Kant, Kritik der reinen Vernunft Die transzendentale Logik, Urteils

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Technische Universität Dortmund, Sommersemester 2008
Institut für Philosophie, C. Beisbart
Kant, Kritik der reinen Vernunft
Die transzendentale Logik, Urteils- und Kategorientafel. Übersicht über
die Sitzung vom 20.5.2008
Textgrundlage: Transzendentale Logik, Einleitung und erstes Hauptstück, MeinerAusgabe J. Timmermann 1998. Hervorhebungen in Zitaten geben nicht die Unterschiede
zwischen A- und B-Auflage wieder, sondern Hervorhebungen von Kant. Im Zweifel folgen
wir der B-Auflage.
1
Was ist die transzendentale Logik (Einleitung)?
Nach der transzendentalen Ästhetik wendet sich Kant der transzendentalen Logik zu.
Die transzendentale Logik ist also das Gegenstück zu transzendentalen Ästhetik. Die
Fragestellung der transzendentalen Logik führt Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik aus.
Diese Einleitung zerfällt in vier Abschnitte; die vier Abschnitte lassen sich in zwei
Zweier-Gruppen gruppieren. Dabei ähnelt die Struktur der ersten Zweier-Gruppe der
der zweiten. In der ersten Zweier-Gruppe (I–II) geht es um die Logik; in der zweiten
Zweiergruppe (III-IV) um die Unterteilung der Logik. Der jeweils erste Abschnitt einer
Zweier-Gruppe gilt dabei der Logik im allgemeinen; der jeweils zweite Abschnitt widmet
sich einer speziellen transzendentalen Logik.
Zur Abgrenzung der transzendentalen Logik und der transzendentalen Ästhetik
Die Unterscheidung transzendentale Logik vs. transzendentale Ästhetik ergibt sich aus
Kants Auffassung, es gebe zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis“ (B29/89) oder
”
zwei Grundquellen des Gemüts“, wie Kant in A/50/B74/129 sagt. Zu Beginn der tran”
szendentalen Logik charakterisiert Kant diese beiden Stämme noch einmal (Parallelstelle: Beginn der transzendentalen Ästhetik, A19/B33/93). Grundlegend ist dabei folgende
Gegenüberstellung: (vgl. Mohr 2004, S. 102 f.):
Sinnlichkeit
Anschauungen
Gegenstände werden gegeben
unmittelbarer Gegenstandsbezug
Anschauung als Gegenstandsbezug
Passivität/Reziptivität
Transz. Ästhetik
Verstand
Begriffe
Wir denken Gegenstände
mittelbarer Gegenstandsbezug
Denken als Gegenstandsbezug
Aktivität/Spontaneität
Transz. Logik
Dabei firmieren sowohl Anschauungen und Begriffe als Vorstellungen. Sie sind diejenigen
Elemente, um die es in der Elementarlehre gehen soll (vgl. A50/B74/129).
Neu ist nun für uns am Beginn der transzendentalen Logik, wie Kant das Verhältnis
der beiden Erkenntnisstämme und der zugehörigen Erkenntniselemente beschreibt. Kant
betont erstens, dass die beiden ihre Rollen nicht austauschen können:
1
Beide Vermögen, oder Fähigkeiten [Sinnlichkeit und Verstand], können auch
”
ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen,
und die Sinne nichts zu denken.“ (A51/B75/130).
Wenn die Rollen von Sinnlichkeit und Verstand vertauschbar wären, dann könnte sich
Kant beispielhaft nur einen der beiden Erkenntnisstämme untersuchen.
Zweitens hebt Kant hervor, dass Sinnlichkeit und Verstand notwendigerweise zusammenwirken müssen, wenn Erkenntnis entstehen soll.
Nur daraus, daß sie [Sinnlichkeit und Verstand] sich vereinigen, kann Er”
kenntnis entspringen.“ (A51/B75–6/130).
Auf die Ebene der zu Sinnlichkeit und Verstand gehörigen Vorstellungen heißt das:
Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.
”
Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d.i. ihnen
den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich
verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen).“ (A51/B75/130).
Kant vertritt hier die These, dass Begriffe nur Inhalt bekommen, indem sie auf die eine
oder andere Weise auf Anschauungen (sinnliche Vorstellungen) zurückbezogen werden.
Anschauungen, die nicht begrifflich verarbeitet werden, hält Kant ebenso für wertlos.
Dass Sinnlichkeit und Verstand stets zusammenwirken müssen, damit Erkenntnis
entsteht, heißt aber nicht, dass der Philosoph nicht zwischen den beiden im Sinne einer
nachträglichen Abstraktion unterscheiden kann (vgl. etwa Mohr 2004, 99; vgl. auch
Aristoteles zur Form-Stoff-Unterscheidung). Kant zufolge
darf man aber doch nicht ihren Anteil [die Anteile von Sinnlichkeit und
”
Verstand] vermischen, sondern man hat große Ursache [gute Gründe], jedes
von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden.“ (B76/A52–
3/130).
Nachdem Kant die Sinnlichkeit von dem Verstand abgesondert hat, nimmt Kant
in der transzendentalen Ästhetik einen zweiten Isolationsschritt vor, in dem Form von
Inhalt (Kant: von der Materie) getrennt werden. Dabei wird der Inhalt als a posteriori,
die Form als a priori ausgezeichnet. Kant gelangt dann zu dem Begriff einer reinen
(meint: nicht-empirschen, apriorischen) Anschauung (A20–1/B34–5/94).
Innerhalb der transzendentalen Logik müsste der reinen Anschauung ein reiner Begriff entsprechen. In der Tat spricht Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik
von reinen Begriffen (A51/B75/129). Sie enthalten
allein die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt“ (ib.).
”
Die reinen Anschauungen waren Raum und Zeit. Daher stellt sich nun die Frage, was
die reinen Begriffe, genauer die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien sind.
Von der Logik zur transzendentalen Logik
Gemäß dem Gesamtprogramm der KrV muss es in der transzendentalen Logik um die
Analyse des Verstandes gehen. Weil der Verstand Gegenstände denkt und weil die Logik
die Wissenschaft vom Denken ist, lag es nahe, den entsprechenden Teil der KrV eine Logik zu nennen. Kant spricht von einer transzendentalen Logik, denn was ihm vorschwebt,
ist eine transzendentale Untersuchung – eine Untersuchung, die die Möglichkeit apriorischen Wissens analysiert (B25/83).
2
Allerdings gibt es natürlich die etablierte Disziplin der Logik – Kant hält sie im wesentlichen für abgeschlossen (BVIII). Daher versucht Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik, den Anschluss an die bekannte Logik zu gewinnen. Er entwickelt
also das Programm einer transzendentalen Logik, indem er diese als eine spezielle Logik
einführt.
Kant definiert die Logik als
Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt“ (A52/B76/130).
”
Da der Verstand denkt, kann man den Gegenstand der Logik auch mit den Regeln des
richtigen Denkens kennzeichnen (vgl. ib.).
Nach Kant kann man die Logik in allgemeine Logik (Elemenatarlogik) und Logik
”
des besonderen Verstandesgebrauchs“ einteilen (ibid.). Die allgemeine Logik abstrahiert
von allem Inhalt und benennt
die schlechthin notwendigen Regeln des Denkens, ohne welche gar kein Ge”
brauch des Verstandes stattfindet, und geht also auf diesen, unangesehen der
Verschiedenheit der Gegenstände, auf welche er gerichtet sein mag“ (ib.)
Eine Logik des besonderen Verstandesgebrauchs beschränkt sich demgegenüber auf einen
bestimmten Gegenstandsbereich und analysiert die Regeln des Denkens, die dort gelten.
Die transzendentale Logik ist nun eine Logik des besonderen Verstandesgebrauchs.
Sie beschäftigt sich nicht dem Denken von empirischen Inhalten, sondern mit dem Verstandesgebrauch, der es mit Vorstellungen zu tun hat, die nicht aus der Erfahrung
stammen – also etwa der reinen Anschauung des Raumes (A55–6/B80/133-4).
