Wie können die Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigt und dabei gleichzeitig die Entwicklungsmöglichkeiten künftiger Generationen nicht ungerecht eingeschränkt werden? Das ist die Kernfrage aller Überlegungen, die sich unter dem Sammelbegriff „Nachhaltigkeit“ fassen lassen. Der katholische Theologe Professor Markus Vogt ist davon überzeugt, dass Probleme wie die Klimaveränderung nur im engen Dialog von Natur- mit Geisteswissenschaften erfolgreich in konkrete Handlungsprinzipien übersetzt werden können. Er sieht dabei insbesondere die Kirchen gefordert, wichtige ethische Impulse in Politik und Gesellschaft zu geben. Marcus Simon christliche ethik an der zwei-grad-kippe N ur zwei Grad Celsius machen den Unterschied. Wenn die Zunahme der Mitteltemperatur weltweit unter diesem Wert bleibt, besteht Hoffnung für den Planeten. Erwärmt sich die Erde stärker, drohen drastische Klima- veränderungen wie das Auftauen des Permafrost-Bodens oder das Abschmelzen der Eismassen in der Antarktis, die noch bis vor kurzem als „ewiges Eis“ bezeichnet wurden. Schon bei relativ geringen Temperaturanstiegen kann das Klimasystem bereits sogenannte „Kipp-Punkte“ erreichen, bei denen es zu abrupten und drastischen Änderungen kommt. Obwohl die genaue Grenzbestimmung naturwissenschaftlich nicht eindeutig ist, gilt der Zwei-Grad-Wert als Richtschnur für die internationale Klimapolitik: 109 der insgesamt 192 Unterzeichnerstaaten der UNO-Klimarahmenkonvention haben sich zu dem Ziel bekannt, die globale Erderwärmung nicht über zwei Grad wachsen zu lassen. Dass dies erreicht werden kann, sehen neuere Analysen jedoch skeptisch, so etwa der „Synthese-Report“, den ein internationales Forscherteam im Auftrag des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen der UN (IPCC) im Frühjahr 2009 veröffentlichte. Demnach sei schon die heutige Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre hoch genug, um eine globale Erwärmung von zwei bis 2,4 Grad Celsius auszulösen. Eng verknüpft mit Untersuchungen zum Ausmaß des Klimawandels ist die Frage, wie dieser zumindest gebremst werden kann. Und damit kommt ein Begriff ins Spiel, der in den letzten Jahren eine rasante Karriere durchlaufen hat: Nachhaltigkeit. Gemeint ist eine vorsorgende soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung, die die Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigt und dabei gleichzeitig die Möglichkeiten künftiger Generationen im Blick behält, damit diese ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen und ihren Lebensstil frei wählen können. Es geht also um nichts weniger als einen Generationenvertrag, über den gewährleistet wird, dass auch in Zukunft Menschen weltweit ein möglichst intaktes ökologisches System und damit gesicherte Lebensgrundlagen vorfinden. E i n e St i m m e f ü r d i e N ac h h a lt i g k e i t Soweit der hehre Gedanke. Doch die internationale Politik hat Schwierigkeiten damit, Nachhaltigkeit in konkrete Handlungsmaximen umzusetzen. „Die entscheidende ethisch-politische Herausforderung besteht darin, die fragmentierten und kurzsichtigen Interessen auf das langfristige Ziel einer weltweiten Kooperation für vorsorgenden Klimaschutz zu bündeln“, erläutert Professor Markus Vogt, Lehrstuhl für Christliche Sozialethik. Er plädiert dafür, dass die Kirchen in der Debatte um Nachhaltigkeit stärker ihre Stimme erheben: „Nachhaltigkeit betrifft die Fundamente der ethischen Orientierung sowie der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch, Natur und Kultur, die 22 g e i st e s - u n d k u lt u rw i s s e n s c h a f t e n 3 Braunkohlekraftwerk Frimmersdorf mit Gustorfer Kirche im Vordergrund. aufgrund ihres umfassenden Charakters unweigerlich auch eine religiöse Dimension einschließt“, so seine Überzeugung. Was als spezifisch christliche Komponente in die Nachhaltigkeitsdebatte eingebracht werden kann, formuliert der Theologe in seinem Buch Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus ethisch-theologischer Perspektive. Darin unternimmt er den Versuch, Nachhaltigkeit nicht ausschließlich naturalistisch zu betrachten, sondern im Kontext soziokulturell geprägter Vorstellungen von Gerechtigkeit und gutem Leben. Dabei geht es ihm nicht um Technikfeindlichkeit, sondern um technische Innovationen zugunsten von Ressourcenschonung, nicht um die Überwindung von Wohlstandsstreben und Marktfreiheit, sondern um die Etablierung einer ökosozialen Marktwirtschaft zugunsten eines Wohlstands, der mit geringerem Ressourceneinsatz auskommt. „Wir müssen stärker über die biologischen und soziokulturellen Bedingungen unserer Selbsterfahrung als moralische Subjekte nachdenken und diese Bedingungen in der Form ökosozialer Imperative verbindlich schützen“, so Markus Vogt. Dabei durchlaufe die Kirche selbst einen Lernprozess bei der Beteiligung an der Suche nach Antworten auf die ökologischen Herausforderungen: „Die Kirche fährt mit angezogener Handbremse in den Nachhaltigkeitsdialog“, sagt der Theologe. Sein Vorschlag, diese Handbremse zu lockern, ist, Nachhaltigkeit als „missing link“ zwischen Schöpfungsglauben und gesellschaftlichem Umweltdiskurs zu begreifen. „So wie der christliche Gedanke der Caritas Jahrhunderte lang nur tugendethisch verstanden und erst in der Verbindung mit dem Solidaritätsprinzip politikwirksam wurde, so braucht der Schöpfungsglaube eine Übersetzung in ordnungsethische Kategorien, um politikfähig und juristiziabel zu werden und die konkreten Konsequenzen in den organisatorischen Strukturen und wirtschaftlichen Entscheidungen deutlich zu machen.“ Den Nachhaltigkeitsdiskurs sieht er aktuell noch zu weit entfernt von einer einheitlichen Gesellschaftskonzeption, um einen neuen, tragfähigen Gesellschaftsvertrag begründen zu können. Gerade deshalb seien insbesondere die Kirchen gefordert: „Die Kirchen und die ganze Gesellschaft müssen lernen, mehr Biss zu zeigen, politischer zu sein.“ Politik sei nicht das System, das alles steuern könne – das habe die Dramaturgie der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro gezeigt, die maßgeblich von Nichtregierungsorganisationen (NGO) bestimmt war. Bei der Konferenz 2002 in Johannesburg waren die NGO am anderen Ende der Stadt ausgegrenzt und hatten kaum Einfluss auf die Ergebnisse. Entsprechend dünn seien diese ausgefallen, so Markus Vogt. Die Zeit wird knapp; 2012 soll der neue Weltklimavertrag (PostKyoto-Vertrag) unterschriftsreif sein. Dabei hat man sich noch nicht einmal auf ein einheitliches Gerechtigkeitsmodell geeinigt. „Wir müssten jetzt für den neuen Weltklimavertrag darüber verhandeln, was unter Gerechtigkeit im globalen Blickwinkel zu verstehen ist. Im Dezember 2009 auf der Konferenz in Kopenhagen müssten wir eigentlich tragfähige Modelle vorliegen haben. Stattdessen existieren völlig unterschiedliche Ansätze.“ im dialog mit den Naturwissenschaften Was kann nun die Kirche dazu beitragen, damit vorsorgendes Denken eine feste Größe bei wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen wird? Nachhaltigkeit, so wie es politisch konzipiert werde, könne leicht in Ideologie umkippen, sagt der Theologe. „Da wird von politischer Seite alles Mögliche versprochen, aber im Grunde rechtfertigt man damit nur bestehende Verhältnisse. Die ideologiekritische Funktion der Religion versucht, den Horizont zu erweitern und konsequent von den Schwächsten her zu denken, die Rückseite der Globalisierung in den Blick zu nehmen.“ Dabei gibt er sich keinen Illusionen hin: Der christliche Zugang sei kein Ersatz für, natur- und 23 g e i st e s - u n d k u lt u rw i s s e n s c h a f t e n 1850 1900 1950 2000 14,5 a) Globale Durchschnittsoberflächentemperatur (in °C) 7 Die globale Durchschnittsoberflächentemperatur seit dem Jahr 1850 (oben), die globale Durchschnittsmeereshöhe seit 1870 (Mitte) und die Schneebedeckung der Nordhalbkugel seit 1920 – in den Grafiken werden die Durchschnittswerte angegeben. Blau unterlegt ist jenes Intervall um die Durchschnittswerte herum, in dem sich nach Einschätzung der IPCC die Mess-Unsicherheit bewegt. 14,0 13,5 sozialwissenschaftliche Rationalitäten. „Nachhaltigkeit muss b) Globale Durchschnittsmeereshöhe sich als sozial, ökonomisch und ökologisch vernünftig aufweisen­ lassen“, sagt Markus Vogt und betont, dass eine soziale und ­gerechte ­Gesellschaft nur gestaltet werden kann im Dialog mit den ­Naturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften sieht er in diesem notwendigen ­gesellschaftlichen Diskurs bislang jedoch ­unterrepräsentiert. Auch der religiöse Beitrag bei der Verankerung von Nachhaltigkeit sei noch nicht hinreichend kommuniziert c) Schneebedeckung der Nordhalbkugel (in Mio. km2) 40 worden. So könne etwa das christliche Verständnis von Gerechtigkeit mit ihrer Option für die Armen den Anspruch der Nach- 36 haltigkeit begründen helfen, ein globales Handlungskonzept zu formulieren, das gerade auch Dritt-Welt-Länder mit einbezieht. 32 1850 1900 1950 2000 Zugleich könne die christliche Reich-Gottes-Verkündung dazu dienen, die Verantwortung für die Zukunft in den Mittelpunkt zu rücken. Der Glaube fußt auf dem existenziellen Bewusstsein davon, dass den Menschen Grenzen gesetzt sind. Die Erfahrung der Grenzen der Natur könne für den Menschen auch eine Chance sein, „seine eigenen Grenzen als Geschöpf, das das Leben nicht aus sich selbst hat und nicht dauerhaft behalten kann, neu zu erkennen“. Nur wenn er sich dementsprechend in ein ihn tragendes und umfassendes Ganzes einfüge, sei sinnerfülltes Leben für den Menschen möglich. Langfristig sei wirtschaftlicher Erfolg daran zu messen, wie er sich in die Gesamtökonomie der Schöpfung integriere, die damit zugleich eine Wirtschaft für den Menschen werde. Und schließlich sieht Markus Vogt im christlichen Ethos der Solidarität eine wichtige Motivation, sich für globale Gerechtigkeit und weltweite Partnerschaften einzusetzen: „Nachhaltigkeit braucht Orte gelebter Solidarität, wofür die global vernetzte, lokal verwurzelte und auf Dauer angelegte Struktur der Kirche als größte und älteste Weltgemeinschaft ein wichtiger Impulsgeber ist.“ s c h ö p f u n g s g la u b e i st o h n e n ac h h a lt i g k e i t b l i n d Christliche Sichtweisen in die öffentliche Diskussion über nachhaltige Entwicklung zu tragen, ist das eine Anliegen des Theologen. Auf der anderen Seite will er innerhalb der Kirche das ökologische Bewusstsein stärken. Zu ­lange seien auch in kirchlichen Kreisen die Belange von Natur und Mensch gegeneinander ausgespielt worden. Die christliche Ethik wurde häufig von Öko-Aktivisten als Teil des Problems betrachtet, da sie in ihrer Fixierung auf die Bedürfnisse des Menschen die Natur aus dem Blick verloren, ja ihr sogar geschadet habe. An diesem Punkt setzen Markus Vogts Bemühungen an. Er ist davon überzeugt, dass Schöpfungsglaube ohne Nachhaltigkeit politisch blind ist, weil er sich nicht auf die Entscheidungsprobleme in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik beziehen lässt. „Das heißt, wir haben dann zwar eine schöne Menge an ethischen Imperativen, aber wir konkretisieren sie nicht in Bezug auf die Konflikte, die wir zu entscheiden haben.“ Sein Ziel ist deshalb, das Prinzip Nachhaltigkeit im christlichen Bewusstsein zu verankern. Nachhaltigkeit betrachtet er als Zukunftsvorsorge, deren motivierende Hoffnung nicht Fortschrittsoptimismus ist, sondern die Vision eines gelungenen Lebens in den Grenzen der Natur. Eine solche Hoffnung jenseits von Fortschrittsoptimismus findet sich im christlichen Glauben: „Sie basiert nicht auf der Vorstellung, dass alles immer besser wird und der Mensch eine vollkommene Gesellschaft schaffen könne, sondern im Gegenteil 24 g e i st e s - u n d k u lt u rw i s s e n s c h a f t e n auf einem existentiellen Bewusstsein der Grenzen des Menschen, das sich dann zum Heil und zur Hoffnung wenden kann, wenn der Mensch den Geschenkcharakter des Lebens und seine Angewiesenheit auf Gemeinschaft erkennt.“ Mit seinem Buch will Markus Vogt explizit eine Lücke füllen, die er in der theologisch begründeten, menschenzentrierten Ethik ausgemacht hat: Der katholischen Sozialethik fehle bislang ein prinzipieller Zugang zur Umweltfrage, weshalb er das Thema Nachhaltigkeit in den Prinzipienkanon christlicher Sozialethik einbinden will. Diese Sozial­prinzipien fungieren als eine Art „ethische Grammatik“ für den Strukturaufbau der Gesellschaftsordnung. „Ihr syste­matischer Ort und ihre Funktion ist die Übersetzung biblischer Imperative in ordnungsethische Kategorien, die der offenen Dynamik moderner Gesellschaft und Wirtschaft Rechnung tragen.“ Die katholische Kirche zählt bislang die drei Kategorien Personalität, Solidarität und Subsidiarität zu den Sozialprinzipien. Personalität meint dabei die Anerkennung der Würde des Menschen als Individuum, aus der unter anderem die Grundsätze des Rechtsstaates folgen. Solidarität ist Ausdruck der anthropologischen Bestimmung des Menschen als Sozialwesen, aus der sich das Postulat einer gerechten und ausgleichenden Verteilung ergibt. Subsidiarität schließlich zielt auf die Eigenschaft des Menschen als Kulturwesen, aufgrund derer den kleineren Einheiten sozialer und kultureller Zugehörigkeit ein Vorrang gegenüber jeweils größeren Organisationseinheiten gebührt. Markus Vogt will nun Nachhaltigkeit als viertes Sozialprinzip etablieren, denn „Nachhaltigkeit ist eine notwendige modernitätssensible Weiterentwicklung der traditionell unter Gemeinwohl thematisierten Fragen. Nachhaltigkeit ist das Sozialprinzip des Gemeinwohls im ­Umbruch der Moderne.“ Damit formuliert dieses Prinzip die anthropologische Größe der Naturbeziehung des ­Menschen, die heute Ausgangspunkt zahlreicher Gerechtigkeitskonflikte ist. Ob es gelingen wird, mit diesen christlich fundierten Denkanstößen eine vorsorgende und nachhaltige Entwicklung voranzutreiben? Sicher ist, dass die Zeit dafür knapp wird. Das weiß auch Markus Vogt. Darauf angesprochen, ob er glaubt, dass das ehrgeizige Zwei-Grad-Ziel erreicht wird, schüttelt er den Kopf und lächelt: „Das heißt aber nicht, dass wir jetzt in Katastrophen- und Alarmszenarien verfallen sollten. Für die Theologie ist es relativ normal, Ziele nicht zu erreichen; sie hat viel Erfahrung mit Kontingenz. Wir wissen, dass wir unseren Anspruch auf gelingendes Leben nicht selbst erfüllen können aber uns immer darauf ausrichten müssen. Das Kreuz, das Misslingen, die ­Katastrophe gehört zum Leben dazu. Deshalb ist nicht alles abgeschrieben und hoffnungslos, sondern es gibt immer wieder überraschend neue Wege zu gehen.“ Prof. Dr. Markus Vogt ist seit 2007 Lehrstuhlinhaber für Christliche Sozialethik an Katholische Fakultät. 2009 erschien sein Buch „Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive“. [email protected] http://www.kaththeol.uni-muenchen.de/einrichtungen/lehrstuehle/christl_sozialethik/personen/vogt/index.html 25 g e i st e s - u n d k u lt u rw i s s e n s c h a f t e n