U N I V E R S I TÄT B R E M E N STUDIENGANG PSYCHOLOGIE Ethische Implikationen einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme Diplomarbeit vorgelegt von Christoph Kopp 9 . 11 . 2006 Erstprüfer Prof. Dr. Peter Kruse Zweitprüferin Dr. Sylke Meyerhuber 2 „Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näher zu kommen, so wenig wie Sonne und Mond zu einander kommen oder Meer und Land. [. . .] Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im anderen das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des anderen Gegenstück und Ergänzung.“ (Hesse, 1959, S. 40) 3 4 Inhaltsverzeichnis Einleitung 7 I. 9 Teil I — Theoretische Grundlagen 1. Kybernetik, Information und Selbstorganisation 10 2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme 2.1. Autopoietische Systeme sind unruhige Systeme . . . . . . . . 2.2. Autopoietische Systeme sind operational geschlossen . . . . . 2.3. Autopoietische Systeme unterliegen einem Komplexitätsgefälle 2.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 13 14 15 15 3. Die Situation doppelter Kontingenz 3.1. Kommunikation im System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 18 21 4. Eine autopoietische Sinntheorie 4.1. Sinn, die Differenz von Aktualität und Möglichkeit . 4.2. Sinn und Information . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Sinndimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Sachdimension . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Zeitdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Sozialdimension . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 23 25 26 28 30 31 33 5. Das Besondere an der Sozialdimension von Sinn 5.1. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 37 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 6.1. Die Wahrscheinlichkeit des Neins . . . . . . . . . 6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln . . . . 6.2.1. Kommunikationsmedien und Mediencodes 6.2.2. Alter erlebt und Ego handelt . . . . . . . . 38 38 40 41 42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 6.2.3. Alter handelt und Ego erlebt . 6.2.4. Alter erlebt und Ego erlebt . . 6.2.5. Alter handelt und Ego handelt 6.3. Anschlussselektivität im System . . . 6.4. Gesellschaftliche Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 44 45 46 47 II. Teil II — Ethische Implikationen der Theorie autopoietischer Systeme 51 7. Einleitende Bemerkungen 52 8. Ein Problem des Menschen 8.1. Fromm meets Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2. Der widersprüchliche Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 53 54 9. Wir berücksichtigen uns, also sind wir 9.1. Anerkennungsbeziehungen und die Sozialdimension von Sinn 9.2. Respectus! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 57 58 10. Die Moral von der Geschicht’ 10.1.Die medienspezifische Differenzierung der Gesellschaft . . . . 10.2.Das Medium Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.Ethik als Reflexionstheorie der Moral . . . . . . . . . . . . . 10.4.Ausblick: Respekt als mögliche moderne Reflexionsform der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 60 61 64 11. Literaturverzeichnis 68 6 66 Einleitung Durch Kommunikation zeichnen wir uns gegenseitig Formen in unsere kognitiven Systeme. So ähnlich hat Humberto Maturana es in seinem Buch Baum der Erkenntnis (vgl. Maturana & Varela, 1984, S. 265) formuliert. In diesem Sinne möchte ich diesen Text benutzen, um dem Leser, eine Form vorzustellen, die man als Bauanleitung verstehen kann, die notwendigen Probleme der Selbstorganisation sozialer und psychischer Systeme zu erzeugen und nachzuvollziehen. In der ehrwürdigen Tradition der Kantschen Fragetechnik, nicht einfach zu fragen: „Was ist der Fall?“, sondern zu fragen: „Wie ist es überhaupt möglich?“, möchte ich nun die Frage stellen: Wie sind die Bedingungen der Möglichkeit von psychischer und sozialer Ordnung denkbar? Und wie wird etwas wie Ethik oder Moral dann zum Problem? In diesem Zusammenhang ist es die Theorie autopoietischer (sich–selbst– erzeugende) Systeme, die mich in der letzten Zeit intensiv, und aus verschiedenen Gründen umgetrieben hat. Hier möchte ich den Versuch machen diese Theorie auf fundamentale ethische Implikationen zu untersuchen. Die bedeutendsten Beiträge zu einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme kommen – wohl unzweifelhaft – von dem Biologen Humberto Maturana und dem Soziologen Niklas Luhmann. So beziehe ich mich im folgenden wesentlich auf das Theorieunternehmen das Niklas Luhmann mit dem, von Humberto Maturana geprägten, Begriff der Autopoiesis ausgearbeitet hat. Luhmann interessiert mich hier nur zweitrangig als Soziologe. Im Kontext einer sozialpsychologischen Analyse interessiert mich im wesentlichen der Erkenntnistheoretiker Luhmann. Denn im Rahmen seines Opus Magnum, hat er eben nicht nur die Gesellschaft als ein autopoietisches System beschrieben, vielmehr hat Luhmann quer durch seine Schriften, und leider nicht an zentraler Stelle, parallel eine allgemeine Theorie autopoietischer Systeme entwickelt. Seine Gesellschaftstheorie ist in dieser allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme der Spezialfall „soziale Systeme“. Daneben gibt es „biologische Systeme“und „psychische Systeme“, die jeweils auch autopoietisch organisiert sind. Mit einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme ist es nun möglich völlig heterogene Systeme auf die selben Kriterien hin abzufragen, nämlich auf die Besonderheiten der Organisation dieser Systeme. 7 Nun möchte ich im ersten Teil des Textes, nach einer kurzen axiomatischen Einführung in die Besonderheiten der Organisation autopoietischer Systeme, drei wesentliche Theorieteile des Luhmannschen Gesamtwerkes heraus greifen, um daran die allgemeine Logik der Theorie nachzuzeichnen. Das sind die Sinntheorie, die Theorie doppelter Kontingenz und die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, ohne die ein Verständnis des Luhmannschen Theoriegebäudes schlecht möglich ist. Und ich hoffe das schon während dieses ersten Teils deutlich wird, wie die theoretischen Voraussetzungen verwickelt sind mit der primären ethischen Frage: „Was ist der Mensch?“(Bateson & Bateson, 1993) Im zweiten Teil werde ich dann die Punkte erörtern, die mir besonders wichtig erscheinen, wenn man die Frage stellt: „Gibt es ethische Implikationen dieser Theorie?“Ich möchte also im ersten Teil mit den Formalismen der Theorie einen Eindruck vermitteln, wie die Theorie sich die Rahmenbedingungen sozialer und psychischer Ordnung vorstellt, um dann die Frage zu bearbeiten, ob es implizite Empfehlungen der Theorie gibt, wie man sinnvollerweise mit sozialen oder psychischen Systemen umgehen kann. Es geht mir hier nicht um den direkten Vergleich klassischer Positionen der Ethik, sondern um das was die autopoietische Theorie, für meine Begriffe, an ethischen Implikationen mit sich führt. Das mag man anders sehen, oder einen ausführlichen Bezug auf die Klassiker vermissen, aber um den Bezugsrahmen einzugrenzen ist es für diesen Text sinnvoll die Ideen der Theorie selber in den Vordergrund zu rücken. Ich möchte ja gerade die Formalismen der Theorie autopoietischer Systeme herausstellen, um zu einer Reflexion über Ethik einzuladen. Das schließt dann im Anschluss natürlich nicht die Verhandlung mit den Klassikern aus, allerdings steht diese nicht im Fokus dieses Textes. Ich möchte hier die sensiblem Punkte der Theorie zur Schau stellen und dazu auffordern die ganze Theorie zu lesen, immer mit der Frage im Hinterkopf: „Was kann das für Gesellschaft und Individuum bedeuten, wenn man die Vorschläge der Theorie annimmt?“ 8 Teil I. Theoretische Grundlagen 9 1. Kybernetik, Information und Selbstorganisation Die Theorie autopoietischer Systeme, die ich hier in den nächsten Schritten vorstelle, um sie danach auf ihre ethischen Implikationen zu untersuchen, hat sich im wesentlichen auf der Grundlage der, in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entstehenden, Kyberbetik entwickelt. Die Ideen, die in diesem Zusammenhang von Gregory Bateson, Heinz von Foerster, William Ross Ashby und vielen anderen entwickelt wurden, haben die moderne Systemtheorie in gewisser Weise erst ermöglicht. Das was man heute zum Thema autopoietische Systeme findet, ist hauptsächlich von Konzepten abgeleitet, die unter dem Einfluss der Kybernetik in den verschiednen Disziplinen entstanden sind. Die Kybernetik ist die Wissenschaft der kreiskausal geschlossenen Rückkopplungsmechanismen in biologischen, psychischen und sozialen Systemen. Aktualität gewann der Ansatz, als die Gründerväter der Kybernetik begannen über informationale Offenheit, bei gleichzeitiger operationaler Geschlossenheit der Systeme nachzudenken und dabei diese Idee in den Mittelpunkt erkenntnistheoretischer Bemühungen stellten. (vgl. Foerster, 1993a; vgl. Rotermund, 2003) Gregory Bateson entwickelte daraufhin einen passenden Informationsbegriff, der den Weg dafür frei machte Information ganz generell zu bezeichnen, als einen Unterschied, der einen Unterschied macht (vgl. Bateson, 1987, S. 123). In klassischer Lesart formulierte er so eine Paradoxie, die sich nur über die Fokussierung auf Perspektive und Zeit entfalten lässt. Also „wer“oder „was“macht einen Unterschied und erzeugt daraufhin einen weiteren Unterschied. In diesem Konzept läuft ein Unterschied sozusagen auf einen anderen Unterschied auf und erzeugt dabei einen weiteren Unterschied; Information. (vgl. Bateson, 1987) So entwickelten sich langsam Unterscheidungstheorien, die nicht mehr hinter diesen Informationsbegriff von Bateson zurückfielen, sondern diese einschränkende Formulierung aufgegriffen und variiert haben. Man kann wohl mit recht sagen, das Gregory Bateson mit seiner Definition von Information den Grundstein einer kybernetischen Informations– und Unterscheidungstheorie gelegt hat. Im Duktus dieser Informationsdefinition formulieren Humberto Maturana und Niklas Luhmann schliesslich, in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, ihre Ansätze zu einer Theorie sich selbst erzeugender, also autopoietischer 10 Systeme (Luhmann, 1987; Maturana & Varela, 1984). Passend zu der Idee von Gregory Bateson, das der Geist als kreiskausales System mit Unterscheidungen arbeitet, wird hier ein Systembegriff in einem zirkulären Argument formuliert. Ein autopoietisches System ist hier ein System, das die Strukturen, bzw. Elemente aus denen es besteht, aus eben diesen Elementen, selbst erzeugt (vgl. Luhmann, 1999a, S. 65). Bei Luhmann heißt es dann: „Die Elemente (und zeitlich gesehen sind das Operationen), aus denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine unabhängige Existenz. Sie kommen nicht bloß zusammen. Sie werden nicht bloß verbunden. Sie werden vielmehr im System erst erzeugt, und zwar dadurch, dass sie (auf welcher Energie- und Materialbasis immer) als Unterschiede in Anspruch genommen werden. Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System einen Unterschied machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung zur Produktion weiterer Einheiten der Verwendung, für die es in der Umwelt des Systems keinerlei Entsprechung gibt.“ (Luhmann, 1999a, S. 65 f) So wird ein System verstanden als ein quasi–perpetueller Zusammenhang von Operationen, der durch seine Operationen laufend Unterschiede erzeugt und dadurch das System von einer Umwelt abgrenzt. Die Umwelt trägt und malträtiert das System, aber es gibt keine Verbindung zwischen System und Umwelt auf der Ebene der Operationen. In diesem „neo–batesonschen“Sinne sind autopoetische Systeme informationserzeugend. Sie erzeugen in ihren Operationen systemrelative Information. Die Kybernetik stellt sich einen solchen re–produktiven Zusammenhang beispielhaft als einen iterativen Prozess vor (vgl. Foerster, 1993b, S. 269281). Der Begriff Iteration stammt aus der Mathematik und bezeichnet eine Funktion deren Ergebnis immer wieder eben diese Funktion durchläuft und daraufhin Eigenwerte erzeugt. In der Mathematik kann man leicht erkennen, das solche iterativen Prozesse drei wesentlich unterscheidbare Resultate erzeugen können. 1. Es entsteht ein fester Eigenwert unabhängig vom Ausgangspunkt (z. B. Wurzelfunktion). 2. Eigenwerte wechseln vorhersehbar regelhaft (z. B. eine Periode). 3. Es entsteht eine unregelmäßige oder eine unvorhersehbare Zahlenfolge (z. B. π). 11 1. Kybernetik, Information und Selbstorganisation Es ist eine Binsenweisheit in der Mathematik, dass iterative Funktionen alle nur denkbaren Formen hervorbringen können. Und das ist möglich mit nur einer Funktion, die immer wieder auf sich selbst angewendet wird. Es ist also möglich aus einer einfachen Funktion hochkomplizierte Muster zu erzeugen. Und so können auch autopoietische Systeme in ihren kreiskausal organisierten Operationen alle möglichen Formen von linearen und nicht– linearen Dynamiken entwickeln. In diesem Sinne unterscheidet die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme, die Systeme nach ihrer „iterativen“Reproduktions–Operation. Sie unterscheidet z. B. biologische Systeme (Proteinsynthese), Bewusstseinssysteme (Reproduktion von Gedanken) und soziale Systeme (Reproduktion von Kommunikationen) und geht dabei von einer Koevolution dieser drei Systemtypen aus (Luhmann, 1999a). 12 2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme Bemerkenswert ist, dass Luhmann seine theoretischen Überlegungen nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel beginnt. Sondern die Basisaussage ist: „Es gibt autopoietische Systeme.“und zwar nicht nur als bloße Verstandeskonstrukte, sondern es gibt Systeme da draußen, die autopoietisch organisiert sind (vgl. Luhmann, 1987, S. 30). Das betrifft in der allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme – wie gesagt – ganz konkret biologische, psychische und soziale Systeme. (vgl. a.a.O.: S. 15 f) Dann stellt sich natürlich die Frage: Wie kann man sich ein autopoietisches System vorstellen? Diese Frage versuche ich im Folgenden dadurch verständlich zu machen, dass ich die fundamentalen erkenntnistheoretischen Annahmen, die hinter dieser Theorie stehen, in ein prägnantes axiomatisches Gerüst bringe. Es ist hier nochmal zu betonen, dass die im folgenden beschriebenen Axiome autopoietischer Systeme für psychische, soziale und biologische Systeme gleichermassen gelten. Es geht hier also zunächst nicht um irgendein materielles Substrat, oder um bestimmte Systemelemente, sondern es geht um die Bezeichnung von konkreten Besonderheiten der Organisation von autopoietischen Systemen. In gewisser Weise kann man sagen, dass die hier folgenden Axiome die wesentlichen Vorannahmen der Theorie autopoietischer Systeme sind, die die Bedingungen der Möglichkeit von Systemen einschränken, bzw. problematisieren. Luhmann hat das meines Wissens zwar nirgendwo so explizit zusammengefasst und er hätte sich sicherlich gegen den Begriff Axiome gewehrt (vgl. Luhmann, 2005a, S.41 f), aber diese Vorannahmen kommen in fast allen seinen Texten mindestens implizit (fast als Bedingung des Verstehens) vor und ich erlaube mir deshalb den Kunstgriff hier von Axiomen zu sprechen. 2.1. Autopoietische Systeme sind unruhige Systeme Wie ich bereits im Vorwort angedeutet habe sind autopoietische Systeme kreiskausal organisiert und re-produzieren ihre Elemente aus einem Netzwerk eben solcher Elemente (Maturana & Varela, 1984). Das heisst in der Kurzform: A produziert B und darauf hin produziert B wieder A usw. 13 2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme Der Clou ist hier, dass die Elemente (A und B) flüchtige Elemente sind. Sie verschwinden also mit der Zeit. Es gibt keine Systemelemente, die ohne den operativen Zusammenhang mit anderen Elementen einfach so existieren. Nur der kontinuierliche re-produktive Zusammenhang der Elemente erzeugt die Kontinuität des Systems. Nur der ständige Anschluss von Operation an Operation gewährleistet so etwas wie Systemgrenzen. Das verursacht im System Anschlussdruck (Taktung)(vgl. Luhmann, 1999a, S. 65f.). Kurz, wenn diese Operationen der Reproduktion erliegen, dann löst sich das System auf, es verliert seine Grenzen. So driftet das System als dynamischer Prozess (ohne statische Identität) in der Welt (Maturana & Varela, 1984). Es ist inhärent unruhig. 