Genauer führt Kant die transzendentale Logik ein, indem er vermutet, man könne
reines und empirisches Denken unterscheiden (A55/B79–80/133). Wie genau sich reines
und empirisches Denken unterscheiden, sagt Kant dabei nicht; er deutet nur an, dass
es etwas mit dem Inhalt der zugehörigen Erkenntnis zu tun hat (A55–6/B80/133-4).
Kant behauptet auch, die transzendentale Logik interessiere sich für die Quelle unserer
Erkenntnis von Gegenständen, sofern diese nicht in der Erfahrung liege (ib.).
Etwas später führt Kant das Programm der transzendentalen Logik ein, indem er
vermutet, es gebe Begriffe, die sich unabhängig von aller Erfahrung auf Gegenstände
beziehen (A57/B81/135).
Ein Begriff kann sich allgemein auf Gegenstände beziehen, indem die Gegenstände
unter den Begriff fallen. Der Begriff des Blauen bezieht sich in diesem Sinne auf alle
blauen Gegenstände. Kants Vermutung lautet nun, dass bei bestimmten Begriffen der
Bezug, nicht die Gegenstände selbst, unabhängig von aller Erfahrung besteht. Kants
Formulierungen sind dabei leider nicht immer ganz klar; so verwendet er die Wendung:
so fern sie [die Vernunft] auf Gegenstände a priori bezogen wird“ (A57/B81–
”
2/135).
Wenn man diese Formulierung liest, denkt man zunächst, Kant spreche von Gegenständen
a priori, aber das ist wohl nicht gemeint; das a priori“ soll vielmehr den Bezug auf die
”
Gegenstände charakterisieren.
Kants explizite Definition der transzendentalen Logik lautet dann wie folgt. Die
transzendentale Logik ist die
Wissenschaft, welche den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit
”
solcher Erkenntnisse bestimmete“ (A57/B81/135),
in denen sich unsere Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen. Dabei kann es sich
nicht mehr um die allgemeine Logik handeln. An dem Zitat wird auch deutlich, dass
3
sich Kant mit seiner transzendentalen Logik von der Logik (als der Wissenschaft vom
richtigen Denken) entfernt. Denn die traditionelle Logik hat es nicht mit dem Ursprung
der Erkenntnisse und ihrem Umfang zu tun.
Eine Nachbemerkung: Innerhalb der allgemeinen Logik unterscheidet Kant zwischen
reiner und angewandter Logik (A52–3/A77–8/131–2). Diese Unterteilung hat nichts
mehr mit dem Gegenstand der Logik zu tun (es geht bei der reinen Logik insbesondere nicht um die Regeln des reinen Denkens). Man kann vielmehr grob sagen, dass
die reine Logik Regeln des Denkens angibt, die für alle Vernunftwesen gelten. Die angewandte Logik berücksichtigt hingegen auch psychologische Erkenntnisse über die Art
und Weise, wie wir als Menschen Erkenntnis erwerben.
Da die Unterscheidung rein vs. angewandt nach Kant die allgemeine Logik betrifft
und da die transzendentale Logik nicht zur allgemeinen Logik gehört, bezieht Kant die
Unterscheidung nicht auf die transzendentale Logik. Allerdings könnte man im Prinzip
auch eine Logik des besonderen Verstandesgebrauchs in reiner oder angewandter Manier
betreiben. Kant entwickelt in diesem Sinne seine transzendentale Logik, indem er von
psychologischen Kenntnissen absieht.
Die Unterteilung der transzendentalen Logik
Kants transzendentale Logik zerfällt in zwei Subdisziplinen, nämlich die transzendentale
Analytik und die transzendentale Dialektik. Diese Aufteilung gewinnt Kant, indem er
eine weitere Aufteilung der allgemeinen Logik auf die transzendentale Logik überträgt.
Die Regeln des richtigen Denkens, um die es in der allgemeinen Logik geht, haben
für Kant den Charakter eines negative[n] Probierstein[s]“ (A60/B84/137). Sie sind ein
”
notwendiges Kriterium für den Wahrheitsgehalt von Erkenntnis – was den Gesetzen
der Logik widerspricht, kann nicht wahr sein (A59/B84/137). Aber die Logik gibt kein
hinreichendes Kriterium für Wahrheit an. Das liegt daran, dass die Logik immer von
Inhalten abstrahiert (A58–60/B83–4/136–7).
