Mit Riesenschritten fliegt die Zeit dahin und es bleiben nicht mal

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WAR REQUIEM
Text: Martin Linnert (chorinternes Papier)
Krieg ist schon seit Jahrhunderten Thema der Dichtung und der Musik gewesen (angefangen bei der
„Ilias“). Doch waren es da durchweg herrliche Zeiten, die besungen wurden. Große Siege (der eigenen
Seite) wurden idealisiert, das Soldatentum verherrlicht, der Tod fürs Vaterland als „süß und ehrenvoll“
dargestellt. Euphorisch zog man in die Schlacht.
Brittens „WAR REQUIEM“ thematisiert unter Verwendung der Antikriegsgedichte von Wilfred Owen
erstmals die wahre Seite des Krieges, seine Schrecken und das Leid, das er über die Menschen
bringt. Vermehrt noch seit im ersten Weltkrieg erstmals Schützenpanzer und schwere Artillerie zum
Einsatz kommen, automatische Waffen benutzt werden, Luftwaffe und U-Boote wie aus dem Nichts
angreifen und Giftgas heimtückisch und geräuschlos tausende Menschen auf einen Schlag vernichtet.
Britten wusste zudem um Auschwitz und Hiroshima. Sein Lösungsversuch, das als unmenschlich
erfahrene Unbegreifbare künstlerisch darzustellen, führte zu einem Werk, dessen Gleichgewicht
instabil wirkt, das an vielen Stellen Unbehagen und Beklemmung auslöst, und so im Hörer eine
beunruhigte Aufmerksamkeit für die Warnungen wach hält.
Grundgerüst dieses Requiems ist die Jahrhunderte alte römisch-katholische Liturgie der Totenmesse.
Ursprünglich aus neun Teilen bestehend, verwendet Britten nur 6 davon (Requiem aeternam, Dies
irae, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei, Libera Me). Diese liturgische oder allgemeine Gebetsebene wird
durch den großen Chor, das große Orchester sowie den Solo-Sopran gestaltet und in Latein
gesungen.
Eine zweite Ebene wird allein durch den Knabenchor und die Orgel (als Vertretern eines reinen,
„unschuldigen“ Klanges) repräsentiert. Man könnte sie als himmlische oder sphärische Ebene
bezeichnen. Ohne menschliche Leidenschaft ist sie sozusagen Ausdruck überirdischer Distanziertheit.
Die dritte ist schließlich die subjektive Liederebene. Sie wird durch den Solo-Tenor bzw. den SoloBariton im Zusammenspiel mit dem Kammerorchester wiedergegeben. Diese Ebene spiegelt die
irdische Hölle, das Inferno des Krieges und die Gottesferne wieder und verwendet die vertonten
englischen Gedichte Wilfred Owens.
Owen erlebte als junger Mann die Grausamkeit des Ersten Weltkriegs selbst mit. 1915 meldete er sich
zum Dienst an der Westfront, nachdem er seine Lehrlingsausbildung abgeschlossen hatte. 1917 wurde
er verwundet und versuchte im Lazarett schreibend sein Kriegstrauma zu verarbeiten. Weihnachten
1917 ließ Owen sich, aus Verantwortungsgefühl für seine Soldaten, wieder an die französische Front
versetzen. Er fiel 1918, eine Woche vor Waffenstillstand, als nur 25jähriger.
Britten setzte als Motto für sein Werk die Worte Owens vor seine Partitur: "Alles, was ein Dichter heute
tun kann, ist warnen".
„My subject is War, and the pity of War. The poetry is in the pity… All a poet can do today is
warn.” (Wilfred Owen 1893-1918)
Owens Gedichte sind geprägt von Bitterkeit, beißender Ironie und maßloser Enttäuschung über das
Versagen der christlichen Zivilisation. Sie sind eine scharfe Anklage gegen die Unmenschlichkeit des
Krieges.
Brittens Vertonung ist weit mehr als eine reine Vertonung, sie ist bereits eine eigene Interpretation.
Owens Texte dokumentieren die Schrecken des ersten Weltkrieges. In Brittens Musik taucht eindeutig
die Kriegsmaschinerie des zweiten Weltkrieges auf. Die Intention ist neben der Anklage für beide das
eindringliche Mahnen und Warnen vor derartigen Schrecken, ein eindringlicher Appell an die
Menschlichkeit. Das WAR REQUIEM ist mehr den Toten als Wiedergutmachung gewidmet, als den
Lebenden zur Trauerbewältigung.