2.2. Autopoietische Systeme sind operational geschlossen Außerhalb des operativen Zusammenhanges gibt es also keine Systemelemente. Systeme entwickeln die Differenz zu ihrer Umwelt im Anschluss von Operationen an Operationen. Der Begriff operationale Geschlossenheit betont dabei die Tatsache, dass die Formen, die ein System in seiner Umwelt entwickeln kann von der Organisation der Selbstreproduktion und nicht direkt von der Umwelt abhängen (Ashby, 1974; Maturana, 1998). So ist die Form von Information im System immer eine systeminterne Form der Unterscheidung von Unterschieden in der eigenen Strukturdynamik. Das bedeutet, dass ein System zwar von aussen irritiert werden kann, aber die Form der Unterschiede, die daraufhin im System erzeugt werden können, hängt von der Strukturdynamik des re-produktiven Prozesses ab und nicht direkt von der Umwelt. Für ein autopoietisches System bedeutet das z. B., dass es die Unterscheidung von System und Umwelt immer innen, also im System vollzieht (wo sonst) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 92 f). Schon deshalb kann ein System sich nicht selbst und schon gar nicht seine Umwelt vollständig beobachten (vgl. Luhmann, 1993, Band 13). Festzuhalten bleibt, Systeme gewinnen ihre Form aus der strukturellen Dynamik der Organisation ihrer eigenen Operationsweisen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Irritierbarkeit eines Systems, das nur innerhalb der eigenen Grenzen operieren kann. Luhmann geht davon aus, dass die Grenzen des Systems nicht als Abbruch von Zusammenhängen zu sehen sind (vgl. Luhmann, 1987, S. 35 f). „Man kann auch nicht generell behaupten, dass die internen Interdependenzen höher sind als System/Umwelt-Interdependenzen. 14 2.3. Autopoietische Systeme unterliegen einem Komplexitätsgefälle Aber der Grenzbegriff besagt, dass grenzüberscheitende Prozesse (zum Beispiel des Energie- oder Informations-‚Austausch‘) beim Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzung (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwendbarkeit oder andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden.“(a.a.O.) Die Theorie negiert damit nur die Möglichkeit einer systemunabhängigen Beobachtung (z. B. als Beobachtung von „Umwelt an sich“) und setzt zugleich Umwelt als operational unerreichbar (verschieden) voraus. „Das System sucht mit anderen Worten Formen, mit denen es die eigene Autopoiesis zugleich als geschlossen (für eigene Operationen) und als offen (für Irritationen aus der Umwelt), als rekursiv und responsiv organisieren kann.“(Luhmann, 2001 a, S. 145) 2.3. Autopoietische Systeme unterliegen einem Komplexitätsgefälle Durch die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme wird ein weiteres wichtiges Axiom angezeigt. Ein System, das sich auf der Basis eigener Operationen ausdifferenziert und von seiner Umwelt unterscheidet, kann immer nur weniger Zustände annehmen als die Umwelt in der das System sich verwirklicht. Die Umwelt (inkl. der Systeme in der Umwelt) bleibt immer komplexer als das System selbst. Ein System kann nicht alle Unterschiede der Umwelt in sich 1zu1 übernehmen, nicht jede Veränderung der Umwelt mit eigenen Änderungen parieren. Dieser Sachverhalt ist offensichtlich schwer zu bestreiten (vgl. Luhmann, 1992, Band 8 a). Das Komplexitätsgefälle wird dann im System in der Form eines perspektivischen Weltentwurfes, der immer schon die äussere Welt reduziert, bearbeitet. „Das System interpretiert die Welt selektiv und reduziert damit die Komplexität auf das ihm zugängliche Maß hin. Dadurch ermöglicht es sich strukturierte Möglichkeiten des eigenen Erlebens und Handelns.“(Asmus, 1999) Ein autopoietisches System muss also selektiv operieren. 2.4. Fazit Die Frage welchen Bedingungen der Möglichkeit autopoietische Systeme unterliegen lässt sich also verkürzt wie folgt beantworten. 15 2. Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme Ein System muss sich ständig in eigenen Operationen reproduzieren. Es produziert sich so in einer unruhigen Form, in einer Umwelt die stets mehr Zustände einnehmen kann als das System in eigenen Operationen auflösen kann. Ein System muss also prinzipiell selektiv operieren. Beim weiteren lesen des Textes ist es nützlich sich diese drei Axiome ständig präsent zu halten, denn das was ich im weiteren zum Problem doppelter Kontingenz, zur Luhmannschen Sinntheorie und danach zu einer Theorie symbolisch generalsierter Kommunikationsmedien sagen werde, setzt diese Grundideen voraus. 16 3. Die Situation doppelter Kontingenz Was passiert nun, wenn zwei autopoietische Systeme, z. B. zwei psychische Systeme miteinander zu tun bekommen? Was passiert wenn sie interagieren und nicht die Fähigkeit haben die Komplexität des jeweils Anderen im eigenen System zu duplizieren; wenn sie in diesem Sinne keine Möglichkeit der Antizipation haben? (vgl. Luhmann, 1993, Band 5a, ab 35:00 min) „Es gibt eine These von Donald MacKay, einem schottischen Informationstheoretiker, wonach unter diesen Bedingungen Freiheit entsteht. Selbst wenn diese komplexen Systeme Maschinen wären, selbst wenn sie vollständig determiniert wären, müsste jedes System unterstellen, das das andere beeinflusst werden kann, also auf Signale reagiert; und nicht in einer Weise deren Determiniertheit man im System selbst ausrechnen könnte. Sondern eben in einer Weise die unvorhersehbar ist. Und dann muss man die Information sozusagen süßen, man muss irgendwie Anreize bieten von denen man glaubt oder aus Erfahrung weiß, das die anderen Systeme sich darauf einlassen; das sie freiwillig, aufgrund eigener Präferenzen kooperieren, bzw. wenn man das ausschließen will, nicht kooperieren; das sie also entscheiden können; und nicht schon durchdeterminierte Systeme sind, die das tun was sie sowieso tun.“(a.a.O.) Also die interessante Hypothese ist, dass unter diesen Bedingungen Freiheit entsteht (vgl. MacKay, 1967). Es müssen mindestens zwei Systeme sein, die sich wechselseitig komplexitätsunterlegen sind. Sie haben also jeweils nicht die requisite Variety (vgl. Ashby, S. 179 ff), die Komplexität des anderen im eigenen System zu erzeugen, geschweige denn die Möglichkeit eine Interaktion zu antizipieren. „Und unter diesen Bedingungen müssen die Systeme die Freiheit des anderen unterstellen, um sich selbst in ein Verhältnis zum anderen System bringen zu können. [. . .]Und wenn das auf beiden Seiten geschieht, dann wird Freiheit qua Fiktion Realität.“(Luhmann, 1993, Band 5a, ab 35:00 min) Genauer könnte man sagen: Freiheit wird qua Kommunikation Realität (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 45). Wie man sich Vorstellen kann, das, sich–wechselseitig–beobachtende Bewusstseinssysteme eigene Freiheits- 17 3. Die Situation doppelter Kontingenz grade in soziale Integration überführen, das soll der jetzt folgende Teil beschreiben. 3.1. Kommunikation im System Am Anfang der Kommunikation steht nicht etwa das Wort, sondern am Anfang steht ein Beobachter, der einen anderen Beobachter beobachtet und das Verhalten des anderen als Mitteilung einer bestimmten Information interpretiert (also seine eigene Information erzeugt) (vgl. Foerster, 1999, CD 2, Track 1). „Das heißt, dass im Falle einer mündlichen Kommunikationssituation Ego sich nicht darauf beschränkt, Laute wahrzunehmen, sondern diese auf den Sachverhalt zurückführt, dass Alter seiner Ansicht nach damit etwas sagen wollte.“(Esposito, 2002, S. 15) Zunächst wird Ego durch die Laute von Alter irritiert (Ego kann einen Unterschied erzeugen). Allerdings kann man an diesem Punkt noch nicht von verstehen sprechen, denn dazu muss Ego die Irritation durch Alter erst als Mitteilung einer bestimmten Information unterscheiden. Das kann Ego nur, wenn es Alter bestimmte sinnvolle Intentionen unterstellt. Die Unterstellungen sinnvoller Intentionen bleiben natürlich für Ego immer mehr oder weniger Spekulationen, aber sie ermöglichen es Ego ein anschließendes Verhalten zu finden und so eine Situation wechselseitiger Unbestimmtheit zu entschärfen. Eine solche Unterstellung, einer von bestimmtem Sinn geleiteten Mitteilung, wird dann in dieser Theorie verstehen genannt und schließt eine Kommunikation ab, an die dann weitere Kommunikationen anschließen können (vgl. a.a.O.). Daraufhin bleibt Alter die Möglichkeit seinerseits sein Gegenüber auf die Differenz von Mitteilung und Information zu beobachten und sich zu verhalten. Dieses Verhalten kann wiederum auf den Unterschied von Mitteilung und Information hin beobachtet werden usw. Wenn Ego sinngeleitet beobachtet, dann bleibt er also nicht am Strom reinen Erlebens kleben, sondern er kann z. B. das wahrgenommene Kopfschütteln von Alter als Unzufriedenheit deuten und davon absehen es als spastische Zuckung, oder Entspannungsübung zu interpretieren. „Aus einer Kommunikation werden dann weitere Kommunikationen erzeugt, die jeder auf seine Weise versteht oder missversteht.“(a.a.O.) Für all das benötigt man selbstverständlich die Beteiligung von Bewusstseinssystemen, die sich gegenseitig wie beschrieben beobachten und dies nicht 18 3.1. Kommunikation im System aus irgendwelchen Gründen unterlassen. Entscheidend ist hier, das ein System aus Kommunikationen etwas anderes ist, als die Systeme aus Gedanken, die diese tragen. Kommunikationssysteme gehören zur Umwelt von Bewusstseinssystemen. Sie sind vielmehr unerreichbarer Erkundungshorizont und bieten als solcher immer neue Anlässe für eigene Gedanken (vgl. a.a.O.: S. 16). Um das zu verdeutlichen, kann man darauf verweisen, dass jeder schon mal die Erfahrung der Inkommunikatibilität gemacht hat: „[. . .] das Gefühl, über etwas nicht sprechen zu können, ohne es zu verdrehen und in etwas ganz anderes zu verwandeln (das Musterbeispiel ist hier bekanntlich die Kommunikation von Ehrlichkeit).“(a.a.O.: S. 16) Diese Ausgangslage kann mit Luhmann in ein Konzept der doppelten Kontingenz übersetzt werden. „[Doppelte Kontingenz wird wirksam] [. . .]sobald ein Sinn erlebendes psychisches System gegeben ist. Es begleitet unfokussiert alles Erleben, bis es auf eine andere Person oder ein soziales System trifft, dem freie Wahl zugeschrieben wird. Dann wird es als Problem der Verhaltensabstimmung aktuell. Den Aktualisierungsanlaß bieten konkrete, wirkliche psychische oder soziale Systeme oder Spuren (z. B. Schrift), die solche Systeme hinterlassen haben.“(Luhmann, 1987, S. 151) Wenn also zwei Bewusstseinssysteme in einer Situation gegenseitiger Beobachtung kontingent handeln, also jedes auch anders handeln kann und jedes dies von sich selbst und dem anderen weiß und in Rechnung stellt, dann verdoppelt sich die Kontingenz und es ist „[. . .] zunächst unwahrscheinlich, dass eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit: Sinngebung) im Handeln anderer findet.“(a.a.O.: S. 165) Man kann das als eine einfache Grundsituation sehen, in der diese beiden Systeme, die für einander jeweils eine Black Box sind, aus irgendwelchen Gründen etwas miteinender zu tun bekommen. Jedes einzelne Bewusstseinssystem bestimmt sein eigenes Verhalten immer durch komplexe, selbstreferentielle Operationen innerhalb seiner eigenen Grenzen, und das was von ihm außerhalb seiner Grenzen sichtbar wird, ist deswegen notwendig die Reduktion eines anderen Beobachters (vgl. vgl. a.a.O.: S. 156). „Deshalb bleiben die Black Boxes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand [auf der Ebene der eigenen Systemoperationen] [. . .] füreinander undurchsichtig.“(a.a.O.) Luhmann sagt dazu: „Zugleich mit der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung erklärt dieses Konzept aber auch die Normalität sozialer Ordnung; denn 19 3. Die Situation doppelter Kontingenz unter dieser Bedingung doppelter Kontingenz wird jede Selbstfestlegung, wie immer zufällig entstanden und wie immer kalkuliert, Informations- und Anschlusswert für anderes Handeln gewinnen. Gerade weil ein System geschlossen-selbstreferentiell gebildet wird, also A durch B bestimmt wird und B durch A, wird jeder Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv.“(a.a.O.: S. 165) So kann man sich konkret vorstellen, dass sich zwei Unbekannte zunächst wechselseitig z. B. auf Situationsdefinition, sozialen Status oder Intentionen usw. hinweisen (vgl. a.a.O.: S. 184). Damit beginnt dann „[. . .] eine Systemgeschichte, die das Kontingenzproblem mitnimmt und rekonstruiert. Mehr und mehr geht es daraufhin dann im System um eine Auseinandersetzung mit einer selbstgeschaffenen Realität: um Umgang mit Fakten und Erwartungen, an deren Erzeugung man selbst beteiligt war und die sowohl mehr, als auch weniger Verhaltensspielraum festlegen als der unbestimmte Anfang.“(a.a.O.:, S. 184) Anders formuliert, die Mannigfaltigkeit von möglichen Mitteilungen wird durch Kommunikationssysteme in eine Sequenz von aufeinander wirkenden Kommunikationen gebracht, die sich an bestimmten Erwartungen und Themen orientieren und dadurch im Verlauf ihrer Geschichte sehr unwahrscheinliches Verhalten der beteiligten Bewusstseinssysteme wahrscheinlich und erwartbar machen können. Unter solchen Umständen erzeugen Bewusstseinssysteme auf ihrer eigenen Interaktionsgeschichte eine ausreichende Vorhersagbarkeit für eine gemeinsame Verhaltensabstimmung (vgl. a.a.O.: S. 156). Das Kommunikationssystem, das so entsteht, kann dann durch selektiven Rückgriff auf die eigene Interaktionsgeschichte, Offenheit für Beliebiges gegen Sensibilität für Bestimmtes eintauschen, und umgekehrt (vgl. a.a.O: S. 185). In diesem Modus können wechselseitige Unterstellungen bzw. Erwartungen zu komplexen Mustern verknüpft und in eine Situation doppelter Kontingenz hinein projiziert werden. In der Form von Semantiken und Erwartungen kann die jeweilige Unsicherheit gegenüber einer offenen Zukunft gemeinsam absorbiert und für weitere Operationen nützlich gemacht werden (vgl. a.a.O.: S. 158 f). Im extremen Fall von hoch elaborierter Kommunikation, z. B. in Organisationen, werden komplexe Muster gemeinsamer Erwartungen sogar zur Bedingung der Möglichkeit von weiterem Verstehen. Die Situation von doppelter Kontingenz ist nicht nur selbst komplex, sondern sie provoziert die Emergenz eines Systems aus Kommunikationen; ein System das eine eigene Ordnung im nacheinander seiner Operationen ermög- 20 3.2. Fazit licht und so selektiv eine eigene Komplexität aufbauen kann (vgl. a.a.O.: S. 148-191). Entsprechend wird in der modernen Literatur über Humanoidenevolution betont, dass der Zweig der in Richtung Mensch evoluierenden Primaten nicht durch die Probleme im Umgang mit der „äußeren“Natur provoziert wurde; sondern das Evolution provozierende Problem wird vielmehr in den Anforderungen eines sozialen Feldes gesehen. So geht man davon aus, dass sich die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Bewusstseins im Umgang mit den Dilemmata sozialer Situationen entwickelt haben (vgl. Luhmann, 1999a, S. 192 f). Die Herausforderung des sozialen Feldes kann man nun ganz allgemein beschreiben als eben das Problem doppelter Kontingenz. „Der Ausweg aus der damit angezeigten Herausforderung liegt in der gleichzeitigen Entwicklung von extremer Sozialabhängigkeit und hochgradiger Individualisierung, und das wird erreicht durch den Aufbau einer komplexen Ordnung sinnhafter Kommunikationen, die dann die weitere Evolution des Menschen bestimmen.“(a.a.O.: S. 192 f) 3.2. Fazit Ohne ein Kommunikationssystem wäre es dem bloßen Zufall überlassen, dass der eine, obwohl er tut was er tut, dem anderen nützen kann. Unter diesen Bedingungen würde Abhängigmachen bedeuten, dass man Unwahrscheinlichkeiten multipliziert. Aber Lebewesen gewinnen erst Vorteile, wenn sie sich von einem gemeinsam erzeugtem System höherer Ordnung abhängig machen, und das ist für menschliches Bewusstsein das Kommunikationssystem Gesellschaft. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 193) Unter den Bedingungen, der als erwartbar kondensierten Verhaltenserwartungen können sie dann miteinander Kontakt wählen, und so machen sie sich gerade nicht direkt voneinander abhängig, sondern sie machen sich abhängig von generalisierten Verhaltenerwartungen, die ohne Systeme höherer Ordnung, also Kommunikationssysteme nicht denkbar wären. (vgl. a.a.O.) Mit anderen Worten, Bewusstseinssysteme konstruieren ein System aus wechselseitigen Verhaltenserwartungen und gewinnen damit jeweils eine dynamische Fremdreferenz, ein Kommunikationssystem. Im Sinne des zahlentheoretischen Kongruenzbegriffes (Wikipedia, 2006) erzeugen Bewusstseinssysteme einen Mechanismus mit dem sie Alter und Ego kongruent konstruie- 21 3. Die Situation doppelter Kontingenz ren können, indem ein gemeinsames Bezugssystem unterstellt und weiterbearbeitet wird. Mit Kommunikationssystemen gewinnt dann die Umwelt von Bewusstseinssystemen deutlich an Turbulenz. Plötzlich kann eigenes Verhalten von fremdem und fremdes Verhalten vom eigenem Verhalten abhängig sein. Kommunikationssysteme setzen hohe und ganz neue Ansprüche an Ordnungsfunktionen oder Wirklichkeitskriterien eines Bewusstseinssystems, um eigenes Verhalten sinnvoll zu koordinieren. Und solche Ordnungsfunktionen übernehmen in dieser Theorie das Universalmedium Sinn und die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Im Folgenden werde ich diese „Subtheorien“kurz vorstellen, um damit deren Bedeutung für psychische und für soziale Systeme anzudeuten. 