Nun wird dieser Probierstein-Charakter der allgemeinen Logik jedoch nach Kant
manchmal übersehen. Es wird versucht, nur mithilfe der Logik zu welthaltiger Erkenntnis
vorzudringen. Nach Kant ist das jedoch nicht möglich – jegliche Erkenntnis muss sich
auf außerlogische Quellen stützen (A60–1/BB85/138).
Daraus ergibt sich für Kant die Unterteilung der allgemeinen Logik in Analytik und
Dialektik. Die Analytik
löst nun das ganze formale Geschäfte des Verstandes und der Vernunft in
”
seine Elemente auf, und stellet sie als Prinzipien aller logischen Beurteilung
unserer Erkenntnis dar.“(A60/B85/137).
Die Dialektik ist hingegen für Kant eine
em Kritik des dialektischen Scheins“ (A62/B86/139),
”
der entsteht, wenn die Regeln aus der Analytik missbraucht werden, wenn also versucht
wird, allein aus der Logik welthaltige Erkenntnis zu gewinnen (vgl. A61/B85/138). Der
dialektische Schein beruht auf einer Verwechslung der Form und des Inhalts von Erkenntnis (A61/B86/139).1
Kant überträgt diese Unterteilung der allgemeinen Logik auf die transzendentale
Logik (obwohl die transzendentale Logik streng genommen nicht zur allgemeinen Logik
gehört). Er definiert die transzendentale Analytik wie folgt:
1
Die Bezeichnung Dialektik“ übernimmt Kant aus der Philosophiegeschichte. So hatte bereits
”
Platon eine Wissenschaft mit dem Namen Dialektik“ eingeführt.
”
4
Der Teil der transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Ver”
standeserkenntnis vorträgt, und die Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann, ist die transzendentale Analytik“ (A62/B87/
140).
Die transzendentale Dialektik widmet sich dagegen dem Missbrauch derjenigen Prinzipien, die in der transzendentalen Analytik gewonnen werden (A63–4/B87–88/140–1).
Bei der Beschreibung eines solchen Missbrauchs kommt eine besondere Note ins
Spiel. Der Missbrauch soll nach Kant u.a. darin bestehen, dass wir den Bereich aller
möglichen Erfahrung verlassen (A63/B87–88/140). Dass wir das nicht dürfen, ist ein
Hauptergebnis der transzendentalen Analytik.
2
Vorgehen und Unterteilung der transzendentalen Analytik
Zu Beginn der transzendentalen Analytik beschreibt Kant noch einmal deren Aufgabe.
Diese Analytik ist die Zergliederung unseres gesamten Erkenntnisses a priori
”
in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis.“ (A64/B89/142).
Weil die transzendentale Analytik eine Zergliederung bietet, passt der Name Analytik“
”
gut.
Kant formuliert vier Anforderungen an das Vorgehen der Analytik (ib., Reihenfolge geändert). Diese darf zunächst nur Begriffe und keine Anschauungen untersuchen
(das ist der Isolationsschritt, der der Aufteilung der transzendentalen Elementarlehre
in transzendentale Ästhetik und transzendentale Logik zugrundeliegt). Zweitens dürfen
keine empirischen Begriffe betrachtet werden (zweiter Isolationsschritt). Drittens sollen
nur sog. Elementarbegriffe (im Gegensatz zu abgeleiteten Begriffen) untersucht werden.
Das ist vor allem ein Gebot der Ökonomie – die Elementarbegriffe sollten bereits alles
enthalten, was in den abgeleiteten Begriffen ist. Viertens verlangt Kant Vollständigkeit
der reinen Elementarbegriffe. Kant möchte also vermeiden, dass er einen reinen Begriff
übersieht. Analog war Kant bereits in der transzendentalen Analytik bemüht, keine
reine Anschauung zu übersehen (vgl. dazu A28–30/B44–5/104–5).
In der transzendentalen Analytik möchte Kant Vollständigkeit garantieren, indem er
vom Ganzen der reinen Verstandeserkenntnis ausgeht und systemaitsch vorgeht (A64–
5/B89/142).
