Lernen - Englbauer.de

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Lernen
Religionspädagogische
Proseminararbeit
Sommersemester 1996
Leitung: Dr. Hajo Petsch
Vorgelegt an der
Augustana Hochschule
Neuendettelsau
Daniel Englbauer
2. Semester
WAH 1/30
Im September 1996
Seite 2
Inhaltsverzeichnis
0 Vorwort
Seite 3
1 Gedächtnis - Lernen - Erziehung --- Definitionen .................... Seite 4
2 Das Gedächtnis als Voraussetzung für das Lernen - Gedächtnissystem
...................................................................................................... Seite 4
3 Lernen ....................................................................................... Seite 5
3.1 Die klassischen konditionsbestimmten Lerntheorien .......... Seite 5
3.2 Versuch und Irrtum ............................................................... Seite 6
3.3 Lernen am Modell .................................................................. Seite 8
3.4 Lernen durch Einsicht (Gestaltpsychologie) ......................... Seite 9
4 Lernprozesse ............................................................................. Seite 10
5 Exkurs: Die Motivation als lernbedingende
Voraussetzung......................................................................... Seite 11
6 Lernen als soziale Interaktion (Tietgens) ................................. Seite 12
7 Persönliche Stellungnahme und Ausblick ................................ Seite 14
Literaturverzeichnis..................................................................... Seite 16
Seite 3
0 Vorwort
Spricht man vom 'Lernen', so kommen - je nach Altersgruppe - die
unterschiedlichsten
Meinungen
zu
Tage.
Freudestrahlende
Kindergartenkinder, die sich schon auf die Schule freuen, 'gefrustete'
Schüler, die unter der Last des zu Lernenden leiden, die 'faulen' Studenten,
die hohen wissenschaftlichen Anforderungen genügen müssen, Arbeiter, die
meinen sie hätten nicht genug gelernt und sich fortbilden wollen, Lehrer und
Professoren, die das zu Lernende vorgeben, usw. Doch was ist Lernen? Was
kann man lernen? Wie kann man lernen? Ist Lernen Leben? Lernt man
wirklich nie aus? Wieviel kann man lernen? Und was ist dann Erziehung? Ist
Erziehung das Lernen von Moral, Anstand, Kultur, gesellschaftlichen
Umgangsformen?
Mit all diesen Fragen beschäftigt sich die Pädagogik, doch auch sie ist sich
über die Antworten nicht im Klaren. So erklärt der pädagogische Nativismus,
daß menschliche Verhaltensänderungen durch die Genanlagen eng begrenzt
ist. Also kann man nicht viel lernen, weshalb diese Richtung auch
pädagogischer Pessimismus genannt wird. Ihm gegenüber steht der
Empirismus, der pädagogische Optimismus, da er das menschliche
Verhalten als erworben deklariert und somit in weiten Grenzen erlernbar ist,
wobei die Umwelt, sprich Elternhaus, Umgangsgruppen, Gesellschaft,
Schule, diesen Vorgang steuern kann. Zuletzt sei noch der Positivismus und
der Behaviorismus zu nennen. Ersterer beschränkt sich auf das
Tatsächliche, Erfahrbare und das protokollarisch Beschreibbare, möchte
also bar jedwelcher Spekulation bleiben, und letzterer reduziert die gesamte
Verhaltensforschung auf die Wechselwirkungen zwischen Reiz und Reaktion.
Doch was ist nun 'Lernen'?
Seite 4
1 Gedächtnis - Lernen - Erziehung --- Definitionen
1.1 Das Gedächtnis
Mit Hilfe seines Gedächtnisses ist der Organismus in der Lage,
aufgenommene Eindrücke (Informationen) aufzubewahren und sich zu
einem späteren Zeitpunkt daran zu erinnern.
1.2 Das Lernen
Lernen ist eine relativ überdauernde beobachtbare Veränderung der
menschlichen Verhaltensmöglichkeiten, soweit diese auf eine Erfahrung
zurückgeht. Dabei kann die Erfahrung als jegliche Aufnahme und
Verarbeitung von Informationen verstanden werden kann. Lernen ist
also ein verhaltensbestimmender Informationszuwachs.
1.3 Die Erziehung
Erziehung ist die Steuerung des Lernens mit dem Ziel der Herstellung
möglichst 'wünschenswerter' dauerhafter Verhaltensweisen unter
Berücksichtigung der Persönlichkeitsstruktur des Edukanten.
2 Das Gedächtnis als Voraussetzung für das Lernen Gedächtnissysteme
Die Wissenschaft unterscheidet im Großen und Ganzen drei 'Systeme' der
Informationsspeicherung, bzw. Aufnahme und Verarbeitung. Als erstes wäre
das sensorische Gedächtnis zu nennen, das über die Sinnesorgane
aufgenommene Reize aber bereits nach circa einer Sekunde wieder vergißt,
denn nur die wenigsten Informationen, die das Gehirn erreichen, werden als
so wichtig erachtet, als daß man sie an ein weiteres System weitergeben
müßte, um diese längerfristig zu speichern. Dieses schnelle 'Überschreiben
und Löschen' der aufgenommenen Reize hat für den Körper die Funktion des
Selbstschutzes, denn allein die Bilder, die die Augen - innerhalb von einer
Sekunde sind dies vierundzwanzig - aufnehmen, könnten binnen kürzester
Zeit die Speicher- und Verarbeitungskapazität des Gehirns überlasten. Und
warum sollte man sich jede Berührung der Tasten bei der Eingabe eines
Textes merken, denn für eine spätere Erinnerung benötigt man nur wenige
Informationen zur Rekonstruktion. Eine Erinnerung benötigt aber ein
längeres Behalten der Informationen und dies bedarf eines größeren
Speichermediums. Die gefilterten Inhalte des sensorischen Gedächtnisses
Seite 5
werden an das Kurzzeitgedächtnis, das zweite Gedächtnissystem,
weitergegeben, das es immerhin vermag, diese für circa dreißig Sekunden zu
speichern. Da jedoch das menschliche Leben länger als diese Zeitspanne
währt und man lebensnotwendige Dinge nicht im Halbminuten - Takt immer
wieder neu lernen kann, führt uns dies zu der Annahme, das es noch
mindestens
ein
weiteres
Gedächtnissystem
geben
muß:
das
Langzeitgedächtnis. Mittels dieser Einheit ist der Mensch in der Lage,
enorme Mengen von Wissen zu speichern. Angefangen von der Erkenntnis
wie man läuft und ißt, über die Anwendung der Sprache bis hin zu hoch
komplexen mathematischen Aufgaben oder philosophischen Problemen.
