§6 Die komplexen Zahlen 1. Grundsätzliches. Auf der Menge R2 = {(x, y) : x, y ∈ R} sind durch (x, y) + (a, b) = (x + a, y + b) (x, y) · (a, b) = (ax − by, ay + bx) Verknüpfungen gegeben, die R2 zu einem Körper C machen, die Rechengesetze lassen sich leicht nachprüfen. Bezüglich der Multiplikation ist invers zu (x, y) 6= (0, 0) x −y , , x2 + y 2 x2 + y 2 und es gilt (0, 1) · (0, 1) = (0, 1)2 = (−1, 0) Wir stellen uns R durch x = (x, 0) als Teilmenge von C vor (Rechengesetze in R und C sind dann dieselben!), setzen i = (0, 1) und können dann (x, y) = x + iy schreiben. Die komplexen Zahlen C können in der Ebene veranschaulicht werden (Gauss’sche Zahlenebene). Die horizontale Koordinatenachse (x, 0) heisst reelle Achse, die vertikale imaginäre Achse, und i imaginäre Einheit. Elemente der reellen Achse heissen auch rein reell, Elemente der imaginären Achse rein imaginär. Ist z = x + iy mit x, y ∈ R, dann heißt x = Re z Realteil von z und y = Im z Imaginärteil von z, wir nennen p |z| := |x + iy| = x2 + y 2 den Betrag von z und z̄ := x − iy die komplexe Konjugation. Es gilt dann z z̄ = (x + iy)(x − iy) = x2 + y 2 = |z|2 . Ferner zeigt direkte Rechnung z + w = z̄ + w̄; zw = z̄ · w̄. Mit diesen Regeln ergibt sich |zw|2 = (zw)(zw) = (z z̄)(ww̄) = |z|2 |w|2 , also |zw| = |z||w| Aus den Definitionen folgen noch die nützlichen Formeln z − z̄ = 2iy. z + z̄ = 2x, Lemma 1 Seien z, w ∈ C, z = x + iy mit x, y ∈ R Dann gelten |x| 6 |z|, |y| 6 |z| und die Dreiecksungleichung |z + w| 6 |z| + |w| 1 Denn: wegen y 2 ≥ 0 ist |x| 6 |z + w|2 = p x2 + y 2 offensichtlich; genauso für |y|. Dann folgt aus (z + w)(z̄ + w̄) = z z̄ + ww̄ + z w̄ + z̄w = |z|2 + |w|2 + (z w̄) + (z w̄) = |z|2 + |w|2 + 2 Re z w̄ 6 |z|2 + |w|2 + 2|z||w̄| = (|z| + |w|)2 die Dreiecksungleichung. Die Rechenoperationen auf C lassen sich geometrisch interpretieren. Für die Addition von z und w betrachte man zunächst die Strecken von 0 nach z und von 0 nach w, trage dann die Strecke von 0 nach z parallel verschoben bei w beginnend ab. Der neue Endpunkt ist z + w. Die komplexe Multiplikation hat ebenfalls eine solche einfache Interpretation. Sei z = x+iy mit |z| = 1. Dann gilt 1 = x2 + y 2 . Wenn wir vorwegnehmen, dass die bei uns durch Reihen erklärten Funktionen sin, cos mit den geometrisch durch Streckenverhältnisse am Kreis erklärten Funktionen übereinstimmen, dann gibt es ξ ∈ R mit cos ξ + i sin ξ = x + iy; wir nennen ξ das Argument von z, in Zeichen ξ = arg z. Ist w = a + ib eine weitere komplexe Zahl mit |w| = 1 und cos α + i sin α = a + ib, dann zeigen die Additionstheoreme (x + iy)(a + ib) = cos α cos ξ − sin α sin ξ + i(cos α sin ξ + cos ξ sin α) = cos(α + ξ) + i sin(α + ξ) Die Argumente addieren sich also. Für allgemeine z, w 6= 0 kann nach dieser Regel zunächst das z w Produkt aus |z| , |w| berechnet werden. Dann ergibt sich: z · w hat Betrag |z||w|, Argument entsteht duch Addition der Argumente von z und w. Aus diesem Bild ergibt sich jetzt sofort, dass jede komplexe Zahl z 6= 0 eine n-te Wurzel hat, d.h. es gibt ein w ∈ C mit wn = z. Eine solche n-te Wurzel ist nicht eindeutig, denn ist ζ n = 1, dann gilt auch (wζ)n = z. Deshalb interessiert uns: Wieviele n-te Wurzeln hat +1 ? Dazu sei µn = {z ∈ C : z n = 1} So ist etwa µ4 = {±1, ±i}, und allgemeiner zeigt die geometrische Multiplikationsregel, dass µn genau aus den n Punkten auf dem Kreis |z| = 1 besteht, die ein regelmäßiges n-Eck mit 1 als einer Ecke bilden. Ist allgemeiner w ∈ C gegeben, dann gibt es genau n Lösungen von z n = w mit z ∈ C Mit z, w ∈ µn sind auch zw und 1/z in µn . Also bildet µn eine Gruppe unter Multiplikation komplexer Zahlen. Da aber diese Multiplikation dasselbe ist wie Addition der Argumente, ist diese Gruppe nur eine andere Version der uns schon bekannten Gruppe Z/nZ (mit der Addition). Grenzwerte. Die Begriffe Folge, Reihe, Konvergenz lassen sich mühelos auf komplexe Zahlen übertragen, wenn der Betrag komplexer Zahlen in den Definitionen an die Stelle des reellen Betrages tritt. Eine Folge in C ist gegeben durch zn = xn + iyn mit Folgen xn , yn ∈ R. Eine solche Folge heißt konvergent gegen z ∈ C, in Zeichen: z = lim zn , n→∞ wenn es zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N gibt mit |zn − z| < ε für alle n > n0 . Satz 1 Eine Folge komplexer Zahlen zn = xn + iyn mit xn , yn ∈ R konvergiert genau dann gegen z ∈ C, wenn die Folgen (xn ), (yn ) in R konvergieren mit lim xn = Re z und lim yn = Im z 2 Denn: |zn − z| < ε ⇒ | Re zn − Re z| < ε, also folgt aus der Konvergenz der komplexen Folge die der Realteile. Dasselbe Argument behandelt die Imaginärteile. Umgekehrt folgt aus |xn − x| < ε, |yn − y| < ε sofort |z − zn | < 2ε. n Beispiele. 1) zn = in konvergiert mit Grenzwert 0. 2) Für jede Folge zn ∈ C mit lim zn = z konvergiert auch (zn ), es gilt limzn = z̄. Für Reihen ist der Satz ebenfalls nützlich. Seien bn ∈ C, SN = b1 + b2 + b3 + . . . . + bN Ist SN eine konvergente Folge, dann schreiben wir lim SN = N →∞ ∞ X bn n=1 P P∞ P∞ und nennen diesen Grenzwert die Reihe bn . Konvergiert sogar n=1 |bn |, dann heißt n=1 bn absolut konvergent. Ist Σbn absolut konvergent, dann auch Σ Re bn , Σ Im bn Insbesondere sind Konvergenzkriterien für absolut konvergente Reihen und der Umordnungssatz auch für komplexe Reihen anwendbar. So haben wir wieder die Summenformel für die geometrische Reihe ∞ X 1 zn = 1−z n=1 für z ∈ C, |z| < 1, die sich aber auch aus der für z 6= 1 gültigen Beziehung 1 + z + . . . . + zN = 1 − z N +1 1−z ablesen lässt. Komplexe Exponentialfunktion. Durch exp: C → C exp z = ∞ X zn n! n=1 ist die komplexe Exponentialfunktion definert. Diese Reihe konvergiert für alle z ∈ C absolut, denn ∞ X |z|n = exp |z| n! n=1 konvergiert. Da wir bereits wissen, dass absolut konvergente Reihen beliebig umgeordnet werden können, bleibt der von der reellen Exponentialfunktion bekannte Beweis (§4) für die Funktionalgleichung exp(z + w) = exp(z) exp(w) für komplexe Zahlen z, w gültig. Insbesondere ist exp(z) exp(−z) = exp(0) = 1 und deshalb 1 exp z 6= 0 für alle z ∈ C, und es gilt exp(−z) = exp(z) . Da auch die Konjugation mit dem Grenzwert vertauscht, ist exp z = exp z̄, Für z = x + iy mit x, y ∈ R ist nach der Funktionalgleichung exp(x + iy) = (exp x)(exp(iy)), 3 (1) und es gilt exp(iy) = ∞ ∞ ∞ X X (iy)n (iy)2k X (iy)2k+1 = + = cos y + i · sin y. n! 2k! (2k + 1)! n=0 k=0 (2) k=0 In Verbindung mit der vorangehenden Formel zeigt das Re exp(x + iy) = exp(x) · cos(y), Im exp(x + iy) = exp(x) · sin(y) Die Additionstheoreme für die trigonometrischen Funktionen lassen sich nun sehr transparent begründen: für reelle x, y ist exp(ix + iy) = exp(ix) exp(iy) = (cos x + i sin x)(cos y + i sin x), hier berechnen wir rechts das Produkt und bilden dann den Realteil. Das liefert cos(x + y) = cos(x) cos(y) − sin(x) sin(y), und der Imaginärteil bringt sin(x + y) = cos(x) sin(y) + sin(x) cos(y). Ebenso hat die für reelle x gültige Identität (sin x)2 + (cos x)2 = 1 einen sehr einfachen Beweis: einerseits ist | exp(ix)|2 = (cos x)2 + (sin x)2 , andererseits | exp(ix)|2 = exp(ix) exp(ix) = exp(ix − ix) = exp(0) = 1. Die Geometrie der Abbildung exp : C → C lässt sich jetzt leicht beschreiben. Wegen (1) und (2) hat exp(x + iy) in y Periode 2π. Eine zur reellen Achse parallele Gerade x + iα mit variablem x wird auf einen in 0 startenden ”Halbstrahl” abgebildet, der mit der reellen Achse den Winkel α einschliesst. Eine zur imaginären Achse parallele Strecke r + it mit festem r > 0 und variablem t ∈ [0, 2π) wird bijektiv auf den Kreis um 0 mit Radius r abgebildet. 4