22 4. Eine autopoietische Sinntheorie Bisher habe ich also festgestellt, dass autopoietische Systeme folgende Probleme erzeugen. Sie sind unruhig, operational geschlossen und komplexitätsunterlegen. Und wenn solche Systeme anfangen zu interagieren, dann entsteht das Problem doppelter Kontingenz. Die Frage ist nun: „Wie können solche Systeme unter diesen Bedingungen, durch wechselseitige Beobachtung, eigene Komplexität in Form von generalisierten Erwartungen aufbauen? Und wie gesagt, die Antwort hierauf macht sich an zwei wesentlichen Konzepten der Luhmannschen Theorie fest. Das ist zum einen die Sinntheorie und zum anderen die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. Im Folgenden liegt mir am Herzen mit der Sinntheorie deutlich zu machen, wie man unter diesen theoretischen Bedingungen die operative Orientierung von Systemen erklären und dimensionieren kann. Diesbezüglich verspricht die Sinntheorie interessante Antworten. Sinn ist nämlich in der Theorie als der informationserzeugende Mechanismus gedacht und er ist eng verknüpft mit der Idee der allgemeinen Funktionsweise autopoietischer Systeme (vgl. Luhmann, 1987, S. 92 ff). 4.1. Sinn, die Differenz von Aktualität und Möglichkeit Wie kann man sich Orientierung in einem System konkret Vorstellen, wenn wir die oben genannten Axiome bedenken? Zur Beschreibung dieses Phänomens bedient sich Niklas Luhmann bei dem Phänomenologen Edmund Husserl (vgl. Luhmann, 1993, Band 2 a, ab 22:00 min). Husserl stellt das Problem der Orientierung zunächst in der Metapher des Horizontes dar. Das kann man sich wie folgt vorstellen. Ein intendiertes Objekt steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und es bekommt seine Bedeutung nicht aus sich selbst heraus, sondern im Verhältnis zu einem Horizont von weiteren Objekten. „Man kann von jedem Objekt in ein anderes übergehen.“(a.a.O.: ab 23:00 min) Husserl geht davon aus, das alles was intentional erfasst wird in einem Horizont von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten erfasst wird. Es gibt in einem Bewusstsein also nichts isoliertes, nichts das nicht Verweisungen auf weitere Verwendungsmöglichkeiten hätte. Sinnelemente schwimmen also 23 4. Eine autopoietische Sinntheorie nicht einfach kontaktlos irgendwo herum, sie bestehen nicht atomar für sich selbst. Etwas bestimmtes steht hier immer in einem Kontext von gleichzeitig präsenten anderen Möglichkeiten. (vgl. a.a.O.: ab 22:00 min) Und so gibt es – auch bei Husserl – für das Bewusstsein keine letzte Bestimmbarkeit, sondern es gibt immer – je nachdem mit welchem Objekt, Symbol oder Wort man anfängt – gleichzeitige Verweisungen auf weiter Bestimmbares (vgl. Luhmann, 1987, S. 374 f). Man kann also Assoziationsketten bilden, „[. . .] die weder logisch, noch irgendwie wiederholbar gebunden sein müssen, aber trotzdem fällt man nie ins leere. Sondern man hat immer wieder etwas, das Ausgangspunkt ist für weitere Operationen.“(Luhmann, 1993, Band 2 a, ab 24:34 min) So kann das System sicher, sprunghaft und mit hohen Freiheitsgraden assoziieren. Man kommt z. B. von einem Text auf den Autor, zu dessen Kindheit, auf dessen Großeltern, auf den zweiten Weltkrieg, usw. (vgl. a.a.O.: ab 23:00 min) Durch selektives Assoziieren kann ein Bewusstseinssystem seine Form dann durch eine aktuelle Begrenzung von Kombinationsmöglichkeiten integrieren, die, weil sie flüchtig und anschlusssensibel sind, wechselnde Anpassung an wechselnde Bedingungen ermöglichen. Was bei Husserl noch die Differenz von intendiertem Phänomen und dem Horizont weiterer Verweisungen ist, das importiert Luhmann mit den Begriffen Aktualität und Potentialität in seine Sinntheorie (vgl. Luhmann, 1992, Band 10 a, ab 10:30 min). Während es bei Husserl noch explizit um Bewusstseinsoperationen ging, generalisiert Luhmann das Konzept und beschreibt das Operieren der Differenz von Aktualität und Möglichkeit als den Modus sinnverwendender Systeme schlechthin (als Universalmedium autopoietischer Systeme) (vgl. Luhmann, 1987, S. 356). Luhmann bringt das so auf den Punkt: „Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten.[. . .] Die Instabilität des Sinnes liegt in der Unhaltbarkeit seines Aktualitätskerns. Die Restabilisierbarkeit ist dadurch gegeben, das alles Aktuelle nur im Horizont von (virtuellen) Möglichkeitsanzeigen Sinn hat.“D. h.„[. . .]das eine der anschließbaren Möglichkeiten als Nachfolgeaktualität gewählt werden kann oder gewählt werden muss, sobald das jeweils Aktuelle verblasst, ausdünnt, seine Aktualität aus eigener Instabilität selbst aufgibt.“(a.a.O.: S. 100) Die Differenz von Aktualität und Möglichkeit erzeugt also immer einen der Aktualität gegenüberstehenden virtuellen Horizont von Möglichkeiten. Und 24 4.2. Sinn und Information durch die „Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung als ein sich selbst propellierender (durch Systeme konditionierbarer) Prozess“(a.a.O.) kann das System die Differenz von Aktualität und Möglichkeit nutzen, um sich an wechselnde Bedingungen anzupassen (vgl. Luhmann, 1987, S. 100). Man kann auch sagen das System oszilliert zwischen zwei Operationsweisen. Das ist die Erzeugung eines Überschusses und die anschliessende, reduzierende Selektion. Um es deutlich zu formulieren, autopoietische Systeme lernen nicht, sondern sie evoluieren in einer Umwelt, wenn sie Sinn als Mechanismus der Variation und Selektion in einer spezifischen Nische (re-) stabilisieren. (vgl. Luhmann, 1993, Band 8a, ab 04:50 min) 4.2. Sinn und Information Die im Vorwort erwähnte Ähnlichkeit der Theorie zum Batesonschen Informationskonzept wird hier am deutlichsten sichtbar. Sinn ist hier gedacht als ein Mechanismus der Information aus dem Auflaufen einer Operation auf nächste Operationen erzeugt. Es geht also um eine operative Differenz. Wenn man die oben genannten Axiome berücksichtigt, dann kann man sich das wie folgt vorstellen. Zum einen ist vorausgesetzt, dass die Unruhe der Re-produktion autopoietischer Systeme Anschlussdruck (Taktung) im System erzeugt. Zum anderen gilt aber in der Situation doppelter Kontingenz, dass ein sinnhaft intendiertes Phänomen stets mehr Verweisungen (Möglichkeiten) impliziert, als im nächsten Schritt der Operationen eines Systems, z. B. des Bewusstseinssystem, aktualisiert werden können. (vgl. Luhmann, 1987, S. 94) Sinn verwendende Systeme müssen deshalb ihre Ordnung in zeitliche Muster von Selektionssequenzen überführen. Sie können nicht jede mögliche nächste Operation gleichzeitig vollziehen. Sie müssen selektiv operieren und erzeugen so Ambivalenz im Bezug zu nächsten Operationen. Hier kann man sich Ambivalenz zunächst vorstellen als Gleichwahrscheinlichkeit von verschiedenen nächsten Anschlussoperationen. Durch eine Gleichwahrscheinlichkeit von Anschlussoperationen droht das System zwar sich selbst zu blockieren oder sich durch beliebige Anschlussselektionen zu behindern, aber das kommt im Prinzip nicht vor (zumindest nicht als Ereignis des Systems). (vgl. a.a.O.: S. 374 f). Es geht hier vielmehr um eine – sich ständig aktualisierende, geschichtsabhängige – Wahrscheinlichkeitsverteilung im Bezug auf weitere Operationen. Erst diese sich geschichtsabhängig stabilisierenden Wahrscheinlichkeitsverteilungen ermöglichen praktisch das zuverlässige „Präsenthalten“verschiedener 25 4. Eine autopoietische Sinntheorie weiterer Möglichkeiten von Operation zu Operation. Und so ist die operative Differenz von Aktualität und Potentialität für sinnverwendende Systeme die Basis jeder Anpassung. Die durch die Potentialität provozierte Ambivalenz im Bezug auf weitere Möglichkeiten ist in diesem Fall systeminterne Komplexität, die bearbeitet werden muss, damit sie nicht destruktiv wird. Das sinnverwendende System steht unter Entscheidungsdruck. Und in diesem Spannungsverhältnis zwischen Anschlussdruck und Selektionsdruck entsteht das erwartungsleitende Universalmedium Sinn (gemeinsam mit Bewusstseinssystemen und Kommunikationssystemen, darauf komme ich im zweiten Teil noch zurück) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 44 ff). Auf dieser basalen Ebene der Operationen ist Sinn so etwas wie das kontextabhängige Zusammenziehen und Auseinanderstossen von spezifischen Sequenzmustern. Um nun Anschlussselektivität von Operationen zu Operationen zu kontrollieren, kann das System z. B. Irritationen aus der Umwelt benutzen, um die Ambivalenz zu nächsten Operationen zu bearbeiten. In dem es mit eigenen Operationen, spezifische Änderungen der Umwelt pariert (Fremdreferenz), kann ein System die Wahrscheinlichkeitsverteilung von möglichen Anschlussoperationen asymmetrisieren und je nach eigenem Verhalten verändern. (vgl. Foerster, 1993b, S. 84 ff) Genauer betrachtet sind es dann schliesslich mindestens zwei basale ineinander verschränkte Differenzen–in–Betrieb, mit denen ein System Information erzeugt. Und zwar sind das die Differenz Aktualität / Potentialität und die Differenz Selbst– / Fremdreferenz. Anders ausgedrückt, die Differenz von Aktualität und Potentialität gewinnt erst ihren Informationswert, wenn die virtuellen Möglichkeiten mit der Differenz von Selbst- und Fremdreferenz bearbeitet werden (vgl. Luhmann, 1987, S. 111). Dabei entsteht dann System / Umwelt-relative Information. 4.3. Sinndimensionen Es ist also die Verschränkung von internen Differenzen, die systeminterne Information erzeugt. Demnach können wir also Fragen mit welchen operativen Differenzen sinnverwendende Systeme arbeiten, um in jeder Situation den Verlauf der Operationen entweder in Richtung auf Sensibilität für Bestimmtes oder in Richtung Offenheit für Beliebiges lenken zu können. Der Vorschlag von Luhmann ist hier, die Selbstreferenz von Sinn selbst in drei Dimensionen zu respezifizieren. Ich werde dieses Konzept der Sinndimensionen nun kurz Vorstellen, denn mein primäres Argument im zweiten Teil des Textes baut eben genau auf diesen Vorschlag auf, indem es dazu auffordert die 26 4.3. Sinndimensionen Konsequenzen der Sozialdimension von Sinn besonders zu berücksichtigen (vgl. Luhmann, 1992, Band 10b, ab 15:30 min). Zunächst geht es aber darum sich vorzustellen, dass sinnverwendende Systeme ihre laufenden Unterscheidungen in drei Sinndimensionen ordnen und so den Verlauf ihrer Operationen bändigen. Bisher habe ich Sinn als die Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität vorgestellt. Luhmann geht allerdings noch einen Schritt weiter. Er geht davon aus, dass auf diese Differenz (diesen Horizont) weitere Differenzen aufgesetzt werden können. In Anlehnung an Husserl spricht Luhmann dann auch von einem Doppel– oder Mehrfachhorizont. Und diese „Zusatzdifferenzen“, die auf die Differenz von Aktualität und Potentialität aufgesattelt werden nennt Luhmann Sinndimensionen (vgl. Luhmann, 1992, Band 10b, ab 15:30 min). Luhmann bezeichnet diese Sinndimensionen als Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension. Dazu sagt er lapidar: „[. . .] es kommt also vor und offenbar ist die Aufteilung nach sachlich, zeitlich, sozial irgendein routinemäßig wiederholbares Theorieerzeugnis. Ohne das ich in der Lage bin dafür eine Begründung zu geben, es also deduktiv abzuleiten. Der Begriff [Sinn] entfaltet sich nicht von selber in diese Dimensionen, sondern es ist einfach so phänomenologisch gesetzt und wenn nach Begründungen gefragt wird, dann tendiere ich zu sagen: ‚Schlagen Sie mal eine weitere Dimension vor und dann überlege ich mir, ob das irgendwie funktioniert oder nicht funktioniert.‘“(a.a.O.) Diese Aufteilung in Sinndimensionen ist also ganz nach dem Gusto dieser Theorie von einem Beobachter gesetzt und damit zur Disposition gestellt. Allerdings gewinnt diese Idee vor dem Hintergrund der ganzen Theorie eine besondere Attraktivität, weil sie in hohem Maße generalisiert und doch sensibel bleibt für sehr konkrete Sachverhalte. (vgl. a.a.O.) „Jede dieser Dimensionen gewinnt ihre Aktualität aus der Differenz zweier Horizonte, ist also ihrerseits eine Differenz, die gegen andere Differenzen differenziert wird. Jede Dimension ist ihrerseits wieder sinnuniversell gegeben, enthält also formal gesehen, keine Einschränkung dessen, was in der Welt möglich ist. Man kann insofern auch von Weltdimensionen sprechen.“(Luhmann, 1987, S. 112) Diese Sinndimensionen ermöglichen es, in die vermeintlich tautologische Formel: Sinn macht Sinn usw., weitere Unterscheidungen in den selbstreferenziel- 27 4. Eine autopoietische Sinntheorie len Zirkel einzubauen und damit zu experimentieren. Vor allem ermöglichen diese Unterscheidungen über die Form von Sinn, trotz Ununterscheidbarkeit (also Unbeobachtbarkeit), plausibel zu spekulieren. (vgl. Luhmann, 1992, Band 10b, ab 15:30 min) Diese drei Dimensionen – also Sach–, Zeit–, und Sozialdimension – treten nicht isoliert auf. „Sie stehen unter Kombinationszwang. Sie können getrennt analysiert werden, aber sie erscheinen in jedem real gemeinten Sinn selbdritt.“(Luhmann, 1987, S. 127) Also in jeder Situation in der Sinn gegeben ist, stehen diese Dimensionen zur Verfügung. Es kommt jedoch in sinnverwendenden Systemen zu dimensionsspezifischen Ausdifferenzierungen. Es werden z. B. psychische oder soziale Systeme möglich, die einen sachlichen, zeitlichen oder sozialen Gesichtspunkt von Sinn besonders betonen (vgl. a.a.O.: S. 128 f) 4.3.1. Sachdimension In der Sachdimension geht es um die Differenz von Innen und Außen. Die Differenz von Innen und Außen ist hier nicht unbedingt als räumliche Innen / Außen-Unterscheidung gedacht. Vielmehr geht es um das Innen und Außen im Bezug auf die allgemeine Frage, was ist intendiertes Phänomen, in welcher Art von Verweisungshorizont? Es geht also eher um semantische Zusammenhänge von Innen und Außen. Eine prägnante Beschreibung liefert Luhmann in seinem Werk „Soziale Systeme“von 1987. „Von Sachdimension soll die Rede sein im Hinblick auf alle Gegenstände sinnhafter Intention (in psychischen Systemen) oder Themen sinnhafter Kommunikation (in sozialen Systemen). Gegenstände oder Themen in diesem Sinne können auch Personen oder Personengruppen sein. Die Sachdimension wird dadurch konstituiert, dass der Sinn die Verweisungsstruktur des Gemeinten zerlegt in ‚dies‘und ‚anderes‘. Ausgangspunkt einer sachlichen Artikulation von Sinn ist mithin eine primäre Disjunktion, die etwas noch Unbestimmtes gegen anderes noch Unbestimmtes absetzt. Die weitere Exploration wird damit dekomponiert in einen Fortgang nach innen und einen Fortgang nach außen, in eine Orientierung durch den Innenhorizont bzw. eine Orientierung durch den Außenhorizont. Damit entsteht Form im Sinne einer Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Alles kann so behandelt werden. [. . .] Zugleich zwingt sie [die aktuelle Form] die jeweils nächste Operation in eine Rich- 28 4.3. Sinndimensionen tungswahl, die – für den Moment jedenfalls – sich der Gegenrichtung entgegensetzt, ohne deren Zugänglichkeit zu annullieren. Insofern ermöglicht die Sachdimension Anschlussoperationen, die zu entscheiden haben, ob sie noch bei demselben verweilen oder zu anderem übergehen wollen.“(a.a.O.: S. 114) Eine Konsequenz dieser sachlichen Dimension von Sinn ist, dass ein Gegenstand im Sinne einer Ding–an–sich–Thematisierung zwar möglich ist (man kann behaupten etwas zum „Gegenstand“der Kommunikation zu machen). Letztlich geschieht dies aber natürlich nicht mit operativem Zugriff auf irgendwelche externen Gegenstände, sondern durch die Einschänkung von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension von Sinn. (vgl. Luhmann, 1987, S. 115) Dinge sind in diesem Zusammenhang also eine bestimmte Art der Beschränkung von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension von Sinn. „Am Ding lassen sich deshalb entsprechend Erfahrungen sammeln und versuchsweise reproduzieren. In dieser Form geben Dinge handliche Anhaltpunkte für den Umgang mit Weltbezügen.“(a.a.O.: S. 115) (vgl. Esposito, 2002, S. 114 ff) Aber das Ding–an–sich–Schema ist eine drastische, wenn auch intuitive Reduktion eines Beobachters, die verschleiert, dass ein Ding immer nur unterschieden von anderen Dingen „real“gemacht und mit Eigenschaften belegt werden kann. Es wird aber unterstellt ein Ding habe „Eigenschaften an sich“und unsere Sprache versichert uns dabei scheinbar durch die Syntax von Subjekt und Prädikat, „[. . .] dass ‚Dinge‘irgendwie Qualitäten und Attribute ‚haben‘. “(Bateson, 1987, S. 81) Die Verwendung des Ding-an-sich–Schemas mag (vielleicht) für ein Alltagsleben hinreichende Möglichkeiten bieten sich zu orientieren, allerdings ist Sie für die Wissenschaft und insbesondere die Erkenntnistheorie unzureichend. Denn sie verdeckt eben die Tatsache, das „Dinge“(das innen einer sachlichen Unterscheidung) immer nur in Relation zu anderen „Dingen“(das außen einer sachlichen Unterscheidung) Eigenschaften von einem Beobachter zugesprochen bekommen. Die Eigenschaften von Dingen sind also in dieser Theorie eher die Eigenschaften der Beziehung von Beobachter und Beobachtetem (vgl. Bateson, 1987, S. 80 f) (vgl. Luhmann, 1987, S. 115) Dementsprechend ist auch „[. . .] der primäre Gegenstand der Theorie autopoietischer Systeme nicht ein Gegenstand (oder eine Gegenstandsart) ‚System‘, sondern die Differenz von System und Umwelt.“(Luhmann, 1987, S. 116) 29 4. Eine autopoietische Sinntheorie 4.3.2. Zeitdimension Im Unterschied zur Sachdimension, die eine Differenz von Innen / Außen auf die Sinndifferenz von Aktualität / Möglichkeit bezieht, geht es bei der Zeitdimension um die Differenz von Vergangenheit/Zukunft, also um eine Orientierung am Ausgangspunkt Gegenwart (vgl. Luhmann, 1987, S. 116). „Die Zeitdimension wird dadurch konstituiert, dass die Differenz von Vorher und Nachher, die in allen Ereignissen unmittelbar erfahrbar ist, auf Sonderhorizonte bezogen, nämlich in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein verlängert wird.“(a.a.O.) Natürlich kann ein System immer nur in der Gegenwart operieren. „Zukünfte und Vergangenheiten können, und in dieser Hinsicht sind sie völlig gleich, nur intendiert bzw. thematisiert, nicht aber erlebt oder behandelt werden.“(a.a.O.: S. 116 f) Vergangenheit ist so immer gegenwärtig thematisierte oder intendierte Vergangenheit, bzw. Zukunft ist immer gegenwärtig thematisierte oder intendierte Zukunft. Die Vergegenwärtigung von Vergangenheit oder Zukunft ist immer „[. . .] Abstandnahme von der reinen Sequenz“(a.a.O.: S. 118)und immer Reduktion eines beobachtenden Systems. Es ist immer ein aktuell beobachtendes Systems, das ein Vor– bzw. Nachher bestimmter Ereignisse auf die Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit bezieht und somit die gewonnenen Freiheiten reduziert (nutzt) und „Platz“gewinnt gegenwärtig über Zukunft oder Vergangenheit nachzudenken. (vgl. a.a.O.: S. 118) So kann z. B. Geschichte als Thematisierung der Vergangenheit nicht einfach als eine faktische Sequenz der Ereignisse verstanden werden, der zufolge Gegenwärtiges als Wirkung vergangener Ursachen, bzw. als Ursache künftiger Wirkungen aufzufassen ist(vgl. a.a.O.: S. 118). Sondern: „Das Besondere an der Sinngeschichte ist vielmehr, das sie wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen ermöglicht, also ein Überspringen der Sequenz. Geschichte entsteht durch Entbindung von Sequenzen. Ein Sinnsystem hat in dem Maße Geschichte, als es sich durch freigestellte Zugriffe limitiert - sei es durch bestimmte vergangene Ereignisse (die Zerstörung des Tempels, die Krönung des Kaisers durch den Papst, die Niederlage von Sedan; oder im kleineren: die Hochzeit, der Abbruch des Studiums, die erste Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, das ‚coming out‘des Homosexuellen), oder sei es durch Finalisierung der Zukunft.“(a.a.O.: S. 118) 30 4.3. Sinndimensionen Anders formuliert, Vergangenheit und Zukunft eines Systems sind Begrenzungen von Kombinationsmöglichkeiten in der Zeitdimension von Sinn mit denen Erfahrungen gesammelt und versuchsweise reproduziert werden können. (vgl. a.a.O.: S. 115) 4.3.3. Sozialdimension Im Falle der Sozialdimension ist die entsprechende Differnz die von Alter und Ego. Die Sozialdimension von Sinn greift, wenn es um das Erleben des Erlebens und Handelns von anderen Systemen geht (vgl. Luhmann, 1987, S. 110). Wenn also ein Bewusstseinssystem ein anderes Bewusstseinsssystem nicht nur als Ding–an–sich mit bestimmten Eigenschaften identifiziert, sondern ihm eigenes – nicht direkt beobachtbares – sinnhaftes Erleben und Handeln unterstellt. „Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen, als ‚alter Ego‘annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser Annahme für jede Welterfahrung und Sinnfixierung. [. . .] Jedem Sinn kann dann auch eine Verweisung ins soziale abverlangt werden. Das heißt: Man kann allen Sinn daraufhin abfragen, ob ein anderer ihn genauso erlebt wie ich oder anders.“(a.a.O.: S. 119) Anschließend an den Anfang des Kapitels „Die Situation doppelter Kontingenz“kann man sagen, dass die Sozialdimension von Sinn erst ins Spiel kommt, wenn einem anderen die Freiheit eigenen Erlebens und Handelns zugeschrieben wird. Doppelte Kontingenz entsteht erst mit der Einführung der Sozialdimension von Sinn (vgl. a.a.O.: S. 153). Ohne die Sozialdimension gibt es für das beobachtende System nur einfache Kontingenz und damit nur stark reduzierte Möglichkeiten der Weltauslegung. Luhmann: „Die Sozialdimension von Sinn ermöglicht, wenn einmal verfügbar, einen ständig mitlaufenden Vergleich dessen, was andere erleben können bzw. erleben würden und wie andere ihr Handeln ansetzen könnten.“(a.a.O.: S. 121) In dieser Hinsicht führt die Verwendung der Sozialdimension von Sinn zu einer „[. . .] eigentümlichen Reduplizierung von Auffassungsmöglichkeiten.“(a.a.O.: S. 119) Darauf werde ich später noch eingehen. Dadurch das anderen eigenes Sinnerleben zugeschrieben wird ergibt sich ein Doppelhorizont, so dass ich mir überlege was ich tun muss, damit Du tust was Du für mich tun sollst. Und diese Art Sozialität trennt sich dann von der Sachdimension, weil sie nicht an Qualitäten festgemacht werden kann, die das Du–an–sich hat (vgl. Luhmann, 1992, Band 10b, ab 24:00 min). 31 4. Eine autopoietische Sinntheorie Erwartungen können dann nicht mehr ohne weiteres an Qualitäten der Objekte festgemacht werden, weil in der Situation doppelter Kontingenz (wenn Beobachter Beobachter beobachten) eine eigene Art von Realität entsteht. Es kommt zu einer eigenen Art von Weltauslegungen, die über die wechselseitige Verdichtung von Erwartungen läuft. Und so produziert der Andere den eigenen Orientierungshorizont für Weltbeschreibungen mit. Die Orientierung an der Sozialdimension von Sinn beeinflusst die weitere Weltauslegung von Bewusseinssystemen massiv, weil die Sozialdimension auf Kommunikationssysteme verweist, die beobachtungssensibler (aber unkontrollierbarer) Teil der Umwelt von Bewusstseinssystemen sind. Die Begriffe Alter und Ego stehen in der Theorie Luhmanns dementsprechend nicht für Rollen, Personen oder ganze Menschen, sondern sie stehen – wie die Differenzen Innen / Außen und Vergangenheit / Zukunft – für Sonderhorizonte eines sinnverwendenden Systems, das sinnhafte Verweisungen aggregiert und bündelt (vgl. Luhmann, 1987, S. 121). Im Gebrauch der Sozialdimension von Sinn kann ein Beobachter nicht mehr wirklich sicher sein, das etwas Bestimmtes so und nicht anders der Fall ist, ohne sich bei anderen rückzuversichern, ob die das auch so sehen (und auch dann bleibt es fragwürdig, wie so etwas wie Objektivität entstehen kann). Ein Bewusstseinssystem, das sozusagen das Problem doppelter Kontingenz importiert, fängt sich damit eine massive Ungewissheit im Bezug auf die Koordination eigenen Verhaltens ein. Plötzlich entstehen merkwürdige Rückkopplungseffekte, die nicht vorhersagbar, aber auch nicht willkürlich entstehen. Bei weiterer wechselseitiger, geschichtsabhängiger Beobachtung kann es dann zu wiederholbaren Sequenzen kommen. Es können mehr oder weniger erwartbare Muster kondensieren, an denen wiederum alle Beteiligten weitere Erwartungen orientieren können (vgl. Luhmann, 1999a, S. 192 f). Wenn ein Bewusstseinssystem das Problem doppelter Kontingenz, durch die Verwendung der Sozialdimension von Sinn importiert, dann vergrössert sich die Basis der Möglichkeiten die ausgeschlossen werden müssen und so gewinnt das Bewusstseinssystem eine höhere Auflösung im Bezug auf anschliessende Verweisungen. Es entsteht eine feinmaschigere Verweisungsstruktur, die dann allerdings höhere Plausibilitätsanforderungen an das Medium Sinn stellt. Die jeweils aktuelle Selektion steht unter stärkerem Rechtfertigungsdruck, als z. B. in der Sachdimension. Das Bewusstsein löst dieses Problem teilweise, indem es sich an symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien orientiert. (vgl. a.a.O.: S. 316ff) Findet das Bewusstsein nun Formen der Stabilisierung von Erwartungserwartungen (vgl. a.a.O.: S. 316 ff) und kann es gleichzeitig die interne Re- 32 4.4. Fazit Produktion doppelter Kontingenz aufrecht erhalten, dann gewinnt es damit einen riesigen Möglichkeitsraum, in dem Negationen nuanciert und kontextabhängig eingesetzt werden können (müssen), um damit den eigenen Anpassungsprozess zu speisen. (vgl. Luhmann, 2005a, S. 46) Wie beunruhigend ein derart erhöhtes Negationspotential sein kann beschreibt Dirk Baecker in seinem Buch „wozu Kultur? “wunderbar an einem kleinen Gedankenexperiment. Es wird eine Situation beschrieben, die das Grundproblem der Sozialdimension schön auf den Punkt bringt. Das Beispiel zeigt sehr deutlich die Unruhe, die mit der Sozialdiemsion von Sinn im Bewusstsein provoziert wird; ob man will oder nicht. „Man muss sich vorstellen: Ein Gläubiger kniet nieder und beginnt ein Gebet. Ein Intellektueller (oder Fremder) stellt sich neben ihn und sagt: ‚Wie interessant! Weißt Du, dass andere Völker an ganz andere Götter glauben¿Wie kann der Gläubige, der an seinen Gott glaubt, darauf reagieren? Natürlich lehnt er die Zumutung des Vergleichs ab, hält den Intellektuellen für einen Neunmalklugen und die anderen Völker für ungläubig. Aber in Wahrheit ist er bereits erschüttert. In Wahrheit hat ihn bereits die Unruhe erfasst. Wie kann er glauben, wenn andere anders glauben? Was kann er wissen, wenn andere anderes wissen? Wer ist sein Gott, wenn andere ihn nicht kennen? Wie weit reicht die Macht seines Gottes, wenn andere ungestraft ihren Götzen huldigen dürfen?“(Baecker, 2001, S. 48) Mit der Sozialdimension wird praktisch der Zweifel im System programmiert. Es läuft dann ständig der Vergleich mit, das andere anders sehen, und das erweitert den Horizont eigenen Erlebens. Der entstehende Zweifel ist erst einmal nicht schädlich. Im Gegenteil, ich gehe davon aus, dass mit der Sozialdimension von Sinn, die Freiheit zu entscheiden, bzw. das menschliche Bewusstsein erst provoziert, bzw. evoziert wird (vgl. Foerster, 1993a, S. 69 ff). 4.4. Fazit Autopoietische Systeme erzeugen also Information aus dem Verlauf ihrer Operationen. Die operative Differenz von Aktualität und Möglichkeit erzeugt immer einen der Aktualität gegenüberstehenden virtuellen Horizont von Möglichkeiten. Und durch die „[. . .] Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung als ein sich selbst propellierender (durch Systeme konditionierbarer) Prozess“(Luhmann, 1987, S. 100) kann das System die Differenz von Aktualität 33 4. Eine autopoietische Sinntheorie und Möglichkeit nutzen, um weitere, wiederum darauf bezugnehmende Differenzen (Sinndimensionen) im Nacheinander zu testen, intern auf Konsistenz zu prüfen und für sich – in der Zeit – zu ordnen. (vgl. a.a.O.: S. 100) 34 5. Das Besondere an der Sozialdimension von Sinn Nun ist dieser Mechanismus der Verschränkung operativer Differenzen zur Informationserzeugung als Ganzes schon ein spektakuläres Theoriedesign. Was mich aber – auch im weiteren – in besonderer Weise interessiert, das ist die Sozialdimension von Sinn. Aus dieser Idee entwickeln sich meiner Ansicht nach die offensichtlichsten ethischen Implikationen der Theorie, die ich zweiten Teil weiter herausarbeiten werde. Wie ich bereits im Kapitel „Die Situation doppelte Kontingenz“angedeutet habe, gehen wir heute davon aus, dass der maßgebende Evolutionsfaktor des Menschen eben der Mensch ist. Die Dilemmata der Situation doppelter Kontingenz provozieren sozusagen Selbst- und Fremdreflexion im Sinne der Sozialdimension. Die Sozialdimension von Sinn ist wiederum Voraussetzung dafür, die Situation doppelter Kontingenz bearbeiten zu können. Und das ist nicht etwa ein Fehler meiner Argumentation, sondern diese Wechselseitigkeit ist in der Theorie so angelegt (vgl. Luhmann, 1999a). Die Erschließung der Sozialdimension und die Informationspotenz der Situation doppelter Kontingenz kann man als ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis verstehen. Wir brauchen beides, um psychische und soziale Ordnung zu erklären, und das eine ist jeweils Ursache des anderen. Auch hier kann man also von einem re-produktiven Zusammenhang sprechen. Das ist zumindest ein interessanter Punkt in der Theorie, denn die Theorie geht davon aus, dass menschliches Bewusstsein erst über Kommunikation domestiziert wird, (vgl. Maturana & Varela, 1984, S. 265) und Kommunikation ist ohne die Erschließung der Sozialdimension von Sinn und ohne die Situation doppelter Kontingenz nicht denkbar. (vgl. Luhmann, 1993, Band 4b, ab 23:00 min) Die Informationspotenz der Sozialdimension von Sinn und deren Bedeutung für den Menschen, scheint sich auch empirisch zu bestätigen. Die Entwicklungspsychologie und die Sozialisationsforschung ist sich in großen Teilen darüber einig, dass die Entstehung der kindlichen Denk– und Interaktionsfähigkeiten als ein Prozess gedacht werden muss, der sich über Perspektivübernahmen vollzieht. Hier stellt man fest, dass der Erwerb von kognitiven Fähigkeiten in der kindlichen Entwicklung in enger Beziehung steht mit der Ausbildung der ersten Kommunikationsbeziehungen (vgl. Honneth, 2005, S. 46 f). Axel Honneth schreibt dazu: 35 5. Das Besondere an der Sozialdimension von Sinn „Das Kind lernt, sich auf eine objektive Welt konstanter Gegenstände zu beziehen, indem es aus der Perspektive einer zweiten Person zu einer allmählichen Dezentrierung seiner eigenen, zunächst egozentrischen Perspektive gelangt.“(Honneth, 2005, S. 46 f) Schon bei Kant findet man die Figur, dass wir erst durch die Anderen unsere eigene Identität hinterfragen können und dann gemeinsam unsere Urteilskraft kultivieren können (vgl. Roos, 2004, ab 01:08:00 min). Und das gilt auch, und in besonderem Maße, für die Theorie autopoietischer Systeme. Hier geht es gar nicht anders (vgl. Roos, 2004, ab 01:08:00 min). Bemerkenswerte Hinweise darauf kann man bei Luhmann in dem Aufsatz „Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen“finden (vgl. Luhmann, 2005a, S. 41-57) Dort schreibt er: „In einer simpel positiv gegebenen Erfahrungswirklichkeit verstünde sich die Kohärenz des Vorhandenen aus der Sukzession des Erlebens von selbst.“(a.a.O.: S. 45) So wird erst mit der Einführung von unterschiedlichen Perspektiven, von verschieden ansetzbaren Negationen, Kohärenz problematisch (vgl. a.a.O.: S. 45). „Kohärenzprobleme sind somit Folgeprobleme des Gebrauchs von Negationen, sind Kosten ihrer Vorteilhaftigkeit, und sie müssen daher durch Vorschriften über den Gebrauch von Negationen geregelt werden.“(a.a.O.) Der springende Punkt ist in diesem Zusammenhang, das eigene Bewusstseinszustände nicht ohne weiteres negiert werden können. Dazu Luhmann: „Zumindest gilt es als Normalitätsbedingung menschlichen weiterlebens, dass man nicht in Zweifel zieht, dass man erlebt, was man erlebt. Man hat deshalb nicht die Möglichkeit, die eigenen Erwartungen, Erlebnisse, Intentionen, Werte zu negieren und beizubehalten. Man kann sich selbst kein falsches (also auch kein wahres! ) Erleben zuschreiben – sondern nur anderen. Nur im Bezug auf das Erleben anderer kann man Dauernegationen durchhalten, und in Bezug auf das eigene Erleben allenfalls punktuell mit Hilfe des Kunstgriffes, sich selbst zu einem falsch erlebenden Anderen zu machen. Der Einzelne kann zwar lernen, aber Aufklärung ist eine Operation, die man am jeweils anderen durchführt.“(a.a.O.: S. 46) Und wie Luhmann dann weiter feststellt setzt die Negierbarkeit des Anderen eine gemeinsame Vorstellung von Möglichkeiten voraus (vgl. a.a.O.: S. 47). 36 5.1. Fazit Wenn man so will braucht es einen kleinsten gemeinsamen Nenner, um überhaupt Kommunikation erzeugen zu können. Und das sind bei Luhmann nicht etwa Werte oder Ethiken des richtigen Handelns, sondern die Gemeinsamkeit von Akteuren ist eine besondere Verwendung der Sozialdimension von Sinn. Die lebenswichtige Frage der Verwendung ist dann: Wie orientiere ich eigenes Erleben und Handeln an Fremdem Erleben und Handeln? Und in dieser Problemstellung greifen in der Theorie Luhmanns die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. 5.1. Fazit Die eigentümliche Reduplizierung der Perspektiven und das daran gekoppelte „zurechtstutzen“dieser Potentialität (in einer jeweiligen Perspektive) bringt das Bewusstsein in einen gewissen Abstand zu den eigenen Wahrnehmungen. Es kann sich selber im Verhältnis zum anderen, als jemanden sehen, der sich auf unbestimmte Weise verändern wird (so wie der Andere). Ein Bewusstseinssystem gewinnt dadurch Reflexionsfähigkeit, dass es sich durch die Augen des Anderen zu sehen lernt; als jemand der auch anders kann als er tut (vgl. Foerster, 1993b, S. 350-355). Das Bewusstsein gewinnt mit der Sozialdimension von Sinn also einen reflexiven Abstand zu sich selbst. Formelhaft kann man die Situation so darstellen: Alter (Ego – Alter) — Ego (Alter – Ego). Jedes System ist Ausgangspunkt für eigene Beobachtungen und beobachtetes Objekt des Anderen (vgl. Luhmann, 1999b, S. 236 f). Wir haben jetzt also zwei autopoietische sinnverwendende Systeme, die vor einem Divergenzproblem ihrer Konstruktionen stehen. (vgl. a.a.O.: S. 236 f) Die Überbrückung dieser Divergenz zwischen Alter und Ego läuft in der Theorie über Symbole und im besonderen Falle über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (vgl. a.a.O.: S. 236 f). 37 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Symbolisch soll hier heißen, dass ein Sinngehalt sich eignet zwei Verschiedene Akteure zu koordinieren, d. h. beide auf dasselbe zu beziehen. Schon der klassische Sinn des Wortes Symbol hat sich immer auf die Einheit von etwas Getrenntem bezogen (vgl. Luhmann, 1993, Band 6a, ab 29:00 min). Hier überbrückt ein Symbol die Differenz von Alter und Ego in der Sozialdimension eines Bewusstseinssystems. Das heißt, die Sozialdimension von Sinn gibt einen nicht–beliebigen Rahmen vor in dem gemeinsam so lange gehandelt und erlebt werden kann bis konstante Merkmale der Beziehung von Alter und Ego wahrgenommen werden; die dann nicht mehr wegvariiert werden können, ohne dabei die Situation doppelter Kontingenz aufzulösen. (vgl. a.a.O.: Band 2a, ab 22:00 min) Aber symbolisch generalisiert meint hier noch mehr, nämlich das sich symbolische Konfigurationen für verschiedene Situationen eignen und deshalb unterschiedliche Sachverhalte übergreifen (vgl. a.a.O.: Band 6a, ab 29:00 min). In Luhmanns Worten: „[. . .] symbolisch generalisiert bedeutet [. . .], dass sich in der Ausdiffernzierung und im komplex werden von Handlungssystemen immer diese beiden Momente zusammen ergeben. Einerseits die Koordination von Erwartungen und Handlungsbereitschaften (Symbolisierung) und andererseits die Fixierung von Sinn nicht nur für eine Situation [Generalisierung].“(a.a.O.: Band 6a, ab 30:00 min) 6.1. Die Wahrscheinlichkeit des Neins Das Ausgangsproblem für die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ist, dass Anschlussfähigkeit von wechselseitigem Verhalten abgesichert werden muss. Denn wenn nicht gewährleistet ist, dass der eine die Selektion des anderen als Prämisse eigenen Verhaltens übernimmt, dann würden sich die beteiligten Systeme auseinanderselegieren (vgl. Luhmann, 2001b, S. 39). Das Kommunikationssystem würde zerfallen. Das wird besonders zum Problem, wenn die Differenzierung der Systeme zunimmt. Und auf der Ebene von Bewusstsein und sprachlicher Kommunikation haben wir es längst mit einer extrem hohen Differenzierung der Systeme 38 6.1. Die Wahrscheinlichkeit des Neins zu tun. Das macht sich z. B. immer wieder dadurch bemerkbar, dass alle sprachliche Kommunikation einen Ja / Nein–Code hat, d. h. auf alles was man versteht oder missversteht kann man mit Annahme oder Ablehnung reagieren (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 07:10 min). Dabei ist so erstaunlich, dass die Gesellschaft ja gerade darauf baut, das eben nicht jede Kommunikation gleichwahrscheinlich abgelehnt oder angenommen wird. Es gibt zwar psychologische und neurophysiologische Untersuchungen, die zeigen, dass man zum verstehen von Nein etwas mehr Zeit benötigt. Das Bewusstsein scheint offenbar stärker beansprucht, wenn es ein Nein zu verkraften hat. (vgl. Luhmann, 2005a, S. 41) Aber dieser Unterschied wird in der Sprache überspielt. Verstehen hängt nicht davon ab, ob es Ja– oder Nein– Sätze sind die mitgeteilt werden. Von der Sprache her gesehen, ist ein Nein ebenso verständlich wie ein Ja. (vgl. a.a.O.) Zunächst kann man sich das aus der Perspektive der Kommunikation – auch hier – als Gleichverteilungsmodell vorstellen, so dass niemand weiß, ob auf eine Aufforderung, einen Wunsch, eine Bitte oder eine Mitteilung mit Ja oder mit Nein reagiert wird. Aus der Perspektive eines Bewusstseinssystems ist das natürlich nicht der Fall. In der Situation einer mündlichen Interaktion kontrolliert ein Bewusstsein sich sozusagen selbst vorgreifend schon an der Annahmewahrscheinlichkeit von Mitteilungen (vgl. Luhmann, 1993, Band 6a, ab 39:00 min). Oder es ist bekannt was abgelehnt wird und es wird trotzdem gesagt, um den anderen zu ärgern, oder sich als Individuum zu behaupten. (vgl. a.a.O.) Es bleibt natürlich nicht völlig unerwartet, gleichverteilt oder entropisch wie reagiert wird. Das muss man für Bewusstseinssysteme immer voraussetzen. Aber trotzdem kann man sagen, dass bei stärkerer Ausdifferenzierung des Kommunikationssystems, also bei einer größeren Bandbreite möglicher verschiedenartiger Mitteilungen, die Wahrscheinlichkeit eines Neins zunimmt. (vgl. a.a.O.) Eine Koordination funktioniert dann nicht mehr so ohne weiteres spontan und aufgrund eines gemeinsamen Wissens darüber was in einer Situation angebracht ist und was nicht. Natürlich gibt es diesen Bezug auf ein gemeinsames Wissen immer auch noch. Und soweit Interaktion funktioniert, muss auch das viable Unterstellen einer Ebene der Gleichheit, des gleichen Wissens, gleicher Motive usw. funktionieren. Aber je elaborierter, bzw. voraussetzungsreicher Mitteilungen zur Verfügung stehen, desto unwahrscheinlicher ist ein Ja und desto wahrscheinlicher ist ein Nein im Bezug auf diese Mitteilungen. (vgl. a.a.O.) Das Ausgangsproblem für eine Bildung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ist also eine evolutionäre Lage, in der durch Komplexitäts- 39 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien zuwachs, z. B. durch Schrift, die Wahrscheinlichkeit eines Neins zunimmt. Es müssen dann gewissermaßen Gegenmittel erfunden werden. Irgendetwas das ein wahrscheinliches Nein in ein Ja transformiert. Und das ist der Platz an dem Luhmann seine Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien aufbaut. (vgl. Luhmann, 1993, Band 6a, ab 44:00 min) 6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln Das zentrale Folgeproblem der Ausdifferenzierung von Kommunikationssystemen, bzw. des steigenden Negationspotentials in Kommunikationen besteht in der Notwendigkeit der Zurechnung von Selektionsleistungen (vgl. Luhmann, 2001b, S. 40) „In dem Maße als (und in den Themenbereichen, in denen) Kontingenz zunimmt, wird es notwendig, Selektionsleistungen zu verorten; man muß zumindest Adressen und Einwirkungspunkte ausfindig machen können, wenn schon nicht feststeht, was geschehen ist oder wird“(a.a.O.) Ein sinnverwendendes Bewusstseinssystem kann hier in zweifachem Sinne Zurechnungsschwerpunkte wählen, nämlich im eigenen oder fremden System, oder in der eigenen oder fremden Umwelt. (vgl. a.a.O.: S. 41) Diesbezüglich schlägt Luhmann vor: „Um Kurzbezeichnungen verfügbar zu haben, sollen Selektionsprozesse, die in diesem Sinne auf Systeme zugerechnet werden, handeln genannt werden und Selektionsprozesse, die auf Umwelten zugerechnet werden, erleben.“(a.a.O.) Eine solche Konfiguration von Zurechnungsmöglichkeiten kann man in der folgenden Kreuztabelle zusammenfassen. (vgl. a.a.O.) Egos Erleben Alters Erleben Alters Handeln 40 Egos Handeln Ae → E e Ae → E h (Wahrheit / Wertbe- (Liebe) ziehungen) Ah → E e Ah → E h (Eigentum / Geld / (Macht / Recht) Kunst) 6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln So kann man mit der Theorie unterscheiden, ob sich jemand an einer Kommunikation als Erlebender, als jemand der eine fremde Selektion nur übernimmt, oder ob sich jemand als Handelnder, als jemand der die Selektion selbst vollzieht, beteiligt. Und genau das ist dann die immer mitlaufende Frage: „Bringt sich jemand als Handelnder ein? “, also als jemand der Verantwortlich ist und dementsprechend zur Verantwortung gezogen werden kann. Oder teilt er mit, dass seine Entscheidung Konsequenz der Situation ist? Es schwingt immer diese zwei–Seiten–Struktur mit, also die Doppelung der Zurechnung nach Alter / Ego und handeln / erleben. (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 17:57 min) Wenn man dieses Schema anwendet kann man eine Klassifikation von Konstellationen entwickeln, die genau das hervorbringen was Luhmann mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bezeichnet. Und das ist so etwas wie Liebe, Geld, Wahrheit und Macht (siehe Kreuztabelle). 6.2.1. Kommunikationsmedien und Mediencodes Hier ist wichtig, das die Konstellationen von Zurechnungsmöglichkeiten (Kreuztabelle) nicht mit den Kommunikationsmedien verwechselt werden, die diese bearbeiten. Die einzelnen Medien ( Liebe, Geld, Wahrheit, Macht usw.)stehen nicht exklusiv für eine Konstellation in der Kreuztabelle. (Luhmann, 2001b) Bei den Medien geht es um mögliche generalisierbare Symbole, die auf bestimmte Konstellationen spezialisiert sind, und die die Divergenz von Alter und Ego überbrücken können (vgl. Luhmann, 1999b, S. 236f ). Die Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Annahme, bzw. Ablehnung von Kommunikation nicht mehr diffus (z. B. moralisch) über den einzelnen Kontext regeln, sondern mit den Medien wird dem Ja / Nein– Code der Sprache, jeweils ein weiterer binären Code zur Seite gestellt, z. B. geliebt–werden / nicht–geliebt–werden, Zahlung / nicht–Zahlung, Wahrheit / Unwahrheit, Recht / Unrecht usw. (vgl. Krause, 2001, S. 43 f) Und durch die Zuordnung von Programmen als Entscheidungsregeln für die Annahme und Ablehnung bestimmter Codewerte, entstehen dann funktionsspezifische Kommunikationssysteme. Diese werden dann in ihrer Entscheidungsfindung zunehmend unabhängig von anderen Mediencodes und Programmen. (Luhmann, 2001b) Die Zumutung für Bewusstseinssysteme ist dann, die eigenen Operationen, den eigenen Sinn, kontextabhängig auf völlig heterogene Codes einzustellen. Um die Anschlussfähigkeit eigenen Verhaltens wahrscheinlich zu machen, muss ein Bewusstsein, je nach Kontext, verschiedene Codes und Programme unterscheiden können. Das ist sozusagen Bedingung um sich selbst vorgreifen 41 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien an der Annahmewahrscheinlichkeit von Äußerungen kontrollieren zu können (vgl. Luhmann, 1993, Band 6a, ab 39:00 min). Die wechselseitige Konditionierung von Bewusstseinssystemen läuft also, in dieser Theorie, nicht über ein Supermedium mit einem Supercode Ja / Nein, sondern die Annahme ist, dass sich in der Evolution verschiedene konstellationsbedingte Medien und dazugehörige Codes und Programme entwickelt haben. (Luhmann, 2001b) Jede Konstellation der Kreuztabelle werde ich nun kurz vorstellen. Nicht um eine ausreichende Darstellung der Zurechnungsformen, bzw. der Medien zu erreichen, das ist hier gar nicht möglich, sondern um ein Gefühl für die einzelnen Medien, Codes und Programme zu vermitteln, die im letzten Kapitel über Moral relevant werden. 6.2.2. Alter erlebt und Ego handelt In dieser Konstellation findet z. B. die passionierte Liebe ihre Symbole. In diesem Fall würde der Code lauten lieben / nicht–lieben und die Selbstprogrammierung von Ego würde darauf hinauslaufen die Maxime seines Handelns so zu wählen, das Ego die Erlebnisselektion von Alter handelnd bestätigt (vgl. Luhmann, 2001b, S. 47). Luhmann zeigt in seinem Buch „Liebe als Passion“, das die Liebessemantik, spätestens seit dem 17. Jahrhundert, durch diese Konstellation getragen wird (vgl. Luhmann, 1982). Es geht hier darum, dass das Erleben des Anderen durch Handlung validiert wird, das derjenige der liebt, den anderen in allen seinen Interessen mit Handlungen stützt. Der Andere braucht das gar nicht zu verlangen, das wäre schon ein Problem. Der Geliebte muss sozusagen vom Liebenden erratbar sein. Wenn man liebt muss man zuvorkommend sein. Deswegen spielen auch Geschenke als Symbole eine gewisse Rolle, insbesondere durch die damit gezeigte Fähigkeit des liebenden Geschenke zu machen, die dem Geliebten zeigen, das der Liebende weiß was der Geliebte gern hat (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 24:34 min). Es geht darum, das man nicht einfach nur hinnimmt und sagt, der andere ist eben so merkwürdig, sie hat eben diese Launen von Zeit zu Zeit, und das muss man nur abwarten (das wäre schon wieder eine andere Konstellation, nämlich Ego erlebt und Alter handelt). Sondern man muss alles was vom anderen kommt handelnd bestätigen. Das symbolisiert – nach Luhmann – die passionierte Liebe. (vgl. a.a.O.) In dieser Konstellationen, das Ego handelt und Alter erlebt, entstehen aber nicht nur Symbole der passionierten Liebe, sondern auch Symbole der Freundschaft, Intimbeziehung, Familie usw., mit eigenen Codes und Programmen. (vgl. Krause, 2001, S. 44) 42 6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln 6.2.3. Alter handelt und Ego erlebt In der umgekehrten Zurechnungskonstellation, dass Alter handelt und Ego genau diese Reduktion, bzw. Selektionsleistung als Erleben akzeptiert, stellt sich ein völlig anderes Asymmetrieproblem. Statt des Ausrichtens von Handlungen auf das Erleben eines Anderen hin, geht es hier um das Hinnehmen der kontingenten Wahl eines Anderen (vgl. Luhmann, 2001b, S. 48 f). Das ist zunächst ein ganz alltäglicher Fall. Man sieht, jemand geht spazieren. Warum nicht? Nicht alles Handeln Anderer löst eigene Betroffenheit aus. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 347) Diese Konstellation, das Alter selektiv handelt und Ego dessen Selektion bloß erlebt wird z. B. dann zum Problem, wenn Alters Handeln im Zugriff auf knappe Güter besteht, an denen Ego ein eigenes Interesse hat. Wenn Knappheit ins Spiel kommt entsteht ein sozialer Regelungsbedarf, dem heute im wesentlichen durch das Medium Geld Rechnung getragen wird. (vgl. a.a.O.: S. 251 f) Was hier besonders interessant ist, das ist die Tendenz des Mediums Ego dazu zu motivieren nicht zu intervenieren, wenn Alter auf knappe Güter zugreift. Das gilt im besonderen, wenn Ego gar nicht direkt an einem Geschäft beteiligt ist (vgl. a.a.O.: S. 348, S. 350). Alter kann zugreifen und Ego belässt es beim erleben, „nur“weil bezahlt wird. In diesem Sinne übersetzt Geld den gewaltsamen Kampf um knappe Ressourcen in eine Tauschbeziehung, die mit höherer sozialer Komplexität kompatibel ist (vgl. a.a.O.: S. 252 f). Die Interessen, die in einer Tauschbeziehung verschieden sind und verschieden bleiben, werden mit der Annahme einer Wertäquivalenz überbrückt. (vgl. a.a.O.: S. 258 f) „Diese [Annahme] ist das ad hoc fungierende Symbol, die zur Konvergenz gebrachte Absicht zu tauschen. Geld ist, in seiner Tauschfunktion gesehen, eine Generalisierung dieses Symbols, eine Kondensierung der Wertäquivalenz zur Wiederverwendung in anderen Tauschzusammenhängen.“(a.a.O.) Die Knappheit von Ressourcen wird so in eine andere Form gebracht, nämlich in die Form der Knappheit des Geldes. Geld kann so als Mittel für den generalisierten Zugriff auf knappe Ressourcen beobachtet werden und es motiviert seine Verwendung genau dadurch; in dem es ein Höchstmaß an Verwendungsfreiheit in unterschiedlichen sozialen Kontexten bietet (Generalisierung) (vgl. a.a.O.: S. 252, S. 246 f). Wenn man das Ausgangsproblem der Kommunikationsmedien berücksichtigt, in der Kommunikation wahrscheinliche Neins in Jas zu transformieren, 43 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien dann ist der Erfolg des Mediums Geld in der Konstellation – Alter handelt und Ego erlebt – offensichtlich. Auch wenn es im Falle des Mediums Geld meist um einen Verzicht auf Intervention geht und nicht um das befriedigende Erleben des Handels von Alter, so scheint Geld heute doch das erfolgreichste Medium in dieser Konstellation zu sein. Außerdem entstehen auch in dieser Konstellation andere Medien, mit eigenen Codes und Programmen, wie z. B. Kunst, Erziehung, usw. (vgl. Krause, 2001, S. 44) 6.2.4. Alter erlebt und Ego erlebt In der Konstellation das Alters erleben zu Egos erleben wird, geht es heute bei Mitteilungen im wesentlichen um Symbole der Wahrheit. Für diesen Fall lautet der Code Wahrheit / Unwahrheit und wird bevorzugt in der Wissenschaft bearbeitet. Dort findet er seine Programmierung über eine elaborierte Methodenlehre (vgl. Krause, 2001, S. 43). Alter orientiert dann seine Mitteilungen an allgemein anerkannten Methoden und kann so Ego die Annahme auch sehr unwahrscheinlcher Selektionsofferten abnötigen. Also bei Wahrheit würde es – wenn man zunächst im präkonstruktivistischen wissenschaftlichen Verständnis bleibt – immer um die Frage gehen: „Ist etwas der Fall, oder ist etwas nicht der Fall?