Die transzendentale Analytik gliedert Kant in eine Analytik der Begriffe und eine
Analytik der Grundsätze (A65/B90/142–3). Woher diese Unterteilung kommt und was
sie bedeutet, sagt Kant an dieser Stelle nicht. Das wird erst am Beginn der Analytik
der Grundsätze nachgeholt. Dort unterscheidet Kant innerhalb des Verstandes im weiten
Sinne den Verstand im engeren Sinn, die Urteilskraft und die Vernunft. Dem Verstand im
engeren Sinn werden Begriffe, der Urteilskraft Grundsätze und der Vernunft Schlüsse
zugeordnet (A130–1/B169/234). Die Dreiheit Begriffe–Urteile–Schlüsse lag auch dem
Aufbau der aristotelischen Logik zugrunde; dazu kam eine Methodenlehre (Mohr 2004,
S. 154–5). Dass die Dreiheit Begriffe–Urteile–Schlüsse einen sinnvollen Aufbau vorgibt,
kann man sich etwa so klarmachen: Begriffe werden in Urteilen verwendet, also bauen
Urteile auf Begriffen auf. Schlüsse sind Übergänge von Urteilen (Prämissen) zu neuen
Urteilen (Konklusionen).
Ausgehend von dieser Dreiheit Begriffe–Urteile–Schlüsse würde man zunächst erwarten, dass die transzendentale Analytik in drei Teile zerfällt. Bei Kant scheint eine
transzendentale Analytik der Urteile zu fehlen. In der Tat findet sich jedoch bei Kant eine Behandlung der Urteile, allerdings innerhalb der transzendentalen Dialektik. Kant ist
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nämlich der Meinung, dass die Vernunft (als das Vermögen zu schließen) keine Erkenntnis gewinnen kann, wenn sie den Bereich des Erfahrbaren verläßt (A131/B170/234).
Daher kann es keine positive Analytik der Schlüsse geben.
In Kants Unterteilung der transzendentalen Logik verschränken sich also zwei Gliederungprinzipien: Analytik vs. Dialektik und Begriffe-Grundsätze-Schlüsse.
Wir widmen uns jetzt der Analytik der Begriffe.
Kant betont, dass die Analytik der Begriffe nicht einfach eine Begriffsanalyse ist, wie
sie in der Philosophie hinsichtlich jeden Begriffs (etwa des Begriffs der Gerechtigkeit)
durchgeführt werden kann (A65–6/B90–1/143). In der transzendentalen Analytik geht
es grundsätzlicher um die Art und Weise, wie Begriffe funktionieren, insofern sie sich a
priori auf Gegenstände beziehen.
3
Die Auffindung der reinen Verstandesbegriffe
Reine (Verstandes)begriffe sind das Pendant zu reinen Anschauungen. In der transzendentalen Analytik der Begriffe untersucht Kant diese reinen Verstandesbegriffe oder
Kategorien, wie er auch sagt (A76/B102/153). Er geht in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt versucht Kant, die reinen Verstandesbegriffe (genauer die reinen
Elementarbegriffe) vollständig aufzulisten (Erstes Hauptstück; Kant spricht gerne von
einer Entdeckung der besagten Begriffe, etwa A66/B91/144). In einem zweiten Schritt
versucht er, den Gebrauch dieser Begriffe zu rechtfertigen (Zweites Hauptstück, transzendentale Deduktion der Kategorien). Hier geht es im folgenden nur um die Auflistung
aller reinen Elementarbegriffe.
Das zentrale Problem, das sich bei einer solchen Auflistung stellt, besteht darin, dass
alle reinen Elementarbegriffe vollständig erfasst werden und darüberhinaus nichts auf
der Liste erscheint (siehe die vier Anforderungen oben).
Kants Hauptergebnis, seine Auflistung aller reinen Elementarbegriffe findet sich in
der sog. Kategorientafel (A80/B106/156). Diese Tafel listet nicht nur die Verstandeskategorien auf, sondern stellt sie auch in einer bestimmten Ordnung dar. Kant kommt auf
diese Tafel über den Umweg der Urteilstafel (A70/B95/148). Wir müssen im folgenden
Kants Argumentationsgang verstehen.