Doch was mag es nützen, von diesem Komplex zu wissen, wenn die Gefahr
besteht, all das Gelernte wieder zu 'vergessen'. 'Vergessen' ist laut Definition
'das Nichtverfügbarhaben oder die Veränderung von Gedächtnisinhalten', die
durch
mangelnde
Wiederholung,
Löschungen,
Interferenzen
oder
Modifikationen hervorgerufen werden können. Dies bedeutet u.a., daß die
Gedächtnisspur, auf der Ort des Wissens gespeichert ist, gelöscht oder
kurzfristig nicht auffindbar ist. Dabei besteht nun die Gefahr, daß die
Gedächtnisinhalte ganz oder teilweise überschrieben werden, was dazu
führt, daß man den ganzen Bereich nur noch bruchstückhaft oder gar nicht
mehr aufrufen kann. Logischerweise erklärt sich daraus, daß größere und
ältere Lerninhalte bei weitem anfälliger für das Vergessen sind als kleinere
und frisch gelernte1. Diese Erkenntnis führt zu einigen kleinen Regeln, die
das Erlernen und Behalten erheblich vereinfachen können. So sorgen
kleinere Lerninhalte dafür, daß die Gefahr eines vollständigen
Überschreibens nicht sehr groß und durch ständige Wiederholung auf ein
Mindestmaß reduziert ist. Ähnliche Inhalte, wie zum Beispiel Bereiche aus
der Mathematik und der Physik, sollten nie hintereinander gelernt werden,
da es ansonsten zu einer sog. Ähnlichkeitshemmung kommen kann, zumal
hier die Gefahr der Modifikation (d.h. man kann nur schwer beide
Stoffgebiete abgrenzen und könnte diese nun miteinander verbinden)
besteht. Dies ist aber schon eine höhere Form des Lernens, doch zunächst
wollen wir uns mit den grundlegenden Theorien des Lernens beschäftigen.
3 Lernen
3.1 Die klassischen konditionsbestimmten Lerntheorien
Iwan P. Pawlows Versuchsreihen mit Hunden, die ihm 1904 den
Nobelpreis für Medizin und Psychologie einbrachten, zeigten, daß "... ein
Stimulus, der auf einen Organismus einwirkt, während dieser eine Bewegung
ausführt, nach einigen Wiederholungen zum Auslöser für diese Bewegung
werden kann."2 In diesen Versuchsreihen machte Pawlow es sich zunutze,
daß sein Proband, jedesmal wenn er mit Futter in Berührung kam, Speichel
absonderte. Diesen Speichelfluß maß er nun, und ließ nachfolgend den
1
2
vgl. Foppa, S. 247 f.
Corell, W.: Lernpsychologie, S. 20
Seite 6
Tieren 25mal Futter verabreichen, wobei jedesmal eine Glocke ertönte. Nach
diesen 25 Wiederholungen waren die Tiere in der Lage eine Verbindung
zwischen dem unbedingten Stimulus (S), dem Futter, und dem bedingten
Stimulus (S1), dem Glockenton, zu sehen. Sie antworteten hiernach auf den
alleinigen Glockenton mit der bedingten Reaktion (R), dem vollen
Speichelfluß.
"1. Vor der Konditionierung:
S ----------- R
°
°
°
S1
2. Nach der Konditionierung:
S
°
°------------ R
°
3
S1"
Anhand dieser Ergebnisse hat E. R. Guthrie in den Werken 'The
psychology of learning' und 'Conditioning, a theory of learning' seine
Kontiguitäts-Lerntheorie aufgebaut. Seiner Meinung nach muß die einmal
erkannte Verbindung zwischen beiden Reizen immer wieder verstärkt
werden, seiner Bezeichnung nach wird es 'reinforced', damit das Gelernte
auch wirklich behalten wird. Bleibt jedoch bei Wiederholungen der vormalige
bedingende Stimulus aus, so erfolgt mit der Zeit ein Auslöschen, eine
'Extinktion'. Dies bedeutet für das Experiment von Pawlow: gibt man dem
Hund nach erfolgter Assoziation zwischen Futter und Glockenton nur noch
das Futter, so würde das Tier nach einer gewissen Anzahl von
Wiederholungen nicht mehr oder kaum auf einen alleinigen Glockenton mit
Speichelfluß reagieren.
3.2 Versuch und Irrtum
Die Tatsache der Extinktion läßt jedoch nicht nur den Schluß zu, daß
man alles immer wieder üben muß, damit es nicht aus gelöscht wird,
sondern auch "daß der Organismus eine Fähigkeit haben muß, eine
Verbindung zwischen einem Akt und dessen Ergebnis zu empfinden"4 also in
der Lage zu sein, ein Feedback zu erhalten und zu verarbeiten. Zu dieser
Erkenntnis kam bereits 1898 E. L. Thorndike indem er Katzen in sog.
Problemkäfige setzte, aus denen sie sich zu befreien hatten. Hier
beantwortete die Bedeutsamkeit der Lernmotivation, auf die ich später noch
eingehen werde, die Frage nach den äußeren Bedingungen für das Lernen.
3
4
ebenda S. 21
ebenda S. 24
Seite 7
Die weitaus wichtigere Frage nach dem Prinzip, dem die Lernversuche
unterliegen, löste er mit dem Grundsatz vom sog. 'trial and error' (Versuch
und Irrtum), den er später in 'selecting and connecting' (auswählen und verknüpfen) umbenannte, da die Katzen zuerst anscheinend planlos nach
einem Weg suchten, sich aus dem Käfig zu befreien, bis sie zufällig die
richtige Möglichkeit fanden. Nicht nur bei Tieren, sondern auch beim
Menschen ist das Lernen durch Versuch und Irrtum gegeben: Man nehme
einen Schlüsselbund mit einer großen Anzahl unterschiedlicher Schlüssel
und versuche damit, ein unbekanntes Schloß zu öffnen. Letztendlich fragte
Thorndike noch, in welchem Maße ein Tier überhaupt aus diesen Versuchen
lernen bzw. behalten und verarbeiten kann. "Es zeigte sich, daß die Zeit für
das trial and error in dem Maße verkürzt wurde, in welchem die Zahl der
Wiederholungen der Versuche zunahm."5
Aufgrund dieser Erkenntnisse formulierte Thorndike das Frequenz- und
das Effektgesetz:
Frequenzgesetz von Thorndike:
Eine Verbindung zwischen Reiz und Reaktion wird durch Wiederholung
verstärkt, kann aber auch bei mangelnder Wiederholung geschwächt
werden.
Effektgesetz von Thorndike:
Eine Verbindung zwischen Stimulus und Reaktion wird dadurch
verstärkt, daß die Reaktion durch einen befriedigenden Nacheffekt, also
durch ein Erfolgserlebnis, bestätigt wird.6
Die Lerntheoretiker B. F. Skinner und C. L. Hull knüpfen nun hier an und
vertreten die Meinung, daß man nahezu jede zu erlernende Verhaltensform
in viele kleine Teile zerlegen kann, somit liegt die Frustrationsschwelle nicht
so hoch und durch Belohnungen kann so viel leichter gelernt werden. Nach
ihrem Dafürhalten können so auch Einstellungen und Motivationen erlernt
werden. Gerade die Motivation ist zum Lernen nötig, und jede Handlung ist
von der Motivation veranlaßt. Hier tut sich jedoch ein Problem auf: zu
häufige Verstärkung, wie ständiges unkritisches Lob, wird wirkungslos. Als
'Lösung'
erscheint
die
sog.
variierende
ZeitintervallReaktionsquotenverstärkung sinnvoll, da hier nicht in einem stets gleichen
Zeitintervall, z.B. immer Montags oder alle zehn Minuten, und nach einer
gleichen Reaktionsquote verstärkt wird, z.B. wenn er dies zum dritten Mal
getan hat. Stattdessen erfolgt die Verstärkung in einem absolut
unrhythmischen und unperiodischen System der freien Variation, so daß
sich der Organismus des Edukanden nicht auf einen Rhythmus einstellen
kann und er somit jede Verstärkung als eine echte Verstärkung erfährt. Sie
gehen sogar soweit, zu sagen, daß der Edukand, der eine solche Verstärkung
erfährt, letztendlich sogar auch ohne Verstärkung freiwillig weiterlernt. Dies
würde eine primäre Motivation darstellen, die auch durch das Lernen
gefördert werden soll. Doch jede Medaille hat zwei Seiten, und auch das
Lernen hat nicht nur den Erfolg, das Erreichen des Lernzieles, sondern auch
5
6
ebenda S. 28
nach Corell, W.: Lernen in Psychologie für Nichtpsychologen, S. 235
Seite 8
das "Versagen", sprich die Frustration, als Gegenpart zur Motivation. Erfolg
kann laut K. Lewin nicht nur ein Verstärker im Sinne einer Belohnung sein,
sondern auch eine Erhöhung des sog. "Anspruchsniveaus" durch ein
stärkeres Selbstvertrauen bewirken. Dies bedeutet auf die Schule bezogen,
daß ein Schüler, der eine Selbstbestätigung im Lernen gefunden hat, nicht
nur in Zukunft leichter lernt, sondern auch selbständig tiefer lernt oder sich
weiterbildet, was zeigt, daß er einen Sachverhalt oder das weitere Umfeld
eines Themenbereiches kennenlernen möchte. Mißerfolg und Frustration
können genau das Gegenteil bewirken, denn bei jedem neuen Lernversuch
wird der Schüler sein "Anspruchsniveau" weiter senken um überhaupt
irgendwann zu einem Erfolg zu kommen. Dies endet an dem Punkt, an dem
er nichts mehr lernt. W. Corell beschreibt in seiner Lernpsychologie aber
auch eine positive Nachwirkung einer Frustration: "Wird ein Kind z.B. mit
seinen Bemühungen enttäuscht, erlebt es eine Frustration, so kann es darauf
mit einem viel größeren Einsatz, einer geradezu aggressiven Lernlust
reagieren, die schließlich zu durchschlagenden Erfolgen führen kann,
während umgekehrt ein durch Erfolg verwöhntes Kind nicht selten träge und
gleichgültig wird."7
Eine besondere Form des "trial and error" möchte ich am Schluß dieses
Abschnittes nur kurz ansprechen: das "learning by doing". Diese Form eines
handelnden Lernen wird vor allem von Autodidakten ausgeübt und zeigt z.B.
im Erlernen und Verstehen von einfacheren Programmiersprachen wie Basic
oder Pascal großen Erfolg. So wandelt er zum tieferen Verstehen einiger
Befehle gewisse Variablen ab und versucht das Ergebnis zu deuten. Als
vorteilhaft erweist sich die Eigenschaft des Computers, daß er sofort auf die
neuen Befehle reagieren kann, aber dennoch bei diesen provozierten und
gewollten Irrtümern nur in den seltensten Fällen Schaden nimmt, und wenn
immer wieder zwischendurch abgespeichert wurde, kann auch ein
Systemabsturz nicht schrecken. Durch die sofortige Antwort beim "learning
by doing", also die sofortige Verstärkung, ist die Nachhaltigkeit der
Lernerfahrung in höchstem Maße gegeben. So kann jemand spätestens nach
dem zweiten oder dritten Mal ein Regal zusammensetzen wenn die
Aufbauanleitung fehlt, da er beim ersten Mal gemerkt hat, daß eine
Seitenwand nicht als Boden dienen kann.
3.3 Lernen am Modell
Modell-Lernen ist nichts anderes als eine Verhaltensänderung durch
Imitation, also das Nachahmen der Verhaltensweisen anderer. Diese
Verhaltensänderung jedoch nachzuweisen erweist sich einerseits als leicht,
andererseits
aber
auch
als
schwer.
"Größere",
auffallende
Verhaltensänderungen lassen sich schnell auf eine Imitation zurückführen,
wenn das Vorbild, ein konkreter Mensch, oder das Leitbild, eine Abstraktion
in "typologischen Gestalten", bekannt ist. Handelt nun ein Kind genauso
aggressiv wie "Rambo" oder "Michael Myers" in Freitag der 13. oder sieht es in
Lenin, Albert Schweitzer oder Mutter Theresa seine Vorbilder, so kann man
8
wie Skinner von einer "selektiven Nachahmung" sprechen . Auch die
7
8
Corell, W.: Lernpsychologie, S. 30
vgl Hastenteufel, P. S. 76
Seite 9
Handlungsweisen der Eltern werden oft, vor allem in den ersten
Lebensjahren, bewußt imitiert, woraus auch die Redensart "der Apfel fällt
nicht weit vom Stamm" zustande kommt. Jedoch kleinere Wandlungen in
der Handlungsweise als eine "Kopie" zu beweisen, fällt schwer, denn laut H.
Selg entsteht neues Verhalten spontan oder durch Imitation9, aber "hält der
die Zigarette jetzt so weil sein Freund sie auch so hält, oder hat er das
spontan gemacht oder hat er ihn unbewußt imitiert?" Eben diese Frage,
inwieweit ist etwas spontan, bewußt oder latent nachgeahmt, beschäftigt die
Verhaltensforscher bis heute. H. Selg löst diese Frage für sich so: "Ein
Großteil der Informationen, die uns durch die Wahrnehmung vermittelt
werden, wird ohne Anstrengung gespeichert und bereichert unsere künftigen
Verhaltensmöglichkeiten."10 Doch stellt sich für mich dabei die Problematik,
ob der Edukand tatsächlich auf die gespeicherte Information unbewußt
zurückgreift, oder ob er spontan kreativ ist und zufällig zu dem gleichen
"Ergebnis" kommt, auch wenn es in seinem Hinterkopf schon schlummert.
3.4 Lernen durch Einsicht (Gestaltpsychologie)
Diese Lerntheorie wurde vor allem als Gegenposition zu den
konditionsbestimmten Lerntheorien Pawlows und der Theorie vom Versuch
und Irrtum entwickelt, da in ihnen die Intelligenz nahezu ausgeschlossen
bleibt. W. Corell beschreibt als Grund für diese Tatsache, daß die
Versuchsanordnungen derartig kompliziert für die Probanden war, daß es
ihnen nur durch das "trial and error"-Prinzip möglich war, zu einem
Ergebnis zu kommen, denn "ihre geistigen Fähigkeiten ...(reichten nicht hin),
um die Zusammenhänge zu durchschauen."11 Um eine problematische
Situation zu durchschauen, muß man sie analysieren können, und dies ist
selbst einem Menschen bei einer zu komplexen Aufgabe nicht möglich. Also
kann man als Voraussetzung für ein einsichtiges Lernen festhalten, daß
man es mit einem überschaubaren Problem zu tun hat. Hat man nun eine
Einsicht gewonnen, wird nun die "Intelligenz" zu einem inneren "trial and
error" benutzt. Man probiert im Geiste, überdenkt die mögliche Lösung und
verwirft sie unter Umständen, sucht nach einer neuen Lösung, bis sie
akzeptabel erscheint und versucht sie nun zu verwirklichen. Noch einmal
möchte ich auf das Beispiel mit dem Schlüsselbund vom Anfang
zurückkommen. Dank dem "Lernen durch Einsicht" versucht man nicht
mehr planlos irgendwelche Schlüssel in das Schloß zu stecken, sondern
schaut sich das Schloß an und eliminiert ersteinmal alle Schlüssel das
Bundes, die unter keinen Umständen passen können. So wird man bei
einem Sicherheitsschloß erst einmal alle Zimmerschlüssel, Schrank-,
Schreibtisch-, Tagebuchschlüssel usw. verwerfen, bis nur noch Schlüssel
übrigbleiben, die dem "imaginären" Sicherheitsschloß ähneln. Diese
verbliebenen Möglichkeiten probiert man nun am "echten" Schloß aus bis
man zum Erfolg kommt. Eine echte Zeitersparnis ist ebenso die Folge wie
eine geringere Frustration, denn probiert man nach dem "trial and error"-
Hastenteufel S. 76
ebenda
11
Corell, W.: Lernpsychologie, S. 38
9
10
Seite 10
Prinzip - sofern der passende Schlüssel sich überhaupt am Bund befindet ergibt sich folgende Rechnung:
Die Wahrscheinlichkeit den richtigen Schlüssel beim ersten Mal aus einer
Anzahl von Schlüsseln herauszufinden, liegt bei:
1 / Anzahl aller Schlüssel,
beim "Lernen durch Einsicht" nur bei:
1 / Anzahl der Sicherheitsschlüssel.
Seite 11
4 Lernprozesse
Da alle Lerntheorien ihre Stärken und Schwächen haben, wurde nun
versucht, sie, mit Ausnahme des Modell-Lernens, miteinander zu
verknüpfen, um zu einem besseren Ergebnis zu gelangen. Diese Konnexion
soll aber auch das menschliche Denken erklären, das eine
"Handlungspause" in der Konfliktbewältigung mit der Umwelt darstellt, da
der
Mensch
nicht
über
genügend
angeborene
Instinkte
und
Verhaltensmuster verfügt. Der Amerikaner John Dewey beschreibt den
Aufbau des Denkprozesses in fünf Abschnitten:
1. Begegnung mit einem Problem
2. Lokalisieren und Präzisieren
3. möglicher Lösungsansatz
4. "logische Entwicklung der Folgen des Ansatzes"
5. "weitere Beobachtung und experimentelles Vorgehen führen
zur Annahme oder zur Ablehnung."12
Man steht also unvermeidlich vor einem Problem und versucht nun, so fern
man will, eine Lösung zu finden. Hier spielt die Motivation die erste große
Rolle. Sie ist die erste Phase des Lernprozesses, und diese ist immer mit den
eigenen und den fremden Erwartungen, sowie mit der Stimmung verbunden.
Traut man sich selbst zu wenig zu, oder sind die Erwartungen des
Gegenüber nahezu unermeßlich groß, bzw. hat man andere, größere Sorgen
als die Erfüllung eines Lernziels, so schwindet die Motivation, und das
Lernen ist praktisch schon zum Scheitern verurteilt. Um diesem "Versagen"
entgegenzuwirken, muß man als Lehrer, Erzieher, Elternteil, o.ä. versuchen,
die Motivation des Edukanden zu wecken, indem man zum Beispiel an
vorhandene Bedürfnisse, sog. Grundmotive, anzuknüpfen versucht, wie die
soziale Anerkennung, das Streben nach Sicherheit, Geborgenheit und
Vertrauen, nach Unabhängigkeit und Verantwortung, oder aber versucht die
Selbstachtung zu heben, die als "Übereinstimmung des Denkens und des
13
Wollens mit den subjektiven Normen und Werten" definiert wird, also ein
Lernen als Weg zur Identität des Menschen.
Die zweite Phase ist die Zielsetzung des Lernprozesses, das Lokalisieren und
Präzisieren, die Frage "wieviel will ich in welcher Zeit lernen?". Setzt man
sich dank einer großen Motivation zu hohe Ziele, endet dies in einer
Enttäuschung. Setzt man sich aber aufgrund eines zu geringen Lernwillens
nur sehr geringe Ziele, lernt man nichts. So fordert gerade dieser
Denkabschnitt große Selbstdisziplin, insbesondere von den Hochmotivierten,
da man sich überschaubare Nahziele setzen muß, die man in ungefähr
zwanzig Minuten erreichen kann, um nicht durch Fernziele zu
Mißerfolgserlebnissen zu kommen.
Den "möglichen Lösungsansatz" der dritten Phase erhält man durch ein
kurzes Brainstorming, das unreflektiert Lösungen früherer Probleme ins
12
13
nach Dewey, J.: Wie wir denken. Zürich 1951; aus Corell, W.:
Lernpsychologie, S 42
Corell, W.: Lernen, S. 240
Seite 12
Gedächtnis ruft und erst in der vierten Stufe werden diese Hypothesen
logisch verarbeitet. Dies ist die Phase des inneren "trial and error".
"In der fünften Phase des Denkaktes (experimentelles Erproben des
Entwurfes) kommt es endlich zur Handlung, in der die Richtigkeit des
Entwurfes erwiesen werden kann. Diese Phase ist wesentlich, denn die
logischen Erwägungen sind nicht unfehlbar; sie brauchen nicht unbedingt mit
der Wirklichkeit übereinstimmen, denn die Welt der Erfahrung wandelt sich
14
rascher als die Struktur unseres Denkens!" Damit aber die Wahrscheinlichkeit einer falschen logischen Schlußfolgerung gesenkt wird, wird empfohlen,
ein sog. "Overlearning" durchzuführen. Darunter versteht man die ständige
Wiederholung des Lösungsweges bei ständig wechselnder Ausgangslage,
immer anders formulierte Aufgaben, die aber alle mit dem erlernten Material
lösbar sind, und zwar solange bis, eine nicht eingeübte Situation bewältigbar
ist.
5 Exkurs: Die Motivation als lernbedingende
Voraussetzung
"Nach heutigem Verständnis ist die Motivation ausschlaggebend für das
Maß an Lernenergie und Lernbereitschaft."15 Doch was ist Motivation? "Als
Zustand verstehen wir unter Motivation das Angetriebensein, das auf
Verringerung einer Bedürfnisspannung (...) abgestellt ist."16 Dieser
Bedürfnisspannung entsprechen als spezielle Motive, wie gezieltes Interesse,
bewußtes Bedürfnis, unmittelbarer Anreiz oder eine erkennbare Notlage, als
allgemeine Motivationen, ebenso ein bewußtes Bedürfnis, unbewußter
17
Lernantrieb, eine erkennbare Mangellage oder gesellschaftliche Normen .
Jeweils die ersten zwei Punkte sind endogener, also innerer Herkunft, die
beiden zuletzt genannten haben exogene, also äußere Gründe für ihr
Vorhandensein. Und die 'Verringerung einer Bedürfnisspanne' ist u.a. das
Lernen, so daß man sagen kann, daß die Motivation einen
lernenbedingenden Faktor darstellt. H. Tietgens unterteilt die Beweggründe
für
das Lernen in das Informations-, das Kommunikations-, das
Kompensationsund
das
Emanzipationsbedürfnis18.
Unter
Informationsbedürfnis versteht er, daß man "konkret", "gezielt" und
"systematisch" lernen will, wobei der Edukant selbständig sein Wissen
erweitern will und weiterlernt, auch wenn dies nicht von ihm verlangt ist.
Dies stellt eine sogenannte 'primäre Motivation' dar, man lernt um der
Aktivität willen. Die steigenden Zahlen der Internet-Server und
Onlinediensten, der Mailboxen und 'Chat-Lines' via Telephon legen das
Kommunikationsbedürfnis des Menschen an den Tag, wobei die genannten
14
15
16
17
18
Corell, W.: Lernpsychologie, S. 47
Tietgens, H.: Erwachsene im Feld des Lehrens und Lernens, S. 46
Hastenteufel, S. 75
nach Tietgens, H.: Erwachsene ..., S. 48
vgl. ebenda S. 49
Seite 13
Beispiele eher das Gegenteil annehmen lassen. Der Mensch ist, und wird es
wohl auch bleiben, ein soziales Wesen, d.h. er kommt ohne die Gesellschaft
der Mitmenschen nicht aus und um zu überleben, bedarf es einem
Mindestmaß an Kommunikation. Die alltäglichen Anforderungen der
Berufswelt erfordern einen Ausgleich, der konträr zu diesen steht. Dieses
Ausgleichsstreben nennt man auch Kompensationsbedürfnis, was in der
Erwachsenenbildung eine große Rolle spielt, denn nicht wenige nehmen an
den Angeboten teil, weil sie einmal 'etwas ganz anderes' machen wollen, um
sich so abzulenken. Das am Ende aufgeführte Emanzipationsbedürfnis war
bei der Drucklegung von Tietgens Buch wieder stärker vorhanden als es
davor war und heute wieder ist, denn viele, vor allem Jugendliche, wendeten
sich Ende der siebziger Jahre der Politik zu, um für ihre Gleichbehandlung
und
Interessen
zu
streiten,
auch
das
erwachende
Gleichberechtigungsstreben der Frauen trat wieder mehr in den Vordergrund. Heute dürfte dieses Bedürfnis nicht mehr so ausschlaggebend sein,
denn die Frauen haben viel erreicht und versuchen ihr Emanzipation nun
im Beruf durch Erfolge zu krönen. Unter den Jugendlichen macht sich
immer stärker werdende Politikverdrossenheit und ein Ohnmachtsgefühl
breit, so daß diese Gruppe nur schwer zu (politischem) Lernen und
Emanzipationsstreben bereit ist, anders als noch ihre Altersgenossen vor
zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren19. Das Ineinanderwirken verschiedener
Motivationen kann aber auch leicht lernhemmend wirken, wenn man
bedenkt, daß eine Art von Verwirrung stattfinden kann, wenn sich
Intensionen
und
Wünsche
überlagern.
Eine
derartige
Motivationsverschränkung ist zum Beispiel in der Politik zu beobachten,
wobei ich hier die Partei Bündnis90/Die Grünen anführen möchte. Die
Grünen entwickelten sich aus der sog. 68er-Bewegung mit den
Studentenunruhen, dem Verlangen nach mehr Freiheiten des Individuums
innerhalb der Gesellschaft und einer starken Hinwendung zur Natur. Viele
'Rebellen' der damaligen Zeit wie Daniel Cohn-Bandit und Joschka Fischer
gingen in die Politik, mit der Motivation, die nötigen Veränderung von oben
zu bewirken. Da dies jedoch nur im Rahmen der politischen Normen möglich
war, mußten sich die Jungpolitiker diesen Pflichten anpassen, was für sie
eine zweite, wohl eher unangenehme, Motivation darstellte und zu einigen
Problemen führte. Heute sind beide gestandene, eher 'angepasste' Politiker,
wenn man sie mit früher vergleicht, was zu dem Schluß führt, das eine
Verschränkung der Motivationen, die jeden irgendwie betrifft, auch eine
Personenentwicklung mit sich führt.
6 LERNEN ALS SOZIALE INTERAKTION (TIETGENS)
"Die weithin bekannten und gerne verabsolutierten Theorema von Stimulus
und Reflex, Versuch und Irrtum, Ganzheit und verstehendes Lernen erweisen
sich angesichts der alltäglichen Lernwirklichkeit als Vollzugsschemata von
gelegentlich trefflicher Art, die aber für die Lehrtätigkeit bestenfalls hilfreich
19
vgl. ebenda S. 58 - 61
Seite 14
werden kann, wenn man sie miteinander kombiniert."20 Mit diesen Worten
versucht Hans Tietgens in seinem Buch Lernen mit Erwachsen eine
Verbindung zwischen der Forschungslage und der Realität der
Erwachsenenbildung zu knüpfen und er kommt zu diesem pessimistischen
Schluß, den er in einer eigenen 'Theorie' gipfeln läßt: für ihn ist das soziale
Umfeld der entscheidende Beweggrund dafür, daß man lernt, was man lernt
und wie man lernt.