“Und das wird über Erleben also über externale Selektionszuschreibungen im System entschieden. (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 24:34 min) „Natürlich kommt keine Wahrheit zustande, wenn man nicht forscht und da sind wieder Handlungen notwendig, aber diese Handlungen dürfen nicht auf das Ergebnis abfärben. Ein Experiment muss so gemacht werden, das es wiederholbar ist. Und ein Theorievorschlag muss so formuliert werden, das man davon ausgeht jeder würde dieselben Dinge sehen, wenn er dieselben Interessen hätte, wenn er die selben Thematiken aufgreifen würde. Das Neutralisieren der Handlungkomponente ist ein klassisches methodologisches Postulat und lässt Erleben übrig und zwar auf beiden Seiten. Man kann natürlich über Handlungen forschen, das ist eine andere Frage, dann wird Handlung zum Thema.“(a.a.O.) Wie ich also eingangs sagte wird die Kommunikation von Wahrheit durch die Konstellation bestimmt, das Alter sein Erleben mitteilt und Ego daraufhin sein erleben anpasst, auch wenn das mit der Tradition von Ego bricht. (vgl. a.a.O.) 44 6.2. Die Zurechnung von Erleben und Handeln „Wenn methodisch korrekt geforscht worden ist, dann ist das Ergebnis anzuerkennen. Auch wenn es noch so überraschend, unglaubwürdig und vom Alltagsverständnis her unplausibel ist. Die Welt ist ein gekrümmter Raum. Wie? Das kann man sich nicht mal vorstellen. Und solche Vorstellungen werden dann aber wissenschaftlich validiert.“(a.a.O.: Band 6b, ab 13:50 min) Es geht hier also darum Abweichungen vom Üblichen, Abweichungen vom normal Verständlichen, plausibel zu machen. Überraschende und fantastische Konstrukte können angenommen werden (trotzdem sie dem zunächst Erwarteten widersprechen), wenn man Beweise führen kann, und wenn man sein eigenes Erleben nachvollziehbar mitteilen kann. (vgl. a.a.O.) Die Codes und Programme wissenschaftlicher Wahrheit, machen das Medium heute mit Abstand zum erfolgreichsten Medium in der Konstellation, in der das mitgeteilte Erleben von Ego zu Alters Erleben werden kann. (Luhmann, 2001b) 6.2.5. Alter handelt und Ego handelt Und schließlich gibt es die Konstellation in der Alter handelt und Ego daran anschließend handelt. Auch hier ist der Alltag voll von solchen Situationen in denen Menschen sich so koordinieren. Z. B. Alter reicht die Nudeln rüber und Ego lässt diese nicht fallen, sondern nimmt sie tatsächlich an. Handlungskoordination ist derart selbstverständlich im Alltag verankert, dass wir nicht groß darüber nachdenken müssen. (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 33:26 min) Problematisch wird diese Konstellation, wenn eine Willkürkomponente ins Spiel kommt. Wenn die Handlung von Alter eine für Ego nicht mehr direkt selbstverständliche Handlung einfordert. In diesem Moment kann sich ein Medium entwickeln, das mit dem Code Drohung / Sanktion arbeitet und so etwas wie Normen und Gesetze konditional programmiert. (Luhmann, 1975) Die auf beiden Seiten immer vorhandene Freiheit auch anders zu handeln, wird dadurch eingeschränkt, das Alter mit negativen Konsequenzen drohen kann. Alter kann die Übernahme einer Selektionsofferte wahrscheinlich machen, indem er eine negativ bewertete Alternative konstruiert, die Alter und Ego vermeiden möchten, die Ego aber dringender vermeiden möchte. (vgl. Luhmann, 2001b, S. 50) Und alle großen, auf Macht basierenden Organisationen nehmen sich ja die Freiheit nicht einfach „Naturzustände“durchzureflektieren, sondern hier 45 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wird mehr oder weniger kontraintuitiv entschieden und auch durchgesetzt (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 33:26 min). Und zwar schlicht dadurch, das Alter drohen kann. Er kann z. B. mit Gewalt drohen, oder damit drohen Informationen bekannt zu geben, die für Ego peinlich sind. Es kann z. B. auch die Drohung sein Ego aus einer Organisation zu entlassen. Solche Möglichkeiten zu drohen entwickeln sich abhängig von Kommunikationssystemen und können als Medium institutionalisiert werden. In diesem Sinne kann das Medium Macht die Wahrscheinlichkeit erhöhen, das Ego so handelt, das es zu Alters Handlungen passt. (vgl. a.a.O.) Die Grenzen der Macht liegen mithin dort, wo Ego beginnt die Vermeidungsalternative zu bevorzugen, „[. . .]und selbst die Macht in Anspruch nimmt, Alter zum Verzicht oder zur Verhängung der Sanktion zu zwingen“(Luhmann, 1999a, S. 356) 6.3. Anschlussselektivität im System Die Konstellationen, die in der Kreuztabelle zum Vorschein kommen, bezeichnen die Nichtbeliebigkeit der Medien. Und „[. . .]insofern ist der evolutionäre Spielraum für Medienentwicklung eingeschränkt im Sinne einer [. . .] strukturellen Limitation des Möglichen.“(Luhmann, 2001b, S. 44) So wie ich die Theorie verstehe, können sich Bewusstseinssysteme überhaupt nur sinnvoll zu einander in Beziehung setzten und eigene Erwartungen aufbauen, weil genau diese Nichtbeliebigkeit der Konstellationen von Alter und Ego so etwas wie Mediencodes und Programme ermöglichen. Im Wechselspiel von Alter und Ego und Codes und Programmen bilden sich dann in der Evolution Redundanzmuster aus, an denen dann weitere Kommunikation orientiert werden kann (vgl. Luhmann, 1999a, S. 73). Damit erfüllen die Kommuniationsmedien die Funktion für Anschlussselektivität in der Interaktion zwischen zwei autopoietischen Systemen zu sorgen (vgl. a.a.O.: S. 39). Die Wichtigkeit dieser Funktion für den Menschen kann man nicht hoch genug bewerten. „Ohne sie [die Anschlussselektivität] könnte die Kontingenz des Erlebens und Handelns nicht nennenswert gesteigert werden. Die an der Kommunikation Beteiligten würden sich auseinanderselegieren, wäre nicht gewährleistet, dass der eine die Selektionen des anderen als Prämissen eigenen Verhaltens übernimmt. Nur unter diesen beiden Voraussetzungen hoher Kontingenz der Selektionen und ausreichender Nichtbeliebigkeit in den Relationen zwischen 46 6.4. Gesellschaftliche Differenzierung ihnen können komplexe (soziale) Systeme entstehen, die strukturell offen lassen und doch synchronisieren können, wie man sich im einzelnen Verhält.“(a.a.O.) Die Anschlussselektivität von Kommunikation wird, wenn sie medienvermittelt ist, immer durch die Bearbeitung der jeweiligen Codes und Programme geleitet. Mit anderen Worten, die Selbstkonditionierung der Gesellschaft läuft über Mediencodes und Programme. (Luhmann, 1999a) Nun kommen diese Mediencodes und ihre Programme natürlich immer wieder und oft in seltsamer Kombination vor. Gerade im Alltag geht es meist kunterbunt zu. Wenige – für sich gesehen – oft einfache Codes und Programme erzeugen komplexe Kommunikationssysteme, mit ihrer jeweils eigenen (nichtlinearen) Dynamik, die die Änderungsbereitschaft und Ambiguitätstoleranz der beteiligten Bewusstseinssysteme oft empfindlich provozieren. Bewusstseinssysteme sind in der Gesellschaft dauernd mit wechselnden Codes und Programmen (über-) beschäftigt. Aber sie gewinnen dadurch nicht nur die Vorteile funktional differenzierter sozialer Ordnung, sondern sie können auch ihre eigenen Wahrnehmungen am erweiterten Sinnangebot von wechselnden Programmen orientieren und sich inspirieren lassen. Entscheidend ist, dass sich mit zunehmender Generalisierung der Medien eigenständige, voneinander unabhängige und nicht mehr ineinander überführbare Codes und Programme entwickelt haben. Gesellschaftsgeschichtlich war das nicht immer so offensichtlich wie heute. Die Soziologie unterscheidet z. B. in diesem Zusammenhang stratifikatorische und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung. (a.a.O.) 6.4. Gesellschaftliche Differenzierung In der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft war die erwartungsleitende Idee, das die Gesellschaft als eine Einheit betrachtet werden kann, die über eine Spitze zentral gesteuert werden sollte. Das lag nahe, zumal bei einem Führer dem Gottähnlichkeit unterstellt wurde (z. B. dem Sonnenkönig oder dem Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 678 ff) Mit anderen Worten, die Illusion war, dass eine einheitliche Integration der Gesellschaft über einen zentralen, perfekt rationalen „Inquisitor“sinnvoll ist. Der Wunsch nach einem starken und nur rational genügend begabten Führer stammt sozusagen aus dieser Phase der Gesellschaftsentwicklung. Diese ging dann mit Beginn des 19. Jahrhunderts in eine Phase der funktionalen Differenzierung über (vgl. a.a.O.: S. 743 ff). Mit zunehmender funktionaler 47 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Differenzierung wurde dann die Vorstellung, dass eine zentrale Führungsgestalt alle gesellschaftlichen Prozesse ordnen kann langsam unplausibel. Die abstrahierte bürgerliche Version war daraufhin die Vorstellung, dass es eine Art Supercode gebe, der Werte hervorbringt, die alle verbinden und die – wenn nur richtig angewandt – ideale Harmonie erzeugen würden (vgl. a.a.O.: S. 777 f). Aber auch diese Annahme wird in der modernen Gesellschaft zunehmend unpraktisch. In relativ isolierten kleinen Gruppen kann die Idee einer zentralen Führungsperson oder einer wertegeleiteten Hierarchie auch eher nützlich als schädlich sein. Aber im Großen und Ganzen wird durch eine solche Idee innovative Differenzierung in der Gesellschaft unwahrscheinlich gemacht. (vgl. a.a.O.: S. 743 ff) Die moderne funktional differenzierte Gesellschaft zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie ihre Kommunikationen über verschiedene Kommunikationsmedien gleichzeitig ordnet. Die Annahme und Ablehnung von Kommunikationen kann schon lange nicht mehr über einen Supercode aufgefangen werden. (vgl. a.a.O.) Die funktionsspezifische Anwendung von verschiedenen Kommunikationsmedien in der Gesellschaft (gleichzeitig) erzeugt zusätzliche Möglichkeiten der Kopplung von Kommunikationssystemen und Bewusstseinssystemen, von denen wir schon längst in hohem Maße Abhängig sind (vgl. Luhmann, 1999a). Wir können nicht einfach auf heterogene, gleichzeitig operierende Medien (z. B. auf Geld, Macht, Liebe oder Wahrheit) in der Gesellschaft verzichten, ohne damit eine zentrale Instanz zu implizieren, die dann wieder in Anspruch nehmen müsste, alle Kommunikationen mit eigenem Code nach Annahme und Ablehnung zu sortieren. So hat auch die Idee die Welt nach perfekten Werten zu ordnen immer die Tendenz zum Totalitären. Also auch in der bürgerlichen Version des perfekten Mediums gibt es diese totalitäre Tendenz ein eindeutiges Urteil letztlich erzwingen zu müssen. Das Problem dabei ist heute nur, dass ein Komplexitätsgrad der Gesellschaft erreicht ist, bei dem kein einzelnes System mehr die kognitive Kapazität hat diese Sortier– und Verbreitungsfunktion zu leisten, ohne das nicht große Bereiche sinnvoller und mittlerweile anpassungsnotwendiger Programme für Entscheidungsregeln wegfallen würden (vgl. Luhmann, 1999a, S. 743 ff). Schon der Versuch einer zentralen Integration (Inquisition) scheint, spätestens seit dem 18. Jahrhundert, immer auf eine gesellschaftliche und menschliche Katastrophe hinauszulaufen. Der Vorteil der mediencodierten Kommunikation mit ihren Funktionssystemen liegt ja gerade darin, dass Probleme verteilt werden können, dass sie in der Gesellschaft gleichzeitig durch verschiedene Programme Bearbeitung finden können. Durch die Anwendung von Codes und Programmen ergeben 48 6.4. Gesellschaftliche Differenzierung sich unterschiedliche Programmkalküle (Semantiken) und die Gesellschaft schafft sich so eine Vielzahl von Entscheidungsregeln für unterschiedliche Konstellationen. Heute kann man z. B. nicht mehr davon ausgehen, dass das Schöne gleich das Wahre ist, das der der Geld hat gleichzeitig auch Recht hat, oder ein Machthaber gleichzeitig auch geliebt wird. Bezahlt wird dieses verbesserte Anpassungspotential allerdings mit steigender Ungewissheit in den jeweiligen Entscheidungen. Ist die konkrete codierte Entscheidung, die ich zu Ungunsten anderer Entscheidungen treffe richtig? Die Entscheidung darüber, ob eine Entscheidungsregel im klassischen Sinne richtig oder falsch ist, lässt sich also nicht im voraus, durch die Annahme eines alles berücksichtigenden Supercode decken. Der Theorie ist mithin die Idee eines Omni–Kalküls abhanden gekommen, an dem orientiert dann alle Entscheidungen immer richtig sind. Entscheidung wird spätestens dann als prinzipiell unsicher und mit Risiko behaftet beobachtet. (vgl. Luhmann, 2003) 49 6. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 50 Teil II. Ethische Implikationen der Theorie autopoietischer Systeme 51 7. Einleitende Bemerkungen Nun habe ich im Laufe des Textes versucht die wesentlichen Formalismen der Theorie vorzustellen. Und ich hoffe, dass dabei deutlich geworden ist wie drastisch der Unterschied zu traditionellen Theorien ist. Wenn man unter diesen Bedingungen noch Aussagen über „den Menschen“machen möchte, bleibt es nicht aus auch die Terminologie der Theorie zu verwenden. Ich möchte aber in meinen Aussagen auch anschlußfähig bleiben an die klassische Terminologie der Psychologie. Deswegen möchte ich, im ersten Kapitel dieses Abschnittes mit einer Passage von Erich Fromm über den Menschen beginnen, die ich Stück für Stück, in der hier vorgestellten Terminologie, re-formulieren werde. Ich werde im weiteren Verlauf des Textes dann auch weitere Autoren einbeziehen, die nicht unbedingt in einer so strengen konstruktivistischen Theorietradition stehen. Das macht zum einen vielleicht die vorgestellte Theorie deutlicher und zum anderen gibt es ein besseres Verständnis für das was ich hier als ethische Implikationen vorstellen möchte. Denn die Ideen, die mich zu dem Titel dieses Textes veranlasst haben, sind nicht neu. Nur der theoretische Boden auf dem sie (auch) wachsen scheint relativ neu. Im zweiten Kapitel dieses Abschnitts, werde ich dann darauf eingehen, warum für mich ein Konzept von wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen in der Theorie besonders hervortritt. Schließlich, im letzten Kapitel, werde ich dann erläutern wie man sich Moral und Ethik als Kommunikationsmedium in der Gesellschaft vorstellen kann. Die analytische Beobachtung von Moral und Ethik in der Theorie ist ein diffuses, aber absolut elementares Thema. Man sieht das schon an der Oberfläche. Wenn man sich die Registereinträge zu den Punkten Moral und Ethik in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“von Niklas Luhmann anschaut, dann fällt sofort auf, dass sie nicht nur die meisten Registereinträge auf sich ziehen, sondern sich diese Einträge auch gut über alle 1149 Seiten verteilen. Ethik und Moral sind mit allen wichtigen Themen der Theorie verwickelt. (Luhmann, 1999a) 52 8. Ein Problem des Menschen 8.1. Fromm meets Systemtheorie Im Folgenden habe ich die besagte Passage von Erich Fromm (Fromm, 1979) in Stücke zerlegt und werde jedes einzelne Stück systemtheoretisch re–formulieren (kursiv). „Der Mensch tritt in dem Augenblick der Entwicklung auf, wo das instinktive Anpassungsvermögen seinen Tiefpunkt erreichte.“(Fromm, 1979, S. 54) Der Mensch tritt in dem Augenblick der Entwicklung auf, wo das instinktive Anpassungsvermögen durch das Problem doppelter Kontingenz gesprengt wird. „Aber der Mensch erscheint mit neuen Eigenschaften, die ihn vom Tier unterscheiden. Er wird sich seiner selbst als einer besonderen Wesenheit bewusst, kann sich an Vergangenes erinnern, kann Zukünftiges sich vorstellen und kann Gegenstände und Handlungen durch Symbole bezeichnen.“(a.a.O.) Aber der Mensch erscheint mit neuen Möglichkeiten. Er wird sich seiner selbst als ein „Spezialfall“bewusst, indem er sich von anderen Ichs unterschiedet (Sozialdimension). Und er kann im Spannungsfeld der doppelten Kontingenz das Medium Sinn erschließen, um Vergangenes oder Zukünftiges zu intendieren oder zu thematisieren. Er klebt dann nicht mehr an einer rein positiven Wirklichkeit, sondern kann Gegenstände und Handlung durch Symbole bezeichnen; Symbole die durch den gezielten Ausschluß von Möglichkeiten etwas Bestimmtes bezeichnen und anderes für den Moment ausschließen. „Er hat Vernunft, mit der er die Welt erfasst und versteht; er hat ein Vorstellungsvermögen, dank dessen er den Bereich des bloß Sinnlichen weit überschreitet. Der Mensch ist das hilfloseste aller Tiere. Diese biologische Schwäche aber ist gleichzeitig die Basis für seine Stärke, denn sie ist primär die Ursache für die Ausbildung aller spezifisch menschlichen Eigenschaften.“(a.a.O.) Er benutzt Sinn als Weltformel und überschreitet damit den Bereich des bloß 53 8. Ein Problem des Menschen positiv Gegebenen. In dieser Situation ist der Mensch das hilfloseste aller Tiere, denn es bedarf neuer Ordnungsparameter in der Umwelt des Menschen, um wechselseitige Orientierung zu ermöglichen. Diese Ordnungsparameter sind für das menschliche Bewusstsein die symbolisch generalisierten Kommunikationmedien. 8.2. Der widersprüchliche Mensch Der Mensch erzeugt seine eigene Komplexität. Er ahnt zumindest, dass das was er verwirklichen könnte, und das was er tatsächlich verwirklicht nicht dasselbe ist. Er ahnt die Widersprüchlichkeit seiner Existenz. Und nie wird er sich von dieser Widersprüchlichkeit seiner Existenz befreien können, ohne damit sein Dasein als Mensch aufzugeben. (vgl. Fromm, 1979, S. 57) Sinn (bei Fromm „nur“Vernunft) tritt dem Menschen offenbar nicht nur als Segen entgegen, sondern wird auch vielen zum Fluch, weil Sinn den Menschen zwingt, sich ständig neu mit den performativen Widersprüchen seiner Existenz zu beschäftigen. (vgl. a.a.O.: S. 55) „Er muss denken, ob er will oder nicht. [. . .] Die eigene Existenz ist ihm zu einem Problem geworden, das er lösen muß und dem er nicht entfliehen kann.“(a.a.O.) In diesem Sinne sind alle Menschen gleich. Sie stehen alle vor der gleichen menschlichen Situation, sich mit den eigentümlichen, existentiellen Widersprüchen auseinandersetzen zu müssen. Und sie unterscheiden sich von anderen durch die Art und Weise in der sie dieses menschliche Problem zu lösen versuchen (hier verstanden als Problem der doppelten Kontingenz). (vgl. a.a.O.: S. 65) Gerade in der Ethik entsteht deshalb immer wieder die Frage nach einem richtigen Handeln. Im Zweifel wird von der Ethik verlangt eine Art – wie immer hoch elaborierte – Begründung zur Lösung des Problems der richtigen Handlung zu liefern. Als ob eine Lösung des Problems möglich und vor allem sinnvoll wäre. Wie ich versucht habe darzustellen ist überhaupt die Tatsache, dass ein Problem besteht zwischen Möglichkeiten zu wählen, die Basis menschlicher Anpassungsfähigkeit. Wenn man es zuspitzt, dann wäre eine letztendlich richtige Zuordnung von richtigen Möglichkeiten das Ende von dem was wir Kognition nennen. In jeder Operation des Systems wäre schon klar, was als nächstes kommt. Das System wäre ein Roboter, es würde quasi–authistisch ablaufen. 54 8.2. Der widersprüchliche Mensch Das Problem „der Ethik“im Bezug auf „den Menschen“ist hier eher als Reflexionsformel zu begreifen, die darauf hinweist, dass dieses Orientierungsproblem die Basis ist für die Ausbildung der spezifisch menschlichen Anpassungsfähigkeit. Es sind diese, oben genannten, existenziellen Widersprüche, die den Menschen frei machen zu entscheiden (vgl. Foerster, 1993a, S. 69f). Wir sollten diese Widersprüche also nicht ableugnen, oder als Korruption begreifen, sondern wir können heute erkennen, das diese Freiheiten des Menschen, die Kommunikationssysteme davor bewahren „Roboter“zu werden. Die Freiheit der Einzelnen macht die Gesellschaft anpassungsfähig, robust und kreativ. Wenn die Gesellschaft die Freiheit des Einzelnen leugnet oder abweichendes Verhalten sanktioniert, dann ist die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft in diesen Bereichen gebremst (vgl. Surowiecki, 2004, S. 70 ff). Bürokratie, deren bedeutende ordnende Leistungen natürlich nicht in Frage steht (vgl. Baecker, 1999), wird dann zum verwaltenden Monster, wenn die Freiheit des Einzelnen geleugnet wird. Denn der Einzelne, der seine Freiheit ja gar nicht unterdrücken kann, gerät in ständigen Rechtfertigungsnotstand gegenüber einer Verwaltung die keine Freiheit zulässt. (vgl. Orwell, 1976) Die Freiheit des einzelnen Menschen scheint in gewisser Weise untrennbar mit der Menschwerdung in Sprache zusammenzuhängen (vgl. Maturana & Varela, 1984) (vgl. Luhmann, 1993, Band 5a, ab 35:00 min). Sie erschafft zumindest die wichtigsten Ressourcen des Menschen. Das sind z. B. die Ressourcen der Kritik, mit der er sich immer wieder gegen ihn bedrängende, ihn selbst zerstörende Tendenzen wehren kann. Und es sind die Ressourcen der Imagination, die es ihm immer wieder ermöglichen andere Zukünfte zu entwickeln, als die auf der er den orthodoxen Theorien folgend, angeblich zwangsläufig hinsteuert. (vgl. Otte, 1990, ab 21:28 min) 55 9. Wir berücksichtigen uns, also sind wir Das erste, mir besonders am Herzen liegende, ethische Implikat der Theorie ist, dass Anerkennungsbeziehungen in der Theorie eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Bei meiner Arbeit in der Respect–Research–Group an der Universität–Hamburg habe ich hierzu wertvolle Erfahrungen gesammelt. Dort arbeite ich an einem Begriff der Anerkennung, der im wesentlichen inspiriert ist durch die Arbeiten von Luhmann, Bateson und von Foerster. Hier möchte ich die wichtigsten Ideen vorstellen, die bei einer differenztheoretischen Analyse des Themas von zentraler Bedeutung sind. Ersteinmal sei gesagt, dass es mir hier nicht um Anerkennung als Dimension der Bewunderung, der Schwärmerei und dergleichen geht. Das ist ein anderes Spielfeld. Mir geht es hier um etwas, dass, um in der Begrifflichkeit von Niklas Luhmanns zu bleiben, mit der Sozialdimension von Sinn zu tun hat. Es geht um die eigentümliche Vervielfachung der Perspektiven in einem sinnverwendenden System, durch den internen Gebrauch der Differenz von Alter und Ego. (vgl. Luhmann, 1987, S. 119) Bei dem hier verwendeten Begriff Anerkennungsbeziehungen geht es um die Relationierung verschiedener, sinnerlebender Instanzen in einem sinnerlebenden Bewusstseinssystem. Ich meine damit die Fähigkeit eines Bewusstseins in seinen eigenen Operationen ein eigenes und fremdes intentionales, bzw. sinnhaftes Erleben zu erleben und über die „Vorzeichen“der Beziehung von Alter und Ego Weltauslegungsmöglichkeiten disponieren zu können. Mir geht es in gewisser Weise also um eine erkenntnistheoretische Relevanz von Anerkennungsbeziehungen. Es geht hier um eine basale Regulierung der Beziehungen zwischen Ichund Du–Evidenzen, die uns allen in unterschiedlicher, aber unleugbarer Form gegeben sind (vgl. Lorenz, 1999, CD2, Track 4, ab 05:30 min). Im Hinblick auf die vorherigen Kapitel können wir hier zunächst feststellen, dass keine Kommunikation entstehen kann, wenn die Differenz von Alter und Ego nicht auch im Bewusstsein Bearbeitung finden würde. Die ganze Symbolik der Kommunikation baut ja auf eine jeweilige Differenz von Ego und Alter auf (vgl. Kapitel „Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“). Die Idee, die ich hier kurz darstelle, ist, dass Anerkennungsbeziehungen Mechanismen zur Erzeugung interner Differenzierung von sinnerlebendem Bewusstsein sind, eben in der Sozialdimension von Sinn. Und je differenzierter ein Bewusstsein 56 9.1. Anerkennungsbeziehungen und die Sozialdimension von Sinn Alter und Ego im System in Beziehung setzen kann, desto mehr Weltauslegungsmöglichkeiten kann es kontrollieren. So verstanden ermöglichen Anerkennungsbeziehungen die Erschließung der Sozialdimension von Sinn, und im Hinblick darauf sind sie, in der Terminologie der Theorie, ein Mechanismus struktureller Kopplung von Bewusstseinssystemen und Kommunikationssystemen (vgl. Riegas & Vetter, 1990, S. 336) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397). Kurz, ein Bewusstsein erschließt sich durch die Konstruktion von Anerkennungsbeziehungen interne Möglichkeiten Kommunikation zu bearbeiten (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397)und dabei entwickelt es dann die Fähigkeit mit der Sozialdimension von Sinn eigene Weltauslegungsmöglichkeiten zu regulieren. 9.1. Anerkennungsbeziehungen und die Sozialdimension von Sinn In der Sozialdimenson von Sinn geht es, wie oben beschrieben, ganz allgemein um die Unterscheidung von Alter und Ego in einem System. Und dabei ist zu berücksichtigen, dass in einem strengen differenztheoretischen Sinne das Eigene immer aus der Erfahrung des Fremden gewonnen wird. Die Erfahrung des Ich wird sozusagen im Kontrast zu anderen Ichs gewonnen. Die Form von Ego ist also immer schon durch die Form von Alter mitbestimmt und umgekehrt (vgl. Baecker, 2001, S. 16) Das zieht sich wie ein roter Faden fast durch die gesamte Literatur. Ohne einen Vergleich wäre die Unterscheidung Ego leer, das hat auch schon Bateson in seinem Schismogenesekonzept angedeutet. (vgl. a.a.O.) Aber Edmund Husserl geht hier einen entscheidenen Schritt weiter, wenn er sagt: „[. . .] das an sich erste Fremde (das erste Nicht–Ich) ist das andere Ich. Und das ermöglicht konstitutiv einen neuen unendlichen Bereich von Fremdem, eine objektive Natur und objektive Welt überhaupt, der die anderen alle und ich selbst zugehören. “(Husserl, 1986, S. 184 f) Husserl sagt damit, dass nicht nur das Ich im Kontrast zum Anderen gewonnen wird, sondern, passend zu dieser Theorie, dass „objektive“Weltauslegungen überhaupt erst ein Ergebnis dieser Differenz von Alter und Ego sind. Erst, wenn ich sehe, das andere, anderes sehen, kann ich auf die Idee kommen von einer Welt zu sprechen, die auch für andere gilt (vgl. Luhmann, 2005b, S. 220ff). Vorher ergibt sich das Problem sozusagen nicht. Das passt zumindest zu den Negationsmöglichkeiten von Bewusstsein, die ich oben beschrieben habe (a.a.O.: S. 46). Ein über die Sozialdimension von Sinn angeregtes (er-)lösen von einem rein positiven Erleben provoziert zwar den „Sündenfall“(Man kann (muss) sich nun von Eva überzeugen lassen), was vorher schlecht möglich war. Die Differenz von Alter und Ego erweitert sozusagen den internen 57 9. Wir berücksichtigen uns, also sind wir Spielraum für Entscheidungen und auf einmal ist eben nicht nur Wirkliches, sondern auch Mögliches und Negatives denkbar. Das „belastet“(bereichert) eigenes Erleben und Handeln mit Unsicherheit, und Mehrdeutigkeit (vgl. Luhmann, 1987, S. 93). Diese Vielfalt an Möglichkeiten wird dann symbolisch generalisiert gemeinsam bearbeitet. So kann man sagen, dass Formen von Anerkennungsbeziehungen denknotwendig sind für ein Bewusstsein, das in seiner sinnhaft erlebten Welt nicht nur reagieren, sondern über die Relationierung von Alter und Ego im System auch Weltauslegungsmöglichkeiten regulieren kann. Mit andern Worten, über Anerkennungsbeziehungen erschließt sich ein Bewusstsein die Vieldeutigkeit der Situation doppelter Kontingenz im System, über die es dann auch im System durch die Relationierung von Alter und Ego disponieren kann. Anerkennungsbeziehungen sind also Konstruktionen, die in Bewusstseinssystemen gezielt Unsicherheiten in Bezug auf Weltauslegungsmöglichkeiten bearbeiten können. (vgl. Maturana, 1998, S. 295 f) Grob vereinfacht könnte man auch formulieren, dass, in der Sozialdimension von Sinn, die Welt sich nicht um Alter und Ego dreht, sondern durch die Relationierung von Alter und Ego dreht sich ein Bewusstsein die Welt zurecht. 9.2. Respectus! Wenn man sich die hier vorgestellten, operativen Bedingungen von Bewusstsein und Kommunikation vor Augen führt, also wenn man die Axiome, Sinn als Weltformel, die Kommunikationsmedien und die dabei herausragende Rolle der Sozialdimension von Sinn ernst nimmt, dann drängt sich eine Implikation auf, die Peter Sloterdijk als Intuition der Luhmannschen Systemtheorie beschrieben hat. (vgl. Sloterdijk, 2005) „Es geht um die Intuition der Theorie, dass man, um Systeme wirklich zu untersuchen [zu verstehen], diesen die Toleranz entgegenbringen muss, als das erscheinen zu dürfen, was sie sind, ohne ihnen ihr so sein oder so funktionieren vorzuwerfen, und ohne ihnen entgegenzuhalten, dass sie nicht sind was sie nicht sein können.“(a.a.O.) Mit dieser Intuition – die ich hier nur so stehen lassen kann – verweist die Theorie auf etwas, das man lateinisch reverentia nennen kann, also auf Achtung, Ehrerbietung, Rücksicht, Scheu. (vgl. Evangelisches Kirchenlexikon, 1986). Die von der Theorie vorgeschlagenen Bedingungen der Erkenntnismöglichkeiten legen es nahe von Hochmut abzusehen und sich, der 58 9.2. Respectus! gemeinsamen Erkenntnismöglichkeiten willen, daraufhin zu hinterfragen. In der Wissenschaft ist es z. B die Unmöglichkeit der Verifikation (vgl. Popper, 1996, S. 36 f), die Respekt einfordert, im lateinischen Wortsinne von respicere; zurückschauen, berücksichtigen, zurückblicken, beachten. Ein immer–wieder– hinsehen wird als obligatorisch eingefordert. Selbstfestlegungen im Sinne von Erklärungsprinzipien (vgl. Bateson, 1985, S. 73-95) können zwar sinnvoll sein, allerdings sollten sie nicht zu einer „Bevormundung“des anderen führen. In diesem Fall würden Überraschungen dann den unangenehmen Beigeschmack des korrupten bekommen und Erkenntnis eher behindern als fördern. (vgl. a.a.o.) Wir scheinen also gut beraten nicht anzufangen unsere Konstruktion des Anderen mit dem Anderen zu verwechseln (vgl. Watzlawick, 2003, CD1, Track 3). Das reduziert auf beiden Seiten unnötig Sinn. Dementsprechend ist Vorsicht geboten beim Umgang mit Aussagen wie „Es ist“oder „Du bist“. Denn auch die Konfliktnähe der Denkform „Es ist“liegt theoretisch auf der Hand (vgl. Luhmann, 1993, Band 2b, ab 16:00 min) (vgl. Lorenz, 1999, CD2, Track 4, ab 07:54 min). Studien zu sich–selbst–verwirklichenden oder sich–selbst–verhindernden „Prophezeiungen“zeigen immer wieder eindrucksvoll wie stark der Einfluss von Ist–Annahmen auf die Kommunikation und damit auf die beteiligten Bewusstseinssysteme wirkt (vgl. Watzlawick, Beavin, & Jackson, 2000, S. 20, S. 82). Wir sollten deshalb behutsam damit umgehen und folgende Worte von Konrad Lorenz, gerade im Umgang mit anderen Menschen, ernst nehmen. „Mir scheint, dass unsere Denkform ‚Es ist‘, eine logisch notwendige, künstliche Station im panta Rhei der Dinge macht, den Gang der Geschehnisse stoppt, eben lang genug, um schnell ein Prädikat an ein Subjekt heften zu können.“(Lorenz, 1999, CD2, Track 4, ab 07:54 min) 59 10. Die Moral von der Geschicht’ 10.1. Die medienspezifische Differenzierung der Gesellschaft Wie ich im Kapitel „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“angedeutet habe, geht die Theorie davon aus, dass die moderne Gesellschaft ihre Kommunikationssysteme gleichzeitig über verschiedene Kommunikationsmedien funktional ausdifferenziert. Luhmann dazu: „Seit dem Beginn ihrer Entwicklung haben die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien auf verschiedene Probleme verschieden reagiert. Das unterscheidet sie von der Religion [und der Moral], unterscheidet sie aber auch voneinander. Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution treten die entsprechenden Abgrenzungen deutlicher hervor; besonders in dem Maße, in dem die Medien dazu tendieren, Kristallisationskerne zu bilden für die Ausdifferenzierung entsprechender Funktionssysteme.“(Luhmann, 1999a, S. 393) In der Soziologie sieht man in diesem Zusammenhang – wie gesagt – am Ende des 18. Jahrhunderts eine Umstellung der Gesellschaft von einer stratifizierten, hin zu einer funktional differenzierten Gesellschaft (vgl. a.a.O.: Kapitel 4). Aber die längste Zeit der gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Kommunikationsmedien (z. B. Geld, Macht, Wahrheit, Liebe) noch nicht ihre volle Blüte trugen, also in der Zeit der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft, hatten die heute so verschiedenartigen, voneinander weitgehend unabhängigen Funktionssysteme (Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Intimbeziehungen) noch nicht ihre moderne Bedeutung. In diesen Zeiten scheint Moral als religiöse oder kosmologische Einheitssemantik, im Hinblick auf eine zentrale Integration der Gesellschaft, durchaus funktionsfähig gewesen zu sein (vgl. a.a.O.: S. 396-401). Man hat sich der Illusion hingegeben, dass ein einheitliches, allgemein akzeptiertes moralisches Urteil denkbar oder sinnvoll sei, auf das hin die Gesellschaft in Harmonie integriert würde. Der Differenzierungsgrad in einer stratifizierten Gesellschaft lies dies noch zu, zumal mit einer Führung der Gottähnlichkeit zugeschrieben wurde. Aber wie ich versucht habe darzustellen ist die Gesellschaft heute schon zu stark differenziert, als das jede Annahme und Ablehnung von Selektionsofferten über nur 60 10.2. Das Medium Moral ein zentrales Supermedium gesteuert werden könnte (vgl. a.a.O.: S. 173, S. 359, S. 1043). Daran zerbricht schließlich auch die klassische Vorstellung man könnte die Gesellschaft als Ganzes über Moral integrieren (vgl. a.a.O.: S. 396-401). 10.2. Das Medium Moral Als Kommunikationsmedium gewinnt Moral seine Form durch die Bezugnahme auf Bedingungen, unter denen Menschen sich selbst und andere achten bzw. mißachten. Der Code ist hier also Achtung / Missachtung (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397) Dabei geht es auch hier nicht um die Anerkennung besonderer Fertigkeiten oder Leistungen, sondern um die Inklusion, bzw. Exklusion, von Personen in Kommunikationssysteme schlechthin (vgl. a.a.O.: S. 397). „Dies gehört jedenfalls zum expressiven Stil von Moral, gleichgültig ob dann Moralverstöße tatsächlich durch Exklusion, Kontaktunterbrechung oder Kontaktreduktion sanktioniert werden oder nicht.“(a.a.O.: S. 397) Moralisieren bedeutet in diesem Falle nur, dass Menschen Achtung und Missachtung zum Ausdruck bringen. Dabei setzen sie Normen, wenn sie Bedingungen nennen unter denen sie andere achten bzw. missachten. Normen, die der andere beachten soll, die aber auch für den Sprecher selbst gelten. Wenn man z. B. sagt: „Ökonomischer Erfolg ist ein hoher Wert“, und alle missachtet die anderer Meinung sind, dann ist das moralisieren. (vgl. Luhmann, 1984, ab 19:00 min) Im Vergleich zu den heterogenen, problemorientierten Semantiken (Programmen) der modernen Mediencodes, ist das Medium Moral ein wenig spezialisiertes, eher diffuses Medium. Moralische Kommunikation zeichnet sich gerade nicht dadurch aus, das sie bei der Zuordnung von Achtung und Missachtung auf eine bestimmte Sorte von Regeln oder Maximen Bezug nimmt (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397). Damit verbindet das Medium Moral die schärfsten Konsequenzen (Exklusion) mit relativ willkürlichen Bedingungen der gesellschaftlichen Selbstkonditionierung. Moral normiert also immer in Bezug auf relativ arbiträre Themen, deren einheitliche Bewertung aber in der Gesellschaft heute nicht mehr durchgehalten werden kann. Die verschiedenen Kommunikationsmedien der modernen Gesellschaft (z. B. Liebe, Wahrheit, Macht, Geld) erzeugen vielmehr weitgehend unterschiedliche Programme, um die Annahme und Ablehnung von Kommunikation zu regulieren (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 11:20 min) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 361, S. 371). Dabei müssen sie sich in dem Maße in 61 10. Die Moral von der Geschicht’ dem sie das tun, dann auch von moralischen Urteilen unabhängig machen (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 11:20). Wenn Mediencodes auf sich selbst angewendet werden, dann werden sie reflexiv und erzeugen Eigenwerte, die sich dann in spezifischen Programmen niederschlagen(vgl. Luhmann, 1999a, S. 394). Diese spezifischen Programme sind dann nicht mehr unbedingt mit moralischen Urteilen zur Deckung zu bringen. Für die Entfaltung der verschiedenen Medien und den dabei entstehenden Funktionssystemen ist es gerade deshalb erforderlich, dass die Codes – weil sie reflexiv werden – sich moralisch neutral behandeln lassen. (vgl. a.a.O.: S. 371, S. 362 f) Man kann heute z. B. wenig Verständnis erwarten, wenn man davon ausgeht, dass derjenige der eine Wahrheit entdeckt moralisch gut ist und der, der einer Unwahrheit nachjagt moralisch schlecht ist. Mit Lügen und dergleichen hat das nun erstmal nichts zu tun. Es macht keinen Sinn mehr gesellschaftliche Exklusion (z. B. Haft) in Aussicht zu stellen, wenn z. B. wissenschaftliche Methoden nicht anerkannt werden. Lediglich im Funktionssystem Wissenschaft kommt jemand in Rechtfertigungsnotstand, wenn er offen allgemein akzeptierte wissenschaftliche Methoden in Frage stellt und keinen besseren Vorschlag macht den Code von Wahrheit / Unwahrheit zu bearbeiten. Und selbst dann führt das in der Wissenschaft zu deutlichen Irritationen und zu entsprechenden Rechtfertigungsritualen. (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 11:20 min) Auch passionierte Liebe ist bewusst gegen Moral neutralisiert. „Wir lieben jemanden nicht wegen seiner moralischen Qualitäten, sondern wegen seiner Individualität, wegen seiner idiosynkratischen Eigenschaften.“(vgl. a.a.O.: Band 7a, ab 13:00 min). Passionierte Liebe bezieht sich hier also gerade auf Eigenschaften des anderen, die nicht von jedermann verlangt werden. (vgl. a.a.O.) Nebenbei erwähnt wäre es auch die Todeserklärung jeder Demokratie, wenn man erklären würde, dass der Machthabende strukturell moralisch gut und der Machtgebende strukturell unmoralisch wäre (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 24). Dasselbe kann man auch für Geld und andere Medien durchspielen und die Quintessenz ist, dass Gesellschaft eben nicht mehr moralisch integriert werden kann (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 11:45 min). Kurz, die Durchsetzung einer heterogenen symbolisch generalisierten Medienstruktur in der heutigen Gesellschaft bedeutet eine Abdankung der Moral als ein generelles Instrument der gesellschaftlichen Koordination (vgl. a.a.O.: Band 7a, ab 16:25 min) Moralisch codierte Kommunikation ist außerdem nicht direkt Anschlußfähig an die Kommunikation der gesellschaftlichen Funktionssysteme und ihren Codes. Das macht Moral heute unbrauchbar für eine gesamtgesellschaftliche 62 10.2. Das Medium Moral Integrationsfunktion, aber dieser „Nachteil“ist auch ein „Vorteil“. Zwar ist moralische Kommunikation nicht mehr direkt anschlußfähig an die Programme der anderen Mediencodes und kann diese nicht mehr sinnvoll beeinflussen. Aber diese fehlende Spezialisierung ermöglicht es der Moral sich, zumindest an der Oberfläche, leicht einzumischen wo Achtung und Missachtung im Spiel ist; also überall (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 38). Denn es ist unerlässlich das zur Überbrückung doppelter Kontingenz ähnliche Achtungs / Missachtungsbedingungen unterstellt werden; sowohl für Ego als auch für Alter. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 397) Vielmehr liegt es Nahe der Moral die Funktion einer Art Warnsystem zu zuweisen, das Hinweise auf gesamtgesellschaftliche, strukturgefährliche Vorgänge geben kann, die der fokussierten Reflexion der jeweiligen Mediencodes entgehen (vgl. Luhmann, 1993, Band 7a, ab 16:25 min) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 1043). Nur muss verstanden werden, damit es nicht zum Wahnsystem wird, das moralische Kommunikation das provoziert was in der Politik auch „blinder Aktionismus“genannt wird. Alle versichern sich sehr schnell ihrer wechselseitigen Achtung und Missachtung, ohne dabei zu berücksichtigen, dass der Code Achtung / Missachtung keinen Durchschlag auf die basalen Operationen der jeweiligen Gesellschaftssysteme hat. Als schärfste Konsequenz bleibt dann die Entlassung eines Funktionsträgers (Exklusion), aber nicht die Modifikation der Programme die problematische Funktionen erzeugen. Mit anderen Worten, es wird eine Art Orientierungsreaktion ausgelöst, die auf die wechselseitigen Achtungs– und Missachtungsbeziehungen fokussiert und Selbstbeschäftigung, ohne operativen Wert für die Funktionssysteme der Gesellschaft, produziert. (vgl. Luhmann, 1999a, S. 798) Es kann das Medium Moral aber in seiner speziellen Form als eine Art Zeiger aushelfen. Moral bleibt aber nur der Hinweis. Sie impliziert noch keine Lösungsmöglichkeiten und fördert diese auch nicht. Im Gegenteil, der „moralische Zeigefinger“ist durch die Stärke der implizierten Sanktionen (Exklusion) eher ein Mittel um Konflikte zu provozieren (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 26) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 317). Ein Einsatz moralischer Kommunikation sollte deswegen mit äußerster Vorsicht gewählt werden. Das ist natürlich auch eine Utopie, wenn man sich z. B. die Berichterstattung in den Massenmedien diesbezüglich anschaut. Auf jeden Fall ist nicht davon auszugehen, das moralische Kommunikation in einer funktional differenzierten Gesellschaft integrative Funktionen erfüllt. Es ist, und das möchte ich hier wirklich besonders betonen, wegen der Konfliktnähe der moralischen Kommunikation eher das Gegenteil zu erwarten (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 26) (vgl. Luhmann, 1999a, S. 317). Wenn man sich die Welt nun trotzdem in diesem Sinne nach moralischen Ge- 63 10. Die Moral von der Geschicht’ sichtspunkten geordnet vorstellt, dann kann es durchaus ein Schock werden festzustellen, dass es eine derartige moralische Einheit der Welt nie gegeben hat. Und wenn moralische Kommunikation dann, in guter menschlicher Tradition, daraufhin quantitativ erhöht wird, nach dem Motto: Wenn es moralische Einheit schon nie gegeben hat, dann glauben wir jetzt einfach umso fester dran; dann hat das meiner Ansicht nach bemerkenswerte Folgen. Daraufhin wird nämlich der Einsatz, der heute schon weitgehend ausdifferenzierten, Kommunikationsmedien provoziert. Macht, bzw. physische Sanktionsgewalt waren wohl in diesem Zusammenhang, die Welt in eine moralische Einheit zu zwingen, am beliebtesten und in ihren Aufschaukelungseffekten die Grausamsten. So wie ich das verstehe, provozieren die Verzweifelungsakte hin zu einer moralischen Einheit genau die Ausdifferenzierung, der sich dann später gegenüber der Moral indifferent zeigenden Kommunikationsmedien. In diesem Fall würde die Moralgeschichte regelrecht ödipale Züge bekommen. Nun wäre es genauso undenkbar wie destruktiv davon auszugehen, dass moralische Kommunikation nur kontraproduktiv ist. Moralische Kommunikation wird nur inflationär gebraucht und löst sich in ihrer klassischen Form als Utopie der Einheit auf (vgl. Luhmann, 1999a, S. 173). Und zwar, weil dem damit verbundenen Wunsch nach einer einheitlichen gesellschaftlichen Integration nicht Rechnung getragen werden kann. Auch im Bezug auf die Erwartung, das man mit moralischer Kommunikation eine Wirkung in den Funktionssystemen der Gesellschaft erzeugen kann, ist das Medium Moral deutlich inflationär im Gebrauch. (vgl. a.a.O.: S. 382 ff) 10.3. Ethik als Reflexionstheorie der Moral Die Gesellschaft steht also heute, nach der Umstellung auf medienvermittelte funktionale Differenzierung, vor dem Problem, dass moralische Kommunikation als elitäre, vereinheitlichende Attitüdenschau im Alltag nicht mehr plausibel ist. Ob moralische Kommunikation in einer funktional differenzierten Gesellschaft noch hilfreich sein kann hängt davon ab, in welcher Form das Medium Moral eigene Reflexivität erzeugen kann. Und nicht zufällig, beginnt schon gegen Ende des 18. Jahrhundert, zu Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, auch die Diskussion um Ethik als einer Reflexionstheorie der Moral (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 20). Die Frage ist jetzt, in wie weit moralische Unterscheidungen auf moralische Unterscheidungen angewendet werden können. (vgl. a.a.O.) „Bekanntlich hat dieses Problem den Menschen das Paradies gekostet und, vorher schon, dem Besten Engel seine Verdammung.“(a.a.O.: S. 27) Aber man 64 10.3. Ethik als Reflexionstheorie der Moral kann einfach beobachten, dass verwerfliches Handeln durchaus gute Folgen haben kann und die besten Absichten sehr schlimme Folgen haben können. Soll Ethik dann zu gutem oder zu schlechtem Handeln raten? (vgl. a.a.O.: S. 28) Mein Vorschlag wäre hier, dass Ethik gar nicht zum Handeln raten sollte. Ethik sollte zum Erleben raten (vgl. Luhmann, 1993, Band 6b, ab 24:00 min) und zwar im Bezug auf einen reflexiven Moralcode, im Bezug also, auf ein moralisches Akzeptieren der Relativität aller moralischen Urteile und der daraus folgenden Normierung von Zurückhaltung und Toleranz (vgl. Luhmann, 1999a, S. 401) (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 37). Das ist die zweite ethische Implikation der Theorie, die ich hier herausstellen möchte. In dieser prinzipiell ungewissen Form der Ethik wird man sich dann bewusst, dass, „Je mehr die Reflektion Notwendiges sucht (z. B. unbedingt geltende Werte), desto mehr erzeugt sie im Effekt Kontingenz (z. B. Werteabwägung).“(Luhmann, 1999a, S. 48) So zwingt Moral sich in eine Dauerreflexion und mündet in dem zunächst inhaltsleeren Distanzierungsmechanismus Ethik (vgl. a.a.O.: S. 1043 f) (vgl. Luhmann & Spaemann, 1990, S. 28). In diesem Sinne ist auch Ethik ein Medium ohne eigene zuverlässige Programme. Ethik verweist immer nur auf mögliche Achtungs– und Missachtungsbeziehungen mit dem Code Gut / Schlecht (vgl. a.a.O.: S. 37), aber es fehlen ihr die eigenen Argumente in Form allgemein akzeptierter Entscheidungsregeln, um daraufhin zu entscheiden, ob etwas gut oder schlecht ist. In genau diesem Sinne muss man heute von Ethik verlangen, dass sie die Strukturen von Gesellschaft und Bewusstsein mitreflektiert, „[. . .] wenn sie der Moral ein Gütezeugnis oder auch nur eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellt.“(a.a.O.: S. 40) Ethik muss in der Lage sein, „[. . .] den Anwendungsbereich der Moral zu limitieren.“(a.a.O.) Sie muss vielleicht sogar eher vor Moral warnen (a.a.O.: S. 41). Aus einer ethischen Perspektive kann man es z. B. als Zumutung empfinden, erleben zu müssen, dass Politiker sich tagaus, tagein „[. . .] verbalmoralisch bekämpfen, obwohl wir, Demokratie richtig verstanden, gar nicht aufgefordert sind, zwischen ihnen unter Gesichtspunkten der Moral zu wählen.“(a.a.O.: S. 40 f) Ebenso fällt es schwer sich unter ethischen Gesichtspunkten gefallen zu lassen, das Wirtschaft für sich in Anspruch nimmt moralisch zu handeln. Sie kann das gar nicht ohne in das Mittelalter zurückzufallen. Arbeitsplätze zum Beispiel entstehen nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie gebraucht werden um Geld zu verdienen, und ein Unternehmen braucht nicht mehr Mitarbeiter nur weil es mehr Geld verdient. Trotzdem gibt es die Empörung über Entlassungen hauptsächlich im Zusammenhang mit einzelnen unmoralischen Bösewichten („Fürsten“) und nicht über die 65 10. Die Moral von der Geschicht’ strukturellen Voraussetzungen der Systeme selbst. Hier sind die moralischen Reflexe oft eher die Reflexe einer noch stratifizierten Gesellschaft. Ethik als Reflexionstheorie der Moral in einer funktional differenzierten Gesellschaft hat hier noch deutlich Anpassungsbedarf. 10.4. Ausblick: Respekt als mögliche moderne Reflexionsform der Ethik Ein theoretisch plausibles Konzept scheint hier, wie im vorigen Kapitel angedeutet, die klassisch lateinische Bedeutung von Respekt zu sein. Hier verstanden als eine Aufforderung, sich mit Festlegungen im Bezug auf den Anderen zurückzuhalten, bzw. die Bereitschaft zu zeigen Festlegungen immer wieder zur Disposition zu stellen und gemeinsam zu bearbeiten. Und das gilt insbesondere für moralische Kommunikation. Respekt, als mögliche Reflexionsform der Ethik, scheint mir von anderer Art zu sein, als einfache moralische Kommunikation. Respekt ist keine klassische Tugend, im Sinne einer zuvorkommenden Berücksichtigung, sondern Respekt ist eher eine „Metatugend“. Respekt zeichnet sich dadurch aus, dass man den anderen in seiner Unbestimmtheit, in seiner uns Unerkennbarkeit und Unverfügbarkeit akzeptiert (vgl. Nachtstudio, 2004, ab 51:25). Respekt ist eher die Konsequenz der Einsicht, dass wir häufig fehl gehen können mit unseren Annahmen über gutes und schlechtes Verhalten und den anderen mit unseren guten Absichten verfehlen. (vgl. a.a.O.: ab 05:00 min) Das 18. Jahrhundert hatte in diesem Zusammenhang den Humor für sich entdeckt,„[. . .] gleichsam als Wellenbrecher für überraschende Moralstürme, aber das setzt zu viel Disziplin und zu viel schichtspezifische Sozialisation voraus.“(Luhmann & Spaemann, 1990, S. 41 f) (vgl. Luhmann, 1964, S. 341 ff). Ernste Themen lassen sich nur sehr voraussetzungsreich mit Humor behandeln. So ist Humor natürlich keine Option für die ganz großen Probleme (z. B. Menschenrechte). (vgl. Luhmann, 1964, S. 341 ff) Es gibt Hinweise, dass die moderne Gesellschaft sich unter anderem den Begriff des Respekts als ethische Reflexionsform zurechtlegt und den „einfachen“Einsatz von Moral daraufhin limitieren kann, das die Würde (Freiheit) des Menschen gewahrt bleibt. Respekt scheint ein viel versprechender, produktiver Umgang mit Unbestimmtheit in der modernen Gesellschaft zu sein, der, mit Hinweis auf gemeinsame Erkenntnischancen, zu einer Normierung von Zurückhaltung und Toleranz Anlass gibt. (vgl. Respect-Research-Group, 2006) (Nachtstudio, 2004) Für die Gesellschaft kann der hier vorgestellte Sinn von Respekt in diesem 66 10.4. Ausblick: Respekt als mögliche moderne Reflexionsform der Ethik Zusammenhang sehr wichtig sein. Wie Christoph Menke im ZDF–Nachtstudio richtig festgestellt hat, leistet Respekt eine Art Brechung der tugendhaften Praxis in einer Form, die theoretisch und auch moralisch plausibel scheint (Nachtstudio, 2004). Respekt kann zwei Dinge verbinden. Respekt kann die Würde des einzelnen Menschen als unverfügbar einfordern, und gleichzeitig kritikfähig machen im Bezug auf Strukturen die gemeinsam erzeugt werden. Man kann z. B. selbst dem unmoralischsten aller Menschen, vor dem Hintergrund seiner Menschenwürde, ein rechtstaatliches Verfahren zukommen lassen, und dabei trotzdem aufs schärfste die zugrundeliegenden psychischen und sozialen Strukturen verurteilen. Das macht Kommunikation dann deutlich anspruchsvoller und voraussetzungsreicher im Vergleich zu einer einfachen, normierenden moralischen Kommunikation. Die Gesellschaft gewinnt mit einer solchen Haltung aber ein grösseres Auflösungsvermögen im Bezug auf die Verteilung von Achtung und Missachtung (vgl. Sozialdimension von Sinn). Sie gewinnt Erkenntnischancen. Respekt macht z. B. den Blick darauf frei, dass Menschen nicht zu verwechseln sind mit den Kommunikationssystemen an denen sie beteiligt sind. Und auch das ist theoretisch sinnvoll. 67 11. Literaturverzeichnis Ashby, W. 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