Das Werk entstand anlässlich der Wiedereinweihung der im November 1940 bei einem deutschen
Luftangriff völlig zerstörten Kathedrale von Coventry, dem Sinnbild für den aggressiven, sich über alle
Konventionen hinwegsetzenden Angriffskrieg Hitlers. (Coventry war ohne jegliche strategische
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Bedeutung.) Die Musik für die neue Kathedrale – Zeichen der Hoffnung, des neuen Lebens und der
Versöhnung – wurde am 30. Mai 1962 uraufgeführt.
Die pazifistische und völkerübergreifende Botschaft des Werks schlägt sich auch in der schon bei der
Uraufführung praktizierten Tradition wieder, dass Musiker aus den ehemals verfeindeten Nationen
dieses Stück gemeinsam aufführen.
Sowohl als Zuhörer – wie auch als Sänger – registriert man wahrscheinlich nur einen Bruchteil der von
Britten reichlich verwendeten „Musikalische Symbolsprache“.
Große Symbolkraft besitzen zum Beispiel die verwendeten Tonintervalle. Bestimmte Abstände
zwischen den einzelnen Tönen tauchen immer wieder auf. Am auffallendsten ist dabei der so genannte
Tritonus, ein Abstand von drei Ganztönen. Im ersten Satz des Werkes singt der Chor zum Beispiel
nur die Töne c und fis. Zunächst nacheinander, da merkt man es noch nicht so sehr. Aber wenn diese
Töne dann gleichzeitig erklingen, tut es einfach weh! Das ist die Disharmonie in Reinform. Als so
genannter „Diabolus in Musica“ ist so ein Tritonus-Intervall in den letzten Jahrhunderten beim
Komponieren geradezu verboten gewesen. (Bach hat ihn verwendet, wenn er die Sünde
thematisierte.) Im WAR REQUIEM taucht er immer wieder auf und symbolisiert hier natürlich Unfriede,
Zerstörung, Tod, Gottesferne, Hass,…
Ähnliches gilt für die kleine Sekunde, das ist nur ein Halbtonschritt. Auch hier beißen sich die Töne,
wenn sie gleichzeitig gespielt werden. Die symbolische Bedeutung ist ganz identisch mit der des
Tritonus.
Die Tonfolge des Dreiklanges steht – wie die oft verwendete Zahl drei allgemein – als Symbol für die
Dreieinigkeit Gottes. Drei miteinander verwobene Ebenen, einzelne Sätze bestehen wiederum aus drei
Teilen und eben der Dreiklang taucht regelmäßig auf.
Die Quinte (Tonsprung über 5 Töne) steht ein wenig zwischen den Stühlen für Britten. Sie soll
Verunsicherung und Ungewissheit widerspiegeln, zugleich ist sie trotzdem ein Hinweis auf Gott.
Die Allgegenwart Gottes wird dagegen sehr deutlich in der umfassenden Tonfolge eine Oktave (8
aufeinander folgende Töne) dargestellt. Ist es sogar eine chromatische Tonleiter (Halbtöne werden
auch gespielt, also insgesamt 12 Töne in Folge) so soll sie für das gesamte Universum stehen.
Auch den Instrumenten ist eine symbolische Bedeutung zugeordnet:
Gong – Trauer, dramatisches Geschehen, Schauder, Verzweiflung, …
Glocken – Ruf, Gedenken, Mahnung, …
Posaunen – jüngstes Gericht, Hoheit, Macht, …
Trompeten – Aufruf, Kampf, Herrschaft, …
Tuba – Gewalt, Geschütze, …
Schlagzeug – Kampf, Schlacht, …
Flöten – Gefahr, Hinweis auf möglichen Tod, …
Orgel – Übergang zur transzendentalen Welt, christliche Botschaft, …
Das klingt bis hierhin vielleicht doch etwas theoretisch. Daher jetzt konkret zu den einzelnen Sätzen
noch ein paar Worte (In Ergänzung zum Programmheft):
I.
REQUIEM AETERNAM
Dieser Satz thematisiert die Bitte um Erbarmen. Aus dem Orchester ist am Anfang Flehen und
Unsicherheit zu hören. Es klingt geradezu wie ein Leichenzug, ein Trauermarsch.
Der Satz ist ein typisches Beispiel für die Verwendung der Zahl drei in der Komposition als
Symbol für die Dreieinigkeit. So besteht der Satz aus drei Teilen: Introitus (Chor), engl. Text
(Tenor), Kyrie (Chor). Der Introitus-Teil besteht selbst auch wiederum aus drei Teilen, dessen
mittlerer durch Knabenchor interpretiert wird. Und auch bei diesem Teil findet man wiederum
Symbolik verwendet. Der Knabenchor singt hier zweistimmig. Während zunächst die eine
Stimme mit einer tendenziell nach oben gerichteten Melodieführung beginnt, folgt die zweite
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Stimme mit gleicher Tonfolge, wie bei einer Wiederholung, jedoch sind Tonsprünge nach oben
nun nach unten verlegt. Diese „Umkehrung der Themen“ symbolisiert die Umkehrung der
göttlichen Gebote in Gesetze des Bösen.
Wie schon erwähnt singt der Chor in diesem ganzen Satz nur die Tritonustöne c und fis.
Dadurch wird ein eigenartiger, fragender Gestus erzielt, der durch die eingefügte verzweifeltwütende „Hymne für die todgeweihte Jugend“ noch verstärkt wird. (Das Tenorsolo beginnt hier
in jeder Verszeile jeweils mit fünfmal dem selbem Ton, bevor die melodischen Verzierungen
folgen.) Brittens Musik setzt Owens Text genau um: Instrumente die im Text erwähnt werden,
erklingen, Worte werden musikalisch illustriert.
Erst der letzte Akkord des abschließenden Kyries ist zum ersten Mal ein reiner, „richtig gut
tuender“ Dur-Akkord. Die Spannung löst sich. Erlösung.
II.
DIES IRAE
Die Musik dieses Satzes beginnt mit dem Vorabend der Schlacht (Militärische Signale, fernes
Kriegsgerät). Man spürt bereits die nackte Angst der Soldaten. (Trotzdem sind auch immer
wieder Dreiklänge zu hören.)
Der vom Chor gesungene lateinische Text umschreibt die Vision des jüngsten Gerichtes mit all
seinen Schrecken, die Apokalypse schlechthin („Tag des Zornes, …, der die ganze Welt in
Asche legen wird…“). Die streng durchkomponierten Rhythmen untermalen diesen Text sehr
plastisch.
Eingebettet in diesen liturgischen Text sind vier Gedichte von Owen, die, wie auch die Musik
Brittens, die Spanne vom Vorabend des Gefechtes über die Kriegshölle der Schlacht selbst bis
zum Tode des Soldaten durchmessen.
So ist hier die Höllenvision aus der Liturgie mit der menschlichen, der irdischen Hölle des
Krieges verbunden. Sakrales steht Diabolischem gegenüber.
Die musikalische Begleitung des ersten Gedichtes, vor allem Horn und Holzbläser, greifen die
Signale vom Satzanfang erneut auf. Vorabend der Schlacht.
„Der nächste Krieg“, das zweite Gedicht, lässt mit seiner ironisch makabren Haltung das Blut in
den Adern gefrieren. „Sonett“ begehrt, untermalt mit seinem Pauken-/Geschützsolo, gegen den
Wahnsinn der Waffenmaschinerie und die Arroganz derer auf, die sie benutzen. Die
Beschreibung des gewaltigen Geschützes erinnert an den Turmbau zu Babel. Als Ausdruck des
menschlichen Größenwahns soll es den Feind bekämpfen und korrumpiert dabei auch die
eigene Seele, so dass sie dem Fluch Gottes anheim fallen muss, der sich im erneut folgenden
„Dies Irae“ ausdrückt.
Das vierte Gedicht „Sinnlosigkeit“ ist eingewoben in das sehr ergreifende „Lacrimosa“. Es
macht diesen Abschnitt zu einem der stillsten und innigsten des ganzen Requiems.
III.
OFFERTORIUM
Dieser Teil dient in der traditionellen Totenmesse der Vorbereitung des Abendmahls, dem
Gedenken an den Opfertod Christi.
Im WAR REQUIEM hat dieser Satz eine besonders zentrale Bedeutung.
Auf das vom Knabenchor am Anfang und am Ende gesungene Gebet um die Bewahrung der
Seelen zum ewigen Leben folgt jeweils eine Chorfuge „Quam olim abrahae promisisti“. Den
Mittelteil bildet Owens bitteres „Gleichnis vom alten Mann und dem Jüngling“. Ausgehend von
der alttestamentarischen Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak (Genesis 22, 1-19)
nimmt in Owens Umdichtung Abraham die dargebotene Gnade Gottes nicht an und schlachtet
seinen Sohn „... und mit ihm halb Europas Samen, Sohn um Sohn.“
Angeklagt sind die „alten Männer“, die Regenten der Länder, die den Frieden und das Ende
des Schlachtens wider Gottes Gebot nicht wollen, und anstelle ihres eigenen Stolzes
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wissentlich die unschuldige und unwissende Jugend als Opfer auf die Schlachtfelder schicken.
(Damals wie heute, möchte man dazu sagen.)
Britten zieht die kompositorische Konsequenz. Ist die erste Fuge noch ein jauchzender Tanz,
mit dem Gottes Verheißung besungen wird, so ist ihre Wiederholung nach dem Gleichnis eine
Umkehrung der Dynamik und der Töne, als bliebe den Sängern die Verheißung Gottes im
Halse stecken…
IV.
SANCTUS
Eingeleitet wird dieser Satz durch ein eigenartiges Geläut (indonesische Einflüsse: In Fernost
untermalt es die Vorbereitung aufs Gebet).
„Die ohne jeden festen Rhythmus von jedem Chorsänger frei rezitierten Worte „Pleni sunt
caeli…“ geben mit den nachfolgenden Fanfaren des „Hosanna“ ein Bild von der Himmel und
Erde füllenden Herrlichkeit Gottes.“ So oder ähnlich heißt es oft in Texten über diesen Satz.
Aber ist dieses „Hosanna“ ein jubelndes? Hat Britten es nicht vielleicht auch als verzweifelten
Hilfeschrei im Sinne der Übersetzung „Hosanna“ = „Hilf doch!“ gemeint?
Sollte es doch als Jubel gemeint sein, so stellt das anschließende Gedicht „The end“ diese
Zuversicht wieder total in Frage, indem es die existentiellen Fragen unbeantwortet lässt. Am
Ende bleibt Resignation?
V.
AGNUS DEI
In jeder Messkomposition gehört das Agnus Dei zu den stillen Teilen. So auch im WAR
REQUIEM. Sparsam sind die musikalischen Mittel.
Aber gerade hier werden nach der Anklage der Politik im Offertorium zunächst drei besonders
scharfe Anklagen gegen die Patrioten gerichtet, die vom Krieg nichts wissen und dennoch
Forderungen stellen. Dabei werden auch die Kirche und ihre Würdenträger nicht
ausgenommen.
Doch dann folgt wie eine Antwort auf die Fragen aus dem Sanctus: Lieben, anstatt hassen! Und
anstelle des zuvor immer wiederkehrenden „Gib ihnen Frieden“ endet der Tenor mit einem
„Dona NOBIS pacem“ - Gib UNS allen Frieden (nicht nur den Toten).
VI.
LIBERA ME
Der lateinische Text dieses Satzes beschwört die Bitte, ja das Flehen um Erlösung vom ewigen
Tod.
Die langsam aufbauende Bedrohung des jüngsten Tages wiederholt sich hier, steigert sich zum
Höllenszenario, der Apokalypse. Es herrscht blankes Entsetzen und absolutes Chaos (verquere
Taktungen, gegenläufige Chorstimmen). Aus der Bitte wird ein Schrei nach Erlösung (Hol uns
hier raus!) Schließlich zerfällt alles zu Asche und es bleiben nur rauchende Trümmer zurück.
Das Orchester führt uns über ins Totenreich. Eindringlich wirkt nun die Stille im Dialog der
Feinde im „Strange Meeting“. Die Feinde, die sich in der Schlacht getötet haben, erkennen sich
bei dieser Begegnung wieder. („I am the enemy you killed, my friend“) Wieviele gemeinsame
Hoffnungen und Ängste haben ihre verlorenen Leben geprägt. Im Frieden hätten sie
Freundschaft schließen können, erst Krieg und Ideologie haben sie zu Feinden gemacht. Ihre
Erfahrungen können sie nicht mehr vermitteln. Die Erkenntnis um Sinnlosigkeit und Leid des
Krieges müssen die Überlebenden ohne ihre Hilfe erlangen.
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Aus der Stille erwächst mit dem „Let us sleep now“ die Schlussphase der Komposition, an der
als einzigem Mal im ganzen Werk alle Musizierenden gemeinsam beteiligt sind. Schlichte
Melodiemodelle in der Haltung liturgischer Musik lassen Ruhe einkehren.
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