Ethische Implikationen einer allgemeinen Theorie autopoietischer

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U N I V E R S I TÄT B R E M E N
STUDIENGANG PSYCHOLOGIE
Ethische Implikationen einer
allgemeinen Theorie
autopoietischer Systeme
Diplomarbeit
vorgelegt von
Christoph Kopp
9 . 11 . 2006
Erstprüfer
Prof. Dr. Peter Kruse
Zweitprüferin
Dr. Sylke Meyerhuber
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„Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näher zu kommen, so
wenig wie Sonne und Mond zu einander kommen oder Meer und
Land. [. . .] Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern
einander zu erkennen und einer im anderen das sehen und ehren
zu lernen, was er ist: des anderen Gegenstück und Ergänzung.“
(Hesse, 1959, S. 40)
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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I.
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Teil I — Theoretische Grundlagen
1. Kybernetik, Information und Selbstorganisation
10
2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme
2.1. Autopoietische Systeme sind unruhige Systeme . . . . . . . .
2.2. Autopoietische Systeme sind operational geschlossen . . . . .
2.3. Autopoietische Systeme unterliegen einem Komplexitätsgefälle
2.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Situation doppelter Kontingenz
3.1. Kommunikation im System . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Eine autopoietische Sinntheorie
4.1. Sinn, die Differenz von Aktualität und Möglichkeit .
4.2. Sinn und Information . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3. Sinndimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1. Sachdimension . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.2. Zeitdimension . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.3. Sozialdimension . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Das Besondere an der Sozialdimension von Sinn
5.1. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
6.1. Die Wahrscheinlichkeit des Neins . . . . . . . . .
6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln . . . .
6.2.1. Kommunikationsmedien und Mediencodes
6.2.2. Alter erlebt und Ego handelt . . . . . . . .
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6.2.3. Alter handelt und Ego erlebt .
6.2.4. Alter erlebt und Ego erlebt . .
6.2.5. Alter handelt und Ego handelt
6.3. Anschlussselektivität im System . . .
6.4. Gesellschaftliche Differenzierung . .
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II. Teil II — Ethische Implikationen der Theorie autopoietischer
Systeme
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7. Einleitende Bemerkungen
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8. Ein Problem des Menschen
8.1. Fromm meets Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.2. Der widersprüchliche Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9. Wir berücksichtigen uns, also sind wir
9.1. Anerkennungsbeziehungen und die Sozialdimension von Sinn
9.2. Respectus! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10. Die Moral von der Geschicht’
10.1.Die medienspezifische Differenzierung der Gesellschaft . . . .
10.2.Das Medium Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.3.Ethik als Reflexionstheorie der Moral . . . . . . . . . . . . .
10.4.Ausblick: Respekt als mögliche moderne Reflexionsform der
Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11. Literaturverzeichnis
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Einleitung
Durch Kommunikation zeichnen wir uns gegenseitig Formen in unsere kognitiven Systeme. So ähnlich hat Humberto Maturana es in seinem Buch
Baum der Erkenntnis (vgl. Maturana & Varela, 1984, S. 265) formuliert.
In diesem Sinne möchte ich diesen Text benutzen, um dem Leser, eine Form
vorzustellen, die man als Bauanleitung verstehen kann, die notwendigen Probleme der Selbstorganisation sozialer und psychischer Systeme zu erzeugen
und nachzuvollziehen.
In der ehrwürdigen Tradition der Kantschen Fragetechnik, nicht einfach
zu fragen: „Was ist der Fall?“, sondern zu fragen: „Wie ist es überhaupt
möglich?“, möchte ich nun die Frage stellen: Wie sind die Bedingungen der
Möglichkeit von psychischer und sozialer Ordnung denkbar? Und wie wird
etwas wie Ethik oder Moral dann zum Problem?
In diesem Zusammenhang ist es die Theorie autopoietischer (sich–selbst–
erzeugende) Systeme, die mich in der letzten Zeit intensiv, und aus verschiedenen Gründen umgetrieben hat. Hier möchte ich den Versuch machen diese
Theorie auf fundamentale ethische Implikationen zu untersuchen. Die bedeutendsten Beiträge zu einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme
kommen – wohl unzweifelhaft – von dem Biologen Humberto Maturana
und dem Soziologen Niklas Luhmann. So beziehe ich mich im folgenden
wesentlich auf das Theorieunternehmen das Niklas Luhmann mit dem, von
Humberto Maturana geprägten, Begriff der Autopoiesis ausgearbeitet hat.
Luhmann interessiert mich hier nur zweitrangig als Soziologe. Im Kontext
einer sozialpsychologischen Analyse interessiert mich im wesentlichen der Erkenntnistheoretiker Luhmann. Denn im Rahmen seines Opus Magnum, hat
er eben nicht nur die Gesellschaft als ein autopoietisches System beschrieben,
vielmehr hat Luhmann quer durch seine Schriften, und leider nicht an zentraler Stelle, parallel eine allgemeine Theorie autopoietischer Systeme entwickelt.
Seine Gesellschaftstheorie ist in dieser allgemeinen Theorie autopoietischer
Systeme der Spezialfall „soziale Systeme“. Daneben gibt es „biologische Systeme“und „psychische Systeme“, die jeweils auch autopoietisch organisiert sind.
Mit einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme ist es nun möglich
völlig heterogene Systeme auf die selben Kriterien hin abzufragen, nämlich
auf die Besonderheiten der Organisation dieser Systeme.
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Nun möchte ich im ersten Teil des Textes, nach einer kurzen axiomatischen
Einführung in die Besonderheiten der Organisation autopoietischer Systeme, drei wesentliche Theorieteile des Luhmannschen Gesamtwerkes heraus
greifen, um daran die allgemeine Logik der Theorie nachzuzeichnen. Das
sind die Sinntheorie, die Theorie doppelter Kontingenz und die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, ohne die ein Verständnis
des Luhmannschen Theoriegebäudes schlecht möglich ist. Und ich hoffe das
schon während dieses ersten Teils deutlich wird, wie die theoretischen Voraussetzungen verwickelt sind mit der primären ethischen Frage: „Was ist der
Mensch?“(Bateson & Bateson, 1993)
Im zweiten Teil werde ich dann die Punkte erörtern, die mir besonders wichtig erscheinen, wenn man die Frage stellt: „Gibt es ethische Implikationen
dieser Theorie?“Ich möchte also im ersten Teil mit den Formalismen der Theorie einen Eindruck vermitteln, wie die Theorie sich die Rahmenbedingungen
sozialer und psychischer Ordnung vorstellt, um dann die Frage zu bearbeiten,
ob es implizite Empfehlungen der Theorie gibt, wie man sinnvollerweise mit
sozialen oder psychischen Systemen umgehen kann.
Es geht mir hier nicht um den direkten Vergleich klassischer Positionen der
Ethik, sondern um das was die autopoietische Theorie, für meine Begriffe,
an ethischen Implikationen mit sich führt. Das mag man anders sehen, oder
einen ausführlichen Bezug auf die Klassiker vermissen, aber um den Bezugsrahmen einzugrenzen ist es für diesen Text sinnvoll die Ideen der Theorie
selber in den Vordergrund zu rücken. Ich möchte ja gerade die Formalismen
der Theorie autopoietischer Systeme herausstellen, um zu einer Reflexion
über Ethik einzuladen. Das schließt dann im Anschluss natürlich nicht die
Verhandlung mit den Klassikern aus, allerdings steht diese nicht im Fokus
dieses Textes. Ich möchte hier die sensiblem Punkte der Theorie zur Schau
stellen und dazu auffordern die ganze Theorie zu lesen, immer mit der Frage
im Hinterkopf: „Was kann das für Gesellschaft und Individuum bedeuten,
wenn man die Vorschläge der Theorie annimmt?“
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Teil I.
Theoretische Grundlagen
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1. Kybernetik, Information und Selbstorganisation
Die Theorie autopoietischer Systeme, die ich hier in den nächsten Schritten
vorstelle, um sie danach auf ihre ethischen Implikationen zu untersuchen, hat
sich im wesentlichen auf der Grundlage der, in den 50er Jahren des letzten
Jahrhunderts entstehenden, Kyberbetik entwickelt. Die Ideen, die in diesem
Zusammenhang von Gregory Bateson, Heinz von Foerster, William Ross Ashby und vielen anderen entwickelt wurden, haben die moderne Systemtheorie
in gewisser Weise erst ermöglicht.
Das was man heute zum Thema autopoietische Systeme findet, ist hauptsächlich von Konzepten abgeleitet, die unter dem Einfluss der Kybernetik in
den verschiednen Disziplinen entstanden sind. Die Kybernetik ist die Wissenschaft der kreiskausal geschlossenen Rückkopplungsmechanismen in biologischen, psychischen und sozialen Systemen. Aktualität gewann der Ansatz, als
die Gründerväter der Kybernetik begannen über informationale Offenheit,
bei gleichzeitiger operationaler Geschlossenheit der Systeme nachzudenken
und dabei diese Idee in den Mittelpunkt erkenntnistheoretischer Bemühungen
stellten. (vgl. Foerster, 1993a; vgl. Rotermund, 2003)
Gregory Bateson entwickelte daraufhin einen passenden Informationsbegriff, der den Weg dafür frei machte Information ganz generell zu bezeichnen,
als einen Unterschied, der einen Unterschied macht (vgl. Bateson, 1987, S.
123). In klassischer Lesart formulierte er so eine Paradoxie, die sich nur über
die Fokussierung auf Perspektive und Zeit entfalten lässt. Also „wer“oder
„was“macht einen Unterschied und erzeugt daraufhin einen weiteren Unterschied. In diesem Konzept läuft ein Unterschied sozusagen auf einen anderen
Unterschied auf und erzeugt dabei einen weiteren Unterschied; Information.
(vgl. Bateson, 1987)
So entwickelten sich langsam Unterscheidungstheorien, die nicht mehr
hinter diesen Informationsbegriff von Bateson zurückfielen, sondern diese einschränkende Formulierung aufgegriffen und variiert haben. Man kann wohl
mit recht sagen, das Gregory Bateson mit seiner Definition von Information
den Grundstein einer kybernetischen Informations– und Unterscheidungstheorie gelegt hat.
Im Duktus dieser Informationsdefinition formulieren Humberto Maturana
und Niklas Luhmann schliesslich, in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts,
ihre Ansätze zu einer Theorie sich selbst erzeugender, also autopoietischer
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Systeme (Luhmann, 1987; Maturana & Varela, 1984). Passend zu der Idee
von Gregory Bateson, das der Geist als kreiskausales System mit Unterscheidungen arbeitet, wird hier ein Systembegriff in einem zirkulären Argument
formuliert. Ein autopoietisches System ist hier ein System, das die Strukturen,
bzw. Elemente aus denen es besteht, aus eben diesen Elementen, selbst erzeugt
(vgl. Luhmann, 1999a, S. 65). Bei Luhmann heißt es dann:
„Die Elemente (und zeitlich gesehen sind das Operationen), aus
denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine unabhängige Existenz. Sie kommen nicht bloß zusammen. Sie werden nicht
bloß verbunden. Sie werden vielmehr im System erst erzeugt, und
zwar dadurch, dass sie (auf welcher Energie- und Materialbasis
immer) als Unterschiede in Anspruch genommen werden. Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System einen
Unterschied machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung zur Produktion weiterer Einheiten der Verwendung, für die
es in der Umwelt des Systems keinerlei Entsprechung gibt.“
(Luhmann, 1999a, S. 65 f)
So wird ein System verstanden als ein quasi–perpetueller Zusammenhang
von Operationen, der durch seine Operationen laufend Unterschiede erzeugt
und dadurch das System von einer Umwelt abgrenzt. Die Umwelt trägt und
malträtiert das System, aber es gibt keine Verbindung zwischen System und
Umwelt auf der Ebene der Operationen. In diesem „neo–batesonschen“Sinne
sind autopoetische Systeme informationserzeugend. Sie erzeugen in ihren
Operationen systemrelative Information.
Die Kybernetik stellt sich einen solchen re–produktiven Zusammenhang
beispielhaft als einen iterativen Prozess vor (vgl. Foerster, 1993b, S. 269281). Der Begriff Iteration stammt aus der Mathematik und bezeichnet eine
Funktion deren Ergebnis immer wieder eben diese Funktion durchläuft und
daraufhin Eigenwerte erzeugt. In der Mathematik kann man leicht erkennen, das solche iterativen Prozesse drei wesentlich unterscheidbare Resultate
erzeugen können.
1. Es entsteht ein fester Eigenwert unabhängig vom Ausgangspunkt (z. B.
Wurzelfunktion).
2. Eigenwerte wechseln vorhersehbar regelhaft (z. B. eine Periode).
3. Es entsteht eine unregelmäßige oder eine unvorhersehbare Zahlenfolge
(z. B. π).
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1. Kybernetik, Information und Selbstorganisation
Es ist eine Binsenweisheit in der Mathematik, dass iterative Funktionen
alle nur denkbaren Formen hervorbringen können. Und das ist möglich mit
nur einer Funktion, die immer wieder auf sich selbst angewendet wird. Es
ist also möglich aus einer einfachen Funktion hochkomplizierte Muster zu
erzeugen. Und so können auch autopoietische Systeme in ihren kreiskausal
organisierten Operationen alle möglichen Formen von linearen und nicht–
linearen Dynamiken entwickeln.
In diesem Sinne unterscheidet die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme, die Systeme nach ihrer „iterativen“Reproduktions–Operation. Sie unterscheidet z. B. biologische Systeme (Proteinsynthese), Bewusstseinssysteme
(Reproduktion von Gedanken) und soziale Systeme (Reproduktion von Kommunikationen) und geht dabei von einer Koevolution dieser drei Systemtypen
aus (Luhmann, 1999a).
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2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme
Bemerkenswert ist, dass Luhmann seine theoretischen Überlegungen nicht
mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel beginnt. Sondern die Basisaussage
ist: „Es gibt autopoietische Systeme.“und zwar nicht nur als bloße Verstandeskonstrukte, sondern es gibt Systeme da draußen, die autopoietisch organisiert
sind (vgl. Luhmann, 1987, S. 30). Das betrifft in der allgemeinen Theorie
autopoietischer Systeme – wie gesagt – ganz konkret biologische, psychische
und soziale Systeme. (vgl. a.a.O.: S. 15 f)
Dann stellt sich natürlich die Frage: Wie kann man sich ein autopoietisches System vorstellen? Diese Frage versuche ich im Folgenden dadurch
verständlich zu machen, dass ich die fundamentalen erkenntnistheoretischen
Annahmen, die hinter dieser Theorie stehen, in ein prägnantes axiomatisches
Gerüst bringe.
Es ist hier nochmal zu betonen, dass die im folgenden beschriebenen Axiome autopoietischer Systeme für psychische, soziale und biologische Systeme
gleichermassen gelten. Es geht hier also zunächst nicht um irgendein materielles Substrat, oder um bestimmte Systemelemente, sondern es geht um die
Bezeichnung von konkreten Besonderheiten der Organisation von autopoietischen Systemen.
In gewisser Weise kann man sagen, dass die hier folgenden Axiome die
wesentlichen Vorannahmen der Theorie autopoietischer Systeme sind, die
die Bedingungen der Möglichkeit von Systemen einschränken, bzw. problematisieren. Luhmann hat das meines Wissens zwar nirgendwo so explizit
zusammengefasst und er hätte sich sicherlich gegen den Begriff Axiome gewehrt (vgl. Luhmann, 2005a, S.41 f), aber diese Vorannahmen kommen in
fast allen seinen Texten mindestens implizit (fast als Bedingung des Verstehens) vor und ich erlaube mir deshalb den Kunstgriff hier von Axiomen zu
sprechen.
2.1. Autopoietische Systeme sind unruhige Systeme
Wie ich bereits im Vorwort angedeutet habe sind autopoietische Systeme
kreiskausal organisiert und re-produzieren ihre Elemente aus einem Netzwerk eben solcher Elemente (Maturana & Varela, 1984). Das heisst in
der Kurzform: A produziert B und darauf hin produziert B wieder A usw.
13
2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme
Der Clou ist hier, dass die Elemente (A und B) flüchtige Elemente sind. Sie
verschwinden also mit der Zeit. Es gibt keine Systemelemente, die ohne den
operativen Zusammenhang mit anderen Elementen einfach so existieren. Nur
der kontinuierliche re-produktive Zusammenhang der Elemente erzeugt die
Kontinuität des Systems. Nur der ständige Anschluss von Operation an Operation gewährleistet so etwas wie Systemgrenzen. Das verursacht im System
Anschlussdruck (Taktung)(vgl. Luhmann, 1999a, S. 65f.).
Kurz, wenn diese Operationen der Reproduktion erliegen, dann löst sich
das System auf, es verliert seine Grenzen. So driftet das System als dynamischer Prozess (ohne statische Identität) in der Welt (Maturana & Varela,
1984). Es ist inhärent unruhig.
2.2. Autopoietische Systeme sind operational geschlossen
Außerhalb des operativen Zusammenhanges gibt es also keine Systemelemente. Systeme entwickeln die Differenz zu ihrer Umwelt im Anschluss von
Operationen an Operationen. Der Begriff operationale Geschlossenheit betont dabei die Tatsache, dass die Formen, die ein System in seiner Umwelt
entwickeln kann von der Organisation der Selbstreproduktion und nicht
direkt von der Umwelt abhängen (Ashby, 1974; Maturana, 1998).
So ist die Form von Information im System immer eine systeminterne Form
der Unterscheidung von Unterschieden in der eigenen Strukturdynamik.
Das bedeutet, dass ein System zwar von aussen irritiert werden kann, aber
die Form der Unterschiede, die daraufhin im System erzeugt werden können,
hängt von der Strukturdynamik des re-produktiven Prozesses ab und nicht
direkt von der Umwelt.
Für ein autopoietisches System bedeutet das z. B., dass es die Unterscheidung von System und Umwelt immer innen, also im System vollzieht (wo
sonst) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 92 f). Schon deshalb kann ein System sich
nicht selbst und schon gar nicht seine Umwelt vollständig beobachten (vgl.
Luhmann, 1993, Band 13). Festzuhalten bleibt, Systeme gewinnen ihre Form
aus der strukturellen Dynamik der Organisation ihrer eigenen Operationsweisen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Irritierbarkeit
eines Systems, das nur innerhalb der eigenen Grenzen operieren kann. Luhmann geht davon aus, dass die Grenzen des Systems nicht als Abbruch von
Zusammenhängen zu sehen sind (vgl. Luhmann, 1987, S. 35 f).
„Man kann auch nicht generell behaupten, dass die internen Interdependenzen höher sind als System/Umwelt-Interdependenzen.
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2.3. Autopoietische Systeme unterliegen einem Komplexitätsgefälle
Aber der Grenzbegriff besagt, dass grenzüberscheitende Prozesse
(zum Beispiel des Energie- oder Informations-‚Austausch‘) beim
Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzung (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwendbarkeit oder
andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden.“(a.a.O.)
Die Theorie negiert damit nur die Möglichkeit einer systemunabhängigen
Beobachtung (z. B. als Beobachtung von „Umwelt an sich“) und setzt zugleich
Umwelt als operational unerreichbar (verschieden) voraus.
„Das System sucht mit anderen Worten Formen, mit denen es die
eigene Autopoiesis zugleich als geschlossen (für eigene Operationen) und als offen (für Irritationen aus der Umwelt), als rekursiv
und responsiv organisieren kann.“(Luhmann, 2001 a, S. 145)
2.3. Autopoietische Systeme unterliegen einem Komplexitätsgefälle
Durch die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme wird ein weiteres wichtiges Axiom angezeigt. Ein System, das sich auf der Basis eigener Operationen
ausdifferenziert und von seiner Umwelt unterscheidet, kann immer nur weniger Zustände annehmen als die Umwelt in der das System sich verwirklicht.
Die Umwelt (inkl. der Systeme in der Umwelt) bleibt immer komplexer als
das System selbst. Ein System kann nicht alle Unterschiede der Umwelt in sich
1zu1 übernehmen, nicht jede Veränderung der Umwelt mit eigenen Änderungen parieren. Dieser Sachverhalt ist offensichtlich schwer zu bestreiten (vgl.
Luhmann, 1992, Band 8 a).
Das Komplexitätsgefälle wird dann im System in der Form eines perspektivischen Weltentwurfes, der immer schon die äussere Welt reduziert, bearbeitet.
„Das System interpretiert die Welt selektiv und reduziert damit
die Komplexität auf das ihm zugängliche Maß hin. Dadurch ermöglicht es sich strukturierte Möglichkeiten des eigenen Erlebens
und Handelns.“(Asmus, 1999)
Ein autopoietisches System muss also selektiv operieren.
2.4. Fazit
Die Frage welchen Bedingungen der Möglichkeit autopoietische Systeme unterliegen lässt sich also verkürzt wie folgt beantworten.
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2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme
Ein System muss sich ständig in eigenen Operationen reproduzieren. Es
produziert sich so in einer unruhigen Form, in einer Umwelt die stets mehr
Zustände einnehmen kann als das System in eigenen Operationen auflösen
kann. Ein System muss also prinzipiell selektiv operieren.
Beim weiteren lesen des Textes ist es nützlich sich diese drei Axiome ständig
präsent zu halten, denn das was ich im weiteren zum Problem doppelter
Kontingenz, zur Luhmannschen Sinntheorie und danach zu einer Theorie
symbolisch generalsierter Kommunikationsmedien sagen werde, setzt diese
Grundideen voraus.
16
3. Die Situation doppelter Kontingenz
Was passiert nun, wenn zwei autopoietische Systeme, z. B. zwei psychische
Systeme miteinander zu tun bekommen? Was passiert wenn sie interagieren
und nicht die Fähigkeit haben die Komplexität des jeweils Anderen im eigenen System zu duplizieren; wenn sie in diesem Sinne keine Möglichkeit der
Antizipation haben? (vgl. Luhmann, 1993, Band 5a, ab 35:00 min)
„Es gibt eine These von Donald MacKay, einem schottischen Informationstheoretiker, wonach unter diesen Bedingungen Freiheit
entsteht. Selbst wenn diese komplexen Systeme Maschinen wären, selbst wenn sie vollständig determiniert wären, müsste jedes
System unterstellen, das das andere beeinflusst werden kann, also
auf Signale reagiert; und nicht in einer Weise deren Determiniertheit man im System selbst ausrechnen könnte. Sondern eben in
einer Weise die unvorhersehbar ist. Und dann muss man die Information sozusagen süßen, man muss irgendwie Anreize bieten
von denen man glaubt oder aus Erfahrung weiß, das die anderen
Systeme sich darauf einlassen; das sie freiwillig, aufgrund eigener
Präferenzen kooperieren, bzw. wenn man das ausschließen will,
nicht kooperieren; das sie also entscheiden können; und nicht
schon durchdeterminierte Systeme sind, die das tun was sie sowieso tun.“(a.a.O.)
Also die interessante Hypothese ist, dass unter diesen Bedingungen Freiheit
entsteht (vgl. MacKay, 1967). Es müssen mindestens zwei Systeme sein, die
sich wechselseitig komplexitätsunterlegen sind. Sie haben also jeweils nicht
die requisite Variety (vgl. Ashby, S. 179 ff), die Komplexität des anderen
im eigenen System zu erzeugen, geschweige denn die Möglichkeit eine Interaktion zu antizipieren. „Und unter diesen Bedingungen müssen die Systeme
die Freiheit des anderen unterstellen, um sich selbst in ein Verhältnis zum
anderen System bringen zu können. [. . .]Und wenn das auf beiden Seiten geschieht, dann wird Freiheit qua Fiktion Realität.“(Luhmann, 1993, Band 5a,
ab 35:00 min)
Genauer könnte man sagen: Freiheit wird qua Kommunikation Realität
(vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 45). Wie man sich Vorstellen kann,
das, sich–wechselseitig–beobachtende Bewusstseinssysteme eigene Freiheits-
17
3. Die Situation doppelter Kontingenz
grade in soziale Integration überführen, das soll der jetzt folgende Teil beschreiben.
3.1. Kommunikation im System
Am Anfang der Kommunikation steht nicht etwa das Wort, sondern am Anfang steht ein Beobachter, der einen anderen Beobachter beobachtet und das
Verhalten des anderen als Mitteilung einer bestimmten Information interpretiert (also seine eigene Information erzeugt) (vgl. Foerster, 1999, CD 2,
Track 1).
„Das heißt, dass im Falle einer mündlichen Kommunikationssituation Ego sich nicht darauf beschränkt, Laute wahrzunehmen,
sondern diese auf den Sachverhalt zurückführt, dass Alter seiner
Ansicht nach damit etwas sagen wollte.“(Esposito, 2002, S. 15)
Zunächst wird Ego durch die Laute von Alter irritiert (Ego kann einen
Unterschied erzeugen). Allerdings kann man an diesem Punkt noch nicht von
verstehen sprechen, denn dazu muss Ego die Irritation durch Alter erst als
Mitteilung einer bestimmten Information unterscheiden. Das kann Ego nur,
wenn es Alter bestimmte sinnvolle Intentionen unterstellt. Die Unterstellungen
sinnvoller Intentionen bleiben natürlich für Ego immer mehr oder weniger
Spekulationen, aber sie ermöglichen es Ego ein anschließendes Verhalten zu
finden und so eine Situation wechselseitiger Unbestimmtheit zu entschärfen.
Eine solche Unterstellung, einer von bestimmtem Sinn geleiteten Mitteilung,
wird dann in dieser Theorie verstehen genannt und schließt eine Kommunikation ab, an die dann weitere Kommunikationen anschließen können (vgl.
a.a.O.).
Daraufhin bleibt Alter die Möglichkeit seinerseits sein Gegenüber auf die
Differenz von Mitteilung und Information zu beobachten und sich zu verhalten. Dieses Verhalten kann wiederum auf den Unterschied von Mitteilung
und Information hin beobachtet werden usw.
Wenn Ego sinngeleitet beobachtet, dann bleibt er also nicht am Strom
reinen Erlebens kleben, sondern er kann z. B. das wahrgenommene Kopfschütteln von Alter als Unzufriedenheit deuten und davon absehen es als
spastische Zuckung, oder Entspannungsübung zu interpretieren.
„Aus einer Kommunikation werden dann weitere Kommunikationen erzeugt, die jeder auf seine Weise versteht oder missversteht.“(a.a.O.)
Für all das benötigt man selbstverständlich die Beteiligung von Bewusstseinssystemen, die sich gegenseitig wie beschrieben beobachten und dies nicht
18
3.1. Kommunikation im System
aus irgendwelchen Gründen unterlassen. Entscheidend ist hier, das ein System
aus Kommunikationen etwas anderes ist, als die Systeme aus Gedanken, die
diese tragen. Kommunikationssysteme gehören zur Umwelt von Bewusstseinssystemen. Sie sind vielmehr unerreichbarer Erkundungshorizont und bieten
als solcher immer neue Anlässe für eigene Gedanken (vgl. a.a.O.: S. 16). Um
das zu verdeutlichen, kann man darauf verweisen, dass jeder schon mal die
Erfahrung der Inkommunikatibilität gemacht hat:
„[. . .] das Gefühl, über etwas nicht sprechen zu können, ohne es zu verdrehen und in etwas ganz anderes zu verwandeln (das Musterbeispiel ist hier
bekanntlich die Kommunikation von Ehrlichkeit).“(a.a.O.: S. 16)
Diese Ausgangslage kann mit Luhmann in ein Konzept der doppelten Kontingenz übersetzt werden.
„[Doppelte Kontingenz wird wirksam] [. . .]sobald ein Sinn erlebendes psychisches System gegeben ist. Es begleitet unfokussiert
alles Erleben, bis es auf eine andere Person oder ein soziales System trifft, dem freie Wahl zugeschrieben wird. Dann wird es als
Problem der Verhaltensabstimmung aktuell. Den Aktualisierungsanlaß bieten konkrete, wirkliche psychische oder soziale Systeme
oder Spuren (z. B. Schrift), die solche Systeme hinterlassen haben.“(Luhmann, 1987, S. 151)
Wenn also zwei Bewusstseinssysteme in einer Situation gegenseitiger Beobachtung kontingent handeln, also jedes auch anders handeln kann und jedes
dies von sich selbst und dem anderen weiß und in Rechnung stellt, dann verdoppelt sich die Kontingenz und es ist „[. . .] zunächst unwahrscheinlich, dass
eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit: Sinngebung) im
Handeln anderer findet.“(a.a.O.: S. 165)
Man kann das als eine einfache Grundsituation sehen, in der diese beiden
Systeme, die für einander jeweils eine Black Box sind, aus irgendwelchen
Gründen etwas miteinender zu tun bekommen. Jedes einzelne Bewusstseinssystem bestimmt sein eigenes Verhalten immer durch komplexe, selbstreferentielle Operationen innerhalb seiner eigenen Grenzen, und das was von
ihm außerhalb seiner Grenzen sichtbar wird, ist deswegen notwendig die
Reduktion eines anderen Beobachters (vgl. vgl. a.a.O.: S. 156).
„Deshalb bleiben die Black Boxes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand [auf der Ebene der eigenen Systemoperationen] [. . .] füreinander
undurchsichtig.“(a.a.O.)
Luhmann sagt dazu:
„Zugleich mit der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung erklärt
dieses Konzept aber auch die Normalität sozialer Ordnung; denn
19
3. Die Situation doppelter Kontingenz
unter dieser Bedingung doppelter Kontingenz wird jede Selbstfestlegung, wie immer zufällig entstanden und wie immer kalkuliert, Informations- und Anschlusswert für anderes Handeln
gewinnen. Gerade weil ein System geschlossen-selbstreferentiell
gebildet wird, also A durch B bestimmt wird und B durch A,
wird jeder Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv.“(a.a.O.:
S. 165)
So kann man sich konkret vorstellen, dass sich zwei Unbekannte zunächst
wechselseitig z. B. auf Situationsdefinition, sozialen Status oder Intentionen
usw. hinweisen (vgl. a.a.O.: S. 184).
Damit beginnt dann „[. . .] eine Systemgeschichte, die das Kontingenzproblem mitnimmt und rekonstruiert. Mehr und mehr geht es daraufhin dann
im System um eine Auseinandersetzung mit einer selbstgeschaffenen Realität:
um Umgang mit Fakten und Erwartungen, an deren Erzeugung man selbst
beteiligt war und die sowohl mehr, als auch weniger Verhaltensspielraum
festlegen als der unbestimmte Anfang.“(a.a.O.:, S. 184)
Anders formuliert, die Mannigfaltigkeit von möglichen Mitteilungen wird
durch Kommunikationssysteme in eine Sequenz von aufeinander wirkenden Kommunikationen gebracht, die sich an bestimmten Erwartungen und
Themen orientieren und dadurch im Verlauf ihrer Geschichte sehr unwahrscheinliches Verhalten der beteiligten Bewusstseinssysteme wahrscheinlich
und erwartbar machen können.
Unter solchen Umständen erzeugen Bewusstseinssysteme auf ihrer eigenen
Interaktionsgeschichte eine ausreichende Vorhersagbarkeit für eine gemeinsame Verhaltensabstimmung (vgl. a.a.O.: S. 156). Das Kommunikationssystem,
das so entsteht, kann dann durch selektiven Rückgriff auf die eigene Interaktionsgeschichte, Offenheit für Beliebiges gegen Sensibilität für Bestimmtes
eintauschen, und umgekehrt (vgl. a.a.O: S. 185).
In diesem Modus können wechselseitige Unterstellungen bzw. Erwartungen
zu komplexen Mustern verknüpft und in eine Situation doppelter Kontingenz
hinein projiziert werden. In der Form von Semantiken und Erwartungen
kann die jeweilige Unsicherheit gegenüber einer offenen Zukunft gemeinsam
absorbiert und für weitere Operationen nützlich gemacht werden (vgl. a.a.O.:
S. 158 f). Im extremen Fall von hoch elaborierter Kommunikation, z. B. in
Organisationen, werden komplexe Muster gemeinsamer Erwartungen sogar
zur Bedingung der Möglichkeit von weiterem Verstehen.
Die Situation von doppelter Kontingenz ist nicht nur selbst komplex, sondern sie provoziert die Emergenz eines Systems aus Kommunikationen; ein
System das eine eigene Ordnung im nacheinander seiner Operationen ermög-
20
3.2. Fazit
licht und so selektiv eine eigene Komplexität aufbauen kann (vgl. a.a.O.: S.
148-191).
Entsprechend wird in der modernen Literatur über Humanoidenevolution
betont, dass der Zweig der in Richtung Mensch evoluierenden Primaten
nicht durch die Probleme im Umgang mit der „äußeren“Natur provoziert
wurde; sondern das Evolution provozierende Problem wird vielmehr in den
Anforderungen eines sozialen Feldes gesehen. So geht man davon aus, dass
sich die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Bewusstseins im Umgang
mit den Dilemmata sozialer Situationen entwickelt haben (vgl. Luhmann,
1999a, S. 192 f).
Die Herausforderung des sozialen Feldes kann man nun ganz allgemein
beschreiben als eben das Problem doppelter Kontingenz.
„Der Ausweg aus der damit angezeigten Herausforderung liegt
in der gleichzeitigen Entwicklung von extremer Sozialabhängigkeit und hochgradiger Individualisierung, und das wird erreicht
durch den Aufbau einer komplexen Ordnung sinnhafter Kommunikationen, die dann die weitere Evolution des Menschen bestimmen.“(a.a.O.: S. 192 f)
3.2. Fazit
Ohne ein Kommunikationssystem wäre es dem bloßen Zufall überlassen, dass
der eine, obwohl er tut was er tut, dem anderen nützen kann. Unter diesen
Bedingungen würde Abhängigmachen bedeuten, dass man Unwahrscheinlichkeiten multipliziert. Aber Lebewesen gewinnen erst Vorteile, wenn sie
sich von einem gemeinsam erzeugtem System höherer Ordnung abhängig machen, und das ist für menschliches Bewusstsein das Kommunikationssystem
Gesellschaft. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 193)
Unter den Bedingungen, der als erwartbar kondensierten Verhaltenserwartungen können sie dann miteinander Kontakt wählen, und so machen sie
sich gerade nicht direkt voneinander abhängig, sondern sie machen sich abhängig von generalisierten Verhaltenerwartungen, die ohne Systeme höherer
Ordnung, also Kommunikationssysteme nicht denkbar wären. (vgl. a.a.O.)
Mit anderen Worten, Bewusstseinssysteme konstruieren ein System aus
wechselseitigen Verhaltenserwartungen und gewinnen damit jeweils eine dynamische Fremdreferenz, ein Kommunikationssystem. Im Sinne des zahlentheoretischen Kongruenzbegriffes (Wikipedia, 2006) erzeugen Bewusstseinssysteme einen Mechanismus mit dem sie Alter und Ego kongruent konstruie-
21
3. Die Situation doppelter Kontingenz
ren können, indem ein gemeinsames Bezugssystem unterstellt und weiterbearbeitet wird.
Mit Kommunikationssystemen gewinnt dann die Umwelt von Bewusstseinssystemen deutlich an Turbulenz. Plötzlich kann eigenes Verhalten von
fremdem und fremdes Verhalten vom eigenem Verhalten abhängig sein. Kommunikationssysteme setzen hohe und ganz neue Ansprüche an Ordnungsfunktionen oder Wirklichkeitskriterien eines Bewusstseinssystems, um eigenes
Verhalten sinnvoll zu koordinieren.
Und solche Ordnungsfunktionen übernehmen in dieser Theorie das Universalmedium Sinn und die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien.
Im Folgenden werde ich diese „Subtheorien“kurz vorstellen, um damit deren
Bedeutung für psychische und für soziale Systeme anzudeuten.
22
4. Eine autopoietische Sinntheorie
Bisher habe ich also festgestellt, dass autopoietische Systeme folgende Probleme erzeugen. Sie sind unruhig, operational geschlossen und komplexitätsunterlegen. Und wenn solche Systeme anfangen zu interagieren, dann entsteht
das Problem doppelter Kontingenz.
Die Frage ist nun: „Wie können solche Systeme unter diesen Bedingungen,
durch wechselseitige Beobachtung, eigene Komplexität in Form von generalisierten Erwartungen aufbauen?
Und wie gesagt, die Antwort hierauf macht sich an zwei wesentlichen Konzepten der Luhmannschen Theorie fest. Das ist zum einen die Sinntheorie und
zum anderen die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien.
Im Folgenden liegt mir am Herzen mit der Sinntheorie deutlich zu machen,
wie man unter diesen theoretischen Bedingungen die operative Orientierung
von Systemen erklären und dimensionieren kann. Diesbezüglich verspricht
die Sinntheorie interessante Antworten. Sinn ist nämlich in der Theorie als
der informationserzeugende Mechanismus gedacht und er ist eng verknüpft
mit der Idee der allgemeinen Funktionsweise autopoietischer Systeme (vgl.
Luhmann, 1987, S. 92 ff).
4.1. Sinn, die Differenz von Aktualität und Möglichkeit
Wie kann man sich Orientierung in einem System konkret Vorstellen, wenn
wir die oben genannten Axiome bedenken? Zur Beschreibung dieses Phänomens bedient sich Niklas Luhmann bei dem Phänomenologen Edmund
Husserl (vgl. Luhmann, 1993, Band 2 a, ab 22:00 min).
Husserl stellt das Problem der Orientierung zunächst in der Metapher des
Horizontes dar. Das kann man sich wie folgt vorstellen. Ein intendiertes
Objekt steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und es bekommt seine
Bedeutung nicht aus sich selbst heraus, sondern im Verhältnis zu einem Horizont von weiteren Objekten. „Man kann von jedem Objekt in ein anderes
übergehen.“(a.a.O.: ab 23:00 min)
Husserl geht davon aus, das alles was intentional erfasst wird in einem
Horizont von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten erfasst wird. Es gibt
in einem Bewusstsein also nichts isoliertes, nichts das nicht Verweisungen
auf weitere Verwendungsmöglichkeiten hätte. Sinnelemente schwimmen also
23
4. Eine autopoietische Sinntheorie
nicht einfach kontaktlos irgendwo herum, sie bestehen nicht atomar für sich
selbst. Etwas bestimmtes steht hier immer in einem Kontext von gleichzeitig
präsenten anderen Möglichkeiten. (vgl. a.a.O.: ab 22:00 min)
Und so gibt es – auch bei Husserl – für das Bewusstsein keine letzte Bestimmbarkeit, sondern es gibt immer – je nachdem mit welchem Objekt, Symbol
oder Wort man anfängt – gleichzeitige Verweisungen auf weiter Bestimmbares
(vgl. Luhmann, 1987, S. 374 f).
Man kann also Assoziationsketten bilden, „[. . .] die weder logisch, noch
irgendwie wiederholbar gebunden sein müssen, aber trotzdem fällt man nie
ins leere. Sondern man hat immer wieder etwas, das Ausgangspunkt ist für
weitere Operationen.“(Luhmann, 1993, Band 2 a, ab 24:34 min)
So kann das System sicher, sprunghaft und mit hohen Freiheitsgraden assoziieren. Man kommt z. B. von einem Text auf den Autor, zu dessen Kindheit,
auf dessen Großeltern, auf den zweiten Weltkrieg, usw. (vgl. a.a.O.: ab 23:00
min)
Durch selektives Assoziieren kann ein Bewusstseinssystem seine Form dann
durch eine aktuelle Begrenzung von Kombinationsmöglichkeiten integrieren,
die, weil sie flüchtig und anschlusssensibel sind, wechselnde Anpassung an
wechselnde Bedingungen ermöglichen.
Was bei Husserl noch die Differenz von intendiertem Phänomen und dem
Horizont weiterer Verweisungen ist, das importiert Luhmann mit den Begriffen Aktualität und Potentialität in seine Sinntheorie (vgl. Luhmann, 1992,
Band 10 a, ab 10:30 min). Während es bei Husserl noch explizit um Bewusstseinsoperationen ging, generalisiert Luhmann das Konzept und beschreibt
das Operieren der Differenz von Aktualität und Möglichkeit als den Modus
sinnverwendender Systeme schlechthin (als Universalmedium autopoietischer
Systeme) (vgl. Luhmann, 1987, S. 356). Luhmann bringt das so auf den
Punkt:
„Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten.[. . .] Die
Instabilität des Sinnes liegt in der Unhaltbarkeit seines Aktualitätskerns. Die Restabilisierbarkeit ist dadurch gegeben, das alles
Aktuelle nur im Horizont von (virtuellen) Möglichkeitsanzeigen
Sinn hat.“D. h.„[. . .]das eine der anschließbaren Möglichkeiten
als Nachfolgeaktualität gewählt werden kann oder gewählt werden muss, sobald das jeweils Aktuelle verblasst, ausdünnt, seine
Aktualität aus eigener Instabilität selbst aufgibt.“(a.a.O.: S. 100)
Die Differenz von Aktualität und Möglichkeit erzeugt also immer einen der
Aktualität gegenüberstehenden virtuellen Horizont von Möglichkeiten. Und
24
4.2. Sinn und Information
durch die „Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung als ein sich selbst propellierender (durch Systeme konditionierbarer) Prozess“(a.a.O.) kann das
System die Differenz von Aktualität und Möglichkeit nutzen, um sich an
wechselnde Bedingungen anzupassen (vgl. Luhmann, 1987, S. 100).
Man kann auch sagen das System oszilliert zwischen zwei Operationsweisen. Das ist die Erzeugung eines Überschusses und die anschliessende,
reduzierende Selektion. Um es deutlich zu formulieren, autopoietische Systeme lernen nicht, sondern sie evoluieren in einer Umwelt, wenn sie Sinn als
Mechanismus der Variation und Selektion in einer spezifischen Nische (re-)
stabilisieren. (vgl. Luhmann, 1993, Band 8a, ab 04:50 min)
4.2. Sinn und Information
Die im Vorwort erwähnte Ähnlichkeit der Theorie zum Batesonschen Informationskonzept wird hier am deutlichsten sichtbar. Sinn ist hier gedacht als
ein Mechanismus der Information aus dem Auflaufen einer Operation auf
nächste Operationen erzeugt. Es geht also um eine operative Differenz.
Wenn man die oben genannten Axiome berücksichtigt, dann kann man
sich das wie folgt vorstellen. Zum einen ist vorausgesetzt, dass die Unruhe der
Re-produktion autopoietischer Systeme Anschlussdruck (Taktung) im System
erzeugt. Zum anderen gilt aber in der Situation doppelter Kontingenz, dass
ein sinnhaft intendiertes Phänomen stets mehr Verweisungen (Möglichkeiten)
impliziert, als im nächsten Schritt der Operationen eines Systems, z. B. des
Bewusstseinssystem, aktualisiert werden können. (vgl. Luhmann, 1987, S.
94)
Sinn verwendende Systeme müssen deshalb ihre Ordnung in zeitliche Muster von Selektionssequenzen überführen. Sie können nicht jede mögliche
nächste Operation gleichzeitig vollziehen. Sie müssen selektiv operieren und
erzeugen so Ambivalenz im Bezug zu nächsten Operationen. Hier kann man
sich Ambivalenz zunächst vorstellen als Gleichwahrscheinlichkeit von verschiedenen nächsten Anschlussoperationen. Durch eine Gleichwahrscheinlichkeit von Anschlussoperationen droht das System zwar sich selbst zu blockieren oder sich durch beliebige Anschlussselektionen zu behindern, aber
das kommt im Prinzip nicht vor (zumindest nicht als Ereignis des Systems).
(vgl. a.a.O.: S. 374 f).
Es geht hier vielmehr um eine – sich ständig aktualisierende, geschichtsabhängige – Wahrscheinlichkeitsverteilung im Bezug auf weitere Operationen.
Erst diese sich geschichtsabhängig stabilisierenden Wahrscheinlichkeitsverteilungen ermöglichen praktisch das zuverlässige „Präsenthalten“verschiedener
25
4. Eine autopoietische Sinntheorie
weiterer Möglichkeiten von Operation zu Operation. Und so ist die operative Differenz von Aktualität und Potentialität für sinnverwendende Systeme
die Basis jeder Anpassung. Die durch die Potentialität provozierte Ambivalenz im Bezug auf weitere Möglichkeiten ist in diesem Fall systeminterne
Komplexität, die bearbeitet werden muss, damit sie nicht destruktiv wird.
Das sinnverwendende System steht unter Entscheidungsdruck. Und in diesem
Spannungsverhältnis zwischen Anschlussdruck und Selektionsdruck entsteht
das erwartungsleitende Universalmedium Sinn (gemeinsam mit Bewusstseinssystemen und Kommunikationssystemen, darauf komme ich im zweiten Teil
noch zurück) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 44 ff). Auf dieser basalen Ebene der
Operationen ist Sinn so etwas wie das kontextabhängige Zusammenziehen
und Auseinanderstossen von spezifischen Sequenzmustern.
Um nun Anschlussselektivität von Operationen zu Operationen zu kontrollieren, kann das System z. B. Irritationen aus der Umwelt benutzen, um die
Ambivalenz zu nächsten Operationen zu bearbeiten. In dem es mit eigenen
Operationen, spezifische Änderungen der Umwelt pariert (Fremdreferenz),
kann ein System die Wahrscheinlichkeitsverteilung von möglichen Anschlussoperationen asymmetrisieren und je nach eigenem Verhalten verändern. (vgl.
Foerster, 1993b, S. 84 ff)
Genauer betrachtet sind es dann schliesslich mindestens zwei basale ineinander verschränkte Differenzen–in–Betrieb, mit denen ein System Information
erzeugt. Und zwar sind das die Differenz Aktualität / Potentialität und die
Differenz Selbst– / Fremdreferenz. Anders ausgedrückt, die Differenz von
Aktualität und Potentialität gewinnt erst ihren Informationswert, wenn die
virtuellen Möglichkeiten mit der Differenz von Selbst- und Fremdreferenz
bearbeitet werden (vgl. Luhmann, 1987, S. 111). Dabei entsteht dann System
/ Umwelt-relative Information.
4.3. Sinndimensionen
Es ist also die Verschränkung von internen Differenzen, die systeminterne Information erzeugt. Demnach können wir also Fragen mit welchen operativen
Differenzen sinnverwendende Systeme arbeiten, um in jeder Situation den
Verlauf der Operationen entweder in Richtung auf Sensibilität für Bestimmtes
oder in Richtung Offenheit für Beliebiges lenken zu können.
Der Vorschlag von Luhmann ist hier, die Selbstreferenz von Sinn selbst in
drei Dimensionen zu respezifizieren. Ich werde dieses Konzept der Sinndimensionen nun kurz Vorstellen, denn mein primäres Argument im zweiten Teil des
Textes baut eben genau auf diesen Vorschlag auf, indem es dazu auffordert die
26
4.3. Sinndimensionen
Konsequenzen der Sozialdimension von Sinn besonders zu berücksichtigen
(vgl. Luhmann, 1992, Band 10b, ab 15:30 min).
Zunächst geht es aber darum sich vorzustellen, dass sinnverwendende Systeme ihre laufenden Unterscheidungen in drei Sinndimensionen ordnen und
so den Verlauf ihrer Operationen bändigen.
Bisher habe ich Sinn als die Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität vorgestellt. Luhmann geht allerdings noch einen Schritt weiter. Er geht
davon aus, dass auf diese Differenz (diesen Horizont) weitere Differenzen
aufgesetzt werden können. In Anlehnung an Husserl spricht Luhmann dann
auch von einem Doppel– oder Mehrfachhorizont. Und diese „Zusatzdifferenzen“, die auf die Differenz von Aktualität und Potentialität aufgesattelt
werden nennt Luhmann Sinndimensionen (vgl. Luhmann, 1992, Band 10b,
ab 15:30 min).
Luhmann bezeichnet diese Sinndimensionen als Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension. Dazu sagt er lapidar:
„[. . .] es kommt also vor und offenbar ist die Aufteilung nach
sachlich, zeitlich, sozial irgendein routinemäßig wiederholbares
Theorieerzeugnis. Ohne das ich in der Lage bin dafür eine Begründung zu geben, es also deduktiv abzuleiten. Der Begriff [Sinn]
entfaltet sich nicht von selber in diese Dimensionen, sondern es
ist einfach so phänomenologisch gesetzt und wenn nach Begründungen gefragt wird, dann tendiere ich zu sagen: ‚Schlagen Sie
mal eine weitere Dimension vor und dann überlege ich mir, ob
das irgendwie funktioniert oder nicht funktioniert.‘“(a.a.O.)
Diese Aufteilung in Sinndimensionen ist also ganz nach dem Gusto dieser
Theorie von einem Beobachter gesetzt und damit zur Disposition gestellt.
Allerdings gewinnt diese Idee vor dem Hintergrund der ganzen Theorie eine besondere Attraktivität, weil sie in hohem Maße generalisiert und doch
sensibel bleibt für sehr konkrete Sachverhalte. (vgl. a.a.O.)
„Jede dieser Dimensionen gewinnt ihre Aktualität aus der Differenz zweier Horizonte, ist also ihrerseits eine Differenz, die gegen
andere Differenzen differenziert wird. Jede Dimension ist ihrerseits wieder sinnuniversell gegeben, enthält also formal gesehen,
keine Einschränkung dessen, was in der Welt möglich ist. Man
kann insofern auch von Weltdimensionen sprechen.“(Luhmann,
1987, S. 112)
Diese Sinndimensionen ermöglichen es, in die vermeintlich tautologische Formel: Sinn macht Sinn usw., weitere Unterscheidungen in den selbstreferenziel-
27
4. Eine autopoietische Sinntheorie
len Zirkel einzubauen und damit zu experimentieren. Vor allem ermöglichen
diese Unterscheidungen über die Form von Sinn, trotz Ununterscheidbarkeit
(also Unbeobachtbarkeit), plausibel zu spekulieren. (vgl. Luhmann, 1992,
Band 10b, ab 15:30 min)
Diese drei Dimensionen – also Sach–, Zeit–, und Sozialdimension – treten nicht isoliert auf. „Sie stehen unter Kombinationszwang. Sie können
getrennt analysiert werden, aber sie erscheinen in jedem real gemeinten Sinn
selbdritt.“(Luhmann, 1987, S. 127)
Also in jeder Situation in der Sinn gegeben ist, stehen diese Dimensionen
zur Verfügung. Es kommt jedoch in sinnverwendenden Systemen zu dimensionsspezifischen Ausdifferenzierungen. Es werden z. B. psychische oder soziale
Systeme möglich, die einen sachlichen, zeitlichen oder sozialen Gesichtspunkt
von Sinn besonders betonen (vgl. a.a.O.: S. 128 f)
4.3.1. Sachdimension
In der Sachdimension geht es um die Differenz von Innen und Außen.
Die Differenz von Innen und Außen ist hier nicht unbedingt als räumliche
Innen / Außen-Unterscheidung gedacht. Vielmehr geht es um das Innen und
Außen im Bezug auf die allgemeine Frage, was ist intendiertes Phänomen,
in welcher Art von Verweisungshorizont? Es geht also eher um semantische
Zusammenhänge von Innen und Außen. Eine prägnante Beschreibung liefert
Luhmann in seinem Werk „Soziale Systeme“von 1987.
„Von Sachdimension soll die Rede sein im Hinblick auf alle Gegenstände sinnhafter Intention (in psychischen Systemen) oder
Themen sinnhafter Kommunikation (in sozialen Systemen). Gegenstände oder Themen in diesem Sinne können auch Personen
oder Personengruppen sein. Die Sachdimension wird dadurch
konstituiert, dass der Sinn die Verweisungsstruktur des Gemeinten zerlegt in ‚dies‘und ‚anderes‘. Ausgangspunkt einer sachlichen
Artikulation von Sinn ist mithin eine primäre Disjunktion, die
etwas noch Unbestimmtes gegen anderes noch Unbestimmtes absetzt. Die weitere Exploration wird damit dekomponiert in einen
Fortgang nach innen und einen Fortgang nach außen, in eine Orientierung durch den Innenhorizont bzw. eine Orientierung durch
den Außenhorizont. Damit entsteht Form im Sinne einer Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und daraus die Konsequenzen
zu ziehen. Alles kann so behandelt werden. [. . .] Zugleich zwingt
sie [die aktuelle Form] die jeweils nächste Operation in eine Rich-
28
4.3. Sinndimensionen
tungswahl, die – für den Moment jedenfalls – sich der Gegenrichtung entgegensetzt, ohne deren Zugänglichkeit zu annullieren.
Insofern ermöglicht die Sachdimension Anschlussoperationen, die
zu entscheiden haben, ob sie noch bei demselben verweilen oder
zu anderem übergehen wollen.“(a.a.O.: S. 114)
Eine Konsequenz dieser sachlichen Dimension von Sinn ist, dass ein Gegenstand im Sinne einer Ding–an–sich–Thematisierung zwar möglich ist (man
kann behaupten etwas zum „Gegenstand“der Kommunikation zu machen).
Letztlich geschieht dies aber natürlich nicht mit operativem Zugriff auf irgendwelche externen Gegenstände, sondern durch die Einschänkung von
Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension von Sinn. (vgl. Luhmann,
1987, S. 115)
Dinge sind in diesem Zusammenhang also eine bestimmte Art der Beschränkung von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension von Sinn. „Am
Ding lassen sich deshalb entsprechend Erfahrungen sammeln und versuchsweise reproduzieren. In dieser Form geben Dinge handliche Anhaltpunkte für
den Umgang mit Weltbezügen.“(a.a.O.: S. 115) (vgl. Esposito, 2002, S. 114
ff)
Aber das Ding–an–sich–Schema ist eine drastische, wenn auch intuitive
Reduktion eines Beobachters, die verschleiert, dass ein Ding immer nur unterschieden von anderen Dingen „real“gemacht und mit Eigenschaften belegt werden kann. Es wird aber unterstellt ein Ding habe „Eigenschaften an
sich“und unsere Sprache versichert uns dabei scheinbar durch die Syntax von
Subjekt und Prädikat, „[. . .] dass ‚Dinge‘irgendwie Qualitäten und Attribute
‚haben‘. “(Bateson, 1987, S. 81)
Die Verwendung des Ding-an-sich–Schemas mag (vielleicht) für ein Alltagsleben hinreichende Möglichkeiten bieten sich zu orientieren, allerdings ist Sie
für die Wissenschaft und insbesondere die Erkenntnistheorie unzureichend.
Denn sie verdeckt eben die Tatsache, das „Dinge“(das innen einer sachlichen
Unterscheidung) immer nur in Relation zu anderen „Dingen“(das außen einer
sachlichen Unterscheidung) Eigenschaften von einem Beobachter zugesprochen bekommen. Die Eigenschaften von Dingen sind also in dieser Theorie
eher die Eigenschaften der Beziehung von Beobachter und Beobachtetem (vgl.
Bateson, 1987, S. 80 f) (vgl. Luhmann, 1987, S. 115)
Dementsprechend ist auch „[. . .] der primäre Gegenstand der Theorie autopoietischer Systeme nicht ein Gegenstand (oder eine Gegenstandsart) ‚System‘,
sondern die Differenz von System und Umwelt.“(Luhmann, 1987, S. 116)
29
4. Eine autopoietische Sinntheorie
4.3.2. Zeitdimension
Im Unterschied zur Sachdimension, die eine Differenz von Innen / Außen
auf die Sinndifferenz von Aktualität / Möglichkeit bezieht, geht es bei der
Zeitdimension um die Differenz von Vergangenheit/Zukunft, also um eine
Orientierung am Ausgangspunkt Gegenwart (vgl. Luhmann, 1987, S. 116).
„Die Zeitdimension wird dadurch konstituiert, dass die Differenz
von Vorher und Nachher, die in allen Ereignissen unmittelbar
erfahrbar ist, auf Sonderhorizonte bezogen, nämlich in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein verlängert wird.“(a.a.O.)
Natürlich kann ein System immer nur in der Gegenwart operieren. „Zukünfte und Vergangenheiten können, und in dieser Hinsicht sind sie völlig
gleich, nur intendiert bzw. thematisiert, nicht aber erlebt oder behandelt werden.“(a.a.O.: S. 116 f)
Vergangenheit ist so immer gegenwärtig thematisierte oder intendierte Vergangenheit, bzw. Zukunft ist immer gegenwärtig thematisierte oder intendierte Zukunft. Die Vergegenwärtigung von Vergangenheit oder Zukunft
ist immer „[. . .] Abstandnahme von der reinen Sequenz“(a.a.O.: S. 118)und
immer Reduktion eines beobachtenden Systems. Es ist immer ein aktuell beobachtendes Systems, das ein Vor– bzw. Nachher bestimmter Ereignisse auf
die Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit bezieht und somit die
gewonnenen Freiheiten reduziert (nutzt) und „Platz“gewinnt gegenwärtig
über Zukunft oder Vergangenheit nachzudenken. (vgl. a.a.O.: S. 118)
So kann z. B. Geschichte als Thematisierung der Vergangenheit nicht einfach als eine faktische Sequenz der Ereignisse verstanden werden, der zufolge
Gegenwärtiges als Wirkung vergangener Ursachen, bzw. als Ursache künftiger
Wirkungen aufzufassen ist(vgl. a.a.O.: S. 118). Sondern:
„Das Besondere an der Sinngeschichte ist vielmehr, das sie wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen ermöglicht, also ein Überspringen der Sequenz. Geschichte
entsteht durch Entbindung von Sequenzen. Ein Sinnsystem hat
in dem Maße Geschichte, als es sich durch freigestellte Zugriffe
limitiert - sei es durch bestimmte vergangene Ereignisse (die Zerstörung des Tempels, die Krönung des Kaisers durch den Papst,
die Niederlage von Sedan; oder im kleineren: die Hochzeit, der
Abbruch des Studiums, die erste Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, das ‚coming out‘des Homosexuellen), oder sei es durch
Finalisierung der Zukunft.“(a.a.O.: S. 118)
30
4.3. Sinndimensionen
Anders formuliert, Vergangenheit und Zukunft eines Systems sind Begrenzungen von Kombinationsmöglichkeiten in der Zeitdimension von Sinn mit
denen Erfahrungen gesammelt und versuchsweise reproduziert werden können. (vgl. a.a.O.: S. 115)
4.3.3. Sozialdimension
Im Falle der Sozialdimension ist die entsprechende Differnz die von Alter
und Ego. Die Sozialdimension von Sinn greift, wenn es um das Erleben des
Erlebens und Handelns von anderen Systemen geht (vgl. Luhmann, 1987,
S. 110). Wenn also ein Bewusstseinssystem ein anderes Bewusstseinsssystem nicht nur als Ding–an–sich mit bestimmten Eigenschaften identifiziert,
sondern ihm eigenes – nicht direkt beobachtbares – sinnhaftes Erleben und
Handeln unterstellt.
„Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen, als ‚alter Ego‘annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser
Annahme für jede Welterfahrung und Sinnfixierung. [. . .] Jedem
Sinn kann dann auch eine Verweisung ins soziale abverlangt werden. Das heißt: Man kann allen Sinn daraufhin abfragen, ob ein
anderer ihn genauso erlebt wie ich oder anders.“(a.a.O.: S. 119)
Anschließend an den Anfang des Kapitels „Die Situation doppelter Kontingenz“kann man sagen, dass die Sozialdimension von Sinn erst ins Spiel
kommt, wenn einem anderen die Freiheit eigenen Erlebens und Handelns
zugeschrieben wird. Doppelte Kontingenz entsteht erst mit der Einführung
der Sozialdimension von Sinn (vgl. a.a.O.: S. 153). Ohne die Sozialdimension
gibt es für das beobachtende System nur einfache Kontingenz und damit nur
stark reduzierte Möglichkeiten der Weltauslegung.
Luhmann: „Die Sozialdimension von Sinn ermöglicht, wenn einmal verfügbar, einen ständig mitlaufenden Vergleich dessen, was andere erleben können
bzw. erleben würden und wie andere ihr Handeln ansetzen könnten.“(a.a.O.:
S. 121)
In dieser Hinsicht führt die Verwendung der Sozialdimension von Sinn
zu einer „[. . .] eigentümlichen Reduplizierung von Auffassungsmöglichkeiten.“(a.a.O.: S. 119) Darauf werde ich später noch eingehen.
Dadurch das anderen eigenes Sinnerleben zugeschrieben wird ergibt sich
ein Doppelhorizont, so dass ich mir überlege was ich tun muss, damit Du tust
was Du für mich tun sollst. Und diese Art Sozialität trennt sich dann von der
Sachdimension, weil sie nicht an Qualitäten festgemacht werden kann, die
das Du–an–sich hat (vgl. Luhmann, 1992, Band 10b, ab 24:00 min).
31
4. Eine autopoietische Sinntheorie
Erwartungen können dann nicht mehr ohne weiteres an Qualitäten der Objekte festgemacht werden, weil in der Situation doppelter Kontingenz (wenn
Beobachter Beobachter beobachten) eine eigene Art von Realität entsteht. Es
kommt zu einer eigenen Art von Weltauslegungen, die über die wechselseitige Verdichtung von Erwartungen läuft. Und so produziert der Andere den
eigenen Orientierungshorizont für Weltbeschreibungen mit. Die Orientierung
an der Sozialdimension von Sinn beeinflusst die weitere Weltauslegung von
Bewusseinssystemen massiv, weil die Sozialdimension auf Kommunikationssysteme verweist, die beobachtungssensibler (aber unkontrollierbarer) Teil
der Umwelt von Bewusstseinssystemen sind.
Die Begriffe Alter und Ego stehen in der Theorie Luhmanns dementsprechend nicht für Rollen, Personen oder ganze Menschen, sondern sie stehen
– wie die Differenzen Innen / Außen und Vergangenheit / Zukunft – für Sonderhorizonte eines sinnverwendenden Systems, das sinnhafte Verweisungen
aggregiert und bündelt (vgl. Luhmann, 1987, S. 121).
Im Gebrauch der Sozialdimension von Sinn kann ein Beobachter nicht mehr
wirklich sicher sein, das etwas Bestimmtes so und nicht anders der Fall ist,
ohne sich bei anderen rückzuversichern, ob die das auch so sehen (und auch
dann bleibt es fragwürdig, wie so etwas wie Objektivität entstehen kann).
Ein Bewusstseinssystem, das sozusagen das Problem doppelter Kontingenz
importiert, fängt sich damit eine massive Ungewissheit im Bezug auf die
Koordination eigenen Verhaltens ein.
Plötzlich entstehen merkwürdige Rückkopplungseffekte, die nicht vorhersagbar, aber auch nicht willkürlich entstehen. Bei weiterer wechselseitiger,
geschichtsabhängiger Beobachtung kann es dann zu wiederholbaren Sequenzen kommen. Es können mehr oder weniger erwartbare Muster kondensieren,
an denen wiederum alle Beteiligten weitere Erwartungen orientieren können
(vgl. Luhmann, 1999a, S. 192 f).
Wenn ein Bewusstseinssystem das Problem doppelter Kontingenz, durch
die Verwendung der Sozialdimension von Sinn importiert, dann vergrössert
sich die Basis der Möglichkeiten die ausgeschlossen werden müssen und so
gewinnt das Bewusstseinssystem eine höhere Auflösung im Bezug auf anschliessende Verweisungen. Es entsteht eine feinmaschigere Verweisungsstruktur,
die dann allerdings höhere Plausibilitätsanforderungen an das Medium Sinn
stellt. Die jeweils aktuelle Selektion steht unter stärkerem Rechtfertigungsdruck, als z. B. in der Sachdimension. Das Bewusstsein löst dieses Problem
teilweise, indem es sich an symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien orientiert. (vgl. a.a.O.: S. 316ff)
Findet das Bewusstsein nun Formen der Stabilisierung von Erwartungserwartungen (vgl. a.a.O.: S. 316 ff) und kann es gleichzeitig die interne Re-
32
4.4. Fazit
Produktion doppelter Kontingenz aufrecht erhalten, dann gewinnt es damit
einen riesigen Möglichkeitsraum, in dem Negationen nuanciert und kontextabhängig eingesetzt werden können (müssen), um damit den eigenen
Anpassungsprozess zu speisen. (vgl. Luhmann, 2005a, S. 46)
Wie beunruhigend ein derart erhöhtes Negationspotential sein kann beschreibt Dirk Baecker in seinem Buch „wozu Kultur? “wunderbar an einem
kleinen Gedankenexperiment. Es wird eine Situation beschrieben, die das
Grundproblem der Sozialdimension schön auf den Punkt bringt. Das Beispiel zeigt sehr deutlich die Unruhe, die mit der Sozialdiemsion von Sinn im
Bewusstsein provoziert wird; ob man will oder nicht.
„Man muss sich vorstellen: Ein Gläubiger kniet nieder und beginnt ein Gebet. Ein Intellektueller (oder Fremder) stellt sich neben ihn und sagt: ‚Wie interessant! Weißt Du, dass andere Völker an ganz andere Götter glauben¿Wie kann der Gläubige, der
an seinen Gott glaubt, darauf reagieren? Natürlich lehnt er die
Zumutung des Vergleichs ab, hält den Intellektuellen für einen
Neunmalklugen und die anderen Völker für ungläubig. Aber in
Wahrheit ist er bereits erschüttert. In Wahrheit hat ihn bereits
die Unruhe erfasst. Wie kann er glauben, wenn andere anders
glauben? Was kann er wissen, wenn andere anderes wissen? Wer
ist sein Gott, wenn andere ihn nicht kennen? Wie weit reicht
die Macht seines Gottes, wenn andere ungestraft ihren Götzen
huldigen dürfen?“(Baecker, 2001, S. 48)
Mit der Sozialdimension wird praktisch der Zweifel im System programmiert.
Es läuft dann ständig der Vergleich mit, das andere anders sehen, und
das erweitert den Horizont eigenen Erlebens. Der entstehende Zweifel ist
erst einmal nicht schädlich. Im Gegenteil, ich gehe davon aus, dass mit der
Sozialdimension von Sinn, die Freiheit zu entscheiden, bzw. das menschliche
Bewusstsein erst provoziert, bzw. evoziert wird (vgl. Foerster, 1993a, S. 69
ff).
4.4. Fazit
Autopoietische Systeme erzeugen also Information aus dem Verlauf ihrer
Operationen. Die operative Differenz von Aktualität und Möglichkeit erzeugt
immer einen der Aktualität gegenüberstehenden virtuellen Horizont von Möglichkeiten. Und durch die „[. . .] Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung
als ein sich selbst propellierender (durch Systeme konditionierbarer) Prozess“(Luhmann, 1987, S. 100) kann das System die Differenz von Aktualität
33
4. Eine autopoietische Sinntheorie
und Möglichkeit nutzen, um weitere, wiederum darauf bezugnehmende Differenzen (Sinndimensionen) im Nacheinander zu testen, intern auf Konsistenz
zu prüfen und für sich – in der Zeit – zu ordnen. (vgl. a.a.O.: S. 100)
34
5. Das Besondere an der Sozialdimension von Sinn
Nun ist dieser Mechanismus der Verschränkung operativer Differenzen zur
Informationserzeugung als Ganzes schon ein spektakuläres Theoriedesign.
Was mich aber – auch im weiteren – in besonderer Weise interessiert, das
ist die Sozialdimension von Sinn. Aus dieser Idee entwickeln sich meiner
Ansicht nach die offensichtlichsten ethischen Implikationen der Theorie, die
ich zweiten Teil weiter herausarbeiten werde.
Wie ich bereits im Kapitel „Die Situation doppelte Kontingenz“angedeutet
habe, gehen wir heute davon aus, dass der maßgebende Evolutionsfaktor
des Menschen eben der Mensch ist. Die Dilemmata der Situation doppelter
Kontingenz provozieren sozusagen Selbst- und Fremdreflexion im Sinne der
Sozialdimension. Die Sozialdimension von Sinn ist wiederum Voraussetzung
dafür, die Situation doppelter Kontingenz bearbeiten zu können. Und das ist
nicht etwa ein Fehler meiner Argumentation, sondern diese Wechselseitigkeit
ist in der Theorie so angelegt (vgl. Luhmann, 1999a). Die Erschließung der
Sozialdimension und die Informationspotenz der Situation doppelter Kontingenz kann man als ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis verstehen. Wir
brauchen beides, um psychische und soziale Ordnung zu erklären, und das
eine ist jeweils Ursache des anderen. Auch hier kann man also von einem
re-produktiven Zusammenhang sprechen. Das ist zumindest ein interessanter
Punkt in der Theorie, denn die Theorie geht davon aus, dass menschliches
Bewusstsein erst über Kommunikation domestiziert wird, (vgl. Maturana
& Varela, 1984, S. 265) und Kommunikation ist ohne die Erschließung der
Sozialdimension von Sinn und ohne die Situation doppelter Kontingenz nicht
denkbar. (vgl. Luhmann, 1993, Band 4b, ab 23:00 min)
Die Informationspotenz der Sozialdimension von Sinn und deren Bedeutung für den Menschen, scheint sich auch empirisch zu bestätigen. Die Entwicklungspsychologie und die Sozialisationsforschung ist sich in großen Teilen darüber einig, dass die Entstehung der kindlichen Denk– und Interaktionsfähigkeiten als ein Prozess gedacht werden muss, der sich über Perspektivübernahmen vollzieht. Hier stellt man fest, dass der Erwerb von kognitiven
Fähigkeiten in der kindlichen Entwicklung in enger Beziehung steht mit der
Ausbildung der ersten Kommunikationsbeziehungen (vgl. Honneth, 2005,
S. 46 f). Axel Honneth schreibt dazu:
35
5. Das Besondere an der Sozialdimension von Sinn
„Das Kind lernt, sich auf eine objektive Welt konstanter Gegenstände zu beziehen, indem es aus der Perspektive einer zweiten
Person zu einer allmählichen Dezentrierung seiner eigenen, zunächst egozentrischen Perspektive gelangt.“(Honneth, 2005, S.
46 f)
Schon bei Kant findet man die Figur, dass wir erst durch die Anderen
unsere eigene Identität hinterfragen können und dann gemeinsam unsere
Urteilskraft kultivieren können (vgl. Roos, 2004, ab 01:08:00 min). Und
das gilt auch, und in besonderem Maße, für die Theorie autopoietischer
Systeme. Hier geht es gar nicht anders (vgl. Roos, 2004, ab 01:08:00 min).
Bemerkenswerte Hinweise darauf kann man bei Luhmann in dem Aufsatz
„Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen“finden
(vgl. Luhmann, 2005a, S. 41-57)
Dort schreibt er: „In einer simpel positiv gegebenen Erfahrungswirklichkeit verstünde sich die Kohärenz des Vorhandenen aus der Sukzession des
Erlebens von selbst.“(a.a.O.: S. 45) So wird erst mit der Einführung von
unterschiedlichen Perspektiven, von verschieden ansetzbaren Negationen,
Kohärenz problematisch (vgl. a.a.O.: S. 45). „Kohärenzprobleme sind somit
Folgeprobleme des Gebrauchs von Negationen, sind Kosten ihrer Vorteilhaftigkeit, und sie müssen daher durch Vorschriften über den Gebrauch von
Negationen geregelt werden.“(a.a.O.)
Der springende Punkt ist in diesem Zusammenhang, das eigene Bewusstseinszustände nicht ohne weiteres negiert werden können. Dazu Luhmann:
„Zumindest gilt es als Normalitätsbedingung menschlichen weiterlebens, dass man nicht in Zweifel zieht, dass man erlebt, was
man erlebt. Man hat deshalb nicht die Möglichkeit, die eigenen
Erwartungen, Erlebnisse, Intentionen, Werte zu negieren und beizubehalten. Man kann sich selbst kein falsches (also auch kein
wahres! ) Erleben zuschreiben – sondern nur anderen. Nur im
Bezug auf das Erleben anderer kann man Dauernegationen durchhalten, und in Bezug auf das eigene Erleben allenfalls punktuell
mit Hilfe des Kunstgriffes, sich selbst zu einem falsch erlebenden Anderen zu machen. Der Einzelne kann zwar lernen, aber
Aufklärung ist eine Operation, die man am jeweils anderen durchführt.“(a.a.O.: S. 46)
Und wie Luhmann dann weiter feststellt setzt die Negierbarkeit des Anderen
eine gemeinsame Vorstellung von Möglichkeiten voraus (vgl. a.a.O.: S. 47).
36
5.1. Fazit
Wenn man so will braucht es einen kleinsten gemeinsamen Nenner, um überhaupt Kommunikation erzeugen zu können. Und das sind bei Luhmann nicht
etwa Werte oder Ethiken des richtigen Handelns, sondern die Gemeinsamkeit
von Akteuren ist eine besondere Verwendung der Sozialdimension von Sinn.
Die lebenswichtige Frage der Verwendung ist dann: Wie orientiere ich eigenes
Erleben und Handeln an Fremdem Erleben und Handeln? Und in dieser Problemstellung greifen in der Theorie Luhmanns die symbolisch generalisierten
Kommunikationsmedien.
5.1. Fazit
Die eigentümliche Reduplizierung der Perspektiven und das daran gekoppelte
„zurechtstutzen“dieser Potentialität (in einer jeweiligen Perspektive) bringt
das Bewusstsein in einen gewissen Abstand zu den eigenen Wahrnehmungen.
Es kann sich selber im Verhältnis zum anderen, als jemanden sehen, der sich
auf unbestimmte Weise verändern wird (so wie der Andere). Ein Bewusstseinssystem gewinnt dadurch Reflexionsfähigkeit, dass es sich durch die Augen des
Anderen zu sehen lernt; als jemand der auch anders kann als er tut (vgl. Foerster, 1993b, S. 350-355). Das Bewusstsein gewinnt mit der Sozialdimension
von Sinn also einen reflexiven Abstand zu sich selbst.
Formelhaft kann man die Situation so darstellen:
Alter (Ego – Alter) — Ego (Alter – Ego).
Jedes System ist Ausgangspunkt für eigene Beobachtungen und beobachtetes
Objekt des Anderen (vgl. Luhmann, 1999b, S. 236 f). Wir haben jetzt also
zwei autopoietische sinnverwendende Systeme, die vor einem Divergenzproblem ihrer Konstruktionen stehen. (vgl. a.a.O.: S. 236 f)
Die Überbrückung dieser Divergenz zwischen Alter und Ego läuft in der
Theorie über Symbole und im besonderen Falle über symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedien (vgl. a.a.O.: S. 236 f).