Vom Verstand zu den Urteilen
Kant möchte die reinen Elementarbegriffe aus einem Zusammenhang heraus gewinnen (A67/B92/144). Dazu geht er in einem ersten Schritt vom Verstandesgebrauche“
”
(A67/B92/145) aus. Kant fragt sich: Was heißt es zu denken oder seinen Verstand zu
gebrauchen?
Kants Antwort auf diese Frage lautet: Der Verstand denkt nur, indem er Urteile fällt
(A69/B94/146):
Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen,
”
so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt [=gekennzeichnet] werden kann.“
Zur Begründung sagt Kant:
Denn er [der Verstand] ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken.
”
Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich, als
Prädikate möglicher Urteile, auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.“ (ib.).
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Dieses Argument wird weiter oben bei Kant (A67–69/B92–B94/145–6) etwas detaillierter ausgeführt. Man kann das Argument wie folgt rekonstruieren: Der Verstand wurde
per definitionem mit dem Denken verbunden. Für Kant erfolgt das Denken im Medium
von Vorstellungen. Es gibt zwei Arten von Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe. Da der Verstand nicht mit der Sinnlichkeit zusammenfällt, muss er mit Begriffen
operieren (Ausschlussbeweis).
Die Frage ist nun, was ein Begriff ist. Kant assoziiert den Begriff mit der Funktion
(A68/B93/145), wobei eine Funktion wie folgt definiert ist:
Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene
”
Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“ (ib.).
Die gemeinschaftliche Vorstellung“ ist dabei der Begriff. Unter ihn werden andere Vor”
stellungen untergeordnet. Das geschieht im Rahmen einer Handlung des Verstandes (der
Verstand ist spontan=aktiv, nicht rezeptiv, ib.).
Kant kennzeichnet den Begriff auch als
Prädikat zu einem möglichen Urteile“ (A69/B94/147).
”
Das kann man sich wie folgt klarmachen. Wir alle verfügen über den Begriff der Bläue.
Bläue kann man unterschiedlichen Gegenständen zuschreiben, indem man ein dementsprechendes Urteil fällt, also etwa das Urteil, jener Stuhl sei blau. In diesem Urteil steht
das Wort blau“ an der Stelle des Prädikats.
”
Was hat das aber mit der Einheit zu tun, die Kant erwähnt? Nun, das Prädikat
blau“, den Begriff der Bläue kann man richtigerweise vielen Gegenständen zuschreiben.
”
Indem wir eine ganze Reihe von Gegenständen als blau bezeichnen, schaffen wir Einheit
in unserer Erfahrung.
Kant sagt noch etwas anderes zu Begriffen. Als Vorstellungen haben Begriffe einen
Gegenstandsbezug. Aber dieser Gegenstandsbezug ist nach Kant nie direkt, sondern immer indirekt (A19/B33/93). Nur Anschauungen haben einen dirkten Gegenstandsbezug
(ib.). Ein Begriff bezieht sich also direkt nur auf eine Vorstellung. Diese bezieht sich
dann (sei es direkt, sei es indirekt) auf einen Gegenstand.
Den mittelbaren Gegenstandsbezug erklärt Kant anhand des Urteils (A68–9/B93–
4/146). Er betrachtet als Beispiel das Urteil, dass alle Körper teilbar sind. Das Prädikat
in diesem Urteil bezeichnet den Begriff der Teilbarkeit. Im Rahmen des Urteils wird
dieser Begriff nach Kant auf den Begriff des Körpers bezogen. Dieser wiederum bezieht
sich auf viele Anschauungen, die ihrerseits Anschauungen von Körpern sind. Damit
bezieht sich der Begriff des Teilbaren über den Begriff des Körpers und dazugehörige
Anschauungen auf Gegenstände (auf die Gegenstände dieser Anschauungen).
Mit Überlegungen und Erläuterungen dieser Art versucht Kant seine These zu plausibilisieren, dass der Verstand nur handelt, indem er urteilt.
Vom Urteil zur Urteilstafel
In einem zweiten Schritt unterscheidet Kant unterschiedliche Funktionen des Verstan”
des“ (A69/B94/147). Mit Funktion“ müssen dabei so etwas wie ein Typ einheitsstif”
tender Handlung gemeint sein. Es muss um die unterschiedlichen Arten des Denkens
gehen. Nach Kant können wir die unterschiedlichen Denkweisen auf unterschiedliche
Urteilstypen zurückführen, weil der Verstand nur denkt, indem er urteilt. Kant schreibt:
Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden,
”
wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen
kann.“ (A69/B94/147).
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1. Quantität
allgemein (Alle S sind P/∀xp(x))
besonders (Ein S ist P/∃xp(X))
einzeln (Genau ein S ist P/∃1 xp(X)))
2. Qualität
bejahend (S ist P)
verneinend (S ist nicht P)
unendlich (S ist nicht-P)
3. Relation
kategorisch (S ist P)
hypothetisch (Wenn S P ist, dann ist S Q)
disjunktiv (S ist P oder S ist Q...)
4. Modalität
problematisch (S ist möglicherweise P)
assertorisch (S ist P)
apodiktisch (S ist notwendig P)
Abbildung 1: Die Urteiltafel nach A70/B95. Beispiele nach Mohr (2004), 169.
Kant fragt sich demnach: Auf welche Art und Weise kann man mithilfe eines Urteils eine
Einheit stiften? Er beantwortet diese Frage, indem er von dem konkreten Inhalt eines
Urteils absieht und nur auf die Verstandesform“ achtet (A70/B95/147). Auf diese Weise
”
kommt er auf die Urteilstafel. Die Urteilstafel klassifiziert die Funktion des Denkens“
”
(ib.) – gemeint sind damit wohl Typen von einheitsstiftenden Denkhandlungen (siehe
dazu Mohr 2004, 178–81).
Die Urteilstafel ist in vier sog. Titeln organisiert. Jeder Titel erfasst einen bestimmten
Formaspekt von Urteilen. Unter jedem Titel gibt es dann drei Optionen. Kant nennt sie
Momente. Ein Urteil ist nach Kant seiner Form nach vollständig charakterisiert, wenn
man ihm unter jedem Titel genau ein Moment zuordnet. Das Urteil, dass alle Schwäne
weiß sind, ist etwa kategorisch, allgemein, assertorisch und bejahend. Die Urteilstafel
ist in Abbildung 1 dargestellt. Die Urteile in den Klammern sind dabei Beispiele, sie
erläutern manchmal nur dann einen Titel, wenn man sich auf den richtigen Formaspekt
konzentriert. So taucht S ist P“ mehrmals in der Tafel auf. Unter Qualität kommt es
”
dabei darauf an, dass das Urteil nicht verneint ist; unter Relation ist wichtig, dass das
Urteil nicht hypothetisch oder disjunktiv ist.
Von der Urteils- zur Kategorientafel
In einem dritten Schritt geht Kant von der Urteilstafel aus und ermittelt die reinen
Verstandesbegriffe oder Kategorien. Dieser dritte Schritt ist am schwierigsten nachzuvollziehen. Longuenesse (1998), 149 behauptet, dass der Gedankengang zum Teil erst in
der transzendentalen Deduktion der Kategorien ausgeführt wird.
Eine zentrale Rolle spielt dabei die sogenannte Synthesis. Die Synthesis ist eine
Handlung, die notwendig für Erkenntnis ist (A77–8/B103/154). Bisher wurde sie noch
nicht betrachtet. Kant definiert den Begriff der Synthesis wie folgt:
Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Hand”
lung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ (A77/B103/154).
Ausgangspunkt für das Handeln Synthesis ist also eine Mannigfaltigkeit [Vielheit] von
Vorstellungen oder in einer Vorstellung. Diese Vorstellungen scheinen Anschauungen
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zu sein – auf jeden Fall geht das aus Kants Beispielen hervor (etwa A77/B102/153).
Dazu passt auch, dass die Synthesis von der Einbildungskraft durchgeführt wird, also
keine Verstandesleistung darstellt (A78/B103/154). Weiterhin betont Kant den basalen,
grundlegenden Charakter der Synthesis:
sie ist also das erste, worauf wir acht zu geben haben, wenn wir über den
”
ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.“ (A78/B103/154).
Was leistet nun aber die Synthesis? Kant schreibt:
die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkennt”
nissen sammelt, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“ (A77/B103/154)
Die Synthesis hat also eine einheitsstiftende Funktion. Zusammenfassend können wir
also sagen: Die Synthesis ist eine vorbegriffliche Handlung der Einbildungskraft, dabei
wird Mannigfaltiges in einer oder mehreren Vorstellung synthetisiert.
Auch wenn die Synthesis keine Leistung des Verstandes ist, so kann sie doch gleichsam im Nachhinein auf einen Begriff gebracht werden, und das ist natürlich eine Verstandesleistung (A78/B103/154). Der besagte Begriff besteht
lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit“ (A79/B104/
”
155),
die die Synthesis schafft. Nur wenn die Synthesis auf den Begriff gebracht wurde, resultiert Gegenstandserkenntnis im eigentlichen Sinne (A78/B103/154 und A79/B104/155).
Kant konzentriert sich nun auf die reine Synthesis. Er definiert eine reine Synthesis
wie folgt:
Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, son”
dern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit)“ (A77/B103/154).
Bei einer reinen Synthesis ist also die Ausgangsbasis rein, d.h. a priori gegeben.
Kant interessiert sich nun für diejenigen Begriffe, die eine reine Synthesis auf den Begriff bringen – die entsprechenden Begriffe nennt er reine Verstandesbegriffe (A78/B104/
155; offenbar, weil er annimmt, das sie rein sind). Nachdem wir bislang nicht allzuviel
über die Synthesis erfahren haben, erscheint es zunächst aussichtslos, nun gleich die
Begriffe zu benennen, die eine Synthesis auf den Begriff bringen. Kant geht aber davon
aus, dass es der Verstand ist, der eine Synthesis auf den Begriff bringt. Er behauptet
weiterhin, dass dieselben einheitsstiftenden Handlungstypen, die der Verstand im Urteil
ausführt, vom Verstand auch bei der begrifflichen Erfassung der Synthesis durchgeführt
werden. Die Handlungstypen, die der Verstand beim Urteilen ausführt, wurden nun
aber in der Urteilstafel systematisiert. Also müssen sich die reinen Verstandesbegriffe,
welche die Synthesis erfassen, direkt aus der Urteilstafel ergeben. Kant erstellt daher
die Kategorientafel, indem er den Momenten in der Urteilstafel Begriffe zuordnet. Die
Kategorientafel ist in Abbildung 2 zu sehen.
Insgesamt muss man sagen, dass das Argument, welches zur Auffindung der Verstandesbegriffe geführt hat, relativ undurchsichtig und wenigstens auf den ersten Blick
lückenhaft ist. So geht die Kategorientafel auf die Urteilstafel zurück, von dieser wird
aber nur behauptet, dass sie die einheitsstiftenden Denkhandlungen systematisiert, die
der Verstand im Urteil ausführt. Die Details der Urteilstafel werden augenscheinlich
nicht weiter begründet.
In der Literatur gibt es allerdings Stimmen, die meinen, dass Kants Argument viel
stringenter ist als es erscheint (vor allem Wolff 1995). Außerdem dürfen wir uns weiteren
Aufschluss aus der transzendentalen Deduktion der Kategorien erhoffen.
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1. Kategorien der Quantität
Einheit
Vielheit
Allheit
2. der Qualität
Realität
Negation
Limitation
3. der Relation
der Inhärenz und Subsistenz
der Kausalität und Dependenz
der Gemeinschaft
4. der Modalität
Möglichkeit–Unmöglichkeit
Dasein–Nichtsein
Notwendigkeit–Zufälligkeit
Abbildung 2: Die Kategorientafel nach A80/B106.
Literatur
Longuenesse, B., The Divisions of the Transcendental Logic and the Leading Thread, in:
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Mohr, G. & Willaschek, M., eds.),
Akademie-Verlag, Berlin, 1998, pp. 131–158.
Mohr, G., Immanuel Kant. Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar. Band III,
Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2004.
Wolff, M., Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges
Begriffsschrift, Frankfurt am Main, 1995.
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