Galina T. Polenowa Herkunft des grammatischen Geschlechts im Deutschen aus typologischer Sicht 1. Einleitung Das grammatische Geschlecht gliedert alle Substantive im Deutschen in die drei Klassen der Maskulina, Feminina und Neutra. Bis vor kurzem wurde das Geschlecht als eine grammatische Kategorie des Substantivs betrachtet. Es gibt aber die Meinung, dass das Genus eine lexikalisch-grammatische klassifizierende Kategorie ist (vgl. Moskalskaja 1983: 147 f.). Die lexikalische Natur des Genus tritt besonders klar bei den Menschen- und Tiernamen zutage, wo das Genus semantisch motiviert wird, wie z.B. der Mann - die Frau, der Bruder – die Schwester, der Stier - die Kuh. Die Sprache unterscheidet da deutlich ein männliches Lebewesen und ein weibliches Lebewesen. Das Neutrum kommt da als Kennzeichen von Kindern und jungen Tieren sowie der Diminutive vor, z.B. das Kind, das Lamm, das Kalb, das Mädchen. Es gibt aber sehr viele Substantive, deren Angehörigkeit zum bestimmten Genus sich semantisch nicht erklären lässt, z.B. der Tisch, der Baum, das Schaf , die Tafel. In diesem Fall spricht man von einer rein grammatischer Kategorie. Die ursprüngliche semantische Grundlage dieser Klassifizierung kann man nicht feststellen. In der vorliegenden Arbeit versuchen wir auf die Frage zu antworten, wie sich die grammatische Genuskategorie entwickelt hatte und warum sich das Genus einiger Substantive der Bedeutung nach bestimmen lässt, der anderen aber nicht. 2. Die geschichtliche Entwicklung der Genuskategorie der Substantive im Deutschen 2.1. Die Kategorie des Genus der Substantive im heutigen Deutsch Bekanntlich unterscheidet man beim deutschen Substantiv drei Geschlechter: Maskulinum (männliches Geschlecht), Femininum (weibliches Geschlecht), Neutrum (sächliches Geschlecht): der Mann, die Frau, das Kind. Eine große Anzahl von Substantiven (meist einsilbige Wörter) weisen keine Merkmale eines bestimmten Geschlechts auf, z.B. der Hund, die Maus, das Pferd; der Raum, die Zeit, das Heft. Bei vielen Substantiven dagegen kann das Geschlecht ihrer Bedeutung oder ihrer Form nach bestimmt werden. Wenn J.Erben von den Gruppen der sinnverwandten Wörter spricht, so unterstreicht er: „Maskulina sind – abgesehen von den Bezeichnungen der Lebewesen männlichen Geschlechts – vornehmlich die Gattungs- bezeichnungen der größeren Lebewesen: Wal, Elefant, hirsch, Tiger, Adler, Baum; die als ‘Handelnde’ charakterisierten Geräte: Schlüssel (das Schließende), Deckel, Wecker, Bohrer ... Feminina sind – abgesehen von den Bezeichnungen weiblicher Personen und Tiere – viele Gattungsbezeichnungen kleinerer Lebewesen: Taube, Maus, Laus, Blume, Muschel“ (ebenda: 108, unterstrichen von mir – G.P.). Das Deutsche besitzt eine Reihe von Substantiven, die mit doppeltem Genus gebraucht werden. Dabei sind zwei Hauptgruppen zu unterscheiden: Substantive mit gleicher Form, gleicher Bedeutung und verschiedenem Genus (schwankendes Genus), z.B. der/das Teil, der/das Silo u.a. Substantive mit gleicher Form, verschiedener Bedeutung und verschiedenem Genus (Homonyme), wie: der Band (= Buch) – das Band (= etwas zum Binden), der Gehalt (= Wert) – das Gehalt (= Lohn), der Junge (= männliches Kind - das Junge (= junges Tier), der Kiefer (Schädelknochen) – die Kiefer (= Nadelbaum), der Leiter (Vorgesetzter) – die Leiter (= zum Steigen bestimmt), der See (= stehendes Binnengewässer) – die See (= Meer), die Steuer (= Abgabe an den Staat) – das Steuer (= Lenkvorrichtung) u.a. (s. Helbig/Buscha 1976: 109-110). Bemerkenswert ist da die Äußerung von J.Erben: „Dabei bezeichnet das Maskulinum in vielen Fällen eine Person, das Neutrum oder Femininum eine Sachgröße: Der, das Bauer, Erbe, Tor; der, die Heide, Kunde, Leiter. Oft wird mit Hilfe des Genus Neutrum eine verächtliche Bezeichnung gewonnen: das Mensch, Ekel, Wurm, Pack“ (Erben 1966: 106, unterstrichen von mir – G.P.). Sehr wichtig ist für unsere weiteren Erläuterungen noch die Bemerkung von J. Erben, dass die Abstrakta Umsetzungen von Prädikaten sind und dass die Prädikationsfunktion in der Sprache grundsätzlich alles erfassen kann (ebenda: 110), z.B. Größe, Schwere, Treue; Ruhe, Trauer, Kälte. Voraus gehen Aussagesätze wie Er ist groß, schwer, treu; Es ist ruhig, traurig, kalt. Da hat H.Brinkmann ganz Recht, wenn er sagt: „Was vorher Aussage war, ist nun als Begriff verfügbar“ (Brinkmann 1950/51: 68). G.Helbig und J.Buscha unterscheiden zwischen dem natürlichen Geschlecht (= Sexus) und dem grammatischen Genus. „Das natürliche Geschlecht hat zwei Formen (Maskulinum und Femininum), das grammatische Genus drei Formen (Maskulinum, Femininum und Neutrum)“ (Helbig-Buscha 1976: 106). Die beiden Genusarten kommen aber vor allem an der Artikelform zum Ausdruck. 2.2. Die historische Enwicklung der Genuskategorie des Substantivs im Deutschen Was ist denn der deutsche Artikel, das Geschlechtswort, historisch gesehen? Nach H.Paul setzt sich die Flexion des Demonstrativums der, worauf der Artikel zurückgeht, ursprünglich aus zwei verschiedenen Stämmen zusammen, idg. so, Fem. sā und to, Fem. tā. Dies Verhältnis ist im Gotischen noch bewahrt, wo der N.Sg. für das Maskulinum sa und für das Femininum sô ist (Paul 1968: 172). Was das Substantiv selbst anbetrifft, so kann man noch im Althochdeutschen die Spuren von der Kennzeichnung des Geschlechts durch die Flexiosendung verfolgen, wo die Morphemstruktur zum Träger des grammatischen Geschlechts wird, so z.B. in der Geschlechtsverteilung der Endungen des Nominativs im Plural: Tabelle 1. Geschlechtskennzeichen im Althochdeutschen Stämme Maskulinum a-St. ja-St. wa-St. tag-a ‚Tage’ hirt-e ‚Hirten’ hlē-wa ‚Grabhügel’ ō-St. jō-St. Femininum wort-ө ‚Worte’ kunn-i ‚Geschlechter’ hor-o ‚Sümpfe’ i-St. gest-i ‚Gäste’ gëb-ā ‚Gaben’ sunt-e, -eā ‚Sünden’ enst-i ‚Günste’ u-St. sit-i ‚Sitten’ hent-i ‚Hände’ an-St. jan-St. han-on, -un ‘Hähne’ will-eon, -iun ‘Willen’ ōn-St. zung-ūn ‘Zungen’ īn-St. hōh-ī, -ī, īn ‘Höhen’ muoter-ө ‘Mütter’ (später –a) r-St. fater-a ‘Väter’ nt-St. friunt-ө ‘Freunde’ Neutrum quit-i ‚Aussprüche’ fih-iu, -u ‚Vieh’ fëh-u hërz-un, -on ‘Herzen’ n-St. Wz-St. (später –a) man-ө ‘Männer’ naht-ө ‘Nächte’ brust-i ‘Brüste’ Nach St.Sonderegger (Sonderegger 1979: 104) Im Gotischen ist von den konsonantischen Stämmen die Klasse der n-Stämme (Stämme auf –an, -ôn, -ein) sehr reich entwickelt, während von sonstigen konsonantischen Deklinationsweisen nur noch einige Reste erhalten sind. Es gibt da vier vokalische Stämme: auf a, ô, i, u. Die Stammesmerkmale zeigen sich in allen Klassen noch deutlich im Dat. und Akk. Plur., z.B. dagam, dagans; - gibôm, gibôs; - gastim, gastins; - sunum, sununs (Braune/Helm 1952: 52). Das a der germanischen a-Stämme geht auf idg. o, das ô der ô-Stämme auf idg. â zurück (ebenda: 53, Anm.2.). 