DAK FORSCHUNG Psychoreport 2015 Deutschland braucht Therapie. Herausforderungen für die Versorgung. EDITORIAL Zielgerichtete Versorgung für psychisch Kranke Immer mehr Menschen werden wegen psychischer Leiden krankgeschrieben. Noch nie haben Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen so viele Fehltage verursacht wie im vergangenen Jahr. Die hohe Zahl der Ausfalltage ist wohl auch Resultat einer präziseren und ehrlicheren Diagnostik: Während früher eher die körperlichen Manifestationen psychischer Probleme wie beispielsweise Rückenschmerzen oder Magenprobleme diagnostiziert wurden, gehen Ärzte und Patienten heute viel offener mit der eigentlichen Ursache um. Trotz allem alarmiert uns die enorme Steigerungsrate. Sie manifestiert sich in einem Versorgungsproblem: Betroffene warten zum Teil extrem lange auf Unterstützung. Landen sie in einer Therapie, ist diese dann mitunter nicht zielgerichtet – oft fehlt im komplexen System der Angebote die Orientierung. Mit dem Psychoreport der DAK-Gesundheit wollen wir Wege zu einer besseren Versorgung aufzeigen. Wir wollen zeigen, welche Probleme, welchen Bedarf es gibt und wie Patienten genau die Therapie bekommen, die sie auch brauchen. Außerdem kommt dem Thema E-Health bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen eine besondere Bedeutung zu. Welche Potenziale technische Lösungen bieten, haben wir ebenfalls in diesem Report eruiert. Letztendlich möchten wir für einen sensiblen Umgang mit psychischen Erkrankungen plädieren – seitens der Betroffenen, ihres persönlichen Umfelds, der Arbeitgeber und der Ärzteschaft. Denn auch Aufmerksamkeit und gegenseitige Achtsamkeit bilden eine gute Basis für die Prävention psychischer Leiden. Ihr Herbert Rebscher Vorsitzender des Vorstandes der DAK-Gesundheit 02 Bild: Courtney Keating/iStockphoto.com INHALT Kapitel 1 Kapitel 4 04 Wenn die Psyche streikt Die Bedeutung psychischer Erkrankungen für die Arbeitswelt 40 Versorgung verbessern Wartezeiten verkürzen, zielgerichtet behandeln – so kann die Versorgung verbessert werden 05 Wer ist betroffen? Auswertung der DAK-Statistik nach Geschlecht, Alter und Bezug zur Prävalenz in der Bevölkerung 08 Diagnosen im Detail Analyse der häufigsten Diagnosen mit Fokus auf Anpassungsstörungen und Angststörungen 44 Interview mit Dr. Jan Helfrich „Wir brauchen mehr Flexibilität“ Kapitel 5 46 Psychopharmaka – Fluch oder Segen Gastbeitrag von Prof. Dr. Gerd Glaeske 19 Branchen im Blick Unterschiede zwischen den Berufsgruppen 48 Glossar: Die wichtigsten Einzeldiagnosen 22 Interview mit Dr. Hans-Peter Unger „Der Handlungs- und Behandlungsbedarf steigt“ 51 Impressum 52Experten-Steckbriefe Kapitel 2 24 Deutschlandkarte der psychischen Gesundheit Analyse der psychischen Erkrankungen in den Bundesländern 53Reportdesign 54Kontaktdaten Kapitel 3 36 Gender und psychische Gesundheit Interview mit Prof. Dr. Anne Maria Möller-Leimkühler „Hilfe zu suchen ist unmännlich“ 03 KAPITEL 1 WENN DIE PSYCHE STREIKT Wenn die Psyche streikt Psychische Erkrankungen stehen auf Platz zwei der AU-Statistik. Nur Muskel-Skelett-Erkrankungen verursachen mehr Fehltage Nicht nur für das Gesundheitssystem, auch für Arbeitgeber und Gesellschaft bedeuten psychische Erkrankungen eine Herausforderung 4 Depressionen, Angststörungen, Anpassungsstörungen – immer mehr Menschen in Deutschland leiden an psychischen Erkrankungen. Das hat gravierende Folgen für den Arbeitsmarkt, denn die Seelenleiden verursachen eine wachsende Zahl von Ausfalltagen: 2014 rangierten sie erstmals auf Platz zwei der Fehltage-Statistik der DAK-Gesundheit. Nur mit Rückenschmerzen oder anderen Muskel-Skelett-Erkrankungen blieben die Versicherten noch häufiger der Arbeit fern. Der vorliegende Psychoreport fasst die wichtigsten Daten und Fakten zur Anzahl der Betroffenen, zu den häufigsten Diagnosen und dem unterschiedlich starken Auftreten von Seelenleiden in den einzelnen Bundesländern (Kapitel 2) zusammen. Dafür hat das Berliner IGES Institut die DAK-Statistiken der Jahre 2000 bis 2014 eingehend analysiert. Außerdem werden Wege zur Verbesserung der Versorgung aufgezeigt und exemplarische, besonders innovative Angebote vorgestellt (Kapitel 4). „Psychische Krisen sind keine Befindlichkeitsstörungen, sie können sich zu ernstzunehmenden Krankheiten entwickeln“, sagt Dr. Hans-Peter Unger, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit, Asklepios Klinik Hamburg-Harburg, der die DAK-Auswertung fachlich begleitet hat. „Sie stellen nicht nur das Gesundheitssystem, sondern die ganze Gesellschaft vor eine große Herausforderung. Vor allem Unternehmen müssen sich auf diese Problematik einlassen und mit gezielter Prävention gegensteuern.“ Dass der Leidensdruck der Betroffenen hoch ist, belegt auch die „Burden of Disease-Studie“ der WHO. Im Vergleich der Volkskrankheiten in den Industrienationen verursachen Depressionen die meisten mit Beeinträchtigungen gelebten Lebensjahre – noch vor Demenz oder Diabetes. Der Grund: Psychische Erkrankungen sind häufig, sie dauern vergleichsweise lange an und die Lebensqualität ist stark beeinträchtigt. Laut WHO begehen eine Million Menschen pro Jahr Suizid. Bild: Thinkstock.de/iStock/magurova, rufus young Die Bedeutung psychischer Erkrankungen in Deutschland wächst. Immer häufiger sind sie der Grund für Ausfalltage im Job KAPITEL 1 WER IST BETROFFEN? Fehltage verdreifacht Diagnosen wie Depressionen, Angststörungen und andere psychische Leiden verursachten im vergangenen Jahr knapp 17 Prozent aller Fehltage. Auf 100 DAK-Versicherte entfielen 237 Ausfalltage. Der Anstieg ist beispiellos, bei keiner anderen Krankheitsart gibt es eine vergleichbare Entwicklung: Seit 1997 hat sich die Anzahl der durch psychische Erkrankungen verursachten Fehltage verdreifacht (209 Prozent). Betroffenenquote bei Frauen doppelt so hoch 2014 betrug die Betroffenenquote bei den psychischen Erkrankungen in Deutschland 4,9 Prozent. Das bedeutet, dass jeder 20. mindestens einmal mit einem psychischen Leiden krankgeschrieben war. Frauen waren mit 6,5 Prozent fast doppelt so häufig betroffen wie Männer (3,6 Prozent). Langwierig waren die Fälle bei beiden Geschlechtern. Im Schnitt dauerte eine Krankschreibung 35,1 Tage. Sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern gibt es einen deutlichen Anstieg bei den Fehltagen durch psychische Erkrankungen. Während im Jahr 1997 die Zahl der Ausfalltage pro hundert weibliche DAK-Versicherte 94 betrug, waren es 2014 bereit s 303 Tage. Bei den Männern waren es 1997 lediglich 62 Fehltage pro 100 Versicherte, bis 2014 ist dieser Wert auf 181 Tage angestiegen. Trotz des unterschiedlichen Niveaus verläuft die Entwicklung bei beiden Geschlechtern also nahezu synchron. i Bundesweit und kassenübergreifend haben das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im Jahr 2012 rund 60 Millionen Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen registriert. Sowohl bei Frauen als auch bei Männern nimmt die Zahl der Fehltage drastisch zu 300 250 200 Frauen: Fehltage pro 100 DAK-Versicherte 150 100 50 62 0 94 181 303 19972014 Männer: Fehltage pro 100 DAK-Versicherte 5 KAPITEL 1 WER IST BETROFFEN? Fehltage je 100 Versicherte aufgrund psychischer Erkrankungen nach Alter und Geschlecht 2014 500 450 400 350 300 Männer Frauen 250 200 150 100 50 0 57 115 80 172 104 183 133 239 160 296 192 319 208 342 237 372 262 422 293 435 15 – 19 20 – 24 25 – 29 30 – 34 35 – 39 45 – 49 50 – 54 55 – 59 40 – 44 60+ Mit dem Alter steigt die Anzahl der Fehltage Je älter die Berufstätigen, desto höher die Zahl der Fehltage mit Seelenleiden: Auf 100 über 60-jährige weibliche DAK-Versicherte entfielen 2014 435 Ausfalltage, bei den Männern waren es 293 Tage. Die jüngste Gruppe, die 15- bis 19-Jährigen, hatten 115 Tage (Frauen) beziehungsweise 57 Tage (Männer). Im Mittelfeld, bei den 35- bis 39-Jährigen, betrug die Anzahl der Ausfalltage bei den Frauen 296, bei den Männern 160. Ältere Menschen sind länger krankgeschrieben. Das bedeutet nicht, dass sie häufiger psychische Probleme haben 6 Die hohen Werte sind nicht darauf zurückzuführen, dass im Alter Menschen wesentlich häufiger psychische Probleme hätten. Sie resultieren vielmehr aus der mit dem Alter zunehmend längeren Erkrankungsdauer je Fall. So gibt es sowohl bei den 20- bis 24-jährigen Frauen als auch bei denen über 60 im Jahr 8,1 Arbeitsunfähigkeitsfälle pro 100 Versicherte. Diese 8,1 Fälle verursachen bei den jungen Frauen 172,4 Fehltage, bei älteren hingegen 435 Tage. Bei den Männern ist das Bild ähnlich: Mit zunehmendem Alter verändert sich die durchschnittliche Zahl der Fälle nur geringfügig, aber die Zahl der durch sie verursachten Fehltage steigt stark an. KAPITEL 1 WER IST BETROFFEN? Anstieg der Fehltage je 100 Versicherte seit 1997: Psychische Erkrankungen im Vergleich zu den Fehltagen insgesamt 190 % Psychische Erkrankungen Alle Erkrankungsgruppen 209 % 140 % 90 % 21 % 40 % -10 % 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Auswirkung auf den Gesamtkrankenstand Auch wenn der Gesamtkrankenstand sich nicht sprunghaft nach oben entwickelt hat, wirkt sich die starke Zunahme im Bereich der psychischen Erkrankungen auch auf diesen Wert aus: Der Gesamtkrankenstand ist von 3,3 Prozent im Jahr 1997 auf 3,9 Prozent im Jahr 2014 gestiegen. Krankheitsspektrum verschiebt sich Angesichts der wachsenden Zahl der dokumentierten Diagnosen stellt sich die Frage, ob heute mehr Menschen in Deutschland an psychischen Erkrankungen leiden als vor 15 Jahren. „Während Fehltage und Frühberentungen dramatisch ansteigen, ist die tatsächliche Prävalenz psychischer Erkrankungen eher gleichbleibend“, erklärt Dr. Hans-Peter Unger, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit in der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg. „Die auffällige Steigerung ist dadurch erklärbar, dass sowohl Ärzte als auch Patienten heute offener mit psychischen Problemen umgehen. Die Krankheiten werden mittlerweile besser diagnostiziert und entsprechend kodiert. Früher wurden eher körperliche Beschwerden diagnostiziert, in denen sich psychische Erkrankungen häufig manifestieren.“ Früher wurden eher körperliche Symptome diagnostiziert, heute ist der Umgang mit psychischen Erkrankungen offener 7 KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Statt einer generellen Zunahme findet also vielmehr eine Verschiebung im Krankheitsgeschehen statt. Das belegen auch die DAK-Daten: So verursachten psychische Erkrankungen 2014 deutlich mehr Ausfalltage als in den Vorjahren. Dafür ging aber die Zahl der Fehltage bei anderen Krankheitsarten zurück. Kreislaufprobleme, Erkrankungen des Atmungssystems, Verdauungsbeschwerden und Rückenschmerzen waren seltener Grund für Krankschreibungen. „Bei vielen Menschen ist die Bereitschaft, sich mit psychischen Leiden auseinanderzusetzen, gestiegen“, folgert Unger. „Das ist positiv, weil die Behandlung zielgerichteter erfolgen kann.“ Depressionen verursachen besonders viele Fehltage Diagnosen im Detail Im Folgenden werden die fünf häufigsten Diagnosen im Bereich der psychischen Erkrankungen genauer untersucht. Im Blickpunkt stehen Depressionen (F32 und F33), Anpassungsstörungen (F43), andere neurotische Störungen (F48), somatoforme Störungen (F45) und andere Angststörungen (F41). Betrachtet wurde die Entwicklung dieser Diagnosen zwischen 2000 und 2014. Depressionen verursachen besonders viele Ausfalltage (2014: 112 Tage/100 DAK-Versicherte), mit großem Abstand folgen die Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen mit 42 AU-Tagen pro 100 Versicherte und die neurotischen Störungen mit 21 Fehltagen. Krankheit als Folge der modernen Arbeitswelt? Da der Anstieg im Bereich der psychischen Erkrankungen mit der sich stark wandelnden Arbeitswelt einhergeht, untersuchen zahlreiche Studien, welchen Einfluss der Job auf die psychische Gesundheit hat. Laut dem „Stressreport Deutschland 2012“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin werden verschiedene Faktoren von den Beschäftigten als belastend empfunden: Ein Drittel fühlt sich durch Termin- und Leistungsdruck beeinträchtigt, ein Viertel findet Arbeitsunterbrechungen besonders störend. Auch die reine Arbeitszeit kann zur Belastung werden: 30 Prozent der Beschäftigten arbeiten länger als 40 Stunden pro Woche, ein Viertel verzichtet häufig auf Pausen und fast die Hälfte der Führungskräfte hat Probleme damit, Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bringen. 8 „Fakt ist, dass chronischer Stress das Entstehen von Depressionen begünstigt“, kommentiert Dr. Hans-Peter Unger. „Deshalb ist es entscheidend, erste Alarmsignale wie Schlafstörungen, Schmerzen oder Reizbarkeit ernstzunehmen und gegenzusteuern, etwa in einem ersten Gespräch mit dem Betriebsarzt.“ Denn die Gestaltung des Arbeitsumfeldes ist entscheidend für die psychische Gesundheit– der Job hat sowohl gesundheitsfördernde als auch gesundheitsgefährdende Aspekte. Hier kommt der Führung eine wichtige Bedeutung zu: So berichten vier von zehn Beschäftigten, die keine Unterstützung seitens des Chefs erfahren, von häufig auftretenden Gesundheitsproblemen. Ist das Führungsverhalten jedoch gut, leiden nur 17 Prozent unter www.baua.de solchen Beschwerden. KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Platz vier teilen sich die anderen Angststörungen mit den somatoformen Störungen (je 16 Fehltage/100 Versicherte). Während der Anstieg bei den neurotischen Störungen eher zu vernachlässigen ist, hat sich die Zahl der Fehltage mit Depressionen, Anpassungs- und Angststörungen in den letzten 15 Jahren verdreifacht. Neben der unterschiedlich großen Anzahl an Ausfalltagen, die mit psychischen Erkrankungen begründet werden, differiert auch die Erkrankungsdauer je nach Diagnose: So sind Betroffene mit Depressionen oder Angststörungen besonders lange krankgeschrieben, während Anpassungsstörungen und somatoforme Störungen mit kürzeren Ausfallzeiten einhergehen. Depressionen Spitzenreiter unter den Seelenleiden Gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit, immer müde – das sind häufige Symptome von Depressionen. Auffällig ist der hohe Anteil von Depressionen an den Ausfalltagen. 47 Prozent der Psycho-Fehltage wurden 2014 mit dieser Diagnose begründet – somit rangieren Depressionen mit großem Abstand auf Platz eins der häufigsten Seelenleiden. Auch der Anstieg ist bemerkenswert: Während im Jahr 2000 nur 37 Fehltage pro 100 DAK-Versicherte auf die Prävalenz versus AU-Statistik Die einschlägigen Experten sind sich einig: Die starke Zunahme von psychischen Leiden als Ursache für Krankschreibungen bildet den realen Gesundheitszustand der erwerbstätigen Menschen in Deutschland nicht eins zu eins ab. Die AU-Statistik ist ein vermittelter Indikator, da sie durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird – zum Beispiel die Akzeptanz für bestimmte Diagnosen. Tatsächlich ist die Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Bundesrepublik sogar noch höher als die AU-Daten vermuten lassen: Einer Zusatzuntersuchung im Rahmen der bevölkerungsrepräsentativen „Studie zur Gesundheit Erwachsener“ (DEGS) i des Robert Koch-Instituts zufolge leiden gut ein Drittel der Frauen (36 Prozent) und 31 Prozent der Männer einmal oder mehrmals im Jahr unter einer psychischen Störung. Psychische Erkrankungen sind also weiter verbreitet als angenommen. Ebenfalls interessant: Psychische Störungen treten oft zusammen auf. Mehr als ein Drittel der Betroffenen hat also nicht nur eine, sondern mehrere Diagnosen. Die Untersuchung zeigt außerdem, dass Frauen von nahezu allen Seelenleiden häufiger betroffen sind, lediglich bei Alkoholstörungen ist die Prävalenz bei den Männern deutlich höher. Mehr zum Thema Gender und psychische Gesundheit in Kapitel 3. 9 KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen: Die zehn häufigsten Einzeldiagnosen 2014 Spezifische Persönlichkeitsstörungen 1,9 F60 Anhaltende affektive Störungen 2,3 F34 Bipolare affektive Störungen 2,4 F31 3,7 F20 Schizophrenie Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol 7,3 F10 Somatoforme Störungen 15,9 F45 Andere Angststörungen 15,9 F41 Andere neurotische Störungen Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen Depressionen 21,0 F48 42,0 F43 111,5 F32 + F33 120 100806040200 Diagnosen F32 und F33 entfielen, waren es 2014 bereits 112. Die Anzahl der Fehltage hat sich also verdreifacht (Anstieg um 201 Prozent). Ältere Menschen fehlen zwar häufiger mit Depressionen, der Anstieg ist aber bei den jungen Erwachsenen am höchsten Je älter, desto länger krank Mit dem Alter steigt die Zahl der Ausfalltage aufgrund von Depressionen. 2014 verursachten die Diagnosen bei den über 60-Jährigen 199 Fehltage pro 100 DAK-Versicherte. Zum Vergleich: Bei den 40bis 44-Jährigen waren es 120 Tage, bei den 30- bis 34-Jährigen 73 Tage und bei den 15- bis 19-Jährigen nur noch 27 Fehltage pro 100 DAK-Versicherte. Die höchsten Anstiege bei den Ausfalltagen gibt es in der Altersgruppe der 20- bis 24-jährigen Frauen mit 164 Prozent und bei den 30- bis 39-jährigen Männern mit 162 Prozent. In der Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen sind die Anstiege sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern mit 91 und 68 Prozent am geringsten. Frauen stärker betroffen Frauen werden deutlich häufiger mit Depressionen krankgeschrieben als Männer: Während bei den Frauen im Jahr 2014 bereits 144 Ausfalltage pro 100 DAK-Versicherte auf das Konto von Depressionen gingen, waren es bei den Männern nur 84 – Frauen bleiben also fast doppelt so viele Tage aufgrund einer Depression der Arbeit fern wie ihre Kollegen. 10 KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Fehltage aufgrund von Z73: Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung („Burnout“) 12 10,2 Zum Vergleich: Depressionen 2014 10 111,5 8 Burnout (Z73) 6,7 Depressionen (F32 + F33) 5,2 5,4 4,0 4 0 8,0 5,2 6 2 10,0 0,6 2004 1,2 2005 1,8 2006 2,8 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 i Die Zusatzdiagnose Burnout (Z73) wurde in den Jahren 2011 und 2012 auffallend oft vergeben. Jetzt gibt es eine Trendwende: Die Krankschreibungen gehen kontinuierlich zurück. Seit 2012 hat sich die Anzahl der Fehltage fast halbiert (minus 48 Prozent). Dem gegenüber steigt die Zahl diagnostizierter anderer psychischer Erkrankungen, wie beispielsweise der Depressionen oder Anpassungsstörungen, stärker an. Laut DAK-Statistik entfielen 2012 auf 1.000 DAK-Versicherte noch 100 Fehltage wegen Burnout (Z73). In 2013 sank die Zahl auf 67 Tage. Im Jahr 2014 waren es noch 52 Tage. Der jahrelange steile Anstieg – von sechs Ausfalltagen in 2004 auf 100 Tage in 2012 – wurde somit gestoppt. Zum Vergleich: Die Anzahl der Fehltage auf- grund von Depressionen hat sich in den vergangenen 13 Jahren um 178 Prozent erhöht, bei Anpassungsstörungen sogar mehr als verdreifacht. Die DAK-Gesundheit sieht als Grund für diese Entwicklung unter anderem einen offeneren und differenzierteren Umgang von Ärzten und Patienten sowie ein verändertes Bewusstsein und Sensibilität, wenn es um das Thema Burnout, aber auch um psychische Erkrankungen im Allgemeinen geht. Burnout wird heute eher als Risikozustand, nicht als Krankheit verstanden. Eine zunehmend differenziertere Diagnosepraxis führt mittlerweile dazu, dass häufiger eine Anpassungsstörung oder Depression benannt wird, die eigentlich hinter dem Burnout steckt. Bild: thinkstock.de/iStock/adanv1 Trendwende beim Burnout – deutlich weniger Ausfälle 11 KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Der Fokus der DAK-Analyse liegt auf Anpassungs- und Angststörungen Besonderer Fokus auf die Top zwei und vier Da Depressionen einen prominenten Platz unter den psychischen Erkrankungen haben, verwundert es nicht, dass es mittlerweile zahlreiche Studien und Analysen zu diesem Thema gibt. Weniger Beachtung in der öffentlichen Diskussion finden die Psychodiagnosen auf dem zweiten und vierten Platz. Deshalb sollen die Anpassungsstörungen (F43) und Angststörungen (F41) im Folgenden etwas ausführlicher analysiert werden. Anpassungsstörungen Bild: Thinkstock.de/iStock/Yezik Starker Anstieg, kurze Dauer Als Anpassungsstörung wird die krankhafte Reaktion auf ein belastendes Ereignis bezeichnet. Das kann der Tod des Partners sein, die Flucht aus einem Krisengebiet oder eine schwere Krebserkrankung. Aber auch Probleme am Arbeitsplatz können so belastend werden, dass eine Anpassungsstörung daraus resultiert. Kurzum, die Diagnose ist abhängig von der ganz individuell ausgeprägten Resilienz, der seelischen Widerstandsfähigkeit der Menschen. Wer unter einer Anpassungsstörung leidet, fühlt sich überfordert, ist depressiv oder ängstlich. Einige Patienten reagieren mit verändertem Verhalten – sie sind aggressiv, flüchten sich in Alkohol- oder Drogenkonsum oder werden sogar gewalttätig. Kommen Suizidgedanken hinzu, kann die Anpassungsstörung lebensbedrohlich 12 KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL werden. Die Diagnose manifestiert sich nicht selten auch in körperlichen Beschwerden wie Herz-Kreislauf-Problemen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Rückenschmerzen. Im Unterschied zu anderen psychischen Erkrankungen sind Anpassungsstörungen von eher kurzer Dauer: In der Regel halten sie nach Beendigung des belastenden Ereignisses nicht länger als sechs Monate an. Auch die Ausfallzeiten im Job sind eher kurz: Laut DAK-Statistik fehlten die Betroffenen im Jahr 2014 im Schnitt 22,3 Tage. Häufig gehen Anpassungs­störungen mit körperlichen Beschwerden einher Neben den Beeinträchtigungen, die mit der Erkrankung einhergehen, leiden die Betroffenen oft unter dem Unverständnis ihres Umfelds. Belastung und Stress werden subjektiv empfunden und entsprechend verarbeitet: Was der eine gut wegsteckt, kann den anderen völlig aus der Bahn werfen. Treffen Patienten mit Anpassungsstörungen auf wenig rücksichtsvolle oder gar abwertende Mitmenschen, verschlimmert sich ihre Situation. Sie ziehen sich zurück und begeben sich damit in eine Abwärtsspirale. Stärkster Anstieg der Fehltage Im Hinblick auf die Fehltage im Job verzeichnet keine andere Psychodiagnose eine stärkere Steigerungsrate als die Anpassungsstörungen. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Anzahl der Ausfalltage mehr als verdreifacht (206 Prozent). Jeder sechste Fehltag mit einer F- D iagnose ist eine Anpassungsstörung – damit liegt die Diagnose auf dem zweiten Platz der psychischen Erkrankungen. Im Jahr 2014 entfielen auf 100 DAK-Versicherte 42 Fehltage. Anpassungsstörungen verzeichnen die stärksten Steigerungsraten Frauen öfter krank Wie bei allen psychischen Erkrankungen wird auch die Diagnose F43 bei Frauen nahezu doppelt so oft gestellt wie bei Männern (vgl. Fallzahl 2,6 zu 1,3). Auch die Anzahl der Ausfalltage ist bei den Frauen fast doppelt so hoch: Während bei 100 weiblichen DAK-Versicherten im vergangenen Jahr 57 Fehltage auf das Konto der Anpassungsstörungen gingen, waren es bei den Männern nur 29. Besonders betroffen sind die älteren Arbeitnehmerinnen: Die 50- bis 59-jährigen Frauen verursachten fast doppelt so viele AU-Tage wie die 15- bis 24-Jährigen. Hohe Steigerungsraten bei jungen Männern Obwohl ältere Menschen häufiger mit Anpassungsstörungen krankgeschrieben werden, lohnt der Blick auf die jungen Arbeitnehmer. Auffällig ist, dass die 15- bis 19-jährigen Männer die höchste Steigerungsrate bei den Ausfalltagen aufgrund dieser Diagnose haben. Zwischen 2005 und 2014 ist die Anzahl um 247 Prozent gestiegen. Auch in der Gruppe der 25- bis 29-Jährigen verzeichnete die DAKGesundheit im vergangenen Jahr 191 Prozent mehr Fehltage wegen Anpassungsstörungen als noch vor zehn Jahren. Bei den Frauen ist der Anstieg mit Blick auf die Fehltage deutlich weniger rasant – dafür ist die Betroffenenquote insgesamt höher. Immer mehr männliche Berufseinsteiger leiden unter Anpassungsstörungen 13 Bild: Thinkstock.de/DigitalVision/Phil Ashley KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Angststörungen Angst ist ein überlebenswichtiger Mechanismus, der aus den Fugen geraten kann 14 Große Belastung, lange Fehlzeiten Angst ist eine überlebenswichtige Reaktion des Menschen: Kleine Kinder fangen an zu weinen, wenn sie Mama oder Papa im Supermarkt aus den Augen verlieren. Jungen Leuten klopft das Herz beim ersten Vorstellungsgespräch. Und Autofahrer bekommen bei einem Beinahe-Unfall einen Adrenalinstoß. Der Körper reagiert auf eine bedrohliche, ungewisse oder unkontrollierbare Situation. Er steigert Herzschlag und Blutdruck, spannt die Muskeln an, weitet die Bronchien und schüttet zusätzliche Energien in Form von Blutzucker aus – alles, um im Zweifelsfall weglaufen oder kämpfen zu können. Ein biologischer Mechanismus, der unseren Vorfahren in freier Wildbahn das Leben sicherte. Bei Patienten, die unter einer Angststörung leiden, ist dieser natürliche Mechanismus aus den Fugen geraten. Die Angst entwickelt eine Eigendynamik und plagt sie auch in ganz normalen Alltagssituationen. Den Betroffenen klopft das Herz bis zum Hals, sie fangen heftig an zu schwitzen. Oft folgen Schwindel- und Ohnmachtsgefühle. Die Angst überfällt sie ungewöhnlich stark und hält oft auch nach der auslösenden Situation noch an. Die Attacken treten immer häufiger auf und sind nicht mehr zu kontrollieren. Wenn Ängste über das normale Maß hinausgehen, unangemessen stark auftreten, häufig vorkommen und lange andauern, werden sie irgendwann zur Krankheit. Die Betroffenen entwickeln Angst vor der Angst und beginnen, angstauslösende Situationen zu vermeiden. KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Platz vier der Psychodiagnosen Krankhafte Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen – sie rangieren hinter Depressionen, Anpassungsstörungen und neurotischen Störungen auf Platz vier. Pro 100 DAK-Versicherte gingen 2014 rund 16 Tage auf das Konto der Diagnose F41. Angststörungen treiben – neben den Anpassungsstörungen und den Depressionen – in besonderem Maße die Fehlzeiten bei der Arbeit hoch. Die Zahl der Ausfalltage verursacht durch Angststörungen kletterte in den vergangenen 15 Jahren um 160 Prozent. Die Zahl der Ausfalltage aufgrund von Angststörungen ist um 160 Prozent gestiegen Hohe Steigerungsraten bei jungen Frauen Auffällig dabei sind die hohen Steigerungsraten bei jungen Frauen: Zwischen 2005 und 2014 hatten die 15- bis 19-jährigen Frauen einen Anstieg bei den Fehltagen um 138 Prozent, die 20- bis 24-Jährigen sogar um 155 Prozent. Bei den jungen Männern in derselben Altersgruppe waren es nur 4,1 Prozent. Trotz der hohen Steigerungsrate ist die absolute Zahl der Fehltage wegen Angststörungen in der jungen Altersgruppe vergleichsweise gering. Bezogen auf 100 DAK-Versicherte hatten 2014 die 20- bis 24-Jährigen nur neun Fehltage mit Diagnose F41, die über 60-Jährigen hingegen 25 Tage. i Angststörungen sind besonders verhaltenstherapeutisch sehr gut zu behandeln. Trotzdem brauchen die Patienten mitunter Jahre, bis sie die richtige Therapie bekommen. Einer der Gründe dafür ist, dass die Betroffenen zunächst an eine körperliche Erkrankung denken. Herzrasen, Engegefühl in der Brust, Atemnot – die Symptome einer Panikattacke ähneln tatsächlich denen schwerer körperlicher Erkrankungen, einem Herzinfarkt beispielsweise. Der behandelnde Arzt betreibt entsprechend Ursachenforschung und der Patient fordert auch weiterführende Untersuchungen ein, weil er wissen will, welche Krankheit er hat und wie diese zu behandeln ist. Auf diese Weise geht wertvolle Zeit verloren – der Leidensdruck der Betroffenen wächst ins Unerträgliche. Dabei gibt es inzwischen effektive Methoden, um Ängste und Phobien zu besiegen. Am erfolgreichsten ist die Verhaltenstherapie. Hierbei lernen die Patienten, angstauslösende Situationen aufzusuchen, die Angst- und Panikreaktion zu bewältigen und nicht gleich beim ersten Schweißausbruch zu flüchten. Sie erfahren, dass die auftretenden Symptome nicht lebensbedrohlich sind und nach einiger Zeit von selbst wieder verschwinden. Bei der Verhaltenstherapie liegt die Erfolgsquote zwischen 70 und 90 Prozent. Voraussetzung ist allerdings, dass sich der Patient darauf einlässt, während der Therapie die unangenehmen, angsteinflößenden Situationen zu durchleben. Bild: Thinkstock.de/iStock/Tantoon Studio Erfolgreiche Verhaltenstherapie 15 KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Bild: Thinkstock.de/iStock/Cameron Whitman Angst beeinflusst den Alltag der Betroffenen immens Angst, Panik oder Phobie? Bei Angsterkrankungen unterscheiden Ärzte und Psychologen zwischen Panikstörung, Phobien und der generalisierten Angststörung. Bei der Panikstörung treten die Attacken plötzlich, wie aus heiterem Himmel auf – ganz im Gegensatz zur generalisierten Angststörung, die durch eine ständige Sorge um alles und jeden gekennzeichnet ist. Die Phobien sind noch einmal unterteilt: Agoraphobie beschreibt die Angst, sich auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten. Dazu gehört auch die Angst, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen oder einkaufen zu gehen. Bei der sozialen Phobie fürchten die Betroffenen den Umgang mit anderen Leuten, insbesondere, von diesen abgewertet zu werden. Und wer unter einer spezifischen Phobie leidet, bekommt Panik beim Anblick von Spinnen, Zahnarzt-Bohrern, in Prüfungen oder im Flugzeug. So unterschiedlich die verschiedenen Angststörungen auch sind, eines haben sie gemeinsam: Die Betroffenen verspüren einen erheblichen Leidensdruck. Sie versuchen, die als unerträglich empfundene angstauslösende Situation zu vermeiden. Dadurch sind sie in ihren täglichen Aktivitäten derart eingeschränkt, dass die Angst schließlich das Leben bestimmt. 16 KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL Neurotische Störungen Verliert ein alter Begriff an Relevanz? Neurotische Störungen manifestieren sich häufig in starker körperlicher und geistiger Müdigkeit oder einem Gefühl von Entfremdung. Während die Zahl der Fehltage aufgrund von Depressionen oder Anpassungsstörungen nahezu kontinuierlich steigt, ist die Entwicklung bei den anderen neurotischen Störungen (F48) leicht rückläufig: Nach einem Höchststand von 25 AU-Tagen auf 100 DAKVersicherte im Jahr 2012 pendelte sich der Wert auf 21 Tage im vergangenen Jahr ein. Damit belegte die Diagnose den dritten Platz unter den Seelenleiden. Im Gegensatz zu anderen Psychodiagnosen ist die Tendenz bei den neurotischen Störungen rückfällig Auch beim Vergleich der Jahre 2000 und 2014 fällt auf, dass der Anstieg bei den Fehltagen aufgrund neurotischer Störungen verhältnismäßig gering ist. Im Jahr 2000 entfiehlen 19 Fehltage mit dieser Diagnose auf hundert Versicherte, im vergangenen Jahr waren es lediglich zwei Tage mehr. „Statt einer neurotischen Störung werden heute vermehrt Anpassungsoder Angststörungen diagnostiziert“, sagt Unger. „Der alte Begriff spielt eine immer geringere Rolle, die Diagnose entwickelt sich zu einer Restkategorie. Das erklärt auch die rückläufige Tendenz bei Fehltagen.“ Frauen vorn Mit 29 Fehltagen pro 100 DAK-Versicherte liegen die Frauen auch bei den neurotischen Störungen weit vor den Männern – auf sie entfielen nur halb soviele Tage (14 Tage/100 Versicherte). Besonders viele Ausfalltage gehen auf das Konto der 55- bis 59-jährigen Arbeitnehmerinnen (39 Tage/100 Versicherte). Bei den Männern ist die Generation 60 plus mit 26 Fehltagen besonders betroffen. Frauen sind auch von dieser Diagnose deutlich häufiger betroffen als Männer Starker Anstieg bei jungen Männern Beim Blick auf die Altersgruppen fällt eine extreme Steigerung bei den 15- bis 19-jährigen Männern auf: Der Anteil der Fehltage mit neurotischen Störungen i Kosten für die Kassen Die Leistungsausgaben für psychische Erkrankungen steigen konstant an. Allein bei der DAKGesundheit sind im vergangenen Jahr 254 Millionen Euro für vertragsärztliche psychotherapeutische Leistungen angefallen. Zum Vergleich: Noch vor fünf Jahren waren es 54 Millionen weniger. Der volkswirtschaftliche Schaden ist noch höher: Bereits 2011 hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) die direkten Krankheitskosten auf fast 16 Milliarden Euro pro Jahr beziffert – Tendenz steigend. Laut Berechnungen der BAuA könnten sie sich bis 2030 noch einmal verdoppeln. Dabei ist der Anteil der indirekten Kosten, die durch verminderte Produktivität oder vorzeitige Verrentung entstehen, noch nicht berücksichtigt. 17 Bild: Thinkstock.de/iStock/Evgeny Sergeev KAPITEL 1 DIAGNOSEN IM DETAIL ist seit 2005 um 236 Prozent gewachsen. Dennoch liegt der Höchstwert von vier AU-Tagen im Jahr 2014 deutlich unter den Fehlzeiten der älteren Arbeitnehmer. Somatoforme Störungen Somatoforme Störungen manifestieren sich in körperlichen Beschwerden Körperliche Beschwerden, seelische Ursache Als somatoforme Störungen gelten körperliche Beschwerden, für die es keine hinreichenden organischen Ursachen gibt. Dazu gehören zum Beispiel Magen-Darm-Probleme, Schmerzen oder unangenehme Hautempfindungen wie Jucken oder Brennen. Die Diagnose F45 ist im Hinblick auf die Fehltage die fünfthäufigste unter den psychischen Erkrankungen. Bei den Frauen verursachte sie im vergangenen Jahr fast doppelt so viele Fehltage (21 Tage/100 Versicherte) wie bei den Männern (12 Fehltage/100 Versicherte). Moderate Steigerung Ähnlich wie bei den neurotischen Störungen ist die Entwicklung in diesem Bereich etwas weniger dramatisch als bei den Depressionen, Angst- oder Anpassungsstörungen: 2000 gingen zehn Fehltage pro 100 Versicherte auf das Konto der somatoformen Störungen, 2014 waren es 16 Tage. Besonders bei den Männern ist der Anstieg im Bereich der somatoformen Störungen hoch Viele Fehltage bei den 50- bis 54-Jährigen Bei der Mehrheit der psychischen Erkrankungen ist die Anzahl der Fehltage bei den über 60-Jährigen besonders hoch. Einen kleinen Unterschied gibt es bei den somatoformen Störungen: Hier betrifft der höchste Fehltage-Wert (21,8 Tage/100 Versicherte) die Altersgruppe der 50- bis 54-Jährigen. Danach gibt es keine Steigerung mehr, die Generation 60 plus verzeichnet sogar etwas weniger Fehltage (21,2/100 Versicherte). Deutlicher Anstieg bei Männern Frauen haben mehr Fehltage aufgrund somatoformer Störungen als Männer, aber der Anstieg der Fehltage ist in vielen Altersgruppen bei den Männern höher: Bei den 15- bis 19-jährigen Männern stieg der Wert um 167 Prozent an und auch bei den 25- bis 29-Jährigen verdoppelte sich die Anzahl der Fehltage zwischen den Jahren 2005 und 2014. 18 KAPITEL 1 BRANCHEN IM BLICK Branchen im Blick Besonders viele Fehltage im Gesundheitswesen Krankschreibungen aufgrund von psychischen Erkrankungen sind je nach Berufsgruppe sehr unterschiedlich verbreitet. Insgesamt, also über alle Branchen hinweg, betrug das Volumen der Ausfalltage bei psychischen Erkrankungen im Jahr 2014 durchschnittlich 237 Tage pro 100 Versicherte. Einige Branchen liegen deutlich über diesem Wert. Vor allem zwei Wirtschaftsgruppen fallen auf: das Gesundheitswesen und die öffentliche Verwaltung. Sie liegen übrigens nicht nur bei den psychischen Erkrankungen an der Spitze, sondern im gesamten Krankheitsgeschehen. Im Gesundheitswesen lag die Anzahl der durch psychische Erkrankungen verursachten Ausfalltage mit 51 Prozent deutlich über dem DAK-Durchschnitt. Die Branche verzeichnete 358 Fehltage pro 100 Versicherte. Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung verzeichneten 31 Prozent mehr Ausfalltage als der Durchschnitt der Branchen. Psychische Erkrankungen verursachten hier 311 Tage pro 100 Versicherte. Gesundheitswesen und öffentliche Verwaltung liegen bei den Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen vorn Bild: Thinkstock.de/iStock/upixa Ganz anders sieht es bei den Branchen Baugewerbe mit „nur“ 148 Tagen, Rechtsberatung und andere Unternehmensdienstleistungen mit 167 Tagen sowie Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau mit 178 Tagen aus. Hier fehlten vergleichsweise wenig Beschäftigte aufgrund von psychischen Erkrankungen. Die Branche Organisation und Verbände entspricht mit 238 Fehltagen pro 100 Versicherten in etwa dem Durchschnitt der DAK-Versicherten. Auffällig ist auch die Branche Banken und Versicherungen: Sie hat zwar einen weit unterdurchschnittlichen Gesamtkrankenstand (20 Prozent Abweichung nach unten), liegt aber bei den psychischen Erkrankungen im Durchschnitt. Ähnlich verhält es sich bei der Branche Datenverarbeitung und Informationsdienstleistungen (siehe Grafiken auf den nächsten Seiten). 19 KAPITEL 1 BRANCHEN IM BLICK Fehltage pro 100 Versicherte aufgrund psychischer Erkrankungen nach Wirtschaftsgruppen 358,3 Gesundheitswesen 311,1 Öffentliche Verwaltung Verkehr, Lagerei und Kurierdienste 243,9 Organisationen und Verbände 238,4 231,4 Banken, Versicherungen 224,7 Handel Datenverarbeitung und Informationsdienstleistungen 218,4 Bildung, Kultur, Medien 212,9 Nahrungs- und Genussmittel 203,0 sonstige Dienstleistungen 202,5 Holz, Papier, Druck 201,7 Chemische Industrie 186,6 Land-, Forst-, Energie- und Abfallwirtschaft 186,0 181,5 sonstiges verarbeitendes Gewerbe 178,1 Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau Rechtsberatung u. a. Unternehmensdienstleistungen 167,0 148,3 Baugewerbe 237,3 DAK gesamt 0 20 100 200 300 400 KAPITEL 1 BRANCHEN IM BLICK Abweichungen vom DAK-Durchschnitt nach Branchen 14,7 % Gesundheitswesen 13,8 % Öffentliche Verwaltung Verkehr, Lagerei und Kurierdienste -16,0 % 0,5 % -20,3 % Banken, Versicherungen -4,2 % -5,3 % -24,5 % -10,3 % Nahrungs- und Genussmittel -14,5 % sonstige Dienstleistungen -14,7 % Holz, Papier, Druck -15,0 % Chemische Industrie -21,4 % Land-, Forst-, Energieund Abfallwirtschaft -21,6 % sonstiges verarbeitendes Gewerbe Abweichungen vom DAK-Durchschnitt bei psychischen Erkrankungen -8,0 % -23,8 % Bildung, Kultur, Medien Maschinen-, Anlagenund Fahrzeugbau Abweichungen vom DAK-Durchschnitt bei allen Erkrankungen -2,5 % Handel Datenverarbeitung und Informationsdienstleistungen 31,1 % 16,0 % 2,8 % Organisationen und Verbände 51,0 % 10,2 % -5,7 % -0,8 % 0,8 % 4,5 % -2,0 % -23,5 % -7,0 % -25,0 % Rechtsberatung u. a. -20,2 % Unternehmensdienstleistungen -29,6 % Baugewerbe -3,3 % -37,5 % -40 % -20 % 0% 20 % 40 % 21 KAPITEL 1 INTERVIEW MIT DR. HANS-PETER UNGER „Der Handlungs- und Behandlungsbedarf steigt“ Interview mit Dr. Hans-Peter Unger, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit in der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg Die tatsächliche Anzahl der Betroffenen ist nicht signifikant gestiegen Immer mehr Fehltage werden durch psychische Erkrankungen verursacht. Wie erklären Sie diesen Trend? Man muss zwischen der rasanten Entwicklung der AU-Zahlen und der tatsächlichen Prävalenz psychischer Krankheiten unterscheiden: Es gibt heute nicht mehr psychisch kranke Menschen als vor zehn oder zwanzig Jahren, sie werden aber besser diagnostiziert und weniger stigmatisiert. Fakt ist, dass der Handlungs- und Behandlungsbedarf weiter steigt. Epidemiologische Studien zeigen, dass rund 40 Prozent der Menschen in Deutschland mindestens einmal im Leben an einer behandlungsbedürftigen psychischen Krise erkranken. Viele Fälle bleiben also auch heute noch unerkannt. Warum werden psychische Erkrankungen in Ballungszentren häufiger diagnostiziert als im ländlichen Raum? Der Stresspegel ist in Großstädten höher. Untersuchungen belegen, dass Menschen, die auf dem Land aufwachsen, weniger auf Stress anspringen als Städter. Außerdem ist in der städtischen Community das Gesundheitsbewusstsein größer. Psychische Probleme werden deshalb schneller als solche benannt und diagnostiziert. Nicht zuletzt korreliert die Inanspruchnahme von Behandlungen auch mit der Dichte des Angebots – und die ist in Städten naturgemäß höher als in ländlichen Gegenden. Der Satz „ich bin gestresst” gehört für viele zum guten Ton 22 Sind psychische Erkrankungen heute salonfähiger als vor zehn Jahren? Es gibt in jedem Fall einen Shift zu Psychothemen und eine Abnahme der Stigmatisierung. Heute spielen körperliche Belastungen in der Arbeitswelt nicht mehr eine so große Rolle wie beispielsweise in der Produktionsgesellschaft der 70er-Jahre. Wir haben kaum noch Probleme mit Hygienemängeln, die Arbeitsplatzbedingungen sind deutlich besser geworden. Krankheit steht immer auch im gesellschaftlichen Kontext. Früher wurde beispielsweise die Krankheit Neurasthenie mit der Industrialisierung und der Verdichtung KAPITEL 1 INTERVIEW MIT DR. HANS-PETER UNGER des Verkehrswesens begründet, heute sind es Digitalisierung und globale Vernetzung, die wir mit unseren psychischen Beschwerden in Verbindung setzen. Für viele gehört der Satz „ich bin gestresst“ mittlerweile zum guten Ton, insofern kann man schon sagen, dass psychische Leiden ziemlich en vogue sind. Das zeigt auch der vor einigen Jahren inflationär benutzte Begriff des Burnouts … Die Burnout-Diskussion ist auch eine Folge der veränderten psychiatrischen Diagnostik. Zu Zeiten als die Diagnoseklassifikation noch nach dem Systems ICD 9 lief, wurde das jeweilige Modell des Krankheitsentstehens in die Diagnose mit einbezogen. Eine Depression konnte beispielsweise eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis sein, eine biologische Ursache haben oder Ausdruck eines biografischen Konflikts sein. Heute haben wir mit dem ICD 10 eine beschreibende Diagnostik ohne Berücksichtigung der Ursache. Deshalb wird beispielsweise im öffentlichen Diskurs ein „leerer“ Depressionsbegriff an ein gesellschaftlich wahrgenommenes Unbehagen geknüpft und so gefüllt: „Arbeit macht krank“scheint eine logische Schlussfolgerung zu sein – das erklärt auch die rege Burnout-Diskussion in den letzten Jahren. Statt Burnout zu kodieren, beschränken sich Ärzte mittler­weile auf die Hauptdiagnosen Depressionen oder Anpassungsstörungen Seit ein paar Jahren nimmt die Bedeutung des Burnouts wieder ab. Warum? Die Ärzte diagnostizieren heute eher eine Depression, eine Anpassungsstörung oder eine Angststörung und verzichten auf die Zusatzdiagnose Burnout. Auch die gesellschaftliche Rezeption verändert sich langsam: Burnout entwickelt sich von einer typischen Manager-Krankheit zu einem Problem der Niedriglohnempfänger, Alleinerziehenden oder Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Der Begriff veredelt nicht mehr die Leistungsstarken und verliert an Popularität. Sie setzen sich aktiv für betriebliche Prävention ein. Wie kann man sich vor psychischen Krankheiten schützen? Wichtig ist, dass körperliche und seelische Warnzeichen rechtzeitig erkannt werden und das innere Gleichgewicht zwischen Beanspruchung und Regeneration bewahrt bleibt. Es ist zunächst Sache des Einzelnen, hierauf zu achten. Doch auch die Unternehmen tragen Verantwortung für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Workshops mit Führungskräften sind deshalb wichtig, um an den entscheidenden Stellen zu sensibilisieren. Im besten Fall steuert der Chef aktiv gegen, bevor der Mitarbeiter ernsthaft krank wird. Vor allem, wenn Change-Prozesse anstehen, rücken die Emotionen in den Vordergrund. Die für das Anpacken der Veränderung notwendige Motivation kann schnell in negativen Gefühlen von Angst, Wut und Resignation steckenbleiben. Daran scheitern entscheidende Veränderungsprozesse in Unternehmen. 23 DAK-Gesundheit/iStock KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT Deutschlandkarte der psychischen Gesundheit Von wegen deutsche Einheit: Bei der Analyse der psychischen Erkrankungen in den einzelnen Bundesländern fallen deutliche Unterschiede auf Ob Osten oder Westen, Stadtstaat oder Flächenland, Norden oder Süden: Bei der Analyse der Arbeitsunfähigkeit (AU) aufgrund psychischer Erkrankungen fallen starke Schwankungen im Bundesgebiet auf. So zählen Baden-Württemberg und Bayern die wenigsten AU-Tage mit diesen Diagnosen. Berufstätige im Saarland hingegen fehlen besonders lange wegen seelischer Leiden im Job. Menschen in Westdeutschland sind häufiger mit F-Diagnosen krankgeschrieben 24 Auch beim Ost-West-Vergleich zeigen sich deutliche Unterschiede. Der Anteil der psychischen Erkrankungen am Gesamtkrankenstand liegt in den westlichen Bundesländern im Jahr 2014 mit 17 Prozent über dem Wert der östlichen Bundesländer. Dort betrug der Anteil nur 14 Prozent. Jedoch: Die östlichen Bundesländer holen dramatisch auf. Außerdem werden Beschäftigte in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen auffallend oft mit der Diagnose somatoforme Störungen (F45) krankgeschrieben. KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT Fehltage je 100 Versicherte aufgrund psychischer Erkrankungen nach Bundesländern (2014) 273,5 258,0 288,7 246,9 292,0 234,5 256,8 255,8 233,3 259,2 234,5 236,7 256,8 305,7 192,5 197,3 < 200 < 250 < 300 Gesamt: 237,3 Fehltage 1.Saarland 305,7 2.Berlin 292,0 3 Hamburg 288,7 4Schleswig-Holstein 273,5 5Brandenburg 259,2 6 Mecklenburg-Vorpommern 258,0 7 Sachsen-Anhalt 256,8 8.Rheinland-Pfalz 256,8 9.Nordrhein-Westfalen 255,8 10. Niedersachsen 234,5 11. Bremen 246,9 12. Hessen 236,7 13. Sachsen 234,5 14. Thüringen 233,3 15. Baden-Württemberg 197,3 16. Bayern 192,5 25 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT In den Stadtstaaten leiden viele Menschen an Depressionen Auch bei den einzelnen Diagnosen ergibt sich kein einheitliches Bild: In den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg leiden vergleichsweise viele Menschen an einer Depression. Neurotische Störungen werden vor allem in Hamburg und Berlin diagnostiziert. Bremen hingegen liegt hier auf dem letzten Platz. Das größte Flächenland Nordrhein-Westfalen bewegt sich bei den psychischen Erkrankungen meist im Mittelfeld. Lediglich bei den Depressionen liegt NRW im Bundesvergleich auf Platz drei. Anteil der psychischen Erkrankungen am Krankenstand in den Bundesländern (2014) 22,3 % 19,2 % 18,8 % 18,3 % 18,3 % 17,1 % 17 % 16,6 % 16,5 % 15,7 % 15,5 % 15 % 14,7 % 14,5 % 14,1 % 13,4 % 19,2 17,1 14,7 22,3 18,3 16,5 14,1 18,3 15 15,7 13,4 17 18,3 15,5 16,6 26 < 15 % < 20 % < 25 % 14,5 Bild: thinkstock.de/iStock/dikobraziy/Hemera/Adrian Sawvel 1. Hamburg 2.Schleswig-Holstein 3.Saarland 4.Berlin 5.Nordrhein-Westfalen 6.Bremen 7.Rheinland-Pfalz 8.Baden-Württemberg 9.Niedersachsen 10. Hessen 11. Bayern 12. Sachsen 13. Mecklenburg-Vorpommern 14. Brandenburg 15. Sachsen-Anhalt 16. Thüringen KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT Prozentualer Anstieg der Fehltage aufgrund von psychischen Erkrankungen (2000 bis 2014) 131 203 76 100 1.Sachsen-Anhalt 2.Mecklenburg-Vorpommern 3.Brandenburg 4 Thüringen 5.Sachsen 6.Schleswig-Holstein 7.Nordrhein-Westfalen 8.Rheinland-Pfalz 9.Niedersachsen 10. Hessen 11. Saarland 12. Bremen 13. Baden-Württemberg 14. Bayern 15. Hamburg 16. Berlin 45 115 256 % 203 % 196 % 180 % 149 % 131 % 121 % 115 % 115 % 112 % 112 % 100 % 97 % 86 % 76 % 45 % 196 256 121 112 149 180 115 112 86 97 < 100 % ≥ 100 % > 200 % Baden-Württemberg: Verdopplung der Ausfalltage seit dem Jahr 2000 Baden-Württemberg hat traditionell einen sehr niedrigen Krankenstand. Das ist auch bei den psychischen Erkrankungen der Fall. Dennoch: Ihr Anteil am Gesamtkrankenstand in Baden-Württemberg liegt bei 16,6 Prozent – und damit im deutschen Mittelfeld. BadenWürttemberg Im Jahr 2014 rangierten seelische Leiden in Baden-Württemberg auf Platz zwei der Krankheitsarten-Statistik. Der Anstieg zum Vorjahr betrug neun Prozent. Die Zahl der Fehltage erhöhte sich auf 197 Tage pro 100 DAKVersicherte. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der Ausfalltage bei den psychischen Erkrankungen nahezu verdoppelt (97 Prozent). Die meisten Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 94,4 AU-Tage je 100 Versicherte) – Baden-Württemberg hat traditionell einen sehr niedrigen Krankenstand 27 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 32,4 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 16 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 13 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45: 10,3 AU-Tage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen im Durchschnitt 35,1 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei 4,1 Prozent und ist damit vergleichsweise gering. Bayern Erstmals belegen psychische Erkrankungen auch in Bayern den zweiten Platz der Fehltage-Statistik Bayern: letzter Platz bei Depressionen und Anpassungsstörungen Bayern weist genau wie Baden-Württemberg insgesamt einen geringen Krankenstand auf und lag in den vergangenen Jahren deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Der Anteil der psychischen Erkrankungen am Gesamtkrankenstand lag im Jahr 2014 in Bayern bei 15,5 Prozent und damit im Bundesvergleich auf Platz elf. Im vergangenen Jahr sind die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände im Freistaat um zehn Prozent angestiegen. Sie landeten damit erstmals auf Platz zwei der AU-Statistik. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich erhöhte sich auf 193 Tage pro 100 DAK-Versicherte, das entspricht einem Anstieg um 86 Prozent seit dem Jahr 2000. Die meisten Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen werden in Bayern durch Depressionen verursacht (F32 + F33: 92,6 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 29,8 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 15,8 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 12,6 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45: 12,3 AU-Tage je 100 Versicherte). Bei den Diagnosen Depressionen sowie den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen belegt Bayern damit jeweils den letzten Platz im Bundesvergleich. Im Bereich der neurotischen Störungen liegt das Bundesland auf dem vorletzten Platz, bei den somatoformen Störungen auf dem drittletzten. Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen im Durchschnitt 34,2 Tage. Die Betroffenenquote liegt genau wie in Baden-Württemberg bei vergleichsweise geringen 4,1 Prozent. Berlin: Depressionen verursachen viele Fehltage Berlin liegt bei den psychischen Erkrankungen auf dem zweiten Platz im Bezug auf die Anzahl der Fehltage. Vor allem Depressionen und Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen machen den Berufstätigen in der Hauptstadt zu schaffen. Der prozentuale Anstieg der Ausfalltage seit 2000 ist mit 45 Prozent im Bundesvergleich am geringsten. 28 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT Im Jahr 2014 lagen die psychischen Erkrankungen in Berlin mit 18,3 Prozent an zweiter Stelle aller Krankheitsarten. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 292 Tage pro 100 DAK-Versicherte an. Die meisten Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen entfallen in Berlin auf Depressionen (F32 + F33: 135,4 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 61,9 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 26,1 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 17,8 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45: 21,6 AU-Tage je 100 Versicherte). Bei den Diagnosen Depressionen sowie den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen lag Berlin damit jeweils auf Platz zwei im Bundesvergleich. Berlin In Berlin ist die Betroffenenquote vergleichsweise hoch Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen in Berlin im Durchschnitt 35,6 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei 5,8 Prozent und ist damit vergleichsweise hoch. Brandenburg: höchste Betroffenenquote bei psychischen Leiden In Brandenburg zeigt sich eine dramatische Zunahme der psychischen Erkrankungen. Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage bei Seelenleiden nahezu verdreifacht (195,7 Prozent). Allein im Jahr 2014 sind psychische Erkrankungen um elf Prozent angestiegen und lagen auf Platz zwei der AU-Statistik. Brandenburg Die Zahl der Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen stieg auf 259,2 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Depressionen verursachen in Brandenburg die meisten Ausfalltage (F32 + F33: 114,2 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 59,9 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 20,3 AU-Tage je 100 Versicherte), somatoformen Störungen (F45: 22,9 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie anderen Angststörungen (F41: 16,1 AU-Tage je 100 Versicherte). Bei den somatoformen Störungen liegt Brandenburg auf dem ersten Platz im Bundesvergleich, bei den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen auf Platz zwei. Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen in Brandenburg im Durchschnitt 31,5 Tage. Neben Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern bleiben Beschäftigte aus Brandenburg damit am kürzesten mit einer psychischen Erkrankung der Arbeit fern. Die Betroffenenquote liegt bei 6,1 Prozent – das ist der Spitzenwert aller Bundesländer. Die Brandenburger sind relativ kurz krankgeschrieben Bremen: letzter Platz bei somatoformen und neurotischen Störungen Bremen liegt beim Anteil der psychischen Erkrankungen am Krankenstand auf Platz fünf im Bundesvergleich. Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage bei Seelenleiden verdoppelt (100 Prozent). Vor allem 29 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT Depressionen und Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen beeinträchtigen die Beschäftigten im Stadtstaat. Bei den somatoformen und anderen neurotischen Störungen belegt Bremen den letzten Platz im Bundesvergleich. Bremen Bremen liegt bei den somatoformen und neurotischen Störungen auf dem letzten Platz Im Jahr 2014 betrug der Anteil der psychischen Erkrankungen am Gesamtkrankenstand 17,1 Prozent und belegt damit Platz zwei aller Krankheitsarten in Bremen. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 246,9 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen entfallen in Bremen auf Depressionen (F32 + F33: 119,4 AUTage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 43,6 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 15,4 AU-Tage je 100 Versicherte), somatoformen Störungen (F45: 9,7 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie anderen Angststörungen (F41: 16,7 AU-Tage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen in Bremen im Durchschnitt 33,5 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei fünf Prozent und damit im Mittelfeld aller Bundesländer. Hamburg: Seelenleiden spielen besonders große Rolle In Hamburg ist der Anteil der psychischen Erkrankungen am Gesamtkrankenstand mit 22,3 Prozent deutschlandweit am größten. Seelenleiden waren im Jahr 2014 erneut die häufigste Ursache für Krankschreibungen in der Hansestadt. Von 2000 bis 2014 stiegen die Ausfalltage um 75,5 Prozent. Besonders auf Depressionen und neurotische Störungen entfielen viele Fehltage. Hamburg Nirgends ist der Anteil psychischer Leiden am Gesamtkrankenstand höher Allein im Jahr 2014 sind die psychischen Erkrankungen um zehn Prozent angestiegen. Die Zahl der Fehltage stieg auf 288,7 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Ausfalltage im Bereich der psychischen Erkrankungen entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 153,5 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 41,9 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 31 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 17,3 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45: 14,8 AU-Tage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen in Hamburg im Durchschnitt 38,6 Tage. Nach dem Saarland bleiben Beschäftigte aus der Hansestadt damit am längsten mit einer psychischen Erkrankung der Arbeit fern. Die Betroffenenquote liegt in Hamburg bei 5,2 Prozent und damit im Mittelfeld. Hessen: Ausfalltage mehr als verdoppelt Wenn es um die Anzahl der Fehltage aufgrund von psychischen Erkrankungen geht, liegen die Hessen im Bundesvergleich im unteren Mittel- 30 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT feld (Platz elf). Der Anteil der Seelenleiden am Gesamtkrankenstand liegt bei 15,7 Prozent. Dennoch: Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage mehr als verdoppelt (112,1 Prozent). Allein im Jahr 2014 sind psychische Erkrankungen um zwölf Prozent angestiegen und lagen auch in Hessen auf Platz zwei der Krankheitsarten. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 236,7 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Ausfalltage entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 112,2 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 37,4 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 23,6 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 16 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45, 15,9 AU-Tage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen im Durchschnitt 34,6 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei fünf Prozent. Hessen Die Hessen liegen bei den psychischen Erkrankungen im unteren Mittelfeld Mecklenburg-Vorpommern: hohe Betroffenenquote In Mecklenburg-Vorpommern ist ein dramatischer Anstieg der psychischen Erkrankungen zu beobachten: Von 2000 bis 2014 hat sich die Zahl der Fehltage mehr als verdreifacht (203,1 Prozent). Nur Sachsen-Anhalt verzeichnet einen noch größeren Anstieg. In Mecklenburg-Vorpommern verursachen somatoforme Störungen besonders viele Fehltage. Allein im Jahr 2014 sind psychische Erkrankungen um zehn Prozent angestiegen und lagen mit 14,7 Prozent auf Platz zwei der Krankheitsarten. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 258 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten entfallen in Mecklenburg-Vorpommern auf Depressionen (F32 + F33: 110,3 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 57,1 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 24,3 AU-Tage je 100 Versicherte), somatoformen Störungen (F45: 22,3 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie anderen Angststörungen (F41: 18,6 AU-Tage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen in Mecklenburg-Vorpommern im Durchschnitt 31,5 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei sechs Prozent und ist damit bundesweit die zweithöchste hinter Brandenburg. MecklenburgVorpommern Mecklenburg-Vorpommern hat die zweithöchste Betroffenenquote Niedersachsen: starker Anstieg, aber bundesweit im Mittelfeld Niedersachsen befindet sich im Bundesvergleich im Mittelfeld bei den psychischen Erkrankungen. Der Anteil der Seelenleiden am Gesamtkrankenstand liegt bei 16,5 Prozent. Doch auch in Niedersachsen ist ein starker Anstieg der Seelenleiden zu beobachten: Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage mehr als verdoppelt (114,7 Prozent). 31 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT Niedersachsen Im Jahr 2014 sind psychische Erkrankungen um acht Prozent angestiegen, sie lagen auf Platz zwei der AU-Statstik. Allein die Ausfalltage aufgrund von Depressionen nahmen um etwa ein Fünftel zu. Die Zahl der Fehltage aufgrund von psychischen Erkrankungen stieg auf 234,5 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Fehltage entfallen in Niedersachsen auf Depressionen (F32 + F33: 107,2 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungs­ störungen (F43: 43,4 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 24 AU-Tage je 100 Versicherte), somatoformen Störungen (F45: 17,4 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie anderen Angststörungen (F41: 14,7 AU-Tage je 100 Versicherte). Auch in Niedersachsen sind Depressionen die mit Abstand häufigste psychische Erkrankung Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen im Durchschnitt 34,3 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei fünf Prozent. Nordrhein-Westfalen: Depressionen und Anpassungsstörungen vorn Nordrhein-Westfalen rangiert mit einem Anteil von 18,3 Prozent der psychischen Erkrankungen am Krankenstand auf Platz vier im Bundesvergleich. Vor allem Depressionen und Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen machen den Berufstätigen in NRW zu schaffen. Mehr noch: Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage aufgrund von Seelenleiden mehr als verdoppelt (120,5 Prozent). NordrheinWestfalen Nordrhein-Westfalen belegt bei den psychischen Erkrankungen den vierten Platz Im Jahr 2014 lagen die psychischen Erkrankungen in NRW an zweiter Stelle aller Krankheitsarten. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 255,8 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 125,5 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungs­ störungen (F43: 42,7 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 21,9 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 17,4 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45: 14,7 AU-Tage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen im Durchschnitt 37,2 Tage und ist damit vergleichsweise hoch. Die Betroffenenquote liegt bei fünf Prozent. Rheinland-Pfalz: Betroffenenquote liegt im Mittelfeld Rheinland-Pfalz liegt beim Anteil der psychischen Erkrankungen am Krankenstand auf Platz sechs im Bundesvergleich. Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage bei Seelenleiden mehr als verdoppelt (115,1 Prozent). Im Jahr 2014 stiegen die Fehlzeiten aufgrund psy- 32 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT chischer Erkrankungen um zwölf Prozent an und lagen mit insgesamt 17 Prozent der Ausfälle auf Platz zwei der AU-Statistik. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 246,9 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 114,1 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 47,2 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 20,2 AU-Tage je 100 Versicherte), somato­ formen Störungen (F45: 19,7 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie anderen Angststörungen (F41: 19,1 AU-Tage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen in RheinlandPfalz im Durchschnitt 36,3 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei 5,1 Prozent und damit im Mittelfeld aller Bundesländer. RheinlandPfalz Rheinland-Pfalz liegt in puncto Seelenleiden im Mittelfeld Saarland: Betroffene sind am längsten krankgeschreiben Im Saarland beträgt der Anteil der psychischen Erkrankungen am Krankenstand 18,8 Prozent – das entspricht dem dritten Platz im Bundesvergleich. Lediglich Hamburg und Schleswig-Holstein verzeichnen einen noch höheren Anteil (22,3 und 19,2 Prozent). Psychische Erkrankungen waren damit im Jahr 2014 die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen – hinter Muskel-Skelett-Erkrankungen. Von 2000 bis 2014 stiegen die Ausfalltage bei Seelenleiden um 112 Prozent. Bei den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen sowie anderen Angststörungen rangiert das Saarland im Bundesvergleich auf dem ersten Platz. Die Zahl der Fehltage aufgrund von psychischen Erkrankungen im Jahr 2014 stieg auf 305,7 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Ausfalltage entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 122,5 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 68,5 AUTage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 27,9 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 26 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45: 19,1 AU-Tage je 100 Versicherte). Saarland Mit durchschnittlich fast 40 Tagen sind die Saarländer am längsten mit psychischen Erkrankungen krankgeschrieben Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen im Saarland im Durchschnitt 39,7 Tage. Damit bleiben Beschäftigte im Saarland am längsten mit einer psychischen Erkrankung der Arbeit fern. Die Betroffenenquote liegt bei 5,8 Prozent. Sachsen: kürzeste Falldauer, dramatische Steigerung Wenn es um psychische Erkrankungen geht, liegen die Sachsen im Bundesvergleich im unteren Mittelfeld (Platz elf). Der Anteil der 33 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT Seelenleiden am Gesamtkrankenstand liegt bei 15 Prozent. Doch die Entwicklung ist dramatisch: Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage verzweieinhalbfacht (149,2 Prozent). Sachsen Die Falldauer in Sachsen beträgt durchschnittlich nur 31 Tage Allein im Jahr 2014 sind psychische Erkrankungen um 22 Prozent angestiegen und lagen auf Platz zwei der Krankheitsarten. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 234,5 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Fehltage entfallen in Sachsen auf Depressionen (F32 + F33: 102,8 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 52,9 AU-Tage je 100 Versicherte), somatoformen Störungen (F45: 21 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 16,3 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie anderen Angststörungen (F41: 15,7 AUTage je 100 Versicherte). Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen durchschnittlich 30,9 Tage und ist somit die kürzeste im Bundesgebiet. Die Betroffenenquote liegt bei 5,4 Prozent. Sachsen-Anhalt: Ausfalltage mehr als verdreifacht Sachsen-Anhalt ist das Bundesland mit dem höchsten prozentualen Anstieg bei psychischen Erkrankungen in Deutschland. Von 2000 bis 2014 haben sich die Ausfalltage verdreieinhalbfacht (255,7 Prozent). SachsenAnhalt Nirgends gibt es einen höheren prozentualen Anstieg bei psychischen Erkrankungen als in Sachsen-Anhalt Allein im Jahr 2014 sind psychische Erkrankungen um 25 Prozent angestiegen und lagen mit einem Anteil am Gesamtkrankenstand von 14,1 Prozent erstmals auf Platz zwei der Krankheitsarten in SachsenAnhalt. Die Zahl der Fehltage in diesem Bereich stieg auf 256,8 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Fehltage entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 118,6 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 56,9 AU-Tage je 100 Versicherte), somatoformen Störungen (F45: 18,2 AU-Tage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 21 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie neurotischen Störungen (F48: 17,8 AU-Tage je 100 Versicherte). Bei den Fehltagen, die durch Angststörungen verursacht werden, liegt Sachsen-Anhalt im Bundesvergleich auf dem zweiten Platz. Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen durchschnittlich 32,7 Tage. Die Betroffenenquote liegt bei 5,6 Prozent. Schleswig-Holstein: zweiter Platz bei psychischen Erkrankungen Das nördlichste Bundesland hat den zweithöchsten Anteil von psychischen Erkrankungen am Gesamtkrankenstand (19,2 Prozent). Lediglich in Hamburg ist der Anteil mit 22,3 Prozent noch höher. Von 34 KAPITEL 2 DEUTSCHLANDKARTE DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT 2000 bis 2014 stiegen die Ausfalltage bei Seelenleiden in Schleswig-Holstein um 130,9 Prozent. Im Jahr 2014 sind die psychischen Erkrankungen um 22 Prozent angestiegen. Allein die Fehltage aufgrund von Depressionen nahmen um ein Drittel zu. Die Zahl der Ausfalltage stieg insgesamt auf 273,5 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 132,8 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 42,6 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 27 AUTage je 100 Versicherte), anderen Angststörungen (F41: 20,4 AUTage je 100 Versicherte) sowie somatoformen Störungen (F45: 19,4 AU-Tage je 100 Versicherte). Bei den Fehltagen bei Depressionen, Angststörungen sowie neurotischen Störungen liegt Schleswig-Holstein im Bundesvergleich jeweils auf dem dritten Platz. Die Falldauer beträgt im Durchschnitt 37,6 Tage. Nach dem Saarland und Hamburg bleiben Beschäftigte aus Schleswig-Holstein am längsten mit einer psychischen Erkrankung der Arbeit fern. Die Betroffenenquote liegt in Schleswig-Holstein bei 5,3 Prozent und damit im Mittelfeld aller Bundesländer. Thüringen: niedrigster Anteil psychischer Erkrankungen Mit 15,5 Prozent ist in Thüringen der prozentuale Anteil der psychischen Erkrankungen am Gesamtkrankenstand bundesweit am niedrigsten. Allerdings: Die Entwicklung ist rasant. Von 2000 bis 2014 stiegen die Ausfalltage bei Seelenleiden um 180 Prozent. Damit liegt Thüringen auf dem vierten Platz aller Bundesländer – hinter SachsenAnhalt (255,7 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (203,1 Prozent) und Brandenburg (195,7 Prozent). Allein in 2014 nahmen Seelenleiden um 18 Prozent zu und landeten auf Platz drei der Gründe für Ausfallzeiten in Thüringen. Die Zahl der Fehltage stieg insgesamt auf 233,3 Tage pro 100 DAK-Versicherte. Die meisten Fehltage im Bereich der psychischen Erkrankungen entfallen auf Depressionen (F32 + F33: 101,4 AU-Tage je 100 Versicherte) – mit deutlichem Abstand gefolgt von Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43: 42,8 AU-Tage je 100 Versicherte), neurotischen Störungen (F48: 23,1 AU-Tage je 100 Versicherte), somatoformen Störungen (F45: 16,1 AU-Tage je 100 Versicherte) sowie anderen Angststörungen (F41: 14,9 AU-Tage je 100 Versicherte). SchleswigHolstein Bei der durchschnittlichen Erkrankungsdauer belegt Schleswig-Holstein den dritten Platz Thüringen Niedrigster Anteil – dramatischte Entwicklung: In Thüringen werden immer häufiger psychische Leiden diagnostiziert Die Falldauer beträgt bei den psychischen Erkrankungen in Thüringen im Durchschnitt 32,1 Tage und ist damit vergleichsweise niedrig. Die Betroffenenquote liegt bei 5,3 Prozent und damit im Mittelfeld aller Bundesländer. 35 KAPITEL 3 GENDER UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT Gender und psychische Gesundheit Bild: thinkstock.de/iStock/michaeljung Psychische Probleme scheinen Frauensache zu sein. Geht es den Männern wirklich besser? Ein Exkurs Neben den DAK-Daten zeigen auch epidemiologische Studien, dass Frauen häufiger psychisch krank sind Bei vielen Krankheitsbildern gibt es ausgeprägte geschlechtsabhängige Unterschiede. So zeigt die Analyse der DAK-Daten im ersten Kapitel dieses Reports, dass die Betroffenenquote bei psychischen Erkrankungen stark divergiert: Frauen sind mit knapp sechs Prozent fast doppelt so oft mit solchen Leiden krankgeschrieben wie Männer (3,3 Prozent). Auch epidemiologische Studien verdeutlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Warum die Unterschiede so groß sind und welchen Einfluss eine geschlechtsspezifische Wahrnehmung und Präsentation von Beschwerden auf das Krankheitsgeschehen hat, ist ein Forschungsschwerpunkt von Prof. Dr. Anne Maria Möller-Leimkühler. 36 KAPITEL 3 GENDER UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT „Hilfe zu suchen ist unmännlich“ Interview mit Prof. Dr. Anne Maria Möller-Leimkühler, leitende Diplom-Sozialwissenschaftlerin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München Frauen haben wesentlich mehr Fehltage wegen psychischer Störungen als Männer. Warum ist das so? Frauen sind sehr viel sensibler, was körperliche Vorgänge angeht. Sie nehmen Symptome schneller wahr und reagieren darauf. Ihr Gesundheitsverständnis ist eher ganzheitlich. Männer hingegen haben stärker ein instrumentelles Verhältnis zum Körper. Es ist für sie selbstverständlich, dass er funktioniert und sich selbst reguliert. Wenn sie doch etwas wahrnehmen, bagatellisieren sie es lieber. Männer vermeiden einen Arztbesuch solange es geht. Präsentismus ist bei ihnen verbreiteter: Obwohl sie sich nicht gut fühlen, gehen sie zur Arbeit. Da spielt auch die Angst vor einem möglichen Arbeitsplatzverlust eine Rolle. Männer bagatellisieren Gesundheitsprobleme häufiger als Frauen Das bedeutet, Männer leiden tatsächlich nicht seltener unter einer psychischen Störung als Frauen? Zumindest muss man davon ausgehen, dass psychische Störungen bei ihnen unterdiagnostiziert und unterbehandelt sind. Das liegt zum einen daran, dass Männer weniger Krankheitseinsicht haben als Frauen. Sie merken erst, wenn sie den Boden unter den Füßen verlieren, dass sie depressiv sind. Zum anderen verarbeiten sie beispielsweise eine Depression ganz anders als Frauen. Sie zeigen Verhaltensweisen, die wir traditionellerweise nicht im Kontext dieser Störung interpretieren. Was bedeutet das konkret? Männer zeigen eher externalisierende Verhaltensweisen. Sie reagieren verstärkt mit Aggressivität, Hyperaktivität und antisozialem Verhalten. Auch problematischer Alkoholkonsum gehört zu den männerspezifischen Symptomen. Weil diese Symptome in den gängigen Fragebögen zur Diagnostik nicht enthalten sind, bleiben Männer oft unter dem Schwellenwert für eine klinische Depression. Sobald diese Symptome mit aufgenommen werden, sind die Unterschiede in der Prävalenz gering. Die Unterschiede in der Prävalenz sind auch der gängigen Praxis bei der Datenerhebung geschuldet 37 KAPITEL 3 GENDER UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT Männer werden seltener mit Depressionen diagnostiziert – sie bringen sich aber deutlich öfter um als Frauen Eine schreckliche Folge unzureichend behandelter psychischer Störungen sind Selbstmorde. Wie interpretieren Sie die höhere Suizidrate bei Männern? Drei Viertel aller vollendeten Suizide sind Männern zuzuordnen. Das ist ein Paradoxon: 70 Prozent der Selbsttötungen stehen in Zusammenhang mit einer Depression, aber Männer sind nur halb so häufig depressiv wie Frauen. Daran kann man ablesen, wie hoch die Dunkelziffer von Depressionen in der männlichen Bevölkerung sein muss. Statt Hilfe zu suchen, bringen Männer sich um. Hilfe zu suchen ist im traditionellen Männlichkeitsverständnis keine Form der Problemlösung, sondern bedeutet eigenes Versagen und Unmännlichkeit. Bild: thinkstock.de / iStock / Alliance Welche Rolle spielen traditionelle Männer- und Frauenbilder? Ist die Stigmatisierung bei psychisch erkrankten Männern größer? Männer werden deutlich stärker stigmatisiert. Das hängt mit unserem traditionellen Männerbild zusammen. Männer assoziieren wir eher mit psychischer Gesundheit. Sie gelten als psychisch stabil, rational und aktiv. Deshalb werden psychische Störungen von ihnen selbst eher als Charakterschwäche angesehen. Frauen hingegen billigt man zu, dass sie depressiv, passiv und emotional sind. Frauen gelten klassischerweise als das psychisch kranke Geschlecht, denken Sie nur an Freud. 38 Bild: thinkstock.de/Polka Dot/Jupiterimages KAPITEL 3 GENDER UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT Trotzdem gibt es auch bei den Männern einen rasanten Anstieg bei den Fehltagen. Vor allem bei Depressionen, Anpassungs- oder Angststörungen. Das hat verschiedene Gründe. Erstens zeigt sich darin ein gewisser Trend zur Entstigmatisierung. Männer sind heute eher bereit, psychische Probleme zuzugeben, als noch vor fünf oder zehn Jahren. Zweitens liegt das auch an der zunehmenden Bedeutung, die psychosoziale Stressbelastungen am Arbeitsplatz für die Entwicklung psychischer Störungen haben. Gerade die Anpassungsstörungen kann man als Reaktion auf Belastungssituationen interpretieren, die man selbst nicht mehr in den Griff bekommt. Ein dritter Grund ist, dass heute die diagnostische Erkennungsrate – auch bei Allgemeinmedizinern – besser ist. Es gibt einen Trend zur Entstigmatisierung 39 Versorgung verbessern Statt den Patienten die Organisation der Behandlung zu überlassen, müssen Krankenkassen steuernd eingreifen Lange Wartezeiten verursachen hohe Kosten für das Gesundheitssystem Wer in Deutschland einen Therapieplatz sucht, wartet im Schnitt ein halbes Jahr darauf. Vorher telefonieren die Hilfesuchenden lange Listen psychotherapeutischer Praxen ab, um einen Termin für ein Erstgespräch zu bekommen. Auch bei der Wahl der richtigen Therapieform tappen viele Betroffene im Dunkeln – nicht immer kommen sie ohne Umwege zu einer Behandlung, die zur individuellen Problemstellung passt und zielorientiert ist. So führt bei Patienten mit einer konkreten Angststörung eine Verhaltenstherapie in der Regel schneller zum Erfolg als eine Psychoanalyse. Neben der Belastung, die lange Wartezeiten und die Odyssee durch das Gesundheitssystem für den Einzelnen bedeuten, verursacht der Versorgungsengpass hohe Kosten. Laut einer Studie, die die Allgemeine Hospitalgesellschaft mit Unterstützung der DAK-Gesundheit bereits im Jahr 2004 veröffentlicht hat, lassen sich die durchschnittlichen Behandlungskosten mit dem richtigen Konzept um mehr als die Hälfte senken (von rund 40.000 auf 18.000 Euro). „Bei keiner anderen Krankheit werden die Patienten so sehr sich selbst überlassen wie bei psychischen Leiden. Obwohl es gar nicht ihre Aufgabe sein kann, bleibt vielen Betroffenen nichts anderes übrig, als sich in Eigenregie um Hilfe zu bemühen“, kommentiert Dr. Jan Helfrich, Leiter des Bereichs ambulante Leistungen bei der DAK-Gesundheit. „Hier gibt es eine Versorgungslücke, die wir mit unserem Spezialisten-Netzwerk schließen. Gemeinsam mit einer Reihe von qualifizierten Partnern übernehmen wir eine wichtige Lotsenfunktion. Wir wollen zum ersten Ansprechpartner für unsere Versicherten mit psychischen Problemen werden.“ Die DAK-Gesundheit hat deshalb ihr Angebot zur Behandlung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen kontinuierlich ausgebaut. Bundesweit gibt es mittlerweile 33 Verträge zur Integrierten Versorgung, an denen über 1.000 Leisitungserbringer teilnehmen. Damit kann die Krankenkasse die Betroffenen schnell und unbürokratisch in eine zielgerichtete Behandlung steuern. Zwei exemplarische Behandlungsangebote werden auf den nächsten Seiten vorgestellt. 40 Bild: Stefanie Timmermann/gettyimages KAPITEL 4 VERSORGUNG VERBESSERN KAPITEL 4 VERSORGUNG VERBESSERN Beispiel 1 Veovita – Therapie ohne Warteliste Speziell für Patienten mit Depressionen, Ängsten oder Burnout hat die GAIA AG im Auftrag der DAK-Gesundheit ein ganzheitliches Programm entwickelt. Das verhaltenstherapeutische Versorgungskonzept ohne Wartezeit heißt Veovita. „Die Versorgung psychisch kranker Menschen kann vor allem mit einer fundierten, gut dokumentierten Diagnostik, die idealerweise neben der psychologischen auch die psychiatrische Untersuchung beinhaltet, verbessert werden“, erklärt Dr. Mario Weiss, Begründer von Veovita. „Ebenso wichtig ist der Kontakt zu den Hausärzten der Patienten und ein zügiger und flexibler Beginn der Therapie mit einem guten Langzeitmonitoring.“ Hier setzt das moderne Konzept an. Veovita diagnostiziert bei Verdacht auf Depression, Angststörung oder Burnout nach aktuellem wissenschaftlichen Standard. Lange Wartezeiten für die Patienten gibt es nicht: Ein Anruf genügt, um nahezu sofort einen Gesprächstermin zu bekommen. Die Diagnose wird sorgfältig erstellt und beinhaltet eine Erhebung der aktuellen psychischen und sozialen Problematik, die Anamnese und standardisierte Psychodiagnostik, ergänzt um testdiagnostische Befunde. Anschließend erstellen die Veovita-Therapeuten einen ausführlichen Bericht mit Behandlungsempfehlungen. Dieser Bericht wird allen Behandlern zugänglich gemacht und bildet eine solide Grundlage für die Versorgung der Betroffenen. „Uns ist wichtig, dass alle Beteiligten auf dem gleichen Stand sind und sich im besten Fall gegenseitig ergänzen“, sagt Weiss. „Wir verstehen uns als Unterstützer für die behandelnden Akteure. Mit der transparenten Dokumentation und einer zielgerichteten Kommunikation können wir die Behandlung der Kranken insgesamt verbessern.“ Ein weiterer Vorteil des Angebots: Nach abgeschlossener Diagnostik bekommen die Patienten rasch die verhaltenstherapeutische Behandlung, die zu ihrer individuellen Situation passt. Der schnelle Therapiebeginn ist das beste Mittel, um lange Ausfallzeiten im Job, Krankenhausaufenthalte und chronische Verläufe zu vermeiden. Veovita kombiniert moderne, evidenzbasierte Methoden, die sich genau nach dem Bedarf der Patienten richten. Dazu gehören die Behandlung durch Fachärzte, einzeltherapeutische Sitzungen oder die teilstationäre oder stationäre Therapie und, sofern indiziert, nachgewiesen wirksame E-Health-Programme wie Deprexis. Jeder Patient bekommt außerdem eine kontinuierliche persönliche Begleitung durch einen festen Ansprechpartner am Telefon. Veovita ist zielgerichtete Verhaltenstherapie ohne Wartezeiten Mit dem Versorgungsprogramm werden lange Ausfallzeiten und Krankenhausaufenthalte reduziert Das Angebot ist auf eine maximale Laufzeit von zwei Jahren angelegt. Es ist flexibler als eine klassische Psychotherapie: Patienten in akuten Krisen können beispielsweise mehr als ein Gespräch pro Woche führen, so lange das therapeutisch notwendig ist. Gilt jemand nach einem halben Jahr als ausreichend behandelt, erkundigt sich der behandelnde Thera- 41 KAPITEL 4 VERSORGUNG VERBESSERN peut nach einiger Zeit nach dem Befinden. „Wir leisten aktive Präventionsarbeit. Mit gezielter Vorsorge verhindern wir, dass es den Patienten erst wieder richtig schlecht gehen muss, bevor sie sich an uns wenden“, erklärt Mario Weiss. Das Angebot wird vor allem von Menschen mit mittelschweren oder schweren Depressionen genutzt Das Konzept ist so neu, dass es noch keine großen Studien dazu gibt. Einige Vorteile sind aber bereits deutlich erkennbar: „Wir stellen fest, dass vor allem Menschen mit schweren und mittelschweren Depressionen oder Angststörungen das Angebot nutzen“, sagt Jan Helfrich. „Es kommt also genau den Menschen zugute, die schnelle Hilfe am dringendsten brauchen. Außerdem vermeiden wir Fehlversorgung durch die differenzierte Diagnostik, die Haus- und Fachärzte unterstützt.“ Bisher steht das Programm DAK-Versicherten in Nord- und Ostdeutschland zur Verfügung, eine sukzessive Ausweitung auf das gesamte Bundesgebiet ist der nächste Schritt. Beispiel 2 Zentrum für seelische Gesundheit – Depressionen und Burnout bewältigen Depressionen, Angststörungen, Erschöpfung und Burnout resultieren häufig aus Stress, der über eine längere Zeit anhält. Die psychischen Symptome stehen in engem Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden, zum Beispiel Tinnitus, Bluthochdruck, Schwindel, Schmerzen oder Schlafstörungen. Selbst das Herzinfarktrisiko steigt. Chronischer Stress entsteht dann, wenn die erlernten Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen. Stress ist Auslöser für psychische Erkrankungen. Im Zentrum für seelische Gesundheit finden Betroffene Hilfe Naturgemäß kann sich Überlastung im Job auf die psychische Gesundheit auswirken: Laut DAK-Gesundheitsreport 2012 leidet nahezu jeder zehnte Arbeitnehmer an gefährlichem Arbeitsstress. Der entsteht, wenn Verausgabung und Belohnung dauerhaft in ein Missverhältnis geraten. Ein wissenschaftliches Instrument zur Stress-Messung ist das „Trierer Inventar zum chronischen Stress“ (TICS). Eine Analyse der DAK-Gesundheit aus dem Jahr 2014 zeigt, dass Frauen eine höhere Belastung durch Dauerstress aufweisen als Männer. Auch Alleinerziehenden, Studierenden und Erwerbslosen wachsen Leistungsdruck und ständige Sorgen häufiger über den Kopf als anderen. Auf die Behandlung von stressinduzierten Beschwerden hat sich das Zentrum für Stressmedizin der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg spezialisiert. Das Zentrum für Stressmedizin ist Bestandteil eines Integrierten Versorgungsvertrages, den die DAK-Gesundheit und die Klinik bereits im 42 Bild:Stefanie Timmermann/gettyimages KAPITEL 4 VERSORGUNG VERBESSERN Jahr 2004 geschlossen und seitdem ständig weiterentwickelt haben. Das Versorgungskonzept ist einzigartig: Es folgt einem sogenannten SteppedCare-Modell, also einer Betreuung, die nach dem Prinzip „ambulant vor stationär“ organisiert ist. Die ambulante Behandlung erfolgt durch Hausund Fachärzte sowie Psychotherapeuten und wird – je nach Schweregrad der Erkrankung – durch tagesklinische oder stationäre Behandlungsmöglichkeiten der Klinik ergänzt. Neben der Therapie schwerer bis mittelschwerer Depressionen und bipolarer Störungen gibt es eigene Burnout-Gruppen für chronisch Gestresste. Das Konzept kombiniert psychodynamische und kognitivverhaltenstherapeutische Ansätze – Lösungsorientierung steht klar im Vordergrund. „Mit unserem Angebot wollen wir den Patienten neue Strategien an die Hand geben, mit denen sie ihren Alltag wieder gut bewältigen können“, erklärt Dr. Hans-Peter Unger, Chefarzt und Leiter des Zentrums. „Wichtig ist uns auch, lange Ausfallzeiten zu verhindern, denn die verschlimmern die Situation der Betroffenen oft erheblich.“ Die Therapie der Patienten mit Stressdepression oder Burnout dauert acht Wochen und findet in festen Gruppen statt. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Anschlussbehandlung. Es gibt eine Vielzahl ambulanter Angebote wie Achtsamkeitstraining, Einzel-, Partner- oder Gruppengespräche, Meditation sowie psychoedukative Angebote in den Bereichen Ernährung, Schlaf, Stress, Schmerz und Herz. Außerdem bietet das Zentrum arbeitsmedizinische Beratungen an, um die Wiedereingliederung in den Job gut vorzubereiten und konkret zu planen. Gemeinsam mit der DAK-Gesundheit macht sich Unger für aktive Stressprävention in den Unternehmen stark. „Wir stehen in engem Dialog mit den Betriebsärzten. Wenn sie frühzeitig gefährdete Mitarbeiter zu uns schicken, können wir gezielt gegensteuern und schlimme Krisen verhindern.“ Der enge Kontakt zu Betriebsärzten ist entscheidend für die Stressprävention am Arbeitsplatz 43 KAPITEL 4 INTERVIEW MIT DR. JAN HELFRICH „Wir brauchen mehr Flexibilität“ Interview mit Dr. Jan Helfrich, Leiter des Bereichs ambulante Leistungen bei der DAK-Gesundheit Das Angebot an Psychotherapie muss zum Bedarf der Patienten passen Der Bedarf an Psychotherapie wächst, die Wartezeiten sind lang. Muss es mehr Kassenzulassungen für Therapeuten geben? In Deutschland mangelt es nicht an Therapeuten. Aber das Angebot ist zu standardisiert. Wer eine Psychotherapie macht, hat in der Regel eine Sitzung pro Woche, immer zur selben Zeit. Deshalb sind viele Termine über Monate blockiert. Wir brauchen mehr Flexibilität: Gerade in einer akuten Krise benötigen die Patienten oft mehr Unterstützung. Später sind größere Abstände oder kürzere Termine ausreichend. Das System ist nicht am Bedarf der Betroffenen ausgerichtet. Erschwert wird die Situation dadurch, dass einige Therapeuten ihr Stundenkontingent nicht im vollen Umfang den Kassenpatienten zugutekommen lassen. Aus unserer Sicht besteht hier ein deutlicher Handlungsbedarf. Besonders Menschen mit schwereren psychischen Beschwerden finden schwer Hilfe. Woran liegt das? Auch das ist systembedingt. Schwere und leichte Fälle werden derzeit gleich vergütet. Dabei ist es deutlich aufwändiger, einen unzuverlässigen Borderline-Patienten zu betreuen als einen Menschen mit einer leichten Depression. Aus meiner Sicht muss es hier eine Unterscheidung geben. Als Krankenkasse begrüßen wir es sehr, dass die Psychotherapie-Richtlinien jetzt überarbeitet werden und wir gemeinsam mit den Verbänden die Versorgung verbessern können. Versorgungssteuerung ist bei der Behandlung psychischer Erkrankungen entscheidend 44 Die Steuerung psychisch Kranker in die richtige Therapie erfolgt oft unsystematisch oder gar nicht. Theoretisch können Betroffene in einer Psychoanalyse landen, obwohl eine kognitive Verhaltenstherapie zielorientierter wäre. Wie lässt sich das ändern? Berät die DAK-Gesundheit bei der Therapieentscheidung? Krankenkassen dürfen keine Therapieempfehlungen aussprechen. Wir können unseren Versicherten trotzdem ganz praktisch dabei helfen, die richtige Behandlung zu finden: Zum einen führen die Ärzte an unserer MedizinHotline ein erstes Beratungsgespräch mit den Betroffenen. Anschließend bieten unsere Kundenberater Unterstützung bei der Therapeutensuche an. Und natürlich weisen wir auf die regionalen Angebote unserer Spezialisten-Netzwerke für Menschen mit psychischen Leiden hin. Damit reduzieren wir lange Wartezeiten und sorgen dafür, dass weniger Menschen stationär behandelt werden müssen. Vor allem für Versicherte mit schweren psychischen Erkrankungen sind diese niedrigschwelligen Angebote KAPITEL 4 INTERVIEW MIT DR. JAN HELFRICH gut geeignet – sie benötigen unmittelbar Hilfe und sind oft überhaupt nicht in der Lage, lange Listen von Psychotherapeuten abzutelefonieren. Wie kann die Zusammenarbeit zwischen den Haus- und Fachärzten und Therapeuten beziehungsweise der Übergang von stationären zu ambulanten Therapien verbessert werden? Die Behandlung muss besser organisiert werden. In der Regelversorgung ist ein Austausch zwischen Haus- oder Fachärzten und Therapeuten nicht üblich. Dabei ist das gerade bei psychischen Erkrankungen wichtig: Beispielsweise müssen körperliche Ursachen ausgeschlossen werden, um die Therapie zu planen. Mit strukturierten Behandlungsprogrammen, die sektorübergreifend aufgebaut sind, lösen wir das Problem. Der aktive Austausch ist ein Ziel, das wir mit den beteiligten Akteuren vereinbaren. Genauso die Beteiligung und Zustimmung des Patienten. Beides ist entscheidend für den Behandlungserfolg. Der Austausch zwischen Ärzten und Therapeuten muss intensiviert werden Wie erfahren die Betroffenen von diesen Angeboten? Haus- und Fachärzte sind für uns wichtige Ansprechpartner, da viele Betroffene sich direkt an sie wenden. Deshalb stehen wir in Kontakt mit den Praxen und den Verbänden, um unsere Angebote in den Regionen bekannt zu machen. Außerdem informieren wir unsere Versicherten über unsere Webseite, über die DAK-Magazine und andere Medien sowie im persönlichen Gespräch mit den Kundenberatern vor Ort oder am Telefon. Angesichts der sich verschärfenden Versorgungsproblematik geraten E-Health-Angebote für psychisch Kranke immer mehr in den Blickpunkt. Wie beurteilen Sie solche Therapieformen? Webbasierte Angebote sind nicht nur in der öffentlichen Diskussion präsent, sie werden auch von immer mehr Versicherten nachgefragt und positiv bewertet. Sie schätzen die Flexibilität, die die Programme bieten – gerade Menschen, die beruflich und privat stark gefordert sind oder in strukturschwachen Gegenden leben, profitieren davon. Unsere Erfahrung zeigt außerdem, dass E-Health-Anwendungen gut dabei unterstützen können, Diagnosen zu validieren und die Betroffenen in die richtige Behandlung zu steuern. Für uns ist es aber wichtig, dass die Angebote ausreichend evaluiert sind. Wie beurteilen Sie die Rolle der Prävention im Bereich der psychischen Erkrankungen? Hier muss man unterscheiden, über welche Krankheiten man spricht. Schwere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie lassen sich nicht durch Prävention vermeiden. In solchen Fällen können wir nur unterstützen, dass die Betroffenen frühzeitig die richtige Behandlung bekommen, damit akute Schübe abgefedert werden. Bei stressinduzierten psychischen Störungen hingegen ist Prävention sinnvoll und wichtig – vor allem am Arbeitsplatz. Das unterstützen wir mit unseren Angeboten für Unternehmen und individuell für unsere Versicherten. 45 Psychopharmaka – Fluch oder Segen? Damit Psychopharmaka bei der Bewältigung psychischer Leiden helfen, ist die richtige Anwendung entscheidend. Ein Gastkommentar von Prof. Dr. Gerd Glaeske Co-Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am SOCIUMFoschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen Umfragen in der Bevölkerung zeigen immer wieder, dass viele Menschen Psychopharmaka mit großer Skepsis betrachten. Auch wenn die Akzeptanz dieser Mittel zur Behandlung von psychischen Krankheiten und Störungen steigt, werden sie doch häufig mit der Entwicklung einer Abhängigkeit, der Ruhigstellung älterer Menschen, der Anpassung von Kindern an das gegenwärtige Schulsystem oder der Verbesserung der Leistungsbereitschaft von Erwachsenen am Arbeitsplatz in Zusammenhang gebracht. Daneben gibt es immer wieder Kritik an den Herstellern, die oftmals schwerwiegende, unerwünschte Wirkungen und Risiken bei Psychopharmaka herunterspielen und Studienergebnisse besser darstellen als es der Wirklichkeit entspricht – der Umsatz von jetzt schon rund 1,4 Mrd. Euro soll schließlich weiter wachsen. Die Skepsis vieler Menschen ist nicht immer unberechtigt: In der Tat gibt es in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen, vor allem ältere Frauen, die von Tranquilizern und Schlafmitteln abhängig sind. Diese Mittel sind allesamt abgeleitet von Valium, einem Arzneimittel, das bereits 1963 auf den Markt kam und dessen „Kinder“ und „Enkel“ noch heute Bedeutung in der Therapie haben, zum Beispiel bei der Vorbereitung von Operationen, bei Krämpfen, bei akuten Schlafstörungen oder bei Angst- und Panikattacken. Werden die Mittel richtig angewendet, nämlich nicht länger als acht bis 14 Tage, wird sich keine Abhängigkeit entwickeln. Besonders kritisch werden Psychostimulanzien wie Ritalin oder Medikinet diskutiert, die Kindern zur Behandlung von ADHS gegeben werden – zu schnell, zu viel und zu lange lautet der Vorwurf. Und Antidepressiva, die derzeit am häufigsten verordneten Psychopharmaka, werden im Zusammenhang mit erhöhter Leistungsbereitschaft am Arbeitsplatz, in der Ausbildung oder im Studium angewendet, kein wirklicher Indikationsbereich für diese Mittel. So werden bei vielen dieser Psychopharmaka, bei den Tranquilizern, den Neuroleptika, den Psychostimulanzien und den Antidepressiva, oft die kritischen Aspekte herausgestellt, die unerwünschten Wirkungen. Sie werden hinter den verschlossenen Türen der Psychiatrie angewendet, sie 46 Bild: Thinkstock.de/Anna Dudko/iStock KAPITEL 5 PSYCHOPHARMAKA – FLUCH ODER SEGEN? KAPITEL 5 PSYCHOPHARMAKA – FLUCH ODER SEGEN? werden für Menschen verordnet, die Probleme mit der Gesellschaft haben oder für „Verrückte“, die besser ruhiggestellt werden. Das alles ist aber nur die eine Seite. Wie bei allen Arzneimitteln kommt es nämlich auch bei den Psychopharmaka auf die richtige Anwendung und die richtige Dosierung bei der richtigen Diagnose an. Dann zeigen sich auch der Nutzen dieser Arzneimittel und der Fortschritt, den diese Mittel für viele Patientinnen und Patienten mit sich gebracht haben. Wie viele Menschen mit psychischen Krankheiten mussten noch vor 50 Jahren stationär behandelt werden, über Wochen und Monate in abgeschlossenen Kliniken? Psychopharmaka haben in vielen Fällen dazu beitragen können, dass diese Menschen nun außerhalb von Klinikmauern ambulant behandelt werden und mit guter Lebensqualität am Alltag teilnehmen können. Die Öffnung der Kliniken, die Ende der 1970er Jahre mit der „Blauen Karawane“ von Italien ausging, wäre ohne wirksame Mittel wie Neuroleptika nicht möglich gewesen. Ebenso tragen Antidepressiva dazu bei, dass bei vielen Betroffenen die Depressionen nicht zur Selbsttötung führen wie dies zum Beispiel bei Robert Enke, dem Torhüter von Hannover 96, zu beklagen war. Und Angst- und Panikattacken können mit Tranquilizern wirkungsvoll in Grenzen gehalten werden. Insofern sind Psychopharmaka, wenn sie richtig eingesetzt werden, auch Mittel zur Befreiung von kranken Menschen. Oft genug werden aber noch immer Therapieentscheidungen gefällt, die mehr den Informationen der Pharmaindustrie folgen als unabhängig erstellten Leitlinien und Empfehlungen. Ein wichtiger Aspekt betrifft die Verträglichkeit von Psychopharmaka, insbesondere bei älteren Menschen: Die sogenannte PRISCUS-Liste (siehe www.priscus.net) nennt Arzneimittel, die bei älteren Menschen eher vermieden werden sollten, sie nennt aber auch Alternativen. Wenn Psychopharmaka richtig angewendet werden, können sie die Lebensqualität der Patienten verbessern Die PRISCUS-Liste trägt zur Arzneimittelsicherheit bei Ein letzter Punkt ist ebenso wichtig: Die Psychotherapie und die psychosoziale Aufarbeitung gehört neben die Behandlung mit Psychopharmaka – nur Arzneimittel alleine verändern zumeist nichts an der gesamten Situation der Patienten. i Quelle: IMS Health, 2015 Statistik: Psychopharmaka und Schlafmittel 2014 29,1 Mio. Packungen Schlaf- und Beruhigungsmittel (+ 3%) 142 Mio. Euro (+ 6%) 24,6 Mio. Packungen Antidepressiva (+/− 0%) 554 Mio. Euro (+ 3%) 13,7 Mio. Packungen Neuroleptika (+/− 0%) 588 Mio. Euro (− 6%) 8,4 Mio. Packungen Tranquilizer (− 3%) 25 Mio. Euro (− 3%) 2,2 Mio. Packungen Psychostimulanzien (− 1%) 72 Mio. Euro (+ 8%) €€ 78,0 Mio. Packungen 1.381 Mio. Euro 47 ANHANG GLOSSAR Die wichtigsten Einzeldiagnosen F32 Porträts der sechs Störungsbilder, die bei Seelenleiden die meisten Fehltage verursachen Depressive Episode Die quantitativ bei weitem wichtigste Diagnose ist die depressive Episode (F32). Auf sie allein entfiel im Jahr 2014 gut ein Drittel aller Fehltage wegen psychischer Diagnosen (82,3 Fehltage pro 100 Versicherte der DAK-Gesundheit). Psychische Erkrankungen sind innerhalb des ICD-10, der im Gesundheitswesen zur Verschlüsselung von Krankheiten verwendet wird, im Kapitel V als F-Diagnosen von F00 - F99 kodiert. Auf dieses ICD-10-Kapitel entfielen im Jahr 2014 insgesamt 237,3 Fehltage pro 100 Versicherte. Darunter sind sechs Einzeldiagnosen, die zusammen für die große Mehrzahl dieser Ausfalltage (87 Prozent) verantwortlich sind. Die folgenden Diagnoseporträts skizzieren, um was es sich bei diesen besonders relevanten Störungen handelt. Wie äußert sich eine depressive Episode? Die Betroffenen leiden unter einer deutlich gedrückten Stimmung. Sie fühlen sich freud- und interessenlos. Ihnen geht der Antrieb verloren, etwas zu tun oder zu erledigen und oft plagt sie ständige Müdigkeit. Zu diesen Kernsymptomen kommen verschiedene Zusatzsymptome hinzu wie Konzentrationsschwierigkeiten, vermindertes Selbstvertrauen, Schuldgefühle, negative Zukunftsperspektiven, Selbsttötungsgedanken, Schlafstörungen oder Appetitmangel. Depressive Patienten klagen mindestens über zwei Symptome aus beiden Gruppen, die seit mehr als zwei Wochen andauern. Fehltage 2014 120 100 111,5 80 60 40 20 42,0 21,0 15,9 Wer ist betroffen? 15,9 48 majivecka/istock/thinkstock.de Re a kt io ne D ep n a re un uf ss d sc io An hw ne pa e n r ss e un Be gs la st stu ör n un ge N eu ge n ro n tis ch e St ör So un m ge at of n or m e St ör un An ge de n re An gs ts tö ru ng en 0 Im Laufe ihres Lebens erkranken etwa siebzehn Prozent der Gesamtbevölkerung an einer Depression. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Bei Depres­ sionen mit einem chronischen Verlauf sind es sogar dreimal mehr Frauen als Männer. ANHANG GLOSSAR bei psychischen Erkrankungen F33 F43 Rezidivierende depressive Störung Jeder achte Fehltag aufgrund einer psychischen Erkrankung wird bei Versicherten der DAK-Gesundheit durch diese Einzeldiagnose verursacht (29,2 Fehltage pro 100 Versicherte im Jahr 2014). Wie äußert sich eine rezidivierende depressive Episode? Die Betroffenen leiden zum wiederholten Mal an einer Depression. Zwischen zwei depressiven Episoden bessern sich ihre Symptome zwar oft vollständig, aber sie treten immer wieder auf – im statistischen Mittel im Abstand von etwa fünf Jahren. Wer ist betroffen? Von einer rezidivierenden Depression sind bis zu 80 Prozent der depressiven Patienten betroffen. Sie durchlaufen in ihrem Leben mehrere depressive Phasen. Mit zunehmendem Alter steigt nicht nur das Wiedererkrankungsrisiko, sondern die Episoden können auch an Schwere zunehmen. Anpassungsstörungen Eine weitere Einzeldiagnose mit sehr großer Bedeutung für die Arbeitsunfähigkeit sind die Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen. Jeder sechste Fehltag mit einer F-Diagnose ist eine Anpassungsstörung. 2014 waren es bei der DAKGesundheit 42 Fehltage pro 100 Versicherte. Wie äußert sich eine Anpassungsstörung? Die Betroffenen leiden unter einer anhaltenden depressiven, manchmal auch ängstlich-besorgten Verstimmung als Folge eines schlimmen Ereignisses. Sie sind in ihrer Leistungsfähigkeit im Alltag stark beeinträchtigt. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein: Patienten klagen über innere Unruhe, Überforderungsgefühle, aber auch körperliche Beschwerden wie Herzrasen und Schweißausbrüche. Viele ziehen sich sozial zurück. Wer ist betroffen? Menschen nach einem besonders traumatischen Erlebnis. Das kann ein Unfall, ein Kriegserlebnis, ein Verbrechen oder eine Naturkatastrophe sein. Menschen, die den Verlust einer Beziehungsperson verarbeiten müssen, sind ebenfalls häufig betroffen. F32 Depressive Episode 17 % erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Depression F33 Rezidivierende depressive Episode F43 Anpassungsstörung Viele der Betroffenen ziehen sich sozial zurück Bis zu 80 % der depressiven Patienten sind betroffen 49 ANHANG GLOSSAR F41 F48 Andere Angststörungen Knapp vier Prozent aller Fehltage aufgrund von psychischen Erkankungen entfallen auf Panik-/Angststörungen. Sie verursachten 2014 pro Jahr 15,9 Fehltage pro 100 Versicherte der DAK-Gesundheit. Wie äußern sich diese anderen Angststörungen? Bei einer Panikstörung erleiden die Betroffenen mindestens eine Panikattacke pro Monat, häufig mit Herzrasen, Schweißausbruch oder Zittern. Viele Patienten bekommen auch Atemnot, Beklemmungen oder Übelkeit. Diese Alarmreaktionen des Körpers und der Psyche überfallen die Patienten ohne äußeren Anlass. Sie bauen sich innerhalb weniger Minuten auf und werden oft als (lebens-)bedrohlich erlebt. Viele Patienten entwickeln deshalb eine Angst vor der Angst. Bei der generalisierten Angststörung machen sich die Patienten schwere Sorgen über alle möglichen Themen (Familie, Gesundheit, Geld, Arbeit). Diese Grübelneigung ist aber nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen beschränkt, sondern generell. Sie hält länger als sechs Monate an und geht oft mit vegetativen Symptomen einher wie Herzrasen und Zittern. Die Patienten sind unfähig, sich zu entspannen. Andere neurotische Störungen Mit 21 Fehltagen pro 100 Versicherten haben die anderen neurotischen Störungen (F48) ebenfalls einen vergleichsweise großen Anteil an allen Fehltagen wegen psychischer Erkrankungen. Wie äußern sich diese neurotischen Störungen? Zu den neurotischen Beschwerden gehören unter anderem folgende drei Störungen: 1. Die Neurasthenie, bei der die Betroffenen vor allem über körperliche und geistige Müdigkeit klagen. 2. Das seltene Depersonalisationssyndrom, bei dem die Patienten den eigenen Körper und das eigene Denken als fremd wahrnehmen. 3. Das Derealisationssyndrom, bei dem ihre Umgebung den Betroffenen fremd, wie verändert erscheint. Der Kontakt zur umgebenden realen Welt ist anhaltend gestört. Allen Störungsbildern gemeinsam ist, dass die Patienten großen Leidensdruck verspüren. Dieser kann seelisch sein und sich als Angst und Depression äußern oder körperlich. Die Patienten leiden dann etwa unter Lähmungserscheinungen, Sehstörungen bis hin zur Blindheit oder Gefühlsstörungen. Wer ist betroffen? Vier bis fünf Prozent aller Menschen ent­ wickeln irgendwann in ihrem Leben einmal eine Angststörung. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. F41 Panik-/Angststörung 15,9 Fehltage pro Jahr 50 Wer ist betroffen? Es sind deutlich mehr Frauen von neuro­ tischen Störungen betroffen als Männer. F48 andere neurotische Störungen Frauen sind häufiger betroffen ANHANG GLOSSAR F45 Somatoforme Störungen Auf das Konto der somatoformen Störungen (F45) gehen knapp sieben Prozent der Fehltage wegen psychischer Leiden. Bei der DAK-Gesundheit waren das 2014 bezogen auf 100 Versicherte 15,9 Fehltage. Wie äußern sich somatoforme Störungen? Kennzeichnend für eine somatoforme Störung ist der Umstand, dass die Betroffenen seit mindestens zwei Jahren unter vielen unterschiedlichen körperlichen Beschwerden leiden, aber sich für ihre Beschwerden keine ausreichenden organischen Ursachen finden lassen. Oft sind es Beschwerden im Magen-Darm-Trakt, wie Schmerzen, Aufstoßen, Übelkeit oder Durchfall. Aber auch unangenehme Hautempfindungen wie Jucken und Brennen sind häufig. Manche Patienten leiden auch unter sexuellen oder menstruellen Störungen. Wer ist betroffen? Somatoforme Störungen betreffen etwa vier Prozent der Bevölkerung. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Herausgeber und Kontakt: DAK-Gesundheit Gesetzliche Krankenversicherung Nagelsweg 27–31 20097 Hamburg, Tel.: 040 23 96 1409 Email: [email protected] www.dak.de Grafik mdsCreative GmbH, Sandra Burkert www.mdscreative.com Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. h. c. Herbert Rebscher Rechte Nachdruck oder Aufnahme in OnlineDienste ist auch auszugsweise unter Angabe der Quelle gestattet. Dieser Report wurde in 10/15 gedruckt. Nachträglich kann es zum Beispiel durch gesetzliche oder personelle Änderungen zu Abweichungen kommen. Nähere Auskünfte erhalten Sie bei der DAK-Gesundheit. Verantwortlich Jörg Bodanowitz, Leiter Unternehmenskommunikation Redaktion Dagmar Schramm Foto Titel: iStock Grafiken: Universität Bielefeld/Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, mdsCreative Redaktionelle Mitarbeit Sabine Langner, Nina Osmers Gabriela Wehrmann, Dorothea Wiehe 51 ANHANG EXPERTEN-STECKBRIEFE Experten Prof. Dr. Gerd Glaeske ist Co-Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am SOCIUM - Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Sein Fokus liegt auf der kritischen Analyse der Arzneimittelverordnungen in Deutschland. Dr. Jan Helfrich ist Leiter des Bereichs ambulante Leistungen bei der DAK-Gesundheit. Er entwickelt Versorgungskonzepte für Menschen mit psychischen Erkrankungen und sorgt für eine zielgerichtete Steuerung. Prof. Dr. rer. soc. Anne Maria Möller-Leimkühler leitet die Abteilung psychiatrische Soziologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einer der Forschungsschwerpunkte der Diplom-Sozialwissenschaftlerin ist Gender und psychische Störungen. Dr. Hans-Peter Unger ist Psychiater und Psychotherapeut und leitet als Chefarzt das Zentrum für seelische Gesundheit in der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg. Sein Ziel ist es, die Zahl der ambulanten Behandlungen durch die Vernetzung verschiedener Versorgungsangebote zu steigern. Dr. Mario Weiss ist Vorstand der GAIA AG. Er gehört zu den E-Health-Pionieren und hat das Therapiekonzept Deprexis entwickelt. Für die Versicherten der DAK-Gesundheit ist unter seiner Federführung Veovita, ein neues Programm zur Behandlung von Depressionen und Angststörungen, entstanden. 52 ANHANG REPORTDESIGN Reportdesign Grundlage dieser Analyse sind die Gesundheitsreporte der DAK-Gesundheit Bild:Thinkstock.de/iStock/Mizina Auswertung DAK-Daten Für den Psychoreport hat das IGES Institut die Daten zur Arbeitsunfähigkeit aller bei der DAK-Gesundheit versicherten Berufstätigen analysiert. Die Grundlage dafür sind die jährlich erscheinenden Gesundheitsreporte, die einen verlässlichen Überblick über das Krankheitsgeschehen in der Arbeitswelt bieten. Mit dem vorliegenden Report stellt die DAK-Gesundheit dar, wie sich die durch psychische Erkrankungen verursachten Fehlzeiten zwischen den Jahren 1997 und 2014 entwickelt haben. Die geschlechts-, alters-, branchen- und regionalspezifischen Besonderheiten wurden anhand der häufigsten Diagnosen im Bereich der psychischen Leiden untersucht (F32/F33, F43, F48, F41, F45, F10, F20, F31, F34, F60). 53 Sie haben Fragen. Wir die Antworten. 24 Stunden an 365 Tagen. DAK-Versicherungsexperten informieren und beraten Sie über Leistungen, Beiträge und Mitgliedschaft. DAKdirekt 040 325 325 555 zum Ortstarif. DAK-Medizinexperten antworten auf alle Fragen zu medizinischen Themen. Mit Kinder- und Sportmedizin-Hotline. DAKGesundheitdirekt 040 325 325 800 zum Ortstarif. DAK-Medizinexperten helfen Ihnen weltweit bei Erkrankungen im Urlaub. DAKAuslanddirekt 0049 40 325 325 900 DAK-Onlineservice. Einfach, bequem und sicher: der Onlineservice für unsere Kunden – mit persönlichem Postfach. Gleich registrieren und Passwort zuschicken lassen: www.dak.de/meinedak Herausgeber: DAK-Gesundheit Gesetzliche Krankenversicherung Nagelsweg 27–31, 20097 Hamburg Internet: www.dak.de Unser Report wurde 10/15 gedruckt. Nachträglich kann es z. B. durch Gesetzesänderungen zu abweichenden Regelungen kommen. Aktuelle Auskünfte erhalten Sie in Ihrem Servicezentrum der DAK-Gesundheit.