Zu Beginn seines Aufsatzes versucht der Autor erst einmal den Begriff
'Begabung' in ein richtiges Licht zu schieben, denn die Meinung, daß
Begabung naturgegeben, angeboren und schicht-spezifisch verteilt sei, sei
21
eine "zu einem Vorurteil verfestigte optische Täuschung" . Anders sei das sog.
"Lernwunder" nicht zu verstehen, denn in den letzten einhundert hat es
einen extremen Zuwachs des zu Lernenden gegeben, das mit der früheren
Einstellung, man könne nur lernen und wissen, was man auch brauche,
nicht möglich gewesen wäre. Dies heißt im Klartext, daß z.B. ein Bauer, (dies
soll keine Diffamierung des Bauernstandes darstellen), nicht in der Lage
gewesen wäre den Aufbau und die Funktion eines Motors oder das höhere
Finanzwesen zu verstehen, doch heute verstehen sich viele Landwirte auf
EDV und Politik, obwohl sie diese Kenntnisse nicht unbedingt zum
Überleben bräuchten. Heute wird davon ausgegangen, daß einem jeden
Menschen ein gewisses 'Begabungspotential' zu eigen ist, das durch
Umweltappelle herausgefordert werden kann. Zu dieser Umwelt gehört für
Tietgens die Umgangsgruppe, die für den Edukanten die Normgruppe
darstellt, und die für ihn das Lernangebot prägt. Durch die Imitation werden
nun Rollen übernommen und der 'Zögling' versucht sich an den
Gewohnheiten, Bräuchen und Sitten zu orientieren, die ihm die Gruppe
präsentiert, so daß es letztendlich zu einem Lernprozeß kommt. An diesem
Punkt erhält die Schichtspezifität eine besondere Bedeutung, denn "je
geringer der soziale Status eines Menschen ist, je kürzer seine Schulzeit war,
desto eher muß man damit rechnen, das er Bildung im Sinne eines
anwendbaren Wissens versteht, das für ihn zudem gewöhnlich mit einer
höheren sozialen Position verbunden ist."22 Dieser Mensch versteht Bildung
also oft als berufsbezogene Fortbildung, im Gegensatz zu den Angehörigen
der 'oberen Schichten', die Bildung mehr sozialdifferenzierend betrachten.
Die Auffassung, daß Bildung bzw. Weiterbildung auf das berufliche
Fortkommen bezogen sein sollte, erschwert vielen Teilnehmern der
Erwachsenenbildung das Lernen von 'nicht beruflich nötigen Lerninhalten',
weil ihnen besonders kritische Erwartungen der eigenen Umgangsgruppe,
aufgrund einer Fortbildung entgegen der Gruppennorm, entgegenstehen. Da
viele zumindest genötigt werden, nachweisbare Erfolge zu erzielen, ist die
große Zahl derer, die wegen der Kritik der Gruppe heimlich lernen,
begreiflich.
Die Erkenntnis schichtspezifischer Erziehungsstile führt Tietgens nun zu
der Annahme, daß dies auch zu unterschiedlichen Lerntypen führen
20
21
22
Tietgens, H.: Lernen mit Erwachsenen, S. 221
ebenda S. 225
ebenda S. 228
Seite 15
müsse23. Seiner Meinung nach führt eine Unterentwicklung der
Lernerfahrung, z.B. durch einen zu kurzen Schulbesuch, zu einem
24
'imitativen, aditiv-kasuistischen Lernen' , das heißt ein schrittweises, am
Handeln anderer orientiertes und einzelfallweises Lernen ohne den größeren
Zusammenhang des Gelernten zu erkennen. "Die Leistungsorientiertheit
bleibt auf eine konkrete Aufgabenerfüllung bezogen und begründet keine
Kontinuität des Bildungsstrebens."25 Diesem Lerntypus stellt er das
'sinnvorwegnehmende Lernen' gegenüber. Nicht verstandene Sequenzen des
Lernstoffes werden im Gedächtnis gespeichert, um diese Lücken zu einem
späteren Zeitpunkt aufzufüllen, wenn eine mögliche Lösung geboten wird
oder man selbst nach der Lösung forschen kann. Typisch für diesen Lerntypus ist auch die Möglichkeit, Verbindungen zwischen Raum und Zeit
herzustellen, d.h. zum Beispiel, daß Rückschlüsse von Vergangenem auf
Zukünftiges möglich sind, oder daß der Lernende sich nicht mit einer Fülle
von Auswendiggelerntem 'belastet', sondern wenige Schlüsselsequenzen des
Stoffes lernt, mit denen er später Rückschlüsse ausführen kann. Tietgens
hebt aber ausdrücklich hervor, daß die Lernenden nicht ausschließlich
einem einzigen Lerntypus angehören, sondern daß jeder mehr oder weniger
dem additiven Lerntypus angehört, doch sollte versucht werden, die
Edukanten mehr dem sinnvorwegnehmenden Lernen zuzuführen, d.h. das
Lernen hat in so kleinen Schritten wie möglich zu erfolgen ohne die mehr
additiv Lernenden zu überfordern und die mehr dem anderen Lerntypus
angehörenden zu unterfordern. Da der Lernaufwand beim additiven Typus
bei weitem größer ist, kommt es zu einer schnellen Ermüdung, da sie immer
wieder von vorne anfangen müssen und immer neue Fälle zu einer
Resignation führen, die das Lernen blockiert. Letzteres ist aber auch für die
andere Gruppe gegeben, da sie glauben, nicht vorwärts zu kommen, wenn
immer wieder auf ältere Stoffgebiete zurückgegriffen werden muß. Dies hat
auch Auswirkungen auf die Kommunikation in der Gruppe bzw. Schule, da
beiden Typen eine 'eigene' Sprache zu eigen ist, so verwendet der additive
Typus mehr die Gemeinsprache während der sinnvorwegnehmende mehr die
Formalsprache vorzieht. Die Gemeinsprache ist expressiv, reihend und
schablonenhaft und erlaubt somit keine Abstraktion, was die Erfassung
komplizierter Sachverhalte erschwert und somit Grenzen für die
Lernkapazität steckt. Der Spielraum der sprachlichen Möglichkeiten ist
jedoch, laut Tietgens, schichtbegrenzt, weil der Edukant vom Familienmilieu
präformiert ist, also kaum eine Möglichkeit hat, aus diesem 'auszubrechen'
um in die Ebene der Formalsprache 'aufzusteigen'.
7 Persönliche Stellungnahme und Ausblick
23
24
25
vgl. ebenda S. 230 - 232; Tietgens, H.: Erwachsene im Feld des Lehrens
und Lernens, S. 85 ff.
Tietgens, H.: Erwachsene ..., S. 86
ebenda S. 87
Seite 16
Trotz all dieser obengenannten Lerntheorien, die nur ein paar der
wichtigsten darstellen, und den stets neu erscheinenden wissenschaftlichen
Abhandlungen zu diesem Themenkomplex, bleiben noch viele Fragen
unbeantwortet im Raum stehen26. Zum Beispiel stellt Hastenteufel die Frage
nach der Beweiskraft dieser Theorien, denn im eigentlichen Sinne kann man
nur 'Symptome', also äußere Anzeichen, erkennen und einordnen, doch die
Vorgänge im Inneren des Individuums bleiben verschlossen und nicht
eindeutig erklärbar. So nennt er z.B. die Liebe als einen Komplex, der mit
den Lerntheorien nicht zu verstehen ist, denn die Fragen 'wer lehrt die
Liebe?' und 'wie lernt man die Liebe?' kann man aus seiner
27
Zusammenfassung extrahieren. Für mich stellt sich noch die große Frage
nach der ethischen Vereinbarkeit der Lerntheorien und ihrer Entwicklung
mit dem 'heutigen' Bewußtsein. Wenn sich das menschliche Lernen lückenlos auf Steuervorgänge und Kontrollen zurückführen lassen könnte, wären
der Manipulation durch Herrscher, Medien usw. Tür und Tor geöffnet, und
in einem gewissen Maß mag dies auch der Fall sein. Doch wäre die
'herrschende Macht' genauso manipulierbar. Durch die Grünen-Bewegung
seit Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre kommt noch ein weiterer
Punkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit, nämlich die Ethik gegenüber dem
Tier. Nahezu alle Lerntheorien wurden mit Hilfe von Tierversuchen
aufgestellt, wobei Pawlows Hundeexperimente28 eine besondere Grausamkeit
an den Tag legten, aber auch Skinners Versuche mit Katzen und Tauben
und Thorndikes Untersuchungen unter anderen an Füchsen stellen die
Frage, in wie weit das menschliche Lernen überhaupt durch
Untersuchungen an Tieren erklärt werden kann, wenn die Wissenschaft und
die Religion, zumindest zu dem Zeitpunkt der Theorienentwicklung,
hervorgehoben haben, daß der Mensch die Krone der Schöpfung sei und
Darwins Affenhypothese zu vielen Gerichtsprozessen geführt hat. Um der
Frage nach der Übertragbarkeit nachzugehen, schreckte so mancher
Wissenschaftler noch nicht einmal davor zurück, seine eigenen Kinder als
Versuchsobjekte heranzuziehen. So beschreibt Corell ein Experiment von J.
B. Watson mit folgenden Worten: "Mit minutiöser Genauigkeit schildert er
(Watson) die acht Stadien des Prozesses, durch den dem Kind, das anfänglich
völlig furchtlos mit Stofftieren spielte, eine tiefe Angst vor allem Pelzigen
beigebracht wurde. Es handelt sich um eine Reaktion, die durch laute
Geräusche - z.B. Hammerschläge auf Stahlblech - bedingt wurde, weil diese
furchterregenden Geräusche gerade in dem Augenblick ertönten, in dem sich
29
das Kind anschickte, mit den Tierchen zu spielen." Nebenbei sei zu
erwähnen, daß Watson's Sohn Albert gerade einmal elf(!) Monate alt war.
26
27
28
29
vgl. Hastenteufel, S. 77 f.
Hastenteufel, S. 78
Eine genauere Beschreibung der Versuche Pawlows in Foppa, K., Lernen,
Gedächtnis, Verhalten, S. 327 - 332.
Corell, W.: Lernpsychologie, S. 21 f.
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Literaturverzeichnis:
Corell, Werner: Lernen in Schultz, Hans Jürgen: Psychologie für
Nichtpsychologen, Stuttgart, 19793, S. 233 - 143.
Corell, Werner: Lernpsychologie, Donauwörth, 196115.
Foppa, Klaus: Lernen, Gedächtnis, Verhalten. Ergebnisse und
Probleme der Lernpsychologie, Köln, 19759.
Hastenteufel, Paul: Leben, Lehren, Lernen, Pädagogik
Sekundarstufe II - Lehrerteil, Baltmannsweiler, 19781.
Hastenteufel, Paul: Leben, Lehren, Lernen, Pädagogik
Sekundarstufe II - Schülerteil, Baltmannsweiler, 19781.
Tietgens, Hans; Weinberg, Johannes: Erwachsene im Feld des
Lehrens und Lernens, Braunschweig, 19711.
Tietgens, Hans: Lernen mit Erwachsenen, Braunschweig, 19671.
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