3. Die Genuskategorie im Indogermanischen 3.1. Thematische Stämme im Altslawischen Im Altslawischen sind die ā-Stämme für Feminina kennzeichnend, vgl. æåíà, âîäà, âðàæäà u.s.w., sowie für die Namen der Lebewesen männlichen Geschlects wie ñëîóãà, ñòàðîñòà, âîåâîäà u.ä. Die ŏ-Stämme waren Maskulina und Neutra, z.B. ðàáú, столъ, градъ u.s.w.; село, иго, зрьцало u.s.w. Der thematische Vokal ĭ kennzeichnete Maskulina und Feminina wie ãîñòü, господь, тесть u.a. (masc.); кость, весть,двьрь u.a. (fem.). Die indogermanischen ǔ- Stämme sind nur durch sechs Maskulina vertreten: ñûнú, волъ, врьхъ, ледъ, медъ, полъ. Die ū-Stämme vertritt eine geringe Gruppe von Feminina wie ápr, *крr, любr u.a. (s. Хабургаев 1974: 166-184). Also sehen wir im Altslawischen dieselben Themavokale wie im Gotischen. 3.2. Archaische indogermanische Substantivfomen H.Krahe schrieb über den Bau des indogermanischen Substativs: “Ihrem Bau nach sind die meisten Substantiva in drei Bestandteile aufzulösen: ein wurzelhaftes, ein stammbildendes (vielfach gleichzeitig wortbildendes) und ein flexivisches Element. In lat. duc-tu-s ist duc- die Wurzel, sie liegt auch in allen anderen Wörtern der gleichen Sippe vor: dūc-ere, duc-s (=dux); -tu- ist das stammbildende (und zugleich wortbildende) Element (wie in frūc-tu-s, ex-i-tu-s usw.), während –s das Kasuszeichen (das flexivische Element) darstellt (Krahe 1965: 8). Als Archaismen im Anatolischen nannte Fr.Adrados unter anderem auch solche: „Nur ausnahmsweise Opposition von Singular und Plural außerhalb von Nom. und Akk. Entwicklung der Opposition Belebt/Unbelebt nur in Ansätzen, völliges Fehlen einer Oppositon Maskulinum/Femininum samt den entsprechenden Bildungsmitteln. ...Ein von der späteren Entwicklung verschiedenes System der Personalpronomina“ (Adrados 1982: 13). Unter den Germanisten ist die Anschauung allgemein anerkannt, dass die flektierten Kategorien des Indoeuropäischen relativ jungen Ursprungs sind (s. Adrados 1985: 1). Im Hethitischen ist das Geschlecht nach H.B.Rosén noch nicht entstanden (Rosén 1985: 416). Es werden nur genus neutrum und genus commune gegenübergestellt. H.Hirt meinte mit Recht, dass den ältesten Geschlechtsausdruck die Pronomina der dritten Person hatten. Das ā bei Substantiven verband er mit *māmā und *gwenā ‚Weib’ (Hirt 1968: 29). Verschiedene indoeuropäische Sprachen liefern also Zeugnisse von verschiedenen Perioden der Geschichte der Ursprache. Und die Vorgeschichte des Urindoeuropäischen kann man bei dessen Vergleich mit den Sprachen anderer Systeme klären, besonders mit den Sprachen, die uns mehr von der Geschichte der Entwicklung der uralten Gesellschaft bezeugen können, z.B. mit den Jenisseischen Sprachen. 