37
6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
Symbolisch soll hier heißen, dass ein Sinngehalt sich eignet zwei Verschiedene Akteure zu koordinieren, d. h. beide auf dasselbe zu beziehen. Schon der
klassische Sinn des Wortes Symbol hat sich immer auf die Einheit von etwas
Getrenntem bezogen (vgl. Luhmann, 1993, Band 6a, ab 29:00 min). Hier
überbrückt ein Symbol die Differenz von Alter und Ego in der Sozialdimension eines Bewusstseinssystems. Das heißt, die Sozialdimension von Sinn gibt
einen nicht–beliebigen Rahmen vor in dem gemeinsam so lange gehandelt und
erlebt werden kann bis konstante Merkmale der Beziehung von Alter und Ego
wahrgenommen werden; die dann nicht mehr wegvariiert werden können,
ohne dabei die Situation doppelter Kontingenz aufzulösen. (vgl. a.a.O.: Band
2a, ab 22:00 min)
Aber symbolisch generalisiert meint hier noch mehr, nämlich das sich symbolische Konfigurationen für verschiedene Situationen eignen und deshalb
unterschiedliche Sachverhalte übergreifen (vgl. a.a.O.: Band 6a, ab 29:00
min). In Luhmanns Worten:
„[. . .] symbolisch generalisiert bedeutet [. . .], dass sich in der Ausdiffernzierung und im komplex werden von Handlungssystemen
immer diese beiden Momente zusammen ergeben. Einerseits die
Koordination von Erwartungen und Handlungsbereitschaften
(Symbolisierung) und andererseits die Fixierung von Sinn nicht
nur für eine Situation [Generalisierung].“(a.a.O.: Band 6a, ab
30:00 min)
6.1. Die Wahrscheinlichkeit des Neins
Das Ausgangsproblem für die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ist, dass Anschlussfähigkeit von wechselseitigem Verhalten
abgesichert werden muss. Denn wenn nicht gewährleistet ist, dass der eine
die Selektion des anderen als Prämisse eigenen Verhaltens übernimmt, dann
würden sich die beteiligten Systeme auseinanderselegieren (vgl. Luhmann,
2001b, S. 39). Das Kommunikationssystem würde zerfallen.
Das wird besonders zum Problem, wenn die Differenzierung der Systeme
zunimmt. Und auf der Ebene von Bewusstsein und sprachlicher Kommunikation haben wir es längst mit einer extrem hohen Differenzierung der Systeme
38
6.1. Die Wahrscheinlichkeit des Neins
zu tun. Das macht sich z. B. immer wieder dadurch bemerkbar, dass alle
sprachliche Kommunikation einen Ja / Nein–Code hat, d. h. auf alles was
man versteht oder missversteht kann man mit Annahme oder Ablehnung
reagieren (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 07:10 min). Dabei ist so erstaunlich, dass die Gesellschaft ja gerade darauf baut, das eben nicht jede
Kommunikation gleichwahrscheinlich abgelehnt oder angenommen wird.
Es gibt zwar psychologische und neurophysiologische Untersuchungen, die
zeigen, dass man zum verstehen von Nein etwas mehr Zeit benötigt. Das
Bewusstsein scheint offenbar stärker beansprucht, wenn es ein Nein zu verkraften hat. (vgl. Luhmann, 2005a, S. 41) Aber dieser Unterschied wird in
der Sprache überspielt. Verstehen hängt nicht davon ab, ob es Ja– oder Nein–
Sätze sind die mitgeteilt werden. Von der Sprache her gesehen, ist ein Nein
ebenso verständlich wie ein Ja. (vgl. a.a.O.)
Zunächst kann man sich das aus der Perspektive der Kommunikation –
auch hier – als Gleichverteilungsmodell vorstellen, so dass niemand weiß, ob
auf eine Aufforderung, einen Wunsch, eine Bitte oder eine Mitteilung mit Ja
oder mit Nein reagiert wird. Aus der Perspektive eines Bewusstseinssystems
ist das natürlich nicht der Fall. In der Situation einer mündlichen Interaktion
kontrolliert ein Bewusstsein sich sozusagen selbst vorgreifend schon an der
Annahmewahrscheinlichkeit von Mitteilungen (vgl. Luhmann, 1993, Band
6a, ab 39:00 min). Oder es ist bekannt was abgelehnt wird und es wird
trotzdem gesagt, um den anderen zu ärgern, oder sich als Individuum zu
behaupten. (vgl. a.a.O.)
Es bleibt natürlich nicht völlig unerwartet, gleichverteilt oder entropisch
wie reagiert wird. Das muss man für Bewusstseinssysteme immer voraussetzen. Aber trotzdem kann man sagen, dass bei stärkerer Ausdifferenzierung
des Kommunikationssystems, also bei einer größeren Bandbreite möglicher
verschiedenartiger Mitteilungen, die Wahrscheinlichkeit eines Neins zunimmt.
(vgl. a.a.O.)
Eine Koordination funktioniert dann nicht mehr so ohne weiteres spontan
und aufgrund eines gemeinsamen Wissens darüber was in einer Situation
angebracht ist und was nicht. Natürlich gibt es diesen Bezug auf ein gemeinsames Wissen immer auch noch. Und soweit Interaktion funktioniert, muss
auch das viable Unterstellen einer Ebene der Gleichheit, des gleichen Wissens,
gleicher Motive usw. funktionieren. Aber je elaborierter, bzw. voraussetzungsreicher Mitteilungen zur Verfügung stehen, desto unwahrscheinlicher ist ein
Ja und desto wahrscheinlicher ist ein Nein im Bezug auf diese Mitteilungen.
(vgl. a.a.O.)
Das Ausgangsproblem für eine Bildung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ist also eine evolutionäre Lage, in der durch Komplexitäts-
39
6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
zuwachs, z. B. durch Schrift, die Wahrscheinlichkeit eines Neins zunimmt. Es
müssen dann gewissermaßen Gegenmittel erfunden werden. Irgendetwas das
ein wahrscheinliches Nein in ein Ja transformiert. Und das ist der Platz an
dem Luhmann seine Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien aufbaut. (vgl. Luhmann, 1993, Band 6a, ab 44:00 min)
6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln
Das zentrale Folgeproblem der Ausdifferenzierung von Kommunikationssystemen, bzw. des steigenden Negationspotentials in Kommunikationen besteht
in der Notwendigkeit der Zurechnung von Selektionsleistungen (vgl. Luhmann, 2001b, S. 40)
„In dem Maße als (und in den Themenbereichen, in denen) Kontingenz zunimmt, wird es notwendig, Selektionsleistungen zu verorten; man muß zumindest Adressen und Einwirkungspunkte ausfindig machen können, wenn schon nicht feststeht, was geschehen
ist oder wird“(a.a.O.)
Ein sinnverwendendes Bewusstseinssystem kann hier in zweifachem Sinne
Zurechnungsschwerpunkte wählen, nämlich im eigenen oder fremden System,
oder in der eigenen oder fremden Umwelt. (vgl. a.a.O.: S. 41)
Diesbezüglich schlägt Luhmann vor: „Um Kurzbezeichnungen verfügbar zu
haben, sollen Selektionsprozesse, die in diesem Sinne auf Systeme zugerechnet
werden, handeln genannt werden und Selektionsprozesse, die auf Umwelten
zugerechnet werden, erleben.“(a.a.O.)
Eine solche Konfiguration von Zurechnungsmöglichkeiten kann man in
der folgenden Kreuztabelle zusammenfassen. (vgl. a.a.O.)
Egos Erleben
Alters Erleben
Alters Handeln
40
Egos Handeln
Ae → E e
Ae → E h
(Wahrheit / Wertbe- (Liebe)
ziehungen)
Ah → E e
Ah → E h
(Eigentum / Geld / (Macht / Recht)
Kunst)
6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln
So kann man mit der Theorie unterscheiden, ob sich jemand an einer Kommunikation als Erlebender, als jemand der eine fremde Selektion nur übernimmt, oder ob sich jemand als Handelnder, als jemand der die Selektion
selbst vollzieht, beteiligt. Und genau das ist dann die immer mitlaufende
Frage: „Bringt sich jemand als Handelnder ein? “, also als jemand der Verantwortlich ist und dementsprechend zur Verantwortung gezogen werden
kann. Oder teilt er mit, dass seine Entscheidung Konsequenz der Situation ist?
Es schwingt immer diese zwei–Seiten–Struktur mit, also die Doppelung der
Zurechnung nach Alter / Ego und handeln / erleben. (vgl. Luhmann, 1993,
Band 6b, ab 17:57 min)
Wenn man dieses Schema anwendet kann man eine Klassifikation von
Konstellationen entwickeln, die genau das hervorbringen was Luhmann mit
den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bezeichnet. Und das
ist so etwas wie Liebe, Geld, Wahrheit und Macht (siehe Kreuztabelle).
6.2.1. Kommunikationsmedien und Mediencodes
Hier ist wichtig, das die Konstellationen von Zurechnungsmöglichkeiten
(Kreuztabelle) nicht mit den Kommunikationsmedien verwechselt werden,
die diese bearbeiten. Die einzelnen Medien ( Liebe, Geld, Wahrheit, Macht
usw.)stehen nicht exklusiv für eine Konstellation in der Kreuztabelle. (Luhmann, 2001b) Bei den Medien geht es um mögliche generalisierbare Symbole,
die auf bestimmte Konstellationen spezialisiert sind, und die die Divergenz
von Alter und Ego überbrücken können (vgl. Luhmann, 1999b, S. 236f ).
Die Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Annahme, bzw. Ablehnung von Kommunikation nicht mehr diffus (z. B. moralisch) über den
einzelnen Kontext regeln, sondern mit den Medien wird dem Ja / Nein–
Code der Sprache, jeweils ein weiterer binären Code zur Seite gestellt, z. B.
geliebt–werden / nicht–geliebt–werden, Zahlung / nicht–Zahlung, Wahrheit
/ Unwahrheit, Recht / Unrecht usw. (vgl. Krause, 2001, S. 43 f) Und durch
die Zuordnung von Programmen als Entscheidungsregeln für die Annahme
und Ablehnung bestimmter Codewerte, entstehen dann funktionsspezifische
Kommunikationssysteme. Diese werden dann in ihrer Entscheidungsfindung
zunehmend unabhängig von anderen Mediencodes und Programmen. (Luhmann, 2001b)
Die Zumutung für Bewusstseinssysteme ist dann, die eigenen Operationen,
den eigenen Sinn, kontextabhängig auf völlig heterogene Codes einzustellen.
Um die Anschlussfähigkeit eigenen Verhaltens wahrscheinlich zu machen,
muss ein Bewusstsein, je nach Kontext, verschiedene Codes und Programme
unterscheiden können. Das ist sozusagen Bedingung um sich selbst vorgreifen
41
6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
an der Annahmewahrscheinlichkeit von Äußerungen kontrollieren zu können
(vgl. Luhmann, 1993, Band 6a, ab 39:00 min).
Die wechselseitige Konditionierung von Bewusstseinssystemen läuft also,
in dieser Theorie, nicht über ein Supermedium mit einem Supercode Ja / Nein,
sondern die Annahme ist, dass sich in der Evolution verschiedene konstellationsbedingte Medien und dazugehörige Codes und Programme entwickelt
haben. (Luhmann, 2001b)
Jede Konstellation der Kreuztabelle werde ich nun kurz vorstellen. Nicht
um eine ausreichende Darstellung der Zurechnungsformen, bzw. der Medien
zu erreichen, das ist hier gar nicht möglich, sondern um ein Gefühl für die
einzelnen Medien, Codes und Programme zu vermitteln, die im letzten Kapitel
über Moral relevant werden.
6.2.2. Alter erlebt und Ego handelt
In dieser Konstellation findet z. B. die passionierte Liebe ihre Symbole. In diesem Fall würde der Code lauten lieben / nicht–lieben und die Selbstprogrammierung von Ego würde darauf hinauslaufen die Maxime seines Handelns so
zu wählen, das Ego die Erlebnisselektion von Alter handelnd bestätigt (vgl.
Luhmann, 2001b, S. 47). Luhmann zeigt in seinem Buch „Liebe als Passion“,
das die Liebessemantik, spätestens seit dem 17. Jahrhundert, durch diese Konstellation getragen wird (vgl. Luhmann, 1982). Es geht hier darum, dass das
Erleben des Anderen durch Handlung validiert wird, das derjenige der liebt,
den anderen in allen seinen Interessen mit Handlungen stützt. Der Andere
braucht das gar nicht zu verlangen, das wäre schon ein Problem. Der Geliebte
muss sozusagen vom Liebenden erratbar sein. Wenn man liebt muss man
zuvorkommend sein. Deswegen spielen auch Geschenke als Symbole eine
gewisse Rolle, insbesondere durch die damit gezeigte Fähigkeit des liebenden
Geschenke zu machen, die dem Geliebten zeigen, das der Liebende weiß was
der Geliebte gern hat (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 24:34 min). Es geht
darum, das man nicht einfach nur hinnimmt und sagt, der andere ist eben so
merkwürdig, sie hat eben diese Launen von Zeit zu Zeit, und das muss man
nur abwarten (das wäre schon wieder eine andere Konstellation, nämlich Ego
erlebt und Alter handelt). Sondern man muss alles was vom anderen kommt
handelnd bestätigen. Das symbolisiert – nach Luhmann – die passionierte
Liebe. (vgl. a.a.O.)
In dieser Konstellationen, das Ego handelt und Alter erlebt, entstehen aber
nicht nur Symbole der passionierten Liebe, sondern auch Symbole der Freundschaft, Intimbeziehung, Familie usw., mit eigenen Codes und Programmen.
(vgl. Krause, 2001, S. 44)
42
6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln
6.2.3. Alter handelt und Ego erlebt
In der umgekehrten Zurechnungskonstellation, dass Alter handelt und Ego
genau diese Reduktion, bzw. Selektionsleistung als Erleben akzeptiert, stellt
sich ein völlig anderes Asymmetrieproblem. Statt des Ausrichtens von Handlungen auf das Erleben eines Anderen hin, geht es hier um das Hinnehmen
der kontingenten Wahl eines Anderen (vgl. Luhmann, 2001b, S. 48 f). Das ist
zunächst ein ganz alltäglicher Fall. Man sieht, jemand geht spazieren. Warum
nicht? Nicht alles Handeln Anderer löst eigene Betroffenheit aus. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 347)
Diese Konstellation, das Alter selektiv handelt und Ego dessen Selektion
bloß erlebt wird z. B. dann zum Problem, wenn Alters Handeln im Zugriff auf
knappe Güter besteht, an denen Ego ein eigenes Interesse hat. Wenn Knappheit ins Spiel kommt entsteht ein sozialer Regelungsbedarf, dem heute im
wesentlichen durch das Medium Geld Rechnung getragen wird. (vgl. a.a.O.:
S. 251 f)
Was hier besonders interessant ist, das ist die Tendenz des Mediums Ego
dazu zu motivieren nicht zu intervenieren, wenn Alter auf knappe Güter
zugreift. Das gilt im besonderen, wenn Ego gar nicht direkt an einem Geschäft
beteiligt ist (vgl. a.a.O.: S. 348, S. 350). Alter kann zugreifen und Ego belässt
es beim erleben, „nur“weil bezahlt wird. In diesem Sinne übersetzt Geld den
gewaltsamen Kampf um knappe Ressourcen in eine Tauschbeziehung, die
mit höherer sozialer Komplexität kompatibel ist (vgl. a.a.O.: S. 252 f). Die
Interessen, die in einer Tauschbeziehung verschieden sind und verschieden
bleiben, werden mit der Annahme einer Wertäquivalenz überbrückt. (vgl.
a.a.O.: S. 258 f)
„Diese [Annahme] ist das ad hoc fungierende Symbol, die zur
Konvergenz gebrachte Absicht zu tauschen. Geld ist, in seiner
Tauschfunktion gesehen, eine Generalisierung dieses Symbols, eine Kondensierung der Wertäquivalenz zur Wiederverwendung in
anderen Tauschzusammenhängen.“(a.a.O.)
Die Knappheit von Ressourcen wird so in eine andere Form gebracht, nämlich in die Form der Knappheit des Geldes. Geld kann so als Mittel für den
generalisierten Zugriff auf knappe Ressourcen beobachtet werden und es
motiviert seine Verwendung genau dadurch; in dem es ein Höchstmaß an
Verwendungsfreiheit in unterschiedlichen sozialen Kontexten bietet (Generalisierung) (vgl. a.a.O.: S. 252, S. 246 f).
Wenn man das Ausgangsproblem der Kommunikationsmedien berücksichtigt, in der Kommunikation wahrscheinliche Neins in Jas zu transformieren,
43
6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
dann ist der Erfolg des Mediums Geld in der Konstellation – Alter handelt
und Ego erlebt – offensichtlich. Auch wenn es im Falle des Mediums Geld
meist um einen Verzicht auf Intervention geht und nicht um das befriedigende
Erleben des Handels von Alter, so scheint Geld heute doch das erfolgreichste
Medium in dieser Konstellation zu sein.
Außerdem entstehen auch in dieser Konstellation andere Medien, mit eigenen Codes und Programmen, wie z. B. Kunst, Erziehung, usw. (vgl. Krause,
2001, S. 44)
6.2.4. Alter erlebt und Ego erlebt
In der Konstellation das Alters erleben zu Egos erleben wird, geht es heute
bei Mitteilungen im wesentlichen um Symbole der Wahrheit. Für diesen Fall
lautet der Code Wahrheit / Unwahrheit und wird bevorzugt in der Wissenschaft bearbeitet. Dort findet er seine Programmierung über eine elaborierte
Methodenlehre (vgl. Krause, 2001, S. 43). Alter orientiert dann seine Mitteilungen an allgemein anerkannten Methoden und kann so Ego die Annahme
auch sehr unwahrscheinlcher Selektionsofferten abnötigen.
Also bei Wahrheit würde es – wenn man zunächst im präkonstruktivistischen wissenschaftlichen Verständnis bleibt – immer um die Frage gehen:
„Ist etwas der Fall, oder ist etwas nicht der Fall?“Und das wird über Erleben
also über externale Selektionszuschreibungen im System entschieden. (vgl.
Luhmann, 1993, Band 6b, ab 24:34 min)
„Natürlich kommt keine Wahrheit zustande, wenn man nicht
forscht und da sind wieder Handlungen notwendig, aber diese
Handlungen dürfen nicht auf das Ergebnis abfärben. Ein Experiment muss so gemacht werden, das es wiederholbar ist. Und
ein Theorievorschlag muss so formuliert werden, das man davon ausgeht jeder würde dieselben Dinge sehen, wenn er dieselben Interessen hätte, wenn er die selben Thematiken aufgreifen
würde. Das Neutralisieren der Handlungkomponente ist ein klassisches methodologisches Postulat und lässt Erleben übrig und
zwar auf beiden Seiten. Man kann natürlich über Handlungen
forschen, das ist eine andere Frage, dann wird Handlung zum
Thema.“(a.a.O.)
Wie ich also eingangs sagte wird die Kommunikation von Wahrheit durch
die Konstellation bestimmt, das Alter sein Erleben mitteilt und Ego daraufhin
sein erleben anpasst, auch wenn das mit der Tradition von Ego bricht. (vgl.
a.a.O.)
44
6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln
„Wenn methodisch korrekt geforscht worden ist, dann ist das
Ergebnis anzuerkennen. Auch wenn es noch so überraschend,
unglaubwürdig und vom Alltagsverständnis her unplausibel ist.
Die Welt ist ein gekrümmter Raum. Wie? Das kann man sich
nicht mal vorstellen. Und solche Vorstellungen werden dann aber
wissenschaftlich validiert.“(a.a.O.: Band 6b, ab 13:50 min)
Es geht hier also darum Abweichungen vom Üblichen, Abweichungen vom
normal Verständlichen, plausibel zu machen. Überraschende und fantastische
Konstrukte können angenommen werden (trotzdem sie dem zunächst Erwarteten widersprechen), wenn man Beweise führen kann, und wenn man sein
eigenes Erleben nachvollziehbar mitteilen kann. (vgl. a.a.O.)
Die Codes und Programme wissenschaftlicher Wahrheit, machen das Medium heute mit Abstand zum erfolgreichsten Medium in der Konstellation,
in der das mitgeteilte Erleben von Ego zu Alters Erleben werden kann. (Luhmann, 2001b)
6.2.5. Alter handelt und Ego handelt
Und schließlich gibt es die Konstellation in der Alter handelt und Ego daran
anschließend handelt. Auch hier ist der Alltag voll von solchen Situationen
in denen Menschen sich so koordinieren. Z. B. Alter reicht die Nudeln rüber
und Ego lässt diese nicht fallen, sondern nimmt sie tatsächlich an. Handlungskoordination ist derart selbstverständlich im Alltag verankert, dass wir nicht
groß darüber nachdenken müssen. (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 33:26
min)
Problematisch wird diese Konstellation, wenn eine Willkürkomponente ins
Spiel kommt. Wenn die Handlung von Alter eine für Ego nicht mehr direkt
selbstverständliche Handlung einfordert. In diesem Moment kann sich ein
Medium entwickeln, das mit dem Code Drohung / Sanktion arbeitet und
so etwas wie Normen und Gesetze konditional programmiert. (Luhmann,
1975)
Die auf beiden Seiten immer vorhandene Freiheit auch anders zu handeln,
wird dadurch eingeschränkt, das Alter mit negativen Konsequenzen drohen
kann. Alter kann die Übernahme einer Selektionsofferte wahrscheinlich machen, indem er eine negativ bewertete Alternative konstruiert, die Alter und
Ego vermeiden möchten, die Ego aber dringender vermeiden möchte. (vgl.
Luhmann, 2001b, S. 50)
Und alle großen, auf Macht basierenden Organisationen nehmen sich ja
die Freiheit nicht einfach „Naturzustände“durchzureflektieren, sondern hier
45
6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
wird mehr oder weniger kontraintuitiv entschieden und auch durchgesetzt
(vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 33:26 min). Und zwar schlicht dadurch,
das Alter drohen kann. Er kann z. B. mit Gewalt drohen, oder damit drohen
Informationen bekannt zu geben, die für Ego peinlich sind. Es kann z. B. auch
die Drohung sein Ego aus einer Organisation zu entlassen. Solche Möglichkeiten zu drohen entwickeln sich abhängig von Kommunikationssystemen
und können als Medium institutionalisiert werden. In diesem Sinne kann das
Medium Macht die Wahrscheinlichkeit erhöhen, das Ego so handelt, das es
zu Alters Handlungen passt. (vgl. a.a.O.)
Die Grenzen der Macht liegen mithin dort, wo Ego beginnt die
Vermeidungsalternative zu bevorzugen, „[. . .]und selbst die Macht
in Anspruch nimmt, Alter zum Verzicht oder zur Verhängung der
Sanktion zu zwingen“(Luhmann, 1999a, S. 356)
6.3. Anschlussselektivität im System
Die Konstellationen, die in der Kreuztabelle zum Vorschein kommen, bezeichnen die Nichtbeliebigkeit der Medien. Und „[. . .]insofern ist der evolutionäre
Spielraum für Medienentwicklung eingeschränkt im Sinne einer [. . .] strukturellen Limitation des Möglichen.“(Luhmann, 2001b, S. 44)
So wie ich die Theorie verstehe, können sich Bewusstseinssysteme überhaupt nur sinnvoll zu einander in Beziehung setzten und eigene Erwartungen
aufbauen, weil genau diese Nichtbeliebigkeit der Konstellationen von Alter
und Ego so etwas wie Mediencodes und Programme ermöglichen. Im Wechselspiel von Alter und Ego und Codes und Programmen bilden sich dann in
der Evolution Redundanzmuster aus, an denen dann weitere Kommunikation orientiert werden kann (vgl. Luhmann, 1999a, S. 73). Damit erfüllen
die Kommuniationsmedien die Funktion für Anschlussselektivität in der Interaktion zwischen zwei autopoietischen Systemen zu sorgen (vgl. a.a.O.: S.
39). Die Wichtigkeit dieser Funktion für den Menschen kann man nicht hoch
genug bewerten.
„Ohne sie [die Anschlussselektivität] könnte die Kontingenz des
Erlebens und Handelns nicht nennenswert gesteigert werden. Die
an der Kommunikation Beteiligten würden sich auseinanderselegieren, wäre nicht gewährleistet, dass der eine die Selektionen des
anderen als Prämissen eigenen Verhaltens übernimmt. Nur unter
diesen beiden Voraussetzungen hoher Kontingenz der Selektionen
und ausreichender Nichtbeliebigkeit in den Relationen zwischen
46
6.4. Gesellschaftliche Differenzierung
ihnen können komplexe (soziale) Systeme entstehen, die strukturell offen lassen und doch synchronisieren können, wie man sich
im einzelnen Verhält.“(a.a.O.)
Die Anschlussselektivität von Kommunikation wird, wenn sie medienvermittelt ist, immer durch die Bearbeitung der jeweiligen Codes und Programme
geleitet. Mit anderen Worten, die Selbstkonditionierung der Gesellschaft läuft
über Mediencodes und Programme. (Luhmann, 1999a)
Nun kommen diese Mediencodes und ihre Programme natürlich immer
wieder und oft in seltsamer Kombination vor. Gerade im Alltag geht es meist
kunterbunt zu. Wenige – für sich gesehen – oft einfache Codes und Programme
erzeugen komplexe Kommunikationssysteme, mit ihrer jeweils eigenen (nichtlinearen) Dynamik, die die Änderungsbereitschaft und Ambiguitätstoleranz
der beteiligten Bewusstseinssysteme oft empfindlich provozieren.
Bewusstseinssysteme sind in der Gesellschaft dauernd mit wechselnden Codes und Programmen (über-) beschäftigt. Aber sie gewinnen dadurch nicht
nur die Vorteile funktional differenzierter sozialer Ordnung, sondern sie können auch ihre eigenen Wahrnehmungen am erweiterten Sinnangebot von
wechselnden Programmen orientieren und sich inspirieren lassen.
Entscheidend ist, dass sich mit zunehmender Generalisierung der Medien
eigenständige, voneinander unabhängige und nicht mehr ineinander überführbare Codes und Programme entwickelt haben. Gesellschaftsgeschichtlich war
das nicht immer so offensichtlich wie heute. Die Soziologie unterscheidet z. B.
in diesem Zusammenhang stratifikatorische und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung. (a.a.O.)
6.4. Gesellschaftliche Differenzierung
In der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft war die erwartungsleitende
Idee, das die Gesellschaft als eine Einheit betrachtet werden kann, die über
eine Spitze zentral gesteuert werden sollte. Das lag nahe, zumal bei einem
Führer dem Gottähnlichkeit unterstellt wurde (z. B. dem Sonnenkönig oder
dem Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 678
ff)
Mit anderen Worten, die Illusion war, dass eine einheitliche Integration der
Gesellschaft über einen zentralen, perfekt rationalen „Inquisitor“sinnvoll ist.
Der Wunsch nach einem starken und nur rational genügend begabten Führer stammt sozusagen aus dieser Phase der Gesellschaftsentwicklung. Diese
ging dann mit Beginn des 19. Jahrhunderts in eine Phase der funktionalen
Differenzierung über (vgl. a.a.O.: S. 743 ff). Mit zunehmender funktionaler
47
6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
Differenzierung wurde dann die Vorstellung, dass eine zentrale Führungsgestalt alle gesellschaftlichen Prozesse ordnen kann langsam unplausibel. Die
abstrahierte bürgerliche Version war daraufhin die Vorstellung, dass es eine Art Supercode gebe, der Werte hervorbringt, die alle verbinden und die –
wenn nur richtig angewandt – ideale Harmonie erzeugen würden (vgl. a.a.O.:
S. 777 f). Aber auch diese Annahme wird in der modernen Gesellschaft zunehmend unpraktisch. In relativ isolierten kleinen Gruppen kann die Idee
einer zentralen Führungsperson oder einer wertegeleiteten Hierarchie auch
eher nützlich als schädlich sein. Aber im Großen und Ganzen wird durch eine
solche Idee innovative Differenzierung in der Gesellschaft unwahrscheinlich
gemacht. (vgl. a.a.O.: S. 743 ff)
Die moderne funktional differenzierte Gesellschaft zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie ihre Kommunikationen über verschiedene Kommunikationsmedien gleichzeitig ordnet. Die Annahme und Ablehnung von Kommunikationen kann schon lange nicht mehr über einen Supercode aufgefangen
werden. (vgl. a.a.O.)
Die funktionsspezifische Anwendung von verschiedenen Kommunikationsmedien in der Gesellschaft (gleichzeitig) erzeugt zusätzliche Möglichkeiten der
Kopplung von Kommunikationssystemen und Bewusstseinssystemen, von denen wir schon längst in hohem Maße Abhängig sind (vgl. Luhmann, 1999a).
Wir können nicht einfach auf heterogene, gleichzeitig operierende Medien
(z. B. auf Geld, Macht, Liebe oder Wahrheit) in der Gesellschaft verzichten,
ohne damit eine zentrale Instanz zu implizieren, die dann wieder in Anspruch
nehmen müsste, alle Kommunikationen mit eigenem Code nach Annahme
und Ablehnung zu sortieren. So hat auch die Idee die Welt nach perfekten
Werten zu ordnen immer die Tendenz zum Totalitären. Also auch in der bürgerlichen Version des perfekten Mediums gibt es diese totalitäre Tendenz ein
eindeutiges Urteil letztlich erzwingen zu müssen.
Das Problem dabei ist heute nur, dass ein Komplexitätsgrad der Gesellschaft
erreicht ist, bei dem kein einzelnes System mehr die kognitive Kapazität hat
diese Sortier– und Verbreitungsfunktion zu leisten, ohne das nicht große
Bereiche sinnvoller und mittlerweile anpassungsnotwendiger Programme für
Entscheidungsregeln wegfallen würden (vgl. Luhmann, 1999a, S. 743 ff).
Schon der Versuch einer zentralen Integration (Inquisition) scheint, spätestens
seit dem 18. Jahrhundert, immer auf eine gesellschaftliche und menschliche
Katastrophe hinauszulaufen.
Der Vorteil der mediencodierten Kommunikation mit ihren Funktionssystemen liegt ja gerade darin, dass Probleme verteilt werden können, dass sie
in der Gesellschaft gleichzeitig durch verschiedene Programme Bearbeitung
finden können. Durch die Anwendung von Codes und Programmen ergeben
48
6.4. Gesellschaftliche Differenzierung
sich unterschiedliche Programmkalküle (Semantiken) und die Gesellschaft
schafft sich so eine Vielzahl von Entscheidungsregeln für unterschiedliche
Konstellationen. Heute kann man z. B. nicht mehr davon ausgehen, dass das
Schöne gleich das Wahre ist, das der der Geld hat gleichzeitig auch Recht
hat, oder ein Machthaber gleichzeitig auch geliebt wird. Bezahlt wird dieses
verbesserte Anpassungspotential allerdings mit steigender Ungewissheit in
den jeweiligen Entscheidungen. Ist die konkrete codierte Entscheidung, die
ich zu Ungunsten anderer Entscheidungen treffe richtig?
Die Entscheidung darüber, ob eine Entscheidungsregel im klassischen Sinne
richtig oder falsch ist, lässt sich also nicht im voraus, durch die Annahme
eines alles berücksichtigenden Supercode decken. Der Theorie ist mithin die
Idee eines Omni–Kalküls abhanden gekommen, an dem orientiert dann alle Entscheidungen immer richtig sind. Entscheidung wird spätestens dann
als prinzipiell unsicher und mit Risiko behaftet beobachtet. (vgl. Luhmann,
2003)
49
6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
50
Teil II.
Ethische Implikationen der Theorie
autopoietischer Systeme
51
7. Einleitende Bemerkungen
Nun habe ich im Laufe des Textes versucht die wesentlichen Formalismen
der Theorie vorzustellen. Und ich hoffe, dass dabei deutlich geworden ist wie
drastisch der Unterschied zu traditionellen Theorien ist.
Wenn man unter diesen Bedingungen noch Aussagen über „den Menschen“machen möchte, bleibt es nicht aus auch die Terminologie der Theorie
zu verwenden. Ich möchte aber in meinen Aussagen auch anschlußfähig bleiben an die klassische Terminologie der Psychologie. Deswegen möchte ich,
im ersten Kapitel dieses Abschnittes mit einer Passage von Erich Fromm über
den Menschen beginnen, die ich Stück für Stück, in der hier vorgestellten
Terminologie, re-formulieren werde.
Ich werde im weiteren Verlauf des Textes dann auch weitere Autoren einbeziehen, die nicht unbedingt in einer so strengen konstruktivistischen Theorietradition stehen. Das macht zum einen vielleicht die vorgestellte Theorie
deutlicher und zum anderen gibt es ein besseres Verständnis für das was ich
hier als ethische Implikationen vorstellen möchte. Denn die Ideen, die mich zu
dem Titel dieses Textes veranlasst haben, sind nicht neu. Nur der theoretische
Boden auf dem sie (auch) wachsen scheint relativ neu.
Im zweiten Kapitel dieses Abschnitts, werde ich dann darauf eingehen,
warum für mich ein Konzept von wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen
in der Theorie besonders hervortritt.
Schließlich, im letzten Kapitel, werde ich dann erläutern wie man sich
Moral und Ethik als Kommunikationsmedium in der Gesellschaft vorstellen
kann. Die analytische Beobachtung von Moral und Ethik in der Theorie ist
ein diffuses, aber absolut elementares Thema. Man sieht das schon an der
Oberfläche. Wenn man sich die Registereinträge zu den Punkten Moral und
Ethik in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“von Niklas Luhmann anschaut,
dann fällt sofort auf, dass sie nicht nur die meisten Registereinträge auf sich
ziehen, sondern sich diese Einträge auch gut über alle 1149 Seiten verteilen.
Ethik und Moral sind mit allen wichtigen Themen der Theorie verwickelt.
(Luhmann, 1999a)
52
8. Ein Problem des Menschen
8.1. Fromm meets Systemtheorie
Im Folgenden habe ich die besagte Passage von Erich Fromm (Fromm, 1979)
in Stücke zerlegt und werde jedes einzelne Stück systemtheoretisch re–formulieren (kursiv).
„Der Mensch tritt in dem Augenblick der Entwicklung auf, wo das instinktive
Anpassungsvermögen seinen Tiefpunkt erreichte.“(Fromm, 1979, S. 54)
Der Mensch tritt in dem Augenblick der Entwicklung auf, wo das instinktive
Anpassungsvermögen durch das Problem doppelter Kontingenz gesprengt
wird.
„Aber der Mensch erscheint mit neuen Eigenschaften, die ihn vom Tier unterscheiden. Er wird sich seiner selbst als einer besonderen Wesenheit bewusst,
kann sich an Vergangenes erinnern, kann Zukünftiges sich vorstellen und
kann Gegenstände und Handlungen durch Symbole bezeichnen.“(a.a.O.)
Aber der Mensch erscheint mit neuen Möglichkeiten. Er wird sich seiner
selbst als ein „Spezialfall“bewusst, indem er sich von anderen Ichs unterschiedet (Sozialdimension). Und er kann im Spannungsfeld der doppelten Kontingenz das Medium Sinn erschließen, um Vergangenes oder Zukünftiges zu
intendieren oder zu thematisieren. Er klebt dann nicht mehr an einer rein positiven Wirklichkeit, sondern kann Gegenstände und Handlung durch Symbole
bezeichnen; Symbole die durch den gezielten Ausschluß von Möglichkeiten
etwas Bestimmtes bezeichnen und anderes für den Moment ausschließen.
„Er hat Vernunft, mit der er die Welt erfasst und versteht; er hat ein Vorstellungsvermögen, dank dessen er den Bereich des bloß Sinnlichen weit überschreitet. Der Mensch ist das hilfloseste aller Tiere. Diese biologische Schwäche aber ist gleichzeitig die Basis für seine Stärke, denn sie ist primär die Ursache für die Ausbildung aller spezifisch menschlichen Eigenschaften.“(a.a.O.)
Er benutzt Sinn als Weltformel und überschreitet damit den Bereich des bloß
53
8. Ein Problem des Menschen
positiv Gegebenen. In dieser Situation ist der Mensch das hilfloseste aller Tiere, denn es bedarf neuer Ordnungsparameter in der Umwelt des Menschen,
um wechselseitige Orientierung zu ermöglichen. Diese Ordnungsparameter
sind für das menschliche Bewusstsein die symbolisch generalisierten Kommunikationmedien.
8.2. Der widersprüchliche Mensch
Der Mensch erzeugt seine eigene Komplexität. Er ahnt zumindest, dass das
was er verwirklichen könnte, und das was er tatsächlich verwirklicht nicht
dasselbe ist. Er ahnt die Widersprüchlichkeit seiner Existenz. Und nie wird
er sich von dieser Widersprüchlichkeit seiner Existenz befreien können, ohne
damit sein Dasein als Mensch aufzugeben. (vgl. Fromm, 1979, S. 57)
Sinn (bei Fromm „nur“Vernunft) tritt dem Menschen offenbar nicht nur
als Segen entgegen, sondern wird auch vielen zum Fluch, weil Sinn den Menschen zwingt, sich ständig neu mit den performativen Widersprüchen seiner
Existenz zu beschäftigen. (vgl. a.a.O.: S. 55)
„Er muss denken, ob er will oder nicht. [. . .] Die eigene Existenz
ist ihm zu einem Problem geworden, das er lösen muß und dem
er nicht entfliehen kann.“(a.a.O.)
