Sindelar: Psychologische Diagnostik I Skriptum zur Lehrveranstaltung Psychologische Diagnostik I Teil 2 Univ.-Doz.in Dr.in Brigitte Sindelar Sigmund Freud PrivatUniversität Wien 1 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Inhaltsverzeichnis 1 Grundlagen.............................................................................................3 2 Klassifikation und Diagnostik ...............................................................4 2.1 Grundsätzliches .................................................................................4 2.2 Vorteile und Nachteile der Klassifikation .......................................6 3 Der Störungsbegriff ...............................................................................9 3.1 im ICD -10 (ICD = International Classification of Deseases) Chapter V (F): Classification Of Mental and Behavioural Disorders: ......9 3.3 im OPD (= Operationale Psychodynamische Diagnostik) .............10 4 Internationale Klassifikation (WHO) nach ICD – 10 – Kapitel V (F)Hauptgruppen: .....................................................................................17 4.1. Diagnostik der organischen psychischen Störungen .....................18 4.2. Diagnostik von Psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen .....................................................................................20 4.3. Diagnostik schizophrener, schizotyper und wahnhafter Störungen22 4.4. Diagnostik affektiver Störungen ....................................................23 4.5. Diagnostik von Neurotischen, Belastungs-, und somatoforme Störungen – 25 4.6. Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren ..................................................................................26 4.7. Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen ......................................27 4.8. Diagnostik von Intelligenzminderung ...........................................28 4.9. Diagnostik von Entwicklungsstörungen ........................................28 4.10.Diagnostik von Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend ................................................................29 5 Der psychologische Befund in der störungsbezogenen Diagnostik.....33 5.1 Richtlinien der psychologischen Befunderstellung .........................33 5.2. Aufbau eines psychologischen Befundes .......................................34 5.3. Beispiel eines psychologischen Befundes ......................................36 Literaturempfehlung .......................................................................................45 2 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Dieses Skriptum baut auf den Inhalten der Vorlesung und des Skriptums: „Psychodiagnostik 1 Teil 1“ auf und setzt die Kenntnis der dort ausgeführten Inhalte voraus. 1 Grundlagen "Die Wörter "Diagnose" und "Diagnostik" gehen zurück auf das griechische Verb "διαγιγνϖσκειν" (diagignoskein). Es bedeutet "gründlich kennen lernen", "entscheiden" und "beschließen". Von der ursprünglichen Wortbedeutung her (dia: durch, hindurch, auseinander; gnosis: Erkenntnis) ist Diagnostik Erkenntnisgewinnung zur Unterscheidung zwischen Objekten. Eine Diagnose liefert Aussagen darüber, welche Sachverhalte (in der Vergangenheit) für ein Verhalten (in der Gegenwart) verantwortlich sind. "Diagnostik" schließt heute auch Aussagen im Sinne einer Prognose ein" (Fisseni, 1990, S. 1). Störungsbezogene Diagnostik hat daher mehrere Ebenen: − „entscheiden“: die Störung(en) benennen − „gründlich kennen lernen“: die Störung in ihrer Bedingtheit und Genese verstehen − „beschließen“: aus dem gewonnenen Wissen eine Behandlungsindikation ableiten Störungsbezogene Diagnostik endet nicht bei der Klassifikation, sie beginnt mit dieser. Daher wird im Folgenden zuerst Grundsätzliches zur Klassifikation besprochen, anhand der ICD 10 an Fallbeispielen dieser diagnostische Prozess, der oft in der Phase des „Gründlich-Kennen-Lernens“ in einem Fließübergang zur Psychotherapie steht, erklärt. Im Weiteren wird die Rolle des klinischpsychologischen Befundes in der störungsbezogenen Diagnostik erörtert und wiederum anhand von Fallbeispielen demonstriert. 3 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 2 Klassifikation und Diagnostik Klassifikation setzt die Annahme von abgrenzbaren „Krankheitseinheiten“ (Entitäten) voraus.Auf diesem Gedanken aufbauend stellte der Psychiater Emil Kraepelin (1865 - 1926) eine bis heute gebräuchliche Dreiteilung psychischer Krankheiten auf: 1. Psychosen (organisch, endogen, reaktiv) 2. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen Persönlichkeitsstörungen, Süchte, Psychosomatosen) (Neurosen, 3. Oligophrenien (leicht, mittelschwer, schwer) 2.1 Grundsätzliches Störungsbezogene Diagnostik hat zwei grundsätzliche Aspekte: kategorial = welche Störung liegt vor? dimensional = wie schwer ist die Störung? Ansprüche an die störungsbezogene Diagnostik: Was ist die Störung? -> wie heißt die Störung? -> woher kommt die Störung? -> was ist gegen die Störung zu tun? -> hilft das, was gegen die Störung getan wird? Deskriptive Diagnostik beantwortet die ersten beiden Fragen. Sie leistet die Zuordnung der Symptomatik zu umschriebenen Störungen (z.B. nach ICD 10): die Symptomatik wird differenziert und detailliert erhoben -> Benennen der Störung Der deskriptive Ansatz der neuen Diagnosesysteme ebnet den Weg für eine multiple Diagnosestellung bei ein und derselben Person (zum Beispiel: Angst und Abhängigkeit) = „Komorbidität“ = Benennen aller Störungen dieses Menschen => Klassifikation Es gibt zwei anerkannte Klassifikationssysteme. Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) herausgegeben von der American Psychiatric Association (APA) und das Kapitel V der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (Kapitel V der ICD), herausgegeben von der WHO (World Health Organisation). Das DSM liegt mittlerweile in der vierten Version vor, die ICD in der zehnten Version, wobei sie ursprünglich nur somatische Krankheiten klassifizierte und erst ab der sechsten Version psychische Störungen in einem eigenen Kapitel aufgenommen wurden. Die beiden Klassifikationssysteme wurden von ihren 4 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Anfängen her parallel entwickelt. Dem DSM liegt eine stärker forschungsorientierte Akzentuierung zugrunde, während man sich bei der WHO besonders darum bemühte, kulturübergreifende Diagnosen zu beschreiben. 1993 erschien die ICD-10, 1994 das DSM-IV. Das Hauptaugenmerk lag weiterhin darauf, alle Entwicklungen und Entscheidungen empirisch überprüfbar und nachvollziehbar zu machen und Neutralität bezüglich ätiologischer Vorstellungen zu bewahren. Letzteres führte z.B. dazu, dass die stark psychoanalytisch geprägte Unterscheidung von Neurosen und Psychosen nicht mehr auftaucht. Daraus sind aber nur bedingt therapeutische Implikationen abzuleiten. Es gibt keine Klassifikation psychischer Störungen, die genuin aus dem psychotherapeutischen Bereich stammt. Die Diagnostik hat also noch die weiteren Fragen zu beantworten, um die Störung in ihrer Bedingtheit und Genese zu verstehen und daraus abzuleiten, welche Behandlung die Störung bessern oder beheben kann und wie der Behandlungserfolg überprüft, also evaluiert werden kann. => störungsbezogene Diagnostik In der letzten Definition psychischer Störungen durch die Amerikanische Psychiatrische Assoziation, dem DSM IV (Diagnostisches Statistisches Manual IV), finden wir den Krankheitsbegriff nicht: "Psychische Störungen sind konzeptualisiert als ein klinisch bedeutsames behaviorales oder psychisches Syndrom oder Muster, das bei einem Individuum erscheint und das verbunden ist mit gegenwärtigen Belastungen, z.B. einem schmerzvollen Symptom mit Beeinträchtigungen, z.B. Behinderung in einem oder mehreren Funktionsbereichen oder mit einem bedeutsam erhöhtem Risiko zu sterben, Schmerzen oder Behinderungen zu erleiden oder einem wesentlichem Verlust von Freiheit". (Saß, Wittchen & Zaudig 1996, 944) (Anmerkung: Die Finanzierung bzw. Teilfinanzierung von Psychotherapie durch die Sozialversicherungsträger ist an das Vorliegen von Krankheit gebunden („Vorliegen einer krankheitswertigen Diagnose“).) Auf die Krankheitsursache als Ordnungsmodell wurde verzichtet. Man beschränkte sich auf eine möglichst präzise definitorische Erfassung von "Symptomen und Syndromen". Dieses Vorgehen hat nachweislich zu einem massiven Anstieg der Reliabilität der diagnostischen Aussagen geführt. Eine Diagnostik, geordnet nach Krankheitsursachen, wie sie davor üblich war, führte dazu, dass Patienten bei gleichem Zustandsbild unterschiedliche Diagnosen je nach dem ätiologischen Hintergrund des Diagnostikers bekamen. 5 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 2.2 Vorteile und Nachteile der Klassifikation Klassifikationssysteme sind Ordnungssysteme für Phänomene. Dies gilt auch für Klassifikationssysteme psychischer Störungen. Um eine Diagnose vergeben zu können, muss eine Diagnostik durchgeführt werden, innerhalb derer geprüft wird, ob die Kriterien für das Vorhandensein einer Störung erfüllt sind. Skepsis gegenüber der Klassifikation psychischer Störungen ging vor allem von den Psychotherapeuten aus: − Der Vorgang der Diagnostik gefährdet die akzeptierende therapeutische Haltung und fördert eine objektivierende Einstellung − Die Patienten werden durch die Vergabe von Diagnosen etikettiert, pathologisiert, im schlimmsten Fall stigmatisiert − Die Patienten werden durch die Speicherung und Weitergabe persönlicher Befunde versachlicht und entpersönlicht − Die vergebenen Diagnosen sind unvalide psychotherapeutischer Zielsetzungen ungeeignet − Klassifikation bedeutet Informationsverlust, da sie zu einer diagnostische Vergröberung führt − der typologischer Ansatz der Klassifikation nivelliert interindividuelle Unterschiede und negiert die Einmaligkeit des Individuums durch vereinfachende Klassenzuweisung − die deskriptive Klassifikation ist lediglich kategorial und nicht dimensional − die Klassifikation ist weitgehend eine dichotome Entscheidungsklassifikation (Störung vorhanden oder nicht?) − sie entspricht kaum den Kriterien der Psychometrie − die Inter-Diagnostiker Reliabilität habe sich nur mäßig erhöht (trotz anderer Hoffnungen) und für die Klärung Kritik aus (Schul-)Psychiatrie und Psychoanalyse: − eine rein deskriptive, Annahmen ist nutzlos a-theoretische Klassifikation ohne ätiologische − „bewährte“ Konzepte wie „endogen“, „psychosomatisch“, „Psychose“, „Sucht“ etc., die wegen Ätiologieannahmen und Schulenbindung in der deskriptiven Diagnostik keine Bedeutung haben, aufzugeben, ist gleichbedeutend mit einem Verlust der diagnostischen Qualität 6 Sindelar: Psychologische Diagnostik I − Das System ist psychiatrielastig, d.h. psychosomatische Störungen sind randständig und die neurotischen Störungen unlogisch erfasst − die beschriebenen Krankheitseinheiten haben keine psychotherapeutische Validität, das heißt, es resultieren aus ihnen keine psychotherapeutischen Strategien − die kategorialen Syndrome sind schwer gegeneinander abzugrenzen bzw. zeigen erhebliche Überschneidungen, so dass man einen Begriff wie Komorbidität einführen muss, um zu beschreiben, dass z. B. eine Persönlichkeitsstörung zu 60% mit anderen Persönlichkeitsstörungen überlappt oder dass somatoforme Störungen zu 50% auch die Kriterien für Depression oder Angststörung erfüllen. − ICD-10 und DSM-IV sind in der Praxis schwer praktikabel Diese Sichtweise mahnt zur Vorsicht im Umgang mit vermeintlichen Realitäten, ihrer Zuordnung und vor allem ihrer Bewertung. Dennoch lässt ein diagnostisches Klassifikationssystem wie ICD oder DSM einige unbestreitbare Vorteile erkennen: − das Ordnungssystem psychischer Störungen, auf das sich interdisziplinär und international jeder beziehen kann, erleichtert die interpersonale, interdisziplinäre und internationale Verständigung − Es ist operational definiert, d. h. die Krankheitsbilder sind genau festgelegt und es liegt nicht im Ermessen des einzelnen Therapeuten, was er dafür hält. − Es ist empirisch überprüfbar − Daraus folgt: die Ergebnisse dieser Überprüfung wirken zurück auf die Weiterentwicklung des Systems von Version zu Version, d.h. es zeigt eine gewisse Flexibilität und Anpassung an jeweils aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Es entwickelt sich von Version zu Version weiter − Die hypothetische Klassenbildung ermöglicht empirische Analysen, die neue Informationen (zu Ätiologie, Epidemiologie, Symptomatologie, Behandlungsmöglichkeiten) erbringen − Die Reliabilität wird immerhin in einem gewissen Maß erhöht durch den deskriptiven Ansatz und die „Operationalisierung“ der diagnostischen Leitlinien nach möglichst verhaltensnahen Symptombeschreibungen und durch die Spezifikation von Symptomanzahl und Symptomdauer sowie durch die Konstruktvalidität − Durch „diagnostische Leitlinien“ nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand ist eine Inhaltsvalidität gegeben 7 Sindelar: Psychologische Diagnostik I − Die allgemeine Indikationsstellung („Krankheitswertigkeit“) wird erleichtert, (= behandlungsbedürftig), nicht aber die differentielle Indikationsstellung (= welcher Behandlung bedürftig) − Es ist frei von unbeweisbaren theoretischen Annahmen (z. B. der Neurosentheorie) Zum größten Teil dienen Diagnostik und Klassifikation unmittelbar der Therapieplanung und der Therapiedurchführung. Beispiel zur Diskussion: ICD 10 Kapitel V: Aufmerksamkeitsstörung − − − − − − − − − F90 hyperkinetische Störungen: einfache G1: Unaufmerksamkeit sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren vermeiden oder verabscheuen Arbeiten, wie Hausarbeiten, die Durchhaltevermögen erfordern verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Tätigkeiten wichtig sind, z.B. Schularbeiten, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge werden häufig von externen Stimuli abgelenkt sind im Verlaufe der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich mindestens sechs der Symptome von Unaufmerksamkeit bestanden mindestens sechs Monate lang in einem mit einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. 8 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 3 Der Störungsbegriff 3.1 im ICD -10 (ICD = International Classification of Deseases) - Chapter V (F): Classification Of Mental and Behavioural Disorders: − − − − − − − − − − − − − verzichtet durchgängig auf den Begriff der Krankheit nicht „psychiatrische“ Störungen, sondern „psychische Störungen“ Kriterien für eine Störung ist ein Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten, die mit individuellen psychischen Beeinträchtigungen, mit individuellen Behinderungen im Sinne einer verminderten Bewältigungsfähigkeit von Alltagsaktivitäten verbunden sind und auch auf der sozialen Ebene mit Belastungen und Funktionsbeeinträchtigungen verbunden sein können diagnostiziert anhand „diagnostischer Leitlinien“ spezifiziert Anzahl und Gewichtung der Symptome, die für eine Diagnose vorliegen müssen Angaben zur Symptomdauer sind dabei allgemeinere Richtlinien unterscheidet Diagnose-Typen: „sichere Diagnose“: die diagnostischen Leitlinien müssen vollständig erfüllt sein „vorläufige Diagnose“: die diagnostischen Leitlinien sind nicht vollständig erfüllt, da Informationen fehlen, die wahrscheinlich ergänzt werden können „Verdacht auf ...“-Diagnose: die diagnostischen Leitlinien sind nicht vollständig erfüllt, da Informationen fehlen, die nicht ergänzt werden können Prinzip der Komorbidität: so viele Diagnosen wie nötig (Haupt-, Neben- und Zusatzdiagnosen) Rangreihe nach Aktualität der Störungskomponenten (Leidensdruck) stellt auch Bezug her zu den anderen ICD-10-Kapiteln (zum Beispiel somatischen) 9 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 3.2 im DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association ) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association (APA) 1921: in Zusammenarbeit mit New York Academy of Medicine: Psychiatrische Klassifikation: “Medical Association’s Standard Classified Nomenclature of Diseases” 1952: DSM-I …. 1980: DSM-III; 1987: DSM -III-R;1994: DSM-IV; 2000: DSM-IV TR (TE =”text revísion” ); 2013: DSM-5 Definition „Psychische Störung“ in DSM-5 (p. 20) „Eine psychische Störung ist definiert als Syndrom, welches durch klinisch signifikante Störungen in den Kognitionen, in der Emotionsregulation und im Verhalten einer Person charakterisiert ist.“ „Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen.“ „Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten.“ Im DSM-5 wurde das Mehrachsensystem verlassen, nur die Achse V ist zusätzlich zur Achse I geblieben: I Psychische Störungen V Beurteilung der beruflichen und sozialen Anpassung (Funktionsniveau). Neuanordnung der Störungsklassen und einzelner Störungen Einführung neuer Diagnosen (z.B. Leichte Kognitive Störungen, Binge-EatingStörung, Prämenstruelle Dysphorische Störung, Pathologisches Horten, Pathologisches Glückspiel..) Einiger Beschwerdebilder, die teils vehement postuliert wurden, wurden nicht aufgenommen (z.B. Burnout-Syndrom, Internetsucht) 10 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 3.3 im OPD (= Operationale Psychodynamische Diagnostik) Dieses Klassifikationssystem nimmt eine psychotherapiespezifische diagnostische Klassifikation vor, das den psychodynamischen Anschluss an das international gebräuchliche ICD-System leistet (Arbeitskreis OPD 1996, 2001). Es beinhaltet vier psychodynamische Achsen und eine klassifikatorische Achse, wobei die Achsen aus mehreren Dimensionen zusammengesetzt sind, die als Ganzes ein Muster des Erlebens und Verhaltens bilden. Auf der fünften Achse wird eine Verknüpfung mit der Symptombeschreibung nach ICD vorgenommen und damit an das international gültige diagnostische Klassifikationssystem angeschlossen: Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen Achse II: Beziehung Achse III: (psychodynamische) Konflikt(e) Achse IV: (Persönlichkeits-) Struktur Achse V: Psychische und Psychosomatische Störungen 11 Sindelar: Psychologische Diagnostik I ……………………………………………………………………………….…………. Zur Vertiefung: Prof.Dr.med. Gerd Rudolf, Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik, Heidelberg Vortrag am 22. April 2002 bei den 52. Lindauer Psychotherapiewochen: „Vorteile und Risiken der Klassifikation“ (Auszug, Volltext siehe: http://www.lptw.de) „ …………. Ich diskutiere abschließend das Fallbeispiel einer 25-jährigen Patientin. Auf der OPD Symptom-Achse hat sie die ICD-10 Diagnose Bulimie, depressive Episode. Kommentar: Die Patientin wirkt depressiv-starr, aber um Freundlichkeit bemüht, sie hat die Kontrolle über die Ess-Brechanfälle, die mehrmals wöchentlich auftreten, schon lange verloren. Sie hat gelegentlich dissoziative Symptome, deren Schweregrad aber nicht für die Diagnose einer dissoziativen Störung ausreichend Gelegentliche Erregungsspannungen, Missstimmung und Impulse, sich die Haut zu ritzen, sind vorhanden, aber auch nicht so ausgeprägt, dass die Diagnose einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung Borderline Typus gerechtfertigt wäre. Diese ICD-10 –Zuordnung zeigt eine Störung im Bereich des Verhaltens und psychischen Erlebens von einem mittleren Schweregrad. Die diagnostische Entscheidung, die Patientin als noch nicht Borderline und noch nicht dissoziativ einzuschätzen ist teils beruhigend, teils bedrohlich (vielleicht steckt doch mehr dahinter). Es ist schwer, allein aus diesen Fakten eine spezifische Therapieplanung im psychodynamischen Sinne abzuleiten. Für einen Therapeuten, der eine Weile in der Klinik gearbeitet hat, wird es fraglich erscheinen, ob die Bearbeitung von zugrunde liegenden Konflikten (die bis jetzt noch nicht genannt sind) ausreichen, um das entgleiste Essverhalten zu strukturieren. Er oder sie wird in seinen Behandlungsplan wahrscheinlich symptombezogene Interventionen einbauen. Die Symptomdiagnose Bulimie legt die symptombezogene Therapieplanung einer Bulimietherapie nahe. Wenden wir uns nun den psychodynamischen Achsen zu und beginnen mit OPD-Beziehung Die Beziehungsdiagnostik nach OPD zeigt folgendes dysfunktionales Beziehungsmuster: Die Patientin erlebt andere immer wieder so, dass diese sie ausbeuten oder im Stich lassen, während sie selbst sich besonderes bemüht und engagiert. Zugleich wird erkennbar, dass die Patientin in Beziehungen überraschend resigniert, sich unzugänglich macht und ihr Gegenüber zurückstößt. 12 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Kommentar: Ein solches Beziehungsmuster bedeutet ein großes Risiko für eine therapeutische Beziehung, weil die sehr bedürftige Patientin zunächst an ihr Gegenüber appelliert, ihm aber, wenn es sich annähert, zurückweist oder es ins Leere laufen lässt. Diese Muster diagnostisch zu erfassen, eröffnet die therapeutische Chance, es frühzeitig zu bearbeiten, anstatt dass es im Behandlungsverlauf allmählich seine destruktive Kraft entfaltet und die Beziehung scheitern lässt. Auf die therapeutische Technik in der Bearbeitung des Beziehungskonflikts will ich jetzt nicht näher eingehen. OPD-Konflikt Im Vordergrund wird ein Autarkie-Versorgungskonflikt, dahinter ein Selbstwertkonflikt registriert. Diese Konfliktbeschreibung gibt gewissermaßen die Interpretation für das Beziehungsverhalten. Es geht um den unbewussten Wunsch, autark zu sein und nicht versorgt werden zu müssen bei gleichzeitig andrängendem starkem Objekthunger. Dieses frühe Thema der Versorgung ist verknüpft mit einer ausgeprägten Selbstwertproblematik. Nicht vorhanden sind dagegen reifere Konflikte auf einer ödipal-sexuellen Ebene oder im Umgang mit Schuld und Aggressivität. Ebenfalls nicht im Vordergrund steht der basale AutonomieAbhängigkeitskonflikt mit seiner existentiellen Infragestellung. Kommentar: Für die Patientin ist klar, dass es sie selbst gibt und dass es wichtige Objekte gibt; Konflikthaft unklar ist für sie, wer auf wessen Versorgung angewiesen ist und wie der Selbstwert auf diese Abhängigkeiten reagiert. Diese neurotische Thematik wurde für sie aktualisiert, als sie sich aus der Elternfamilie heraus verselbständigen und an einen Partner binden wollte. An dieser Stelle wurden die Versorgungsdefizite durch die alkoholkranken Eltern und auch Defizite des emotional-kommunikativen Austauschs psychodynamisch akzentuiert. Auch diese diagnostische Feststellung hat therapeutische Konsequenzen. Die Bearbeitung eines Autarkie- und Selbstwertkonflikts stellt andere therapeutische Aufgaben als etwa die von ödipalen oder Schuldkonflikten. Als dritten, ergänzenden Aspekt beleuchten wir die OPD-Struktur Die Patientin verfügt über wenig introspektive Möglichkeiten für eigene Affekte und Konflikte und ebenso über wenig Möglichkeiten, sich anderen Menschen emotional mitzuteilen, sie hat wenig emotionalen Kontakt zu einem lebendigen Körperselbst. Durchbruchshaft kommt es bei ihr zu Kontrollverlusten und Selbstschädigungstendenzen. Das strukturelle Thema ist die Nichtverfügbarkeit der eigenen Emotionalität sowohl psychisch wie körperlich als auch interaktionell. So kommt es für sie 13 Sindelar: Psychologische Diagnostik I überraschend zu Impulshandlungen von oral-aggressiver und autoaggressiver Qualität. Kommentar: Zunächst ist es für die Therapieplanung hilfreich festzustellen, welche strukturellen Störungen die Patientin nicht hat. Sie verfügt über SelbstObjektdifferenzierung, d. h. sie kann sich gegenüber den Objekten abgrenzen; sie ist empathisch genug, um andere verstehen zu können und sie besitzt ausreichende Objektinternalisierung, d.h. sie kann wichtige Objekte in sich emotional besetzen und festhalten. Angesichts ihres oralen Beziehungsmodus kann sie Objekte nicht loslassen. Trennungen und Abschiede sind für sie unerträglich belastend, ihre strukturellen Auffälligkeiten verweisen auf Schwierigkeiten des emotionalen Umgangs mit sich und den Objekten. Ihre Bewältigungsversuche führen dazu, sich zu übersteuern, sich tot zu stellen, mit der Folge von Impulsdurchbrüchen oder Dissoziationen, wenn die Emotionsabwehr nicht mehr gelingt. Diese begründete Hypothese über das, was die Patientin strukturell kann und nicht kann, liefert wichtige Anregungen für strukturbezogene therapeutische Interventionen. Sie liegen in der Aufmerksamkeit für die Differenzierung der eigenen Affektwahrnehmung und des Affektausdrucks, in der Ermutigung für einen emotionalen Umgang mit den anderen, mit sich selbst und der eigenen Körperlichkeit. Dabei muss vor allem die Angst vor eigenen aggressiven Impulsen und vor Beschämungserfahrungen aufgefangen werden. Ich habe kürzlich versucht, diesen spezifischen Aspekt der strukturellen Vulnerabilität zu differenzieren und darauf ausgerichtet, Vorgehensweisen einer strukturbezogenen Psychotherapie zu systematisieren (Rudolf 2002a, 2002b, Horn und Rudolf 2002) Synopsis Die bulimisch-depressive Symptomatik, wie sie in ICD-10 Diagnose ausgedrückt ist, können wir als Krisensignal, als einen Hinweis auf innere Spannungszustände und das Scheitern von Regulationsversuchen verstehen. Die OPD-Beziehungsebene beschreibt, auf welche Weise die Patientin Interaktionen zum Scheitern bringt. Im Laufe des therapeutischen Prozesses wird der biographische Hintergrund dieses Musters sichtbar werden. Das Muster einer bedürftig gebliebenen Person, die gleichzeitig die Angebote des Anderen ängstlich zurückstoßen muss. Die OPD-Konfliktebene lässt erkennen, auf welcher entwicklungspsychologischen Tiefe die zentrale Problematik verankert ist. Es ist in diesem Falle die Ebene ungelöster Versorgungsproblematik mit beschämenden Folgen für den Selbstwert. Die OPD-Strukturebene macht deutlich, welche Elemente des psychischen Systems in ihrer Funktionsfähigkeit am deutlichsten beeinträchtigt sind. Im 14 Sindelar: Psychologische Diagnostik I vorliegenden Falle ist es die starke Zurücknahme eigener Emotionen, die ihr fremd bleiben, gelegentlich hereinbrechen oder abdissoziiert werden müssen. Natürlich ist diese Interpretation, wie jede Art von Diagnostik nie ein sicheres Wissen, sondern immer ein begründetes Vermuten. Es ist aber ein Sich-Entscheiden für eine Hypothese: Ich entscheide mich für die Annahme, dass die zentralen Schwierigkeiten der Patientin in diesem Bereich liegen und dass andere – dann möglicherweise als Ressourcen – zur Verfügung stehen. Ausgestattet mit diesen Annahmen kann der Therapeut zusammen mit seiner bulimischen Patientin deren aktuelle und biographische Lebenswirklichkeit untersuchen. Vor welchen aktuellen Entwicklungsaufgaben steht sie und schreckt sie zurück, welche Belastungen und Einschränkungen hat sie aus ihrer familiären Geschichte mit sich getragen, aber auch welche Fähigkeiten, Begabungen und Hoffnungen und Pläne hat sie bisher nur ansatzweise entwickelt und nicht genutzt. Für den Therapieerfolg mitentscheidend sind dabei zwei Punkte, deren Bedeutung in der psychodynamischen Welt leicht unterschätzt wird. Erster Punkt: Die Frage nach den strukturellen Fähigkeiten, bzw. Einschränkungen, d. h. nach dem Strukturniveau der Patientin. Dort, wo strukturelle Defizite erkennbar sind, muss die Therapie strukturbezogen geführt werden. Der Versuch einer konsequenten deutenden Konfliktaufdeckung, ohne Beachtung der Strukturdefizite bleibt ohne therapeutischen Erfolg oder führt ins Desaster. Zweiter Punkt: Die Frage nach der Verselbständigung der Symptomatik. Wenn eine Symptomatik wie Bulimie oder Körperschmerz lange genug bestanden hat, wird sie sinnleer, d. h. es bestehen wenig Chance, dass die Symptomatik einfach wegfällt, wenn der Konflikt bearbeitet wurde. Es muss also auch symptombezogen interveniert werden. Die diagnostische Klassifikation im OPD System leistet also das, was bei der ICD vermisst wurde: Sie leitet nahtlos über zur Formulierung von Therapiezielen und zur Entwicklung von Handlungsplänen. In der OPD arbeiten wir zur Zeit an der Weiterentwicklung in diese klinisch-therapeutische Richtung. Die strukturellen Einschränkungen aufzuheben, die dysfunktionalen Beziehungen zu verändern, die Konflikte bewusst zu machen, ist für psychodynamische Therapeuten das Therapieziel. Die Aufhebung der bulimisch-depressiven Symptomatik als Therapieziel soll darüber nicht vergessen sein. Wenn es aber darum geht, die Güte des Behandlungsergebnisses einzuschätzen, dann lässt sich dieses auf den OPDEbenen deutlich sichtbar machen: Dass emotionales Erleben im Psychischen, im Zwischenmenschlichen und im Körperlichen verlebendigt wurde; dass eine destruktive Beziehungsgestaltung reflektiert werden konnte und dass ein zentraler Konflikt seine unbewusste Sprengkraft verloren hat. Wir beschreiben damit 15 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Annäherungen an das zentrale Behandlungsziel, nämlich die Umstrukturierung der Persönlichkeit. …….. Denn ohne gute Diagnostik ist eine therapeutische Zielsetzung und Planung nicht möglich, es bleibt bei Versuch und Irrtum. Die Begriffe der diagnostischen Klassifikation z.B. ICD-10 spiegeln keine Wahrheiten, sondern den aktuellen Konsens von berufspolitischen und wissenschaftlichen Gruppierungen wider. Der aktuelle Konsens stammt aus der amerikanischen Psychiatrie. Doch kann auch ein psychiatrielastiges System wie DSM oder ICD durch ergänzende psychodynamische Dimensionen wie OPD für Psychotherapien nutzbar gemacht werden. Eine solche Diagnostik erlaubt dann nicht nur störungsspezifische, sondern auch strukturspezifische Gestaltungen des Behandlungsplanes und markiert vorab jene Konflikt- und Beziehungsmuster, die es therapeutisch zu bearbeiten gilt. Diagnostische Klassifikation unter Einbeziehung psychodynamischer Aspekte ist eine wichtige Voraussetzung, um die Arbeit von Psychotherapeuten professioneller und wirksamer zu gestalten…..“ ....................................................................................................... 16 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 4 Internationale Klassifikation (WHO) nach ICD – 10 – Kapitel V (F)- Hauptgruppen: Die ICD-10 besteht 21 Kapitel. Kapitel V ist für psychische Störungen vorgesehen und besteht aus 10 Hauptgruppen und 398 Störungsdiagnosen. Die Hauptgruppen sind von F0 bis F9 jeweils zweistellig kodiert. Jeweils weitere Stellen sind für Untergruppen, zusätzliche Symptome, Verlaufsmerkmale und das klinische Erscheinungsbild (z.B. akut oder nicht akut) vorgesehen. • F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen • F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen • F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen • F3 Affektive Störungen • F4 Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen • F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen oder Faktoren • F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen • F7 Intelligenzminderung • F8 Entwicklungsstörungen • F9 Verhaltens- u. emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit/Jugend 17 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 4.1. Diagnostik Störungen der organischen psychischen Einteilung nach ICD 10 (F0): F00: Demenz bei Alzheimer Krankheit F01: vaskuläre Demenz F02: Demenz bei andernorts klassifizierten Erkrankungen F03: nicht näher bezeichnete Demenz F04: organisches amnestisches Syndrom F05: Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt F06: sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung F07: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns F09: nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störungen Allgemeine Probleme der Diagnostik bei organischen psychischen Störungen: Da oft erhebliche kognitive Beeinträchtigungen bei organischen Störungen bestehen, spielen Selbstbeurteilungsverfahren eine geringere Rolle gegenüber Fremdbeurteilungsmethoden und neuropsychologischen Testverfahren. Verfahren, die den Patienten direkt evaluieren (wie zum Beispiel neuropsychologische Verfahren): zeitliche Belastbarkeit des Patienten ist limitiert, sensorische Beschränkungen des Patienten schränken die Auswahl diagnostischer Verfahren ein, intraindividuelle Schwankungen machen Untersuchungsergebnisse von situativen Determinanten abhängig, andere psychische Störungen nichtorganischer Genese verschlechtern Testleistungen („depressive Pseudodemenz“) 18 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Beispiele für ein Screening-Verfahren der Demenzdiagnostik: MMSE (Mini-Mental-State-Examination) (Folstein et al, 1975) Geprüft werden: Orientierung Merkfähigkeit Aufmerksamkeit und Rechnen Erinnerungsfähigkeit Sprache (maximal) 30 Punkte = unauffällig Ab 26 Punkten = leichte kognitive Beeinträchtigung 18-24 Punkte = leichte Demenz 10-17 Punkte = mittelgradige Demenz weniger als 10 Punkte = Schwere Demenz SIDAM: Strukturiertes Interview für die Diagnose einer Demenz vom Alzheimer Typ, der Multiinfarkt (oder vaskulären) Demenz und Demenzen anderer Ätiologie nach DSM-III-R, DSM-IV und ICD-10 (Zaudig et al. (1996) Einsatzbereich: Erwachsene von 60 bis 90 Jahren. Verwendung sowohl im epidemiologischen, ambulanten als auch stationären gerontopsychatrischen/psychologischen Bereich. Das SIDAM kann - nach entsprechendem Training - von Ärzten, Psychologen, Studenten, Pflegepersonal und Sprechstundenhilfen zuverlässig benutzt werden. Geeignet als Screening-Instrument wie auch zur basalen neuropsychologischen Einschätzung des kognitiven Funktionszustandes. Das SIDAM ermöglicht die Diagnose verschiedener Demenzsyndrome sowie «leichter kognitiver Beeinträchtigung» nach ICD-10 und DSM-IV. Die Messung und Quantifizierung der Störungsbilder erfolgt mit Hilfe der in das SIDAM integrierten Mini-Mental-State Examination, dem SIDAM-Score SISCO und dem Hachinski-Score bzw. dem modifizierten Ischemic Score. Ferner enthält das SIDAM verschiedene, unabhängig voneinander auswertbare Skalen (Orientiertheit, unmittelbare Wiedergabe, Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Gedächtnis global, intellektuelle Leistungsfähigkeit, verbale/rechnerische Fähigkeiten, optischräumliche Konstruktionsfähigkeiten, Aphasie/Apraxie und höhere kortikale Funktionen), mit deren Hilfe sich 10 weitere kognitive Syndrome quantifizieren lassen. Die Möglichkeit, kognitive Beeinträchtigungen verschiedenen Schweregrades zu erfassen, trägt dem dimensionalen Charakter der Demenzentwicklung Rechnung. Es werden genaue diagnostische Algorithmen angegeben, differenzialdiagnostische Erwägungen integriert und die psychosozialen Leistungen im Alltag (ADL-Skala) beurteilt. Auch die Information Angehöriger kann in den Beurteilungsteil des SIDAM aufgenommen werden. Das SIDAM erfasst aber nicht 19 Sindelar: Psychologische Diagnostik I nur altersbedingte kognitive Störungen. Es besteht z.B. auch die Möglichkeit, das SIDAM zur Erfassung kognitiver Beeinträchtigungen bis hin zur Demenz bei asymptomatischen HIV-infizierten Patienten einzusetzen. Zu diesem Bereich existiert eine umfangreiche WHO-Studie, in der das SIDAM eingesetzt wurde. In Anwendung seit 1996. 4.2. Diagnostik von Verhaltensstörungen Substanzen Psychischen und durch psychotrope Einteilung nach ICD 10(F1): F10:Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol F11:Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide F12:Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide F13:Psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika F14:Psychische und Verhaltensstörungen durch Kokain F15:Psychische und Verhaltensstörungen durch sonstige Stimulantien einschließlich Koffein F16:Psychische und Verhaltensstörungen durch Halluzinogene F17:Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak F18:Psychische und Verhaltensstörungen durch flüchtige Lösungsmittel F19: Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen Klassifikationssysteme erlauben die zuverlässige Zuordnung zu Diagnosekategorien, allerdings sind die Konstellationen hinsichtlich Ätiologie, Pathogenese, Krankheitsverlauf, Rehabilitation hoch fallspezifisch. Es besteht keine einheitliche Modellvorstellung der Sucht, besonders, seit der Begriff Sucht um nicht stoffbezogene Süchte (Spielen, Arbeiten, Internet..) erweitert wurde. 20 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Für Medikamenten- und Drogenabhängigkeit existieren kaum psychometrisch überprüfte Verfahren, denn: - die Substanzen sind hinsichtlich Einnahme, Wirkung und Folgeerscheinung sehr unterschiedlich - Illegalität und Strafandrohung verringern drastisch die Bereitschaft von Patienten zur Durchführung von Forschungsvorhaben. Typologien der Suchtkranken in Zwei-Klassen-Einteilungen wurden bis jetzt nicht ausreichend bestätigt: Cloninger (1995): genetisch geprägte versus milieugeprägte Abhängigkeitsform Babor (1992): Typ A: umweltgeprägt: weniger schwer ausgeprägte Abhängigkeit Typ B: früher Beginn, familiäre Belastung, Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit, psychiatrische Komorbidität (vor allem: antisoziale Persönlichkeitsstörung) Die diagnostische Kontroverse, ob Abhängigkeitserkrankungen als psychische Störungen an sich oder als Symptome einer anderen, grundlegenden Krankheit aufgefasst werden sollen, wird durch die neuen Diagnosesysteme nicht entschieden, sondern in multiple Diagnosestellungen für ein und dieselbe Person übergeleitet. An häufigsten finden sich Diagnosekombinationen mit Persönlichkeitsstörungen, Depressionen und Angsterkrankungen berichtet. Aspekte der Diagnostik von Abhängigkeiten: Screening ( zum Beispiel: Lübecker Alkoholismus Screening Test (LAST), Rumpf,. 1998) -Schweregrad und Differenzierung von Abhängigkeitsphänomenen (Trierer Alkoholismus Inventar (TAI), Funke et al., 1987 spezielle Phänomene wie zum Beispiel Rückfall, Craving unwiderstehliches Verlangen zum Substanzenkonsum), Konsummotive (= Die vorhandenen Instrumente sind international nicht vergleichbar, da massive transkulturelle Unterschiede in der Lebensrealität des Menschen in der Sucht bestehen. 21 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 4.3. Diagnostik schizophrener, schizotyper und wahnhafter Störungen Einteilung nach ICD 10 –(F2) F20: Schizophrenie F21: schizotype Störungen F22: anhaltende wahnhafte Störungen F23: akute vorübergehende psychotische Störungen F24: induzierte wahnhafte Störung F25: schizoaffektive Störungen F28: sonstige nichtorganische psychotische Störungen F29: nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose Diese Kategorie mehrere Störungsgruppen, deren gemeinsames Kennzeichen das Vorliegen von Wahn, Halluzinationen und/oder Denkstörungen ist. Die Subtypisierung erfolgt anhand der im Vordergrund stehenden Symptomatik und des Verlaufs. Dreidimensionale Struktur schizophrener Symptomatik: - Negativsymptomatik: zum Beispiel: Affektverflachung, Anhedonie, Sprachverarmung - Positivsymptomatik: Wahn, Halluzinationen - Desorganisationssymptomatik: Denkstörungen, bizarres Verhalten Selbstbeurteilungsverfahren: FBF – Frankfurter Beschwerdefragebogen (Süllwold, 1991) 22 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 4.4. Diagnostik affektiver Störungen Einteilung nach ICD 10 –(F3) F30: manische Episode F31: bipolare affektive Störung F32: depressive Episode F33: rezidivierende depressive Störungen F34: anhaltende affektive Störungen F38: sonstige affektive Störungen F39: nicht näher bezeichnete affektive Störungen Traurigkeit, Verstimmung, Gereiztheit, gehobene Stimmung, Unruhe, Ängstlichkeit usw. gehören zum normalen emotionalen Erleben. Die Abgrenzung zwischen krankheitswertig und behandlungsbedürftig zur normalen Reaktion ist in Wahrheit bis jetzt ungelöst. Eine Reihe gut validierter, Selbstbeobachtungsverfahren und Fragebögen erlauben die Bestimmung des Schweregrades der Depressivität, der Manie bzw. Hypomanie, der Messung von Veränderungen während der Behandlung und von Schwankungen der Befindlichkeit und Beschwerden Allerdings kann mittels Selbstbeurteilungsinstrumenten keine diagnostische Entscheidung getroffen werden, sondern nach erfolgter klassifikatorischer Diagnostik können damit die Symptomausprägung und - im Sinne einer multimethodalen Diagnostik - auf verschiedenen Ebenen die möglichen Beeinträchtigungen differenziert werden. 23 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Beispiel für ein Verfahren zur Diagnostik des Schweregrads einer Depression: Beck Depressionsinventar (BDI) Das international gebräuchlichste Selbstbeurteilungsinstrument ist das BeckDepressions-Inventar (BDI, Beck & Steer, 1987; BDI II, Beck, Steer & Brown, 1996; Hautzinger, Bailer, Worrall & Keller, 1995). Es ist seit seiner Einführung (Beck, Ward, Mendelson, Mock, Erbaugh, 1961) zu dem verbreitetsten und in vielfältigen klinischen Zusammenhängen erfolgreich eingesetzten Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schweregrades einer depressiven Episode geworden. Der Patient hat die Aufgabe, jedes dieser Items auf einer vierstufigen Skala von 0 bis 3 hinsichtlich dessen Auftretens während der letzten Woche und dessen Intensität zu beurteilen. Die Bearbeitungszeit für Patienten beträgt zwischen 15 und 20 Minuten. Die Skala umfasst 21 Items, die mit den Buchstaben A bis U gekennzeichnet sind und jeweils vier Aussagen enthalten, die - auf einen Bereich depressiver Symptomatik bezogen - Schweregrade unterscheiden. Die Items betreffen im Einzelnen: A: Traurigkeit B: Pessimismus C: Versagen D: Unzufriedenheit E: Schuldgefühle F: Strafwünsche G: Selbsthass H: Selbstanklagen I: Suizidimpulse J: Weinen K: Reizbarkeit L: Soziale Isolation M: Entschlussunfähigkeit N: Negatives Körperbild 24 Sindelar: Psychologische Diagnostik I O: Arbeitsunfähigkeit P: Schlafstörungen Q: Ermüdbarkeit R: Appetitverlust S: Gewichtsverlust T: Hypochondrie U: Libidoverlust - praktische Übung – -Fallbeispiel- Komorbidität –F0 4.5. Diagnostik von Neurotischen, Belastungs-, und somatoforme Störungen – Einteilung nach ICD 10 –(F4) F40: phobische Störung F41: sonstige Angststörungen F42: Zwangsstörung F43: Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F44: dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F45: somatoforme Störungen F48: sonstige neurotische Störungen Dieser Abschnitt enthält ein breites, heterogenes Spektrum psychischer und psychophysiologischer Störungen. Die Störungsgruppen haben keine einheitliche Leitsymptomatik und keinen gemeinsamen psychopathologischen Kern. Gemeinsam ist die Annahme eines hohen psychogenetischen Anteils für die Entstehung, Auslösung und Aufrechterhaltung der Störungen. Daher haben in dieser Gruppe psychotherapeutische Verfahren einen hohen Stellenwert. Weit verbreitet sind besonders die Angststörungen, die somatoformen Störungen und die Schlafstörungen. 25 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Da bei Patienten aus diesen Störungsgruppen die Compliance meistens hoch ist und die Symptomatik oft nicht von außen beobachtet werden kann (zum Beispiel Schlafstörungen), werden in diesen Störungsgruppen häufiger als bei den anderen Störungsgruppen Selbstbeurteilungsverfahren eingesetzt. Allerdings sind viele Verfahren in der Routinepraxis wenig praktikabel, da sie zum Teil sehr zeitaufwändig in der Durchführung und Auswertung sind (zum Beispiel: KinderDIPS: 60 Minuten Elterninterview und 60 Minuten Interview mit dem Kind). Diagnostische Abgrenzungsprobleme bestehen vor allem bei dissoziativen Störungen zu Borderline-Persönlichkeitsstörungen. - Fallbeispiel: F 44.4: Dissoziative Bewegungsstörung 4.6. Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Einteilung nach ICD 10 –(F 5) F50: Essstörungen F51: nicht-organische Schlafstörungen F52: sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Erkrankung F53: psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, nicht andernorts klassifizierbar F54: psychische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Erkrankungen F55: Missbrauch von Substanzen, die keine Abhängigkeit hervorrufen F59: nicht näher bezeichnete Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren In dieser Gruppe stellen sich oft Schwierigkeiten der diagnostischen Abgrenzung zu somatischen Erkrankungen, im Hinblick auf andere psychische Störungen zu depressiven und Angststörungen, bei denen ebenfalls die Symptome dieser Störungen auftreten können. - Fallbeispiel: Essstörung-Komorbidität F1 26 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 4.7. Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen Einteilung nach ICD 10 –(F 6) F60: Persönlichkeitsstörungen F61: kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen F62: andauernde Persönlichkeitsänderungen, nicht Folge einer Schädigung oder Erkrankung des Gehirns F63: abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F64: Störungen der Geschlechtsidentität F65: Störungen der Sexualpräferenz F66: psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung F68: sonstige Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F69: nicht näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörung Gemeinsames Merkmal dieser Störungen ist der Nachweis anhaltender, gestörter Verhaltensmuster, die nach typologischen Gesichtspunkten unterteilt werden: tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster mit starren Reaktionen auf persönliche und soziale Lebenslagen (z.B. Persönlichkeitsstörungen) Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen in Bezug auf die Sexualität (z.B. Störungen der Geschlechtsiedentität) Verhaltensstörungen in isolierten Bereichen (z.B. abnorme Gewohnheiten) Diese Gruppe ist insgesamt heterogen, es gibt keinen allgemein akzeptierten Konsens hinsichtlich der Abgrenzung von „normalen“ Persönlichkeitsvarianten. - Fallbeispiel- 27 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 4.8. Diagnostik von Intelligenzminderung Einteilung nach ICD 10 - (F 7) F70: leichte lntelligenzminderung: IQ: 50-69 (mentales Alter: 9 bis unter 12) F71: mittelgradige Intelligenzminderung: IQ 35-49 F72: schwere lntelligenzminderung: IQ 20-34 F73: schwerste lntelligenzminderung: IQ unter 20 F78: sonstige lntelligenzminderung F79: nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung Mit der vierten Stelle (F 7x.x) kann das Ausmaß der Verhaltensbeeinträchtigung in Verbindung mit den Kategorien F70-F79 näher gekennzeichnet werden (zum Beispiel: F70.0 = leichte Intelligenzminderung, keine oder nur geringfügige Verhaltensstörung) - Fallbeispiel- 4.9. Diagnostik von Entwicklungsstörungen Einteilung nach ICD 10 –(F 8) F80: umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F81: umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten F82: umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen F83: kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung F84: tiefgreifende Entwicklungsstörungen F88: sonstige Entwicklungsstörungen F89: nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung - Fallbeispiel: - 28 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 4.10. Diagnostik von emotionale Störungen Kindheit und Jugend Verhaltensund mit Beginn in der Einteilung nach ICD 10 –(F 9) F90: hyperkinetische Störungen F91: Störung des Sozialverhaltens F92: kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F93: emotionale Störung des Kindesalters F94: Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F95: Ticstörungen F98: sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F99: nicht näher bezeichnete psychische Störungen - Fallbeispiel- 29 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 30 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Diagnosen sind Konstrukte! Menschen HABEN nicht eine psychische Störung, sondern sie erfüllen die Kriterien einer psychischen Störung! 31 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 32 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 5 Der psychologische Befund in der störungsbezogenen Diagnostik 5.1 Richtlinien Befunderstellung der psychologischen Richtlinien für die Erstellung eines psychologischen Befundes, an die sich der Psychologe zu halten hat: Aus den Richtlinien für die Erstellung Psychologischer Gutachten (Berufsverband Deutscher Psychologen, 1988) - sinngemäß auch enthalten in den 1999 vom sog. "Psychologenbeirat" (des österreichischen BM für Arbeit, Gesundheit und Soziales) verabschiedeten Richtlinien für Psychologische Gutachten: "Ein ... psychologisches Gutachten ist eine wissenschaftliche Leistung, die darin besteht, aufgrund wissenschaftlich anerkannter Methoden und Kriterien nach feststehenden Regeln der Gewinnung und Interpretation von Daten zu konkreten Fragestellungen Aussagen zu machen. Es handelt sich um die Antwort eines Experten, des Diplom-Psychologen, auf Fragen, zu denen er aufgrund seines Fachwissens, des aktuellen Forschungsstandes und seiner Erfahrung Stellung nimmt." (S.3). "Es liegt ... in der Verantwortung des jeweiligen Gutachters, welche Verfahren er aufgrund des aktuellen Forschungsstandes in der wissenschaftlichen Psychologie auswählt, welchen Umfang der Datenerhebung er für angemessen hält, was aus der Sicht der Fragestellung als mitteilensnotwendig gilt und was zum Schutz der Persönlichkeit des Begutachteten nicht mitzuteilen ist." (S.3). "Seine Arbeit muß gekennzeichnet sein durch Bemühen um Objektivität. Er muß die Freiwilligkeit einer Teilnahme an psychologischer Begutachtung respektieren, soweit dem nicht ein Gesetz oder eine andere förmliche Norm entgegensteht, und er muß Sorge tragen für hinreichenden Datenschutz der von ihm gewonnenen Informationen." (S.2). Psychologischer Befund und psychologisches Gutachten: Befund und Gutachten sind laut (österreichischer) Zivilprozeßordnung (§ 362 Abs. 1 ZPO) zwei unterschiedliche Gesetzesbegriffe: Ein psychologischer Befund ist die Feststellung und Beschreibung von psychologischen Tatsachen, die der Psychologe ermittelt hat, das heißt: die rein 33 Sindelar: Psychologische Diagnostik I deskriptiv abgefassten Ergebnisse von Anamneseerhebung, Exploration, psychologischen Tests und gegebenenfalls von biographischem Inventar stellen den Befund dar. Ein psychologisches Gutachten zieht Schlussfolgerungen aus den ermittelten Tatsachen durch Anwendung des Fachwissens, indem es die Untersuchungsergebnisse interpretiert und darauf basierend Maßnahmen vorschlägt Im Sprachgebrauch wird häufig das Wort "Befund" auch im weiteren Sinn als Gesamtheit von Befund und Gutachten verwendet. 5.2. Aufbau eines psychologischen Befundes Aus dem oben Ausgeführten folgt der Aufbau eines psychologischen Befundes: - Eckdaten der Befunderhebung: an wem wurde wann die psychologische Untersuchung durchgeführt? - In wessen Auftrag (zum Beispiel: Zuweisung durch Arzt, Empfehlung durch Schule, Selbstvorstellung) und zur Klärung welcher Fragestellung wurde der Befund erhoben? - Anamnese der für die Fragestellung relevanten Inhalte, wobei die Informationsquelle angegeben werden muss (zum Beispiel: „nach Bericht der Eltern…“) - Biographische Anamnese - Exploration und Verhaltensbeobachtung - Durchgeführte Testverfahren (müssen namentlich angeführt werden) - Deskription der Testergebnisse - Interpretation der Testergebnisse Empfehlungen Bei der Formulierung hat der untersuchende Psychologe folgende Kriterien zu berücksichtigen: - Befunde müssen für den Adressaten nachvollziehbar sein. Daher ist die sprachliche Ausdrucksweise so zu wählen, dass zu erwarten ist, dass der Befundempfänger diese Inhalte auch verstehen kann. Psychologische Fachtermini sind, sofern sie im Befund angeführt sind, zu erklären (zum Beispiel: statistische Kennzahlen wie etwa Prozentränge). Wird ein Bericht an psychologische Laien weitergegeben, so sollten darin Fachtermini vermieden werden (Besonders problematisch sind Begriffe, die aus der akademischen Psychologie stammen und Eingang in die Umgangssprache gefunden haben, wie zum Beispiel: Narzissmus). Der Befund ist unbedingt mündlich mit dem Patienten zu besprechen, bevor er einen schriftlichen Befund ausgehändigt bekommt, um Fehlinterpretationen 34 Sindelar: Psychologische Diagnostik I durch den Patienten zu vermeiden. Der Untersuchte sollte prinzipiell über die Ergebnisse seiner Untersuchung informiert werden. Dies gilt auch - vielleicht sogar: insbesondere - für Kinder, bei denen man fälschlicherweise häufig meint, man könne Resultate aus Untersuchungen nicht mit ihnen direkt besprechen, sondern müsse quasi 'über ihren Kopf hinweg' mit den Eltern verhandeln. Bei der Abfassung des Befundes ist darauf Bedacht zu nehmen, wer diesen Befund bekommt und was dieser Empfänger aus dem Befund herauslesen könnte, welche Schlussfolgerungen er ziehen könnte. Dementsprechend sind nicht immer alle Informationen, die sich im Rahmen der psychologischen Untersuchung ergeben haben, in einem Befund auch anzuführen (zum Beispiel: Zahl eines Intelligenzquotienten oder innerfamiliäre Beziehungskonflikte in einen Befund an die Schule) 35 Sindelar: Psychologische Diagnostik I 5.3. Beispiel eines psychologischen Befundes KLINISCH-PSYCHOLOGISCHER BEFUND (Anmerkung: der Befund wurde selbstverständlich anonymisiert) Betrifft: Birgit (Name geändert)XXXX geb.: XX.XX.1994 Untersuchungsdatum: XX.XX.2011 Vorstellungsgrund und Fragestellung: Birgit wird von ihren Eltern und auf eigenen Wunsch wegen trauriger Gestimmheit, Appetitverlust, Lernschwierigkeiten, besonders in den Gegenständen Deutsch, Englisch und Mathematik zur klinisch-psychologischen Untersuchung vorgestellt. Die klinisch-psychologische Untersuchung soll abklären, inwieweit eine depressive Symptomatik die Leistungsfähigkeit des Mädchens beeinträchtigt oder ob andere Bedingungen vorliegen, die Birgit in ihrer emotionalen Gesundheit und in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit blockieren, insbesondere inwieweit Birgit durch die Leistungsanforderungen der AHS überfordert ist. Aus der Anamnese: Birgit und ihre Eltern berichten: Birgit wiederholt derzeit fünfte Klasse der allgemein bildenden höheren Schule. Das vorangegangene Schuljahr konnte sie wegen nicht-genügender Leistungen in Deutsch, Englisch und Mathematik nicht positiv abschließen. Intensive Lernnachhilfe während des gesamten letzten Schuljahres zeigte laut Bericht der Eltern und Birgits keinen Effekt. Die Eltern berichten weiters, dass Birgit besonders im Laufe des letzten halben Jahres zunehmend traurig gestimmt sei, den Kontakt zu ihren Freunden einschränke, sich auch innerhalb der Familie zurück ziehe. Außerdem sei den Eltern aufgefallen, dass vor allem in den letzten Wochen 36 Sindelar: Psychologische Diagnostik I zunehmend appetitlos sei, sie habe etwa fünf Kilogramm im letzten Monat abgenommen. Weiters berichten die Eltern, dass Birgit schon seit der zweiten Volksschulklasse mit Schulschwierigkeiten kämpfe: gegen Ende der zweiten Klasse Volksschule sei aufgefallen, dass Birgit noch keine sichere Buchstabenkenntnis hatte und das Lesen noch nicht erlernt hatte (was die Klassenlehrerin, die aus Gründen ihrer xxxxxxxxx häufig abwesend war, noch nicht bemerkt hatte) Die Mutter übte daraufhin intensiv mit Birgit, sodass sie den Anschluss an das Klassenniveau finden konnte. Dieses intensive häusliche Üben fand während der gesamten Volksschulzeit statt. Die Mutter berichtet, dass Birgit dabei immer sehr geduldig und ausdauernd mitgearbeitet hätte. Ebenso berichten die Eltern, dass Birgit bis vor etwa einem halben Jahr ein besonders sonniges Wesen und hohe soziale Kompetenz besitze. Biographische Anamnese: Grav.: oB, Part.: spontan zum Termin, 3300g, 52 cm, keinerlei Komplikationen. Birgit wurde sechs Wochen lang gestillt, ist nach einer Krabbelphase mit elf Monaten gelaufen, sauber war sie mit eineinhalb Jahren, die Sprachentwicklung war unauffällig. Birgit besuchte von drei bis sechs Jahren den Kindergarten, vorher wurde sie von der Mutter betreut, mit sechs Jahren trat sie in die Volksschule ein. Danach besuchte sie das Gymnasium. Bisherige Erkrankungen: Pfeiffersches Drüsenfieber, Windpocken, rezidivierende Otitiden, Mit neun Jahren Commotio nach einem Sturz mit dem Fahrrad, keine Hospitalisierung. Voruntersuchungen: Im Alter von neun Jahren kinderpsychologische Untersuchung an der Kinderklinik in xxxx, die laut Bericht der Eltern eine gut durchschnittliche Intelligenz und eine legasthene Symptomatik aufwies. Behandlung wurde keine vorgeschlagen. Vor zwei Monaten sei Birgit internistisch komplett durchuntersucht worden, die Untersuchung blieb ohne medizinischen Befund. Augen- und ohrenärztlich sei sie 37 Sindelar: Psychologische Diagnostik I ebenfalls abgeklärt worden. Bis auf eine leichte, nicht korrekturbedürftige Kurzsichtigkeit seien keinerlei Auffälligkeiten festgestellt worden. Familienanamnese: Mutter 4X Jahre, arbeitet in der Praxis des Vaters im organisatorischen und administrativen Bereich mit, Vater 5X Jahre, Arzt, Ein Bruder mit 19 Jahren absolviert nach der Matura seinen Wehrdienst, eine Schwester mit 12 Jahren besuche mit gutem Erfolg das Gymnasium. Die Familie lebt in xxxx (Kleinstadt) in xxxx. Keinerlei familiäre Erkrankungen. Exploration: Birgit berichtet, dass sie sich große Sorgen um ihre Zukunft mache, da sie die Schule nicht schaffen werde. Ihr Traumberuf sei daher ein unerfüllbarer Traum. Sie schlafe in letzter Zeit schlecht, könne erst nach Stunden einschlafen. Ihre früheren Hobbies machen ihr keine Freude mehr, auch ihre Freunde möchte sie nicht mehr so oft sehen, weil sie es nicht ertrage, dass es allen außer ihr in der Schule so gut gehe. Und sie müsse, auch außerhalb der Schule, dauernd ans Lernen denken. Vor Schularbeiten und Prüfungen sei sie sehr nervös und leide unter Übelkeit und Bauchschmerzen. Mit den Eltern verstehe sie sich gut, nur ginge ihr die „Mitleidstour“ ihrer Mutter zunehmend auf die Nerven und auch, dass die Mutter dauernd etwas koche, nur damit sie mehr esse. Die Geschwister seien, wie Geschwister so eben sind, manchmal „nervig“, manchmal lieb. Ihren Bruder, der das Gymnasium bereits abgeschlossen habe, beneide sie darum, dass er immer so leicht gelernt habe. Sie habe jeden Tag Nachhilfe von insgesamt drei verschiedenen Lehrern, die Kosten machen ihr ein schlechtes Gewissen. Die Lehrer seien ja ganz in Ordnung und bemühen sich auch, aber sie selbst sei halt einfach zu dumm für die Schule – sie könne ja nicht einmal in anderen Fächern als den Problemfächern ordentlich mitschreiben, mache dauernd Fehler, die ihr gar nicht auffallen, nur könne sie nachher das Geschriebene fast nicht lesen. Buchstaben seien überhaupt eine unnötige Sache. 38 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Was bei der psychologischen Untersuchung rauskomme, wisse sie ohnehin jetzt schon: am Ende werde sie erfahren, dass sie fürs Gymnasium zu dumm sei und es aufgeben solle. Während der Exploration, die in Abwesenheit der Eltern geführt wurde, beginnt Birgit immer wieder zu weinen, bleibt aber gesprächsbereit und antwortet geordnet und kohärent auf Fragen. Birgit ist ein auffallend hübsches Mädchen, erscheint schlank, aber nicht untergewichtig. Testverhalten: Birgit ist in der Untersuchungssituation kooperativ, affektiv zugewendet, kontaktbereit, arbeitet konzentriert und ausdauernd in guter Leistungsmotivation. Sie schreibt und hantiert rechtshändig. Die Grobmotorik ist ruhig, die Feinmotorik geschickt. Sie spricht in deutlicher und differenzierter Spontansprache. Der Antrieb ist angemessen aktiv, die Stimmungslage gedrückt. Untersuchungsergebnisse: PSB-R 6-13 Verfahren zur Erfassung von Teilleistungsschwächen nach Sindelar HSP 5-9 Rorschach-Test Beck´sches Depressionsinventar (BDI) Leistungstests: Im PSB-R 6-13 erreicht Birgit ein dysharmonisches Profil: Durchschnittliche Werte erzielt sie in der Wortflüssigkeit und im Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Serien und in der Genauigkeit. Unter dem Durchschnitt liegen die Werte im Allgemeinwissen (wobei festzuhalten ist, dass in diesen Subtest Rechtschreibfertigkeiten mit einfließen) sowie in der Konzentrationsfähigkeit bei rein mechanischen Rechenaufgaben. Überdurchschnittlich sind die Leistungen in der abstrakt-sprachlichen Logik und im räumlich-logischen Denken. Damit zeigt das Profil eine Ausprägung, wie sie gehäuft bei Legasthenikern im Jugendlichenalter zu finden ist. 39 Sindelar: Psychologische Diagnostik I In der Untersuchung der kognitiven Grundfunktionen lassen sich Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Fähigkeit zur intermodalen Kodierung feststellen. Diese Teilleistungsschwächen bewirken: Birgit kann durch die Teilleistungsschwäche in der visuellen Merkfähigkeit Wortbilder nur ungenau speichern, durch die Teilleistungsschwäche in der intermodalen Kodierung Verbindungen zwischen Gehörtem und Gesehenem, also zum Beispiel zwischen dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen Wort, nicht ihrem allgemeinen Entwicklungsniveau entsprechend herstellen. Dies erklärt sowohl die Diskrepanzen im Leistungsprofil als auch die Lernschwierigkeiten. Im standardisierten Rechtschreibtest erreicht Birgit mit einem Prozentrang von 11 ein deutlich unterdurchschnittliches Ergebnis. Damit ist die Diagnose einer Rechtschreibstörung gerechtfertigt. Persönlichkeitstests: Im durchgeführten projektiven Testverfahren zeigt sich ein emotional sehr kontrolliertes, in der Fähigkeit zum tiefergehenden zwischenmenschlichen DuKontakt differenziertes und reifes Persönlichkeitsbild. Die affektive Ansprechbarkeit ist gegeben. Birgit ist allerdings in ihrem Selbstwertgefühl durch ihre Schulschwierigkeiten massiv verunsichert, die Beziehung zur Leistungssituation ist durch Aggression einerseits, durch Schuldgefühle andrerseits belastet. Autoaggressive Tendenzen kommen zur Darstellung. Da Birgit an sich ein qualitätsehrgeiziges Mädchen ist, ihr auch bezüglich ihrer Position in der Gruppe der Gleichaltrigen ihre Leistungsfähigkeit besonders wichtig ist, ist sie in der Folge ihrer legasthenen Symptomatik sekundär neurotisiert und somit auch in ihrer Zukunftserwartung verunsichert. In der Beziehung zur Mutter dominiert das Gefühl der Besorgtheit um die Mutter bis zur Angst um die Mutter, auch in der Beziehung zum Vater steht die Sorge um ihn im Vordergrund. Die Beziehung zu den Geschwistern ist unauffällig. Im BDI (Fragebogen zur Messung des Schweregrades einer Depression) ergibt sich die deskriptive Diagnose einer mittelgradigen bis schweren Depression. Dagegen sind im Rorschachtest, der die unbewusste Gefühlswelt sowie die affektive Struktur erfasst, keine depressiven Indikatoren zu finden. 40 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Zusammenfassung, Interpretation und Empfehlung: Birgits Schulschwierigkeiten stehen im Zusammenhang mit Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Intermodalität, die in einer legasthenen Symptomatik resultieren und in der Folge nicht nur die schulischen Leistungen beeinträchtigen, sondern auch die Entfaltung des gesamten Leistungsprofils partiell blockieren. Im Sinne der sekundären Neurotisierung zeigt sich eine massive Verunsicherung des Selbstwertgefühls, eine gespannte Beziehung zur Leistung und Unsicherheit in der Zukunftserwartung. Diskrepant sind die Ergebnisse zwischen dem Fragebogentest und dem projektiven Test: im Fragebogentest ergibt sich das Bild einer mittelgradigen bis schweren Depression, die im projektiven Test nicht feststellbar ist. Diese Diskrepanz ist wie folgt zu interpretieren: Birgit ist in Folge ihrer massiven Misserfolgserlebnisse und der chronischen schulischen Stresssituation, bedingt durch die Legasthenie, belastet und emotional erschöpft, was sich in einer depressiven Symptomatik auswirkt. Ätiologisch ist somit die Legasthenie das Grundproblem, das sich auf die seelische Befindlichkeit und Gesundheit auswirkt. Daher ist die Behandlung des Grundproblems die erste Indikation, die durch begleitende ich-stützende und ermutigende Hilfestellung, vor allem seitens der Familie und der Schule, geleistet werden sollte. Eine Behandlung der depressiven Symptomatik kann als Begleitmaßnahme sinnvoll sein, wird jedoch, solange das verursachende Moment der Legasthenie nicht behoben ist, keinen langfristigen Erfolg zeigen, da eine Fortsetzung der Frustration durch Misserfolg wahrscheinlich ist. Das Untersuchungsergebnis wurde mit Birgit und ihren Eltern besprochen, Birgit reagierte auf die Befundbesprechung mit enormer Erleichterung. Besonders die Erklärung ihres Leistungsprofils sowie die Besprechung der legasthenen Symptomatik und der diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten hoben ihre Stimmung. Ein spezifisches funktionell-therapeutisches Trainingsprogramm wurde vorgeschlagen und erstellt, das Birgit in der Computerspielversion zu Hause durchführen wird. Dieses Programm wird in weiteren klinisch-psychologischen Behandlungen im Laufe des Trainings in seiner Effizienz kontrolliert und dem Fortschritt Birgits angepasst werden. 41 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Adressatenspezifische Adaptation des Befundes: Auf Wunsch der Eltern und der Jugendlichen wurde ein Befundbericht für die Schule erstellt. Dabei ist, wie ausgeführt, zu berücksichtigen, welche Informationen für die Schule relevant sind und wie diese zu formulieren sind, damit der Adressat, in diesem Fall die Lehrer des Mädchens, diese Informationen auch versteht. Weiters ist darauf Bedacht zu nehmen, dass nur die für die Lehrer relevanten Informationen in diesem Befund berichtet werden, also die Privatsphäre der Patientin und deren Familie gewahrt bleibt und keine Verletzung der Schweigepflicht geschieht. Aus eben diesem Grund wird der Befund auch an die Familie und nicht an die Schule direkt geschickt. So können die Eltern immer noch entscheiden, ob sie den Befund an die Schule weitergeben wollen und damit ihr Einverständnis handhaben: KLINISCH-PSYCHOLOGISCHER BEFUND zur Vorlage in der Schule (Anmerkung: der Befund wurde selbstverständlich anonymisiert) Betrifft: Birgit XXXX geb.: XX.XX.1994 Untersuchungsdatum: XX.XX.2011 Vorstellungsgrund und Fragestellung: Birgit wird von ihren Eltern und auf eigenen Wunsch wegen trauriger Gestimmheit, Appetitverlust, Lernschwierigkeiten, besonders in den Gegenständen Deutsch, Englisch und Mathematik zur klinisch-psychologischen Untersuchung vorgestellt. Die klinisch-psychologische Untersuchung soll abklären, inwieweit eine depressive Symptomatik die Leistungsfähigkeit des Mädchens beeinträchtigt oder ob andere Bedingungen vorliegen, die Birgit in ihrer emotionalen Gesundheit und in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit blockieren, insbesondere inwieweit Birgit durch die Leistungsanforderungen der AHS überfordert ist. Birgit wiederholt derzeit fünfte Klasse der allgemein bildenden höheren Schule. Das vorangegangene Schuljahr konnte sie wegen nicht-genügender Leistungen in Deutsch, Englisch und Mathematik nicht positiv abschließen. Intensive 42 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Lernnachhilfe während des gesamten letzten Schuljahres zeigte laut Bericht der Eltern und Birgits keinen Effekt. Weiters berichten die Eltern, dass Birgit schon seit der zweiten Volksschulklasse mit Schulschwierigkeiten kämpfe. Gegen Ende der zweiten Klasse Volksschule sei aufgefallen, dass Birgit noch keine sichere Buchstabenkenntnis hatte und das Lesen noch nicht erlernt hatte. Die Mutter übte daraufhin intensiv mit Birgit, sodass sie den Anschluss an das Klassenniveau finden konnte. Dieses intensive häusliche Üben fand während der gesamten Volksschulzeit statt. Die Mutter berichtet, dass Birgit dabei immer sehr geduldig und ausdauernd mitgearbeitet hätte. Voruntersuchungen: Im Alter von neun Jahren kinderpsychologische Untersuchung an der Kinderklinik in xxxx, die laut Bericht der Eltern eine gut durchschnittliche Intelligenz und eine legasthene Symptomatik aufwies. Behandlung wurde keine vorgeschlagen. Testverhalten: Birgit ist in der Untersuchungssituation kooperativ, affektiv zugewendet, kontaktbereit, arbeitet konzentriert und ausdauernd in guter Leistungsmotivation. Sie schreibt und hantiert rechtshändig. Die Grobmotorik ist ruhig, die Feinmotorik geschickt. Sie spricht in deutlicher und differenzierter Spontansprache. Der Antrieb ist angemessen aktiv, die Stimmungslage gedrückt. Untersuchungsergebnisse der Leistungsuntersuchung: PSB-R 6-13 Verfahren zur Erfassung von Teilleistungsschwächen nach Sindelar HSP 5-9 Im PSB-R 6-13 erreicht Birgit ein dysharmonisches Profil: Durchschnittliche Werte erzielt sie in der Wortflüssigkeit und im Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Serien und in der Genauigkeit. Unter dem Durchschnitt liegen die Werte im Allgemeinwissen (wobei festzuhalten ist, dass in diesen Subtest Rechtschreibfertigkeiten mit einfließen) sowie in der Konzentrationsfähigkeit bei rein mechanischen Rechenaufgaben. Überdurchschnittlich sind die Leistungen in der abstrakt-sprachlichen Logik und im räumlich-logischen Denken. 43 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Damit zeigt das Profil eine Ausprägung, wie sie gehäuft bei Legasthenikern im Jugendlichenalter zu finden ist. In der Untersuchung der kognitiven Grundfunktionen lassen sich Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Fähigkeit zur intermodalen Kodierung feststellen. Diese Teilleistungsschwächen bewirken: Birgit kann durch die Teilleistungsschwäche in der visuellen Merkfähigkeit Wortbilder nur ungenau speichern, durch die Teilleistungsschwäche in der intermodalen Kodierung Verbindungen zwischen Gehörtem und Gesehenem, also zum Beispiel zwischen dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen Wort, nicht ihrem allgemeinen Entwicklungsniveau entsprechend herstellen. Dies erklärt sowohl die Diskrepanzen im Leistungsprofil als auch die Lernschwierigkeiten. Im standardisierten Rechtschreibtest erreicht Birgit mit einem Prozentrang von 11 ein deutlich unterdurchschnittliches Ergebnis. Damit ist die Diagnose einer Rechtschreibstörung gerechtfertigt. Zusammenfassung und Empfehlung: Birgits Schulschwierigkeiten stehen im Zusammenhang mit Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Intermodalität, die in einer legasthenen Symptomatik resultieren und in der Folge nicht nur die schulischen Leistungen beeinträchtigen, sondern auch die Entfaltung des gesamten Leistungsprofils partiell blockieren. Ein spezifisches funktionell-therapeutisches Trainingsprogramm wurde vorgeschlagen und erstellt, das Birgit in der Computerspielversion zu Hause durchführen wird. Dieses Programm wird in weiteren klinisch-psychologischen Behandlungen im Laufe des Trainings in seiner Effizienz kontrolliert und dem Fortschritt Birgits angepasst werden. 44 Sindelar: Psychologische Diagnostik I Literaturempfehlung Kubinger, K. D. (2009). Psychologische Diagnostik. Theorie und Praxis psychologischen Diagnostizierens (2. Ausg.). Göttingen: Hogrefe. Stieglitz, R. D., Baumann, U., & Freyberg, H. J. (Hrsg.). (1994, 2001). Psychodiagnostik in Klinischer Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie (2 Ausg.). Stuttgart - New York: Georg Thieme Verlag. Auf http://www.testzentrale.de finden Sie eine Auflistung der Verfahren zur störungsbezogenen Diagnostik, jeweils mit Kurzcharakteristik der Verfahren. 45