4. Widespiegelung der Entwicklung der uralten Gesellschaft in der Sprache 4.1. Die Genuskategorie im Ketischen Das Ketische ist die enzige der Jenissej-Sprachen, die noch vo ca. 700 Sprechern am Jenissej beherrscht wird. Die anderen Sprachen dieser Gruppe (Kottisch, Jugisch, Assanisch, Pumpokolisch und Arinisch) sind ausgestorben. Da die Sprecher dieser Sprachen als Nomaden gelebt haben, gibt es keine schriftlichen literarischen Denkmäler. Die Sprachen wurden allerdings von verschiedenen Linguisten – allen voran Dul’son (1968), Kreinovič (1968) und Werner (1997) – beschrieben. Dabei hat sich herausgestellt, dass es sich um eine Sprachengruppe mit sehr archaischem Sprachbau handelt. Die ketische Genuskategorie klassifiziert die Substantive in den obliquen Kasus. Die Adjektive im attributiven Gebrauch sind genusindifferent. Im prädikativen Gebrauch bekommen sie Genuskennzeichen (s. Tabelle 4, Reihe 5), ohne dass das zu referierende Substantiv im Absolutiv irgendwie das Genus ausdrückt. Tabelle 2. Ketische Kasusformative Kasus Sg. Mask. Sg. Pl. belebt Pl. unbelebt -ө -na -naŋa -nata -naŋal’ -naŋta -bes’ -as’ -an’ -ө -d(i)/-t -diŋa -dita -diŋal’ -diŋta -ka/-ga -bes’ -as’ -an’ - Fem./unbelebt Absolutiv Genitiv Dativ Benefaktiv Ablativ Adessiv Lokativ Prosekutiv Komitativ Karitiv Vokativ Instrumental -ө -da -daŋa -data -daŋal’ -daŋta -bes’ -as’ -an’ -ŏ - -ө -d(i)/-t -diŋa -dita -diŋal’ -diŋta -ka/-ga -bes’ -as’ -an’ -a - -^ - Nach H.Werner (Werner 1994: 55) Die Genuskategorie findet auch im Verbalsystem in der 3. Person Sg. und Pl. ihren Ausdruck. Die Personenzeichen im Ketischen gliedern sich in zwei Gruppen: Klasse I d-, Klasse II b- nach K.Bouda (Bouda 1957: 98). Tabelle 3. Kennzeichen der 3. Person des ketischen Verbs (Gruppe B) Zahl Genus 1. Reihe 2. Reihe Maskulinum a o Singular Femininum i u Nichtlebewesen i/ө u Plural Lebewesen Nichtlebewesen aŋ i/ө oŋ u 3. Reihe bu bu ө bu ө 4. Reihe bu bu ө bu ө Tabelle 4. Kennzeichen der 3. Person des ketischen Verbs (Gruppe D) Zahl Genus 1. Reihe 2.Reihe 3. Reihe Maskulinum di- du:- Femininum da- da:- Nichtlebewesen b- / ө/ da- Lebewesen di- Singular Plural Nichtlebewesen b-/ө/ da- bi- / ө du:bi- / ө 5.Reihe, Prädikativsuffixe -a- / - -ja / - -du osa -i- / - -ja / - -da usa -b- / - -ja / - -am msa -aŋ-/oŋ-b- / m- 4. Reihe -jaŋ-/- -aŋ oŋ-ja / - -am sa Es ist nicht schwer zu bemerken, dass das Genus vor allem durch die Vokale a/o, i, u ausgedrückt wird, d.h. durch dieselben Vokale wie das indogermanische Genus, s. oben. Es ist auch wichtig, zu betonen, dass Maskulinum und Femininum im Jenissejischen weit nicht nur mit Sexus verbunden sind. Maskulina sind z.B. Benennungen von Männern nach verschiedenen Merkmalen und Eigenschaften (Alter, Verwandtschaftsbeziehungen, Ruf und Stellung in der Gesellschaft, Beruf, Eigennamen, Rufnamen, Beinamen usw.): ket. hi.γ ‘Mann’; o.p ‚Vater’; ba:t ‚Greis, alter Mann’; bis’ep ‚Bruder’. Benennungen von großen und wichtigen Tieren und Vögeln wie qoj ‘Bär’; qaj ‚Elch’; s’εl’ ‚Rentier; Hirsch’; εr’ ‚Zobel’; ket. di? ‘Adler’ usw. Benennungen von Fischen: ket. bә.tn eine Art sibirischer Weißlachse; qur’ ‚Hecht’; ta.kt ‚Lachs’; ket. i.s’ ‚Fisch’ usw. Benennungen von Reptilien und Würmern, Insekten; Bäumen; Himmelskörpern; Naturerscheinungen; Göttern und Geistern; Kultgegenständen, Arbeitswerkzeugen, und Geräten des Hausbedarfs, der Jagd und des Fischfangs. Feminina sind Benennungen von Frauen nach verschiedenen Merkmalen und manchen Eigenschaften (Alter, Verwandtschaftsbeziehungen, Beruf, Ruf, Bedeutung und Stellung in der Gesellschaft usw.): ket. qi.m ‚Frau’; ba:m ‚Greisin, alte Frau’; am ‚Mutter’; hu?n’ ‚Tochter’; bis’ep ‚Schwester’. Benennungen von kleinen und unwichtigen Tieren und Vögeln, z.B. ket. bε?s’ ‚Hase’; ut ‚Maus’; du.m ‚Vöglein, Sperling’ u.ä. Benennungen von Reptilien, Lurchen und Fischen wie: ket. ^?l’ ‚Frosch’; ke.s’ ‚Quappe’; jug. is ‘Fisch’. Benennungen von Insekten sind meistens Komposita wie: ket. tә.ŋhauŋs’ ‚Haarwurm’ oder Entlehnungen aus dem Russischen wie: ket. lo?p (aus dem russ. klop) ‚Wanze’. Das zeugt von deren späteren Herkunft. Benennungen Himmelskörpern wie: ket. i. ‚Sonne’; qo? ‚Stern’. Namen von Göttern, Geistern, und mytologischen Schamaninnen wie: ket. Hosäedam ‘böse Göttin des Nordens’; Holaj ‚Herrscherin des Waldes’; Tomam ‚Göttin des Südens’; Dotam ‚Herrscherin der Berge’; Iml’a ‚weiblicher Geist in der unterirdischen Welt’; s’εnam ‚Schamanin’; baŋis’ ‚Kurpfuscherin’ u.a. Die Namen der Flüsse werden als Nomina des weiblichen Geschlechts gebraucht (s. Werner 1994: 30). Benennungen von Körperteilen: ket. hu.’Herz’; e.j ‚Zunge’; ty.l’ ‚Nabel’; ma?m ‚weibliche Brust’; t^?q ‚Finger’: q^l’ ‚Daumen’; hu:t ‚Schwanz’ (der Tiere). Das Wort für ‘Feuer’ (ket. bo?k) wird wie ein Femininum oder wie ein unbelebtes Nomen gebraucht. H.Werner vermutet mit Recht, dass im ersten Fall der Geist des Feuers gemeint ist, der als ein weibliches Wesen empfunden wird. Am Čuval, dem nationalen Herd, wurde bei den Keten gewöhnlich ein weiblicher Kopf eingeritzt (ebenda: 31). Wenn das Essen recht gut schmeckte, warf man davon ein Stückchen ins Feuer und sagte: - Qima, kyt tur’ä! ‘Großmutter, das ist Fett!’ (Крейнович 1968: 191-192). 5. Schluss 5.1. Die Genuskategorie in der Ursprache Semantische Begründung der Genuskategorie ist nur vom Standpunkt eines Urmenschen verstanden werden, wo alle Gegenstände und Erscheinungen der Umwelt polarisiert worden waren, worüber wir noch Nachweise in den Jenissejischen Sprachen vorfinden können, und zwar: 1. Im übernatürlichen Sinne: böse und gute Götter und Geister, männlich und weiblich, aktiv und inaktiv. 2. Kosmische Objekte: günstig und ungünstig, männlich und weiblich1, einzeln und mehrere. 3. Media: gut und böse, männlich und weiblich, einzeln und mehrere, groß und klein, bekannt und wenig bekannt. 4. Unter Menschen und Tieren: Freund und Feind, gefährlich und ungefährlich, geachtet und verschmäht, groß und klein, männlich und weiblich, einzeln und mehrere, anwesend und abwesend, aktiv und inaktiv, teilnehmend und nicht teilnehmend, nützlich und schädlich u.ä. 5. In der Pflanzenwelt ähnlich wie im Punkt 4. 6. Nichtlebewesen sind neutral und werden nicht polarisiert. 1 Der sprachsсhöpfende Naturmensch; der noch nicht im Stande war, den Unterschied zwischen sich und der Außenwelt zu erkennen, stellte sie sich als solche Wesen wie er selbst vor, er personifizierte alles; was ihn umgab, indem er das Geschlecht der Wesen zum Geschlecht der Wörter machte, nach W.Humboldt, zitiert nach F. Miklosich (Miklosich 1883: 18). 7. Zeit und Raum: nah und fern, hoch und niedrig, hier und dort, sichtbar und unsichtbar, jetzt und damals, Tag und Nacht, Sommer und Nichtsommer usw. Die Daten der Jenissejischen und der nostratischen Sprachen ergaben uns für die Zeit der Klassenstufe in der Enwicklung der Sprache nach G.Klimow (Климов 1977: 291), dass alles, was den Menschen umgab, mit Hilfe verschiedener Konsonanten in Verbindung mit drei DeiktikaVokalen: a/o, i/e, u klassifiziert worden war (s. Поленова 2002: 24-25). Da der Urmensch die ganze Umwelt antropozentrisch empfand, so bedeutete zuerst der Laut a den Sprechenden, ohne das natürliche Geschlecht zu unterscheiden, vgl. Genus Commune bei H. Eichner (Eichner 1985: 168). Später, in der Zeit des Matriarchats, wies dieser Laut auf die Frau hin, während der Mann das Kennzeichen o bekam, vgl. ket. ad ‚ich’, ab ‚mein’; am ‘Mutter’, op ‚Vater’; Vokativ: ama! ‚Mutter!’, obo! ‚Vater!’. Das Gegenüber des Sprechenden bezeichnete man mit dem Laut u, vgl. ket. u ‘du’, uk ‚dein’, bu ‚er, sie’. Mit der Zeit des Patriarchats tritt in der Sprache die Periode der aktiven Typologie ein. Der Laut a bezeichnet jetzt einen Mann und alles Wichtige, Bedeutende, Große, Aktive, Entfernte, während der Laut i alles Kleine, Unwichtige, Unbedeutende, sich in der Nähe Befindende und dabei auch den Bereich einer Frau kennzeichnet, s. ketische Kasusendungen, vgl. auch die ketischen Demonstrativa: ki ‘hier’, tu ‚dort (sichtbar)’, qa ‚dort (unsichtbar). Das heutige Ketisch lässt darauf schließen, dass die Hauptdifferenz nicht zwischen männlich und weiblich besteht, sondern zwischen sozial bedeutend / aktiv und sozial unbedeutend / inaktiv. Das ist die Erklärung für die zwei Gruppen der Personalaffixe B (organisch) und D (veräußert) (s. Поленова 2002: 172) und für zwei Kasusgruppen: Absolutiv und Genitiv. Dass das Indogermanische in seiner Entwicklung denselben Weg von der klassifizierenden Sprache über die Sprache der aktiven Typologie zu der nominativen durchgemacht habe, kann man schon für bewiesen halten (s. Гамкрелидзе, Иванов 1984: 267-320). Die für das Jenissejische angeführten Vokale fungierten auch in den alten indogermanischen Sprachen als Themavokale im nominalen und im verbalen System, als Bestandteil der mehrdeutigen deiktischen Partikeln wie z.B. sa, so2 (vgl, gotische Demonstrativpronoimina), *si/se, *su und *as,*os, *is/*es, us; ma, *mo, *mi, *mu und am, om, *im, um; *na, *no, nu, *ni und an, on, un, in (vgl. ahd. Kasusendungen – Tabelle 1, und die Kasusendungen im Gotischen), auch ähnliche Verbindungen mit anderen klassifizierenden Konsonanten wie z.B. ti/te, tu, ta, to und it/et, ut, at, ot3. Wenn wir die Partikeln des Indogermanischen bei Hirt und Brugmann mit denen in den jenissejischen Sprachen vergleichen, so offenbart es sich, dass die meisten auch materiell zusammenfallen. Die Partikeln spielten in den Sprachen sowohl die wort-, als auch die formbildende Rolle, in den jenissejischen Sprachen kann man das noch deutlich verfolgen. 2 Die Flexion des deutschen Demonstrativums der, das sich auch zum Artikel entwickelt hat, setzt sich ursprünglich aus zwei verschiedenen Stämmen zusammen, idg. so, Fem. sā und to, Fem. tā (s. Paul 1917/1968: 172). 3 Die Formantien ohne Sternchen kann man in den indogermanischen Sprachen finden entweder als Demonstrativa, vgl russ. ty (Personalpronomen der 2. P.), te (Demonstrativum Pl.), tu (Demonstrativum Fem. Akk.), ta (Demonstrativum Fem. Nom.), to (Demonstrativum Neutrum Akk., Nom.) oder als Kasusbzw. Personalendungen., oder als Partikeln (s. Carruba 1985: 79-94). Wir teilen die Meinung von A.Desnizkaja, dass die grammatischen Formen als Ergebnis der Agglutination von ursprünglichen selbständigen Stämmen entstanden sind (Десницкая 1955: 38). Im Urindogermanischen kann man also nur von der Kategorie der Klasse sprechen, deren Kennzeichen ein Konsonant war. Der Klassen waren viele. Die Formantien *-s für Lebewesen und –m für Nichtlebewesen sind Überbleibsel von den mehreren Klassenzeichen in jeder Gruppe. Die deutsche nominale Genuskategorie geht also auf die nominale Klassenkategorie zurück (vgl. Маньков 2004: 81). Literatur Adrados, Francisco R. (1982): Die räumliche und zeitliche Differenzierung der Indoeuropäer im Lichte der Vor- und Frühgeschichte. Innsbruck Adrados, Francisco R. (1985): „Der Ursprung der Grammatischen Kategorien des Indoeuropäischen“. In: Schlerath, Bernfried unter Mitarbeit von Rittner, Veronica (Hrsg.) (1985): Grammatische Kategorien. Funktion und Geschichte“. (Akten der VII. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft). Berlin: 1-3. Bouda, Karl (1957): Die Sprache der Jenissejer. Genealogische und morphologische Untersuchungen. – „Anthropos“, vol. 52, № 1-2. Braune,Wilhelm / Helm, Karl (Hrsg.) (1952): Gotische Grammatik. Max Niemeyer Verlag. Halle/Saale. Brinkmann, Hennig (1950/51): „Die Wortarten im Deutschen. Zur Lehre von den einfachen Formen der Sprache“. In: Wirkendes Wort 1: 65 ff. Carruba, Onofrio (1985): Die anatolischen Partikeln der Satzeinleitung. Grammatische Kategorien. Funktion und Geschichte. Akten der VII. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft. Berlin, 20.-25. Februar 1983. Bernfried Schlerath (Hg.). Wiesbaden. Десницкая, А.В. (1955): Вопросы изучения родства индоевропейских языков. Москва-Ленинград. Eichner, Heiner (1985): Funktion und Numerus Kollektiv. Grammatische Kategorien. Geschichte. Akten der VII. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft. Berlin, 20.-25. Februar 1983. Bernfried Schlerath (Hg.). Wiesbaden. Erben, Johannes (1966): Abriss der deutschen Grammatik. Akademie-Verlag. Berlin. Гамкрелидзе Т.В., Иванов Вяч. Вс. (1984): Индоевропейский язык и индоевропейцы. Тбилиси. Helbig, Gerhard / Buscha, Joachim (1976): Kurze deutsche Grammatik für Ausländer. VEB Verlag Enzyklopädie. Leipzig Hirt, Hermann (1925): Geschichte der deutschen Sprache. [Reprint: München. 1968]. Климов Г.А. (1977): Типология языков активного строя. Москва. Крейнович, Е.А. (1968): О грамматическом выражении именных классов в глаголе кетского языка. Кетский сборник. Лингвистика. Москва. Маньков А.Е. (2004): Происхождение категории рода в индлевропейских языках. Вопросы языкознания, №5. Miklosich, Franz (1883): Vergleichende Grammatik der slawischen Sprachen. Syntax. Band IV, Wien. Paul, Hermann (1917): Deutsche Grammatik. Flexionslehre. B.II, Teil III. Tübingen. Max Niemeyer. [Reprint. 1968]. Поленова Г.Т. (2002): Происхождение грамматических категорий глагола (на материале енисейских языков). Таганрог. Rosén, Haiim B. (1985): „Über einige wenig berücksichtigte morphologische Gesichtspunkte zur Frage der Entstehung der nominalen Genuskategorie“. In: Schlerath, Bernfried unter Mitarbeit von Rittner, Veronica (Hrsg.) (1985): Grammatische Kategorien. Funktion und Geschichte“. (Akten der VII. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft). Berlin: 1-3. Sonderegger, Stefan (1979): Grundzüge deutscher Sprachgeschichte: Diachronie des Sprachsystems. Einführung, Genealogie, Konstanten. Bd. 1. de Gruyter Verlag. Berlin, New York. Хабургаев Г.А. Старославянский язык. М., 1974. Werner, Heinrich (1994): Das Klassensystem in den Jenissej-Sprachen. Wiesbaden.