Wissen kann da keine bloße Information sein. Vielmehr sollte das Wissen als Formation,
als Bildung im Humboldtschen Sinne sein. Das ist der logos der Weisheit. Nach Kant,
„[d]er praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der
eigentliche Philosoph.“12 Er ist der “Kenner und Lehrer der Weisheit“13, der über die
“Cultur des Talents und der Geschicklichkeit, um sie zu allerlei Zwecken zu
gebrauchen”14 und die “Fertigkeit im Gebrauch aller Mittel zu beliebigen Zwecken“15
verfügt.
So ist es durchaus klar, dass “ohne Kenntnisse wird man nie ein Philosoph werden, aber
nie werden auch Kenntnisse allein den Philosophen ausmachen, wofern nicht eine
zweckmäßige Verbindung aller Erkenntnisse und Geschicklichkeiten zur Einheit
9
Ibid.
Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Bd. 9, S.26
11
Heidegger M. Vorträge und Aufsätze. Pfullingen, Neske 1954, S.227
12
Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Bd. 9, S.24
13
Ibid, S.26
14
Ibid, S.25
15
Ibid
10
9
hinzukommt und eine Einsicht in die Übereinstimmung derselben mit den höchsten
Zwecken der menschlichen Vernunft“.16 Das aber „läßt sich (...) nur durch Übung und
selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen“17. Die Beschäfftigung mit der
„Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, aller Wahrscheinlichkeit nach, könnte auch
als solche Übung betrachtet werden. Das Ziel dieser Übungen ist Erreichen der Weisheit,
die schon die antiken Philosophen erstrebt haben. Ein ausgezeichneter Kenner der antiken
Philosopie Pierre Hadot hat dazu folgendes bemerkt: “La sagesse est considérée dans
toute l’Antiquité comme un mode d’être, comme un état dans lequel l’homme est de
manière radicalement différente des autres hommes, dans lequel il est une sorte de surhome. Si la philosophie est l’activité par laquelle le philosophe s’exerce à la sagesse, cet
exercice consistera nécessairement non pas seulement à parler et à discourir d’une certain
manière, mais à être, agir et voir le monde d’une certain manière.”18 Die Untersuchungen
Hadot’s, der sich hauptsächlich mit der antiken Philosophie beschäftigt, sind auch von
Interesse hinsichtlich der Kantischen Anthropologie. Soll Anthropologie „Philosophie in
weltbürgerlicher Bedeutung“ werden, dann muss sie die Philosophie als „spirituelle
Exerzitien“ sein – der eigentümlichen Praxis, dessen Ziel ist nicht das Produzieren des
Wissens in Form der System der Sätze, sondern “une modification et une transformation
dans le sujet qui les pratiquait“19. Hadot hat gezeigt: in der antiken Philosophie geht es
um eine bestimmte Lebensweise; der philosophische Diskurs, dessen Ziel das Wissen im
Sinne der Kantischen „Schulphilosophie“ ist, ist nur Hilfsmittel, dessen Wert davon
abhängt, inwiefern dieses Wissen nützlich ist für die bestimmte ursprüngliche
„Lebenswahl“ (choix de vie). Der Beweggrund dieser Wahl ist das Streben nach der
Weisheit. Genau als ein solches Hilfsmittel sollte auch die ausführliche systematische
Beschreibung von verschiedenen Aspekten des Menschen betrachtet werden, die in der
Kantischen „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ zu finden ist – Sinnlichkeit,
Einbildungskraft, Gedächtnis, „die Schwächen und Krankheiten der Seele“, Affekte,
Leidenschaften, Charakter des Geschlechts, des Volkes, der Rasse, der Gattung usw.
Alles das ist offensichtlich eine Antwort auf die Frage „was ist der Mensch?“. Und doch 16
Ibid.
Ibid.
18
Hadot P. Qu’est-ce que la philosophie antique? Gallimard 1995, p.334
19
Ibid., p.22
17
10
wie sollte das ganze in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ gesammelte und
sorgfältig systematisierte Wissensmaterial, teilweise schon hoffnungslos antiquiert, als
Antwort auf die Grundfrage der Philosophie betrachtet werden? Der Wert der Kantischen
Anthropologie, so scheint es, hängt von unserem Vermögen in dem Geschriebenen sich
selbst als den Menschen zu erkennen, als „was er als freihandelndes Wesen aus sich
selber macht, oder machen kann und soll“. Diese Selbsterkenntnis kann aber nur als logos
der „Lebenswahl“ vollzogen werden sein.
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