In diesem Sinne sind alle Menschen gleich. Sie stehen alle vor der gleichen
menschlichen Situation, sich mit den eigentümlichen, existentiellen Widersprüchen auseinandersetzen zu müssen. Und sie unterscheiden sich von anderen durch die Art und Weise in der sie dieses menschliche Problem zu
lösen versuchen (hier verstanden als Problem der doppelten Kontingenz). (vgl.
a.a.O.: S. 65)
Gerade in der Ethik entsteht deshalb immer wieder die Frage nach einem
richtigen Handeln. Im Zweifel wird von der Ethik verlangt eine Art – wie
immer hoch elaborierte – Begründung zur Lösung des Problems der richtigen
Handlung zu liefern. Als ob eine Lösung des Problems möglich und vor allem
sinnvoll wäre.
Wie ich versucht habe darzustellen ist überhaupt die Tatsache, dass ein
Problem besteht zwischen Möglichkeiten zu wählen, die Basis menschlicher
Anpassungsfähigkeit. Wenn man es zuspitzt, dann wäre eine letztendlich
richtige Zuordnung von richtigen Möglichkeiten das Ende von dem was wir
Kognition nennen. In jeder Operation des Systems wäre schon klar, was als
nächstes kommt. Das System wäre ein Roboter, es würde quasi–authistisch
ablaufen.
54
8.2. Der widersprüchliche Mensch
Das Problem „der Ethik“im Bezug auf „den Menschen“ist hier eher als
Reflexionsformel zu begreifen, die darauf hinweist, dass dieses Orientierungsproblem die Basis ist für die Ausbildung der spezifisch menschlichen Anpassungsfähigkeit.
Es sind diese, oben genannten, existenziellen Widersprüche, die den Menschen frei machen zu entscheiden (vgl. Foerster, 1993a, S. 69f). Wir sollten
diese Widersprüche also nicht ableugnen, oder als Korruption begreifen, sondern wir können heute erkennen, das diese Freiheiten des Menschen, die
Kommunikationssysteme davor bewahren „Roboter“zu werden. Die Freiheit
der Einzelnen macht die Gesellschaft anpassungsfähig, robust und kreativ.
Wenn die Gesellschaft die Freiheit des Einzelnen leugnet oder abweichendes
Verhalten sanktioniert, dann ist die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft
in diesen Bereichen gebremst (vgl. Surowiecki, 2004, S. 70 ff). Bürokratie, deren bedeutende ordnende Leistungen natürlich nicht in Frage steht (vgl.
Baecker, 1999), wird dann zum verwaltenden Monster, wenn die Freiheit des
Einzelnen geleugnet wird. Denn der Einzelne, der seine Freiheit ja gar nicht
unterdrücken kann, gerät in ständigen Rechtfertigungsnotstand gegenüber
einer Verwaltung die keine Freiheit zulässt. (vgl. Orwell, 1976)
Die Freiheit des einzelnen Menschen scheint in gewisser Weise untrennbar
mit der Menschwerdung in Sprache zusammenzuhängen (vgl. Maturana &
Varela, 1984) (vgl. Luhmann, 1993, Band 5a, ab 35:00 min). Sie erschafft
zumindest die wichtigsten Ressourcen des Menschen. Das sind z. B. die Ressourcen der Kritik, mit der er sich immer wieder gegen ihn bedrängende,
ihn selbst zerstörende Tendenzen wehren kann. Und es sind die Ressourcen
der Imagination, die es ihm immer wieder ermöglichen andere Zukünfte zu
entwickeln, als die auf der er den orthodoxen Theorien folgend, angeblich
zwangsläufig hinsteuert. (vgl. Otte, 1990, ab 21:28 min)
55
9. Wir berücksichtigen uns, also sind wir
Das erste, mir besonders am Herzen liegende, ethische Implikat der Theorie
ist, dass Anerkennungsbeziehungen in der Theorie eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Bei meiner Arbeit in der Respect–Research–Group an
der Universität–Hamburg habe ich hierzu wertvolle Erfahrungen gesammelt.
Dort arbeite ich an einem Begriff der Anerkennung, der im wesentlichen inspiriert ist durch die Arbeiten von Luhmann, Bateson und von Foerster. Hier
möchte ich die wichtigsten Ideen vorstellen, die bei einer differenztheoretischen Analyse des Themas von zentraler Bedeutung sind.
Ersteinmal sei gesagt, dass es mir hier nicht um Anerkennung als Dimension der Bewunderung, der Schwärmerei und dergleichen geht. Das ist ein
anderes Spielfeld. Mir geht es hier um etwas, dass, um in der Begrifflichkeit
von Niklas Luhmanns zu bleiben, mit der Sozialdimension von Sinn zu tun
hat. Es geht um die eigentümliche Vervielfachung der Perspektiven in einem
sinnverwendenden System, durch den internen Gebrauch der Differenz von
Alter und Ego. (vgl. Luhmann, 1987, S. 119)
Bei dem hier verwendeten Begriff Anerkennungsbeziehungen geht es um
die Relationierung verschiedener, sinnerlebender Instanzen in einem sinnerlebenden Bewusstseinssystem. Ich meine damit die Fähigkeit eines Bewusstseins
in seinen eigenen Operationen ein eigenes und fremdes intentionales, bzw.
sinnhaftes Erleben zu erleben und über die „Vorzeichen“der Beziehung von
Alter und Ego Weltauslegungsmöglichkeiten disponieren zu können. Mir geht
es in gewisser Weise also um eine erkenntnistheoretische Relevanz von Anerkennungsbeziehungen.
Es geht hier um eine basale Regulierung der Beziehungen zwischen Ichund Du–Evidenzen, die uns allen in unterschiedlicher, aber unleugbarer Form
gegeben sind (vgl. Lorenz, 1999, CD2, Track 4, ab 05:30 min). Im Hinblick
auf die vorherigen Kapitel können wir hier zunächst feststellen, dass keine
Kommunikation entstehen kann, wenn die Differenz von Alter und Ego nicht
auch im Bewusstsein Bearbeitung finden würde. Die ganze Symbolik der Kommunikation baut ja auf eine jeweilige Differenz von Ego und Alter auf (vgl.
Kapitel „Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“). Die Idee, die
ich hier kurz darstelle, ist, dass Anerkennungsbeziehungen Mechanismen zur
Erzeugung interner Differenzierung von sinnerlebendem Bewusstsein sind,
eben in der Sozialdimension von Sinn. Und je differenzierter ein Bewusstsein
56
9.1. Anerkennungsbeziehungen und die Sozialdimension von Sinn
Alter und Ego im System in Beziehung setzen kann, desto mehr Weltauslegungsmöglichkeiten kann es kontrollieren. So verstanden ermöglichen Anerkennungsbeziehungen die Erschließung der Sozialdimension von Sinn, und im
Hinblick darauf sind sie, in der Terminologie der Theorie, ein Mechanismus
struktureller Kopplung von Bewusstseinssystemen und Kommunikationssystemen (vgl. Riegas & Vetter, 1990, S. 336) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397).
Kurz, ein Bewusstsein erschließt sich durch die Konstruktion von Anerkennungsbeziehungen interne Möglichkeiten Kommunikation zu bearbeiten (vgl.
Luhmann, 1999a, S. 397)und dabei entwickelt es dann die Fähigkeit mit der
Sozialdimension von Sinn eigene Weltauslegungsmöglichkeiten zu regulieren.
9.1. Anerkennungsbeziehungen und die Sozialdimension von Sinn
In der Sozialdimenson von Sinn geht es, wie oben beschrieben, ganz allgemein
um die Unterscheidung von Alter und Ego in einem System. Und dabei ist
zu berücksichtigen, dass in einem strengen differenztheoretischen Sinne das
Eigene immer aus der Erfahrung des Fremden gewonnen wird. Die Erfahrung
des Ich wird sozusagen im Kontrast zu anderen Ichs gewonnen. Die Form
von Ego ist also immer schon durch die Form von Alter mitbestimmt und
umgekehrt (vgl. Baecker, 2001, S. 16) Das zieht sich wie ein roter Faden
fast durch die gesamte Literatur. Ohne einen Vergleich wäre die Unterscheidung Ego leer, das hat auch schon Bateson in seinem Schismogenesekonzept
angedeutet. (vgl. a.a.O.)
Aber Edmund Husserl geht hier einen entscheidenen Schritt weiter, wenn
er sagt: „[. . .] das an sich erste Fremde (das erste Nicht–Ich) ist das andere
Ich. Und das ermöglicht konstitutiv einen neuen unendlichen Bereich von
Fremdem, eine objektive Natur und objektive Welt überhaupt, der die anderen
alle und ich selbst zugehören. “(Husserl, 1986, S. 184 f)
Husserl sagt damit, dass nicht nur das Ich im Kontrast zum Anderen gewonnen wird, sondern, passend zu dieser Theorie, dass „objektive“Weltauslegungen
überhaupt erst ein Ergebnis dieser Differenz von Alter und Ego sind. Erst,
wenn ich sehe, das andere, anderes sehen, kann ich auf die Idee kommen von
einer Welt zu sprechen, die auch für andere gilt (vgl. Luhmann, 2005b, S.
220ff). Vorher ergibt sich das Problem sozusagen nicht. Das passt zumindest
zu den Negationsmöglichkeiten von Bewusstsein, die ich oben beschrieben habe (a.a.O.: S. 46). Ein über die Sozialdimension von Sinn angeregtes (er-)lösen
von einem rein positiven Erleben provoziert zwar den „Sündenfall“(Man
kann (muss) sich nun von Eva überzeugen lassen), was vorher schlecht möglich war. Die Differenz von Alter und Ego erweitert sozusagen den internen
57
9. Wir berücksichtigen uns, also sind wir
Spielraum für Entscheidungen und auf einmal ist eben nicht nur Wirkliches,
sondern auch Mögliches und Negatives denkbar. Das „belastet“(bereichert)
eigenes Erleben und Handeln mit Unsicherheit, und Mehrdeutigkeit (vgl. Luhmann, 1987, S. 93). Diese Vielfalt an Möglichkeiten wird dann symbolisch
generalisiert gemeinsam bearbeitet.
So kann man sagen, dass Formen von Anerkennungsbeziehungen denknotwendig sind für ein Bewusstsein, das in seiner sinnhaft erlebten Welt nicht
nur reagieren, sondern über die Relationierung von Alter und Ego im System
auch Weltauslegungsmöglichkeiten regulieren kann.
Mit andern Worten, über Anerkennungsbeziehungen erschließt sich ein
Bewusstsein die Vieldeutigkeit der Situation doppelter Kontingenz im System,
über die es dann auch im System durch die Relationierung von Alter und Ego
disponieren kann. Anerkennungsbeziehungen sind also Konstruktionen, die
in Bewusstseinssystemen gezielt Unsicherheiten in Bezug auf Weltauslegungsmöglichkeiten bearbeiten können. (vgl. Maturana, 1998, S. 295 f)
Grob vereinfacht könnte man auch formulieren, dass, in der Sozialdimension von Sinn, die Welt sich nicht um Alter und Ego dreht, sondern durch
die Relationierung von Alter und Ego dreht sich ein Bewusstsein die Welt
zurecht.
9.2. Respectus!
Wenn man sich die hier vorgestellten, operativen Bedingungen von Bewusstsein und Kommunikation vor Augen führt, also wenn man die Axiome, Sinn
als Weltformel, die Kommunikationsmedien und die dabei herausragende
Rolle der Sozialdimension von Sinn ernst nimmt, dann drängt sich eine Implikation auf, die Peter Sloterdijk als Intuition der Luhmannschen Systemtheorie
beschrieben hat. (vgl. Sloterdijk, 2005)
„Es geht um die Intuition der Theorie, dass man, um Systeme
wirklich zu untersuchen [zu verstehen], diesen die Toleranz entgegenbringen muss, als das erscheinen zu dürfen, was sie sind,
ohne ihnen ihr so sein oder so funktionieren vorzuwerfen, und
ohne ihnen entgegenzuhalten, dass sie nicht sind was sie nicht sein
können.“(a.a.O.)
Mit dieser Intuition – die ich hier nur so stehen lassen kann – verweist
die Theorie auf etwas, das man lateinisch reverentia nennen kann, also auf
Achtung, Ehrerbietung, Rücksicht, Scheu. (vgl. Evangelisches Kirchenlexikon, 1986). Die von der Theorie vorgeschlagenen Bedingungen der Erkenntnismöglichkeiten legen es nahe von Hochmut abzusehen und sich, der
58
9.2. Respectus!
gemeinsamen Erkenntnismöglichkeiten willen, daraufhin zu hinterfragen. In
der Wissenschaft ist es z. B die Unmöglichkeit der Verifikation (vgl. Popper,
1996, S. 36 f), die Respekt einfordert, im lateinischen Wortsinne von respicere;
zurückschauen, berücksichtigen, zurückblicken, beachten. Ein immer–wieder–
hinsehen wird als obligatorisch eingefordert.
Selbstfestlegungen im Sinne von Erklärungsprinzipien (vgl. Bateson, 1985,
S. 73-95) können zwar sinnvoll sein, allerdings sollten sie nicht zu einer „Bevormundung“des anderen führen. In diesem Fall würden Überraschungen
dann den unangenehmen Beigeschmack des korrupten bekommen und Erkenntnis eher behindern als fördern. (vgl. a.a.o.)
Wir scheinen also gut beraten nicht anzufangen unsere Konstruktion des
Anderen mit dem Anderen zu verwechseln (vgl. Watzlawick, 2003, CD1,
Track 3). Das reduziert auf beiden Seiten unnötig Sinn. Dementsprechend ist
Vorsicht geboten beim Umgang mit Aussagen wie „Es ist“oder „Du bist“.
Denn auch die Konfliktnähe der Denkform „Es ist“liegt theoretisch auf der
Hand (vgl. Luhmann, 1993, Band 2b, ab 16:00 min) (vgl. Lorenz, 1999,
CD2, Track 4, ab 07:54 min). Studien zu sich–selbst–verwirklichenden oder
sich–selbst–verhindernden „Prophezeiungen“zeigen immer wieder eindrucksvoll wie stark der Einfluss von Ist–Annahmen auf die Kommunikation und
damit auf die beteiligten Bewusstseinssysteme wirkt (vgl. Watzlawick, Beavin, & Jackson, 2000, S. 20, S. 82). Wir sollten deshalb behutsam damit
umgehen und folgende Worte von Konrad Lorenz, gerade im Umgang mit
anderen Menschen, ernst nehmen.
„Mir scheint, dass unsere Denkform ‚Es ist‘, eine logisch notwendige, künstliche Station im panta Rhei der Dinge macht, den
Gang der Geschehnisse stoppt, eben lang genug, um schnell ein
Prädikat an ein Subjekt heften zu können.“(Lorenz, 1999, CD2,
Track 4, ab 07:54 min)
59
10. Die Moral von der Geschicht’
10.1. Die medienspezifische Differenzierung der Gesellschaft
Wie ich im Kapitel „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“angedeutet habe, geht die Theorie davon aus, dass die moderne Gesellschaft ihre
Kommunikationssysteme gleichzeitig über verschiedene Kommunikationsmedien funktional ausdifferenziert. Luhmann dazu:
„Seit dem Beginn ihrer Entwicklung haben die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien auf verschiedene Probleme verschieden reagiert. Das unterscheidet sie von der Religion [und der
Moral], unterscheidet sie aber auch voneinander. Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution treten die entsprechenden Abgrenzungen deutlicher hervor; besonders in dem Maße, in dem die Medien
dazu tendieren, Kristallisationskerne zu bilden für die Ausdifferenzierung entsprechender Funktionssysteme.“(Luhmann, 1999a, S.
393)
In der Soziologie sieht man in diesem Zusammenhang – wie gesagt – am
Ende des 18. Jahrhunderts eine Umstellung der Gesellschaft von einer stratifizierten, hin zu einer funktional differenzierten Gesellschaft (vgl. a.a.O.:
Kapitel 4). Aber die längste Zeit der gesellschaftlichen Entwicklung, in der
die Kommunikationsmedien (z. B. Geld, Macht, Wahrheit, Liebe) noch nicht
ihre volle Blüte trugen, also in der Zeit der stratifikatorisch differenzierten
Gesellschaft, hatten die heute so verschiedenartigen, voneinander weitgehend
unabhängigen Funktionssysteme (Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Intimbeziehungen) noch nicht ihre moderne Bedeutung. In diesen Zeiten scheint
Moral als religiöse oder kosmologische Einheitssemantik, im Hinblick auf eine zentrale Integration der Gesellschaft, durchaus funktionsfähig gewesen zu
sein (vgl. a.a.O.: S. 396-401). Man hat sich der Illusion hingegeben, dass ein
einheitliches, allgemein akzeptiertes moralisches Urteil denkbar oder sinnvoll
sei, auf das hin die Gesellschaft in Harmonie integriert würde. Der Differenzierungsgrad in einer stratifizierten Gesellschaft lies dies noch zu, zumal
mit einer Führung der Gottähnlichkeit zugeschrieben wurde. Aber wie ich
versucht habe darzustellen ist die Gesellschaft heute schon zu stark differenziert, als das jede Annahme und Ablehnung von Selektionsofferten über nur
60
10.2. Das Medium Moral
ein zentrales Supermedium gesteuert werden könnte (vgl. a.a.O.: S. 173, S.
359, S. 1043). Daran zerbricht schließlich auch die klassische Vorstellung
man könnte die Gesellschaft als Ganzes über Moral integrieren (vgl. a.a.O.:
S. 396-401).
10.2. Das Medium Moral
Als Kommunikationsmedium gewinnt Moral seine Form durch die Bezugnahme auf Bedingungen, unter denen Menschen sich selbst und andere achten
bzw. mißachten. Der Code ist hier also Achtung / Missachtung (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397) Dabei geht es auch hier nicht um die Anerkennung
besonderer Fertigkeiten oder Leistungen, sondern um die Inklusion, bzw. Exklusion, von Personen in Kommunikationssysteme schlechthin (vgl. a.a.O.: S.
397).
„Dies gehört jedenfalls zum expressiven Stil von Moral, gleichgültig ob
dann Moralverstöße tatsächlich durch Exklusion, Kontaktunterbrechung
oder Kontaktreduktion sanktioniert werden oder nicht.“(a.a.O.: S. 397)
Moralisieren bedeutet in diesem Falle nur, dass Menschen Achtung und
Missachtung zum Ausdruck bringen. Dabei setzen sie Normen, wenn sie Bedingungen nennen unter denen sie andere achten bzw. missachten. Normen,
die der andere beachten soll, die aber auch für den Sprecher selbst gelten.
Wenn man z. B. sagt: „Ökonomischer Erfolg ist ein hoher Wert“, und alle
missachtet die anderer Meinung sind, dann ist das moralisieren. (vgl. Luhmann, 1984, ab 19:00 min)
Im Vergleich zu den heterogenen, problemorientierten Semantiken (Programmen) der modernen Mediencodes, ist das Medium Moral ein wenig
spezialisiertes, eher diffuses Medium. Moralische Kommunikation zeichnet
sich gerade nicht dadurch aus, das sie bei der Zuordnung von Achtung und
Missachtung auf eine bestimmte Sorte von Regeln oder Maximen Bezug
nimmt (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397). Damit verbindet das Medium Moral
die schärfsten Konsequenzen (Exklusion) mit relativ willkürlichen Bedingungen der gesellschaftlichen Selbstkonditionierung. Moral normiert also immer
in Bezug auf relativ arbiträre Themen, deren einheitliche Bewertung aber in
der Gesellschaft heute nicht mehr durchgehalten werden kann.
Die verschiedenen Kommunikationsmedien der modernen Gesellschaft
(z. B. Liebe, Wahrheit, Macht, Geld) erzeugen vielmehr weitgehend unterschiedliche Programme, um die Annahme und Ablehnung von Kommunikation zu regulieren (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 11:20 min) (vgl.
Luhmann, 1999a, S. 361, S. 371). Dabei müssen sie sich in dem Maße in
61
10. Die Moral von der Geschicht’
dem sie das tun, dann auch von moralischen Urteilen unabhängig machen
(vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 11:20). Wenn Mediencodes auf sich selbst
angewendet werden, dann werden sie reflexiv und erzeugen Eigenwerte, die
sich dann in spezifischen Programmen niederschlagen(vgl. Luhmann, 1999a,
S. 394). Diese spezifischen Programme sind dann nicht mehr unbedingt mit
moralischen Urteilen zur Deckung zu bringen. Für die Entfaltung der verschiedenen Medien und den dabei entstehenden Funktionssystemen ist es gerade
deshalb erforderlich, dass die Codes – weil sie reflexiv werden – sich moralisch
neutral behandeln lassen. (vgl. a.a.O.: S. 371, S. 362 f)
Man kann heute z. B. wenig Verständnis erwarten, wenn man davon ausgeht, dass derjenige der eine Wahrheit entdeckt moralisch gut ist und der, der
einer Unwahrheit nachjagt moralisch schlecht ist. Mit Lügen und dergleichen
hat das nun erstmal nichts zu tun. Es macht keinen Sinn mehr gesellschaftliche Exklusion (z. B. Haft) in Aussicht zu stellen, wenn z. B. wissenschaftliche
Methoden nicht anerkannt werden. Lediglich im Funktionssystem Wissenschaft kommt jemand in Rechtfertigungsnotstand, wenn er offen allgemein
akzeptierte wissenschaftliche Methoden in Frage stellt und keinen besseren
Vorschlag macht den Code von Wahrheit / Unwahrheit zu bearbeiten. Und
selbst dann führt das in der Wissenschaft zu deutlichen Irritationen und zu
entsprechenden Rechtfertigungsritualen. (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab
11:20 min)
Auch passionierte Liebe ist bewusst gegen Moral neutralisiert. „Wir lieben
jemanden nicht wegen seiner moralischen Qualitäten, sondern wegen seiner
Individualität, wegen seiner idiosynkratischen Eigenschaften.“(vgl. a.a.O.:
Band 7a, ab 13:00 min). Passionierte Liebe bezieht sich hier also gerade auf
Eigenschaften des anderen, die nicht von jedermann verlangt werden. (vgl.
a.a.O.)
Nebenbei erwähnt wäre es auch die Todeserklärung jeder Demokratie,
wenn man erklären würde, dass der Machthabende strukturell moralisch
gut und der Machtgebende strukturell unmoralisch wäre (vgl. Luhmann &
Spaemann, 1990, S. 24). Dasselbe kann man auch für Geld und andere Medien durchspielen und die Quintessenz ist, dass Gesellschaft eben nicht mehr
moralisch integriert werden kann (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 11:45
min). Kurz, die Durchsetzung einer heterogenen symbolisch generalisierten
Medienstruktur in der heutigen Gesellschaft bedeutet eine Abdankung der
Moral als ein generelles Instrument der gesellschaftlichen Koordination (vgl.
a.a.O.: Band 7a, ab 16:25 min)
Moralisch codierte Kommunikation ist außerdem nicht direkt Anschlußfähig an die Kommunikation der gesellschaftlichen Funktionssysteme und ihren
Codes. Das macht Moral heute unbrauchbar für eine gesamtgesellschaftliche
62
10.2. Das Medium Moral
Integrationsfunktion, aber dieser „Nachteil“ist auch ein „Vorteil“. Zwar ist
moralische Kommunikation nicht mehr direkt anschlußfähig an die Programme der anderen Mediencodes und kann diese nicht mehr sinnvoll beeinflussen.
Aber diese fehlende Spezialisierung ermöglicht es der Moral sich, zumindest
an der Oberfläche, leicht einzumischen wo Achtung und Missachtung im
Spiel ist; also überall (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 38). Denn es ist
unerlässlich das zur Überbrückung doppelter Kontingenz ähnliche Achtungs
/ Missachtungsbedingungen unterstellt werden; sowohl für Ego als auch für
Alter. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397)
Vielmehr liegt es Nahe der Moral die Funktion einer Art Warnsystem zu
zuweisen, das Hinweise auf gesamtgesellschaftliche, strukturgefährliche Vorgänge geben kann, die der fokussierten Reflexion der jeweiligen Mediencodes
entgehen (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 16:25 min) (vgl. Luhmann,
1999a, S. 1043). Nur muss verstanden werden, damit es nicht zum Wahnsystem wird, das moralische Kommunikation das provoziert was in der Politik
auch „blinder Aktionismus“genannt wird. Alle versichern sich sehr schnell ihrer wechselseitigen Achtung und Missachtung, ohne dabei zu berücksichtigen,
dass der Code Achtung / Missachtung keinen Durchschlag auf die basalen
Operationen der jeweiligen Gesellschaftssysteme hat. Als schärfste Konsequenz bleibt dann die Entlassung eines Funktionsträgers (Exklusion), aber
nicht die Modifikation der Programme die problematische Funktionen erzeugen. Mit anderen Worten, es wird eine Art Orientierungsreaktion ausgelöst,
die auf die wechselseitigen Achtungs– und Missachtungsbeziehungen fokussiert und Selbstbeschäftigung, ohne operativen Wert für die Funktionssysteme
der Gesellschaft, produziert. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 798)
Es kann das Medium Moral aber in seiner speziellen Form als eine Art
Zeiger aushelfen. Moral bleibt aber nur der Hinweis. Sie impliziert noch
keine Lösungsmöglichkeiten und fördert diese auch nicht. Im Gegenteil, der
„moralische Zeigefinger“ist durch die Stärke der implizierten Sanktionen (Exklusion) eher ein Mittel um Konflikte zu provozieren (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 26) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 317). Ein Einsatz moralischer
Kommunikation sollte deswegen mit äußerster Vorsicht gewählt werden. Das
ist natürlich auch eine Utopie, wenn man sich z. B. die Berichterstattung in
den Massenmedien diesbezüglich anschaut.
Auf jeden Fall ist nicht davon auszugehen, das moralische Kommunikation
in einer funktional differenzierten Gesellschaft integrative Funktionen erfüllt.
Es ist, und das möchte ich hier wirklich besonders betonen, wegen der Konfliktnähe der moralischen Kommunikation eher das Gegenteil zu erwarten
(vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 26) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 317).
Wenn man sich die Welt nun trotzdem in diesem Sinne nach moralischen Ge-
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10. Die Moral von der Geschicht’
sichtspunkten geordnet vorstellt, dann kann es durchaus ein Schock werden
festzustellen, dass es eine derartige moralische Einheit der Welt nie gegeben
hat. Und wenn moralische Kommunikation dann, in guter menschlicher Tradition, daraufhin quantitativ erhöht wird, nach dem Motto: Wenn es moralische Einheit schon nie gegeben hat, dann glauben wir jetzt einfach umso fester
dran; dann hat das meiner Ansicht nach bemerkenswerte Folgen. Daraufhin
wird nämlich der Einsatz, der heute schon weitgehend ausdifferenzierten,
Kommunikationsmedien provoziert. Macht, bzw. physische Sanktionsgewalt
waren wohl in diesem Zusammenhang, die Welt in eine moralische Einheit
zu zwingen, am beliebtesten und in ihren Aufschaukelungseffekten die Grausamsten. So wie ich das verstehe, provozieren die Verzweifelungsakte hin zu
einer moralischen Einheit genau die Ausdifferenzierung, der sich dann später gegenüber der Moral indifferent zeigenden Kommunikationsmedien. In
diesem Fall würde die Moralgeschichte regelrecht ödipale Züge bekommen.
Nun wäre es genauso undenkbar wie destruktiv davon auszugehen, dass
moralische Kommunikation nur kontraproduktiv ist. Moralische Kommunikation wird nur inflationär gebraucht und löst sich in ihrer klassischen Form
als Utopie der Einheit auf (vgl. Luhmann, 1999a, S. 173). Und zwar, weil
dem damit verbundenen Wunsch nach einer einheitlichen gesellschaftlichen
Integration nicht Rechnung getragen werden kann. Auch im Bezug auf die
Erwartung, das man mit moralischer Kommunikation eine Wirkung in den
Funktionssystemen der Gesellschaft erzeugen kann, ist das Medium Moral
deutlich inflationär im Gebrauch. (vgl. a.a.O.: S. 382 ff)
10.3. Ethik als Reflexionstheorie der Moral
Die Gesellschaft steht also heute, nach der Umstellung auf medienvermittelte
funktionale Differenzierung, vor dem Problem, dass moralische Kommunikation als elitäre, vereinheitlichende Attitüdenschau im Alltag nicht mehr
plausibel ist. Ob moralische Kommunikation in einer funktional differenzierten Gesellschaft noch hilfreich sein kann hängt davon ab, in welcher Form
das Medium Moral eigene Reflexivität erzeugen kann. Und nicht zufällig,
beginnt schon gegen Ende des 18. Jahrhundert, zu Beginn der funktionalen
Ausdifferenzierung der Gesellschaft, auch die Diskussion um Ethik als einer Reflexionstheorie der Moral (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 20).
Die Frage ist jetzt, in wie weit moralische Unterscheidungen auf moralische
Unterscheidungen angewendet werden können. (vgl. a.a.O.)
„Bekanntlich hat dieses Problem den Menschen das Paradies gekostet und,
vorher schon, dem Besten Engel seine Verdammung.“(a.a.O.: S. 27) Aber man
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10.3. Ethik als Reflexionstheorie der Moral
kann einfach beobachten, dass verwerfliches Handeln durchaus gute Folgen
haben kann und die besten Absichten sehr schlimme Folgen haben können.
Soll Ethik dann zu gutem oder zu schlechtem Handeln raten? (vgl. a.a.O.: S.
28)
Mein Vorschlag wäre hier, dass Ethik gar nicht zum Handeln raten sollte.
Ethik sollte zum Erleben raten (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 24:00
min) und zwar im Bezug auf einen reflexiven Moralcode, im Bezug also, auf
ein moralisches Akzeptieren der Relativität aller moralischen Urteile und
der daraus folgenden Normierung von Zurückhaltung und Toleranz (vgl.
Luhmann, 1999a, S. 401) (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 37). Das ist
die zweite ethische Implikation der Theorie, die ich hier herausstellen möchte.
In dieser prinzipiell ungewissen Form der Ethik wird man sich dann bewusst, dass, „Je mehr die Reflektion Notwendiges sucht (z. B. unbedingt
geltende Werte), desto mehr erzeugt sie im Effekt Kontingenz (z. B. Werteabwägung).“(Luhmann, 1999a, S. 48)
So zwingt Moral sich in eine Dauerreflexion und mündet in dem zunächst
inhaltsleeren Distanzierungsmechanismus Ethik (vgl. a.a.O.: S. 1043 f) (vgl.
Luhmann & Spaemann, 1990, S. 28). In diesem Sinne ist auch Ethik ein
Medium ohne eigene zuverlässige Programme. Ethik verweist immer nur
auf mögliche Achtungs– und Missachtungsbeziehungen mit dem Code Gut /
Schlecht (vgl. a.a.O.: S. 37), aber es fehlen ihr die eigenen Argumente in Form
allgemein akzeptierter Entscheidungsregeln, um daraufhin zu entscheiden,
ob etwas gut oder schlecht ist. In genau diesem Sinne muss man heute von
Ethik verlangen, dass sie die Strukturen von Gesellschaft und Bewusstsein
mitreflektiert, „[. . .] wenn sie der Moral ein Gütezeugnis oder auch nur eine
Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellt.“(a.a.O.: S. 40)
Ethik muss in der Lage sein, „[. . .] den Anwendungsbereich der Moral zu
limitieren.“(a.a.O.) Sie muss vielleicht sogar eher vor Moral warnen (a.a.O.:
S. 41). Aus einer ethischen Perspektive kann man es z. B. als Zumutung empfinden, erleben zu müssen, dass Politiker sich tagaus, tagein „[. . .] verbalmoralisch bekämpfen, obwohl wir, Demokratie richtig verstanden, gar nicht
aufgefordert sind, zwischen ihnen unter Gesichtspunkten der Moral zu wählen.“(a.a.O.: S. 40 f) Ebenso fällt es schwer sich unter ethischen Gesichtspunkten gefallen zu lassen, das Wirtschaft für sich in Anspruch nimmt moralisch
zu handeln. Sie kann das gar nicht ohne in das Mittelalter zurückzufallen.
Arbeitsplätze zum Beispiel entstehen nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie gebraucht werden um Geld zu verdienen, und ein Unternehmen
braucht nicht mehr Mitarbeiter nur weil es mehr Geld verdient. Trotzdem
gibt es die Empörung über Entlassungen hauptsächlich im Zusammenhang
mit einzelnen unmoralischen Bösewichten („Fürsten“) und nicht über die
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10. Die Moral von der Geschicht’
strukturellen Voraussetzungen der Systeme selbst.
Hier sind die moralischen Reflexe oft eher die Reflexe einer noch stratifizierten Gesellschaft. Ethik als Reflexionstheorie der Moral in einer funktional
differenzierten Gesellschaft hat hier noch deutlich Anpassungsbedarf.
10.4. Ausblick: Respekt als mögliche moderne Reflexionsform der
Ethik
Ein theoretisch plausibles Konzept scheint hier, wie im vorigen Kapitel angedeutet, die klassisch lateinische Bedeutung von Respekt zu sein. Hier verstanden als eine Aufforderung, sich mit Festlegungen im Bezug auf den Anderen
zurückzuhalten, bzw. die Bereitschaft zu zeigen Festlegungen immer wieder
zur Disposition zu stellen und gemeinsam zu bearbeiten. Und das gilt insbesondere für moralische Kommunikation.
Respekt, als mögliche Reflexionsform der Ethik, scheint mir von anderer
Art zu sein, als einfache moralische Kommunikation. Respekt ist keine klassische Tugend, im Sinne einer zuvorkommenden Berücksichtigung, sondern
Respekt ist eher eine „Metatugend“. Respekt zeichnet sich dadurch aus, dass
man den anderen in seiner Unbestimmtheit, in seiner uns Unerkennbarkeit
und Unverfügbarkeit akzeptiert (vgl. Nachtstudio, 2004, ab 51:25). Respekt ist eher die Konsequenz der Einsicht, dass wir häufig fehl gehen können
mit unseren Annahmen über gutes und schlechtes Verhalten und den anderen
mit unseren guten Absichten verfehlen. (vgl. a.a.O.: ab 05:00 min)
Das 18. Jahrhundert hatte in diesem Zusammenhang den Humor für sich
entdeckt,„[. . .] gleichsam als Wellenbrecher für überraschende Moralstürme,
aber das setzt zu viel Disziplin und zu viel schichtspezifische Sozialisation
voraus.“(Luhmann & Spaemann, 1990, S. 41 f) (vgl. Luhmann, 1964, S.
341 ff). Ernste Themen lassen sich nur sehr voraussetzungsreich mit Humor
behandeln. So ist Humor natürlich keine Option für die ganz großen Probleme
(z. B. Menschenrechte). (vgl. Luhmann, 1964, S. 341 ff)
Es gibt Hinweise, dass die moderne Gesellschaft sich unter anderem den
Begriff des Respekts als ethische Reflexionsform zurechtlegt und den „einfachen“Einsatz von Moral daraufhin limitieren kann, das die Würde (Freiheit)
des Menschen gewahrt bleibt. Respekt scheint ein viel versprechender, produktiver Umgang mit Unbestimmtheit in der modernen Gesellschaft zu sein, der,
mit Hinweis auf gemeinsame Erkenntnischancen, zu einer Normierung von
Zurückhaltung und Toleranz Anlass gibt. (vgl. Respect-Research-Group,
2006) (Nachtstudio, 2004)
Für die Gesellschaft kann der hier vorgestellte Sinn von Respekt in diesem
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10.4. Ausblick: Respekt als mögliche moderne Reflexionsform der Ethik
Zusammenhang sehr wichtig sein. Wie Christoph Menke im ZDF–Nachtstudio
richtig festgestellt hat, leistet Respekt eine Art Brechung der tugendhaften
Praxis in einer Form, die theoretisch und auch moralisch plausibel scheint
(Nachtstudio, 2004).
Respekt kann zwei Dinge verbinden. Respekt kann die Würde des einzelnen
Menschen als unverfügbar einfordern, und gleichzeitig kritikfähig machen im
Bezug auf Strukturen die gemeinsam erzeugt werden. Man kann z. B. selbst
dem unmoralischsten aller Menschen, vor dem Hintergrund seiner Menschenwürde, ein rechtstaatliches Verfahren zukommen lassen, und dabei trotzdem
aufs schärfste die zugrundeliegenden psychischen und sozialen Strukturen
verurteilen. Das macht Kommunikation dann deutlich anspruchsvoller und
voraussetzungsreicher im Vergleich zu einer einfachen, normierenden moralischen Kommunikation. Die Gesellschaft gewinnt mit einer solchen Haltung
aber ein grösseres Auflösungsvermögen im Bezug auf die Verteilung von Achtung und Missachtung (vgl. Sozialdimension von Sinn). Sie gewinnt Erkenntnischancen. Respekt macht z. B. den Blick darauf frei, dass Menschen nicht
zu verwechseln sind mit den Kommunikationssystemen an denen sie beteiligt
sind. Und auch das ist theoretisch sinnvoll.
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