SoSe 2003 Fakultät für Medizin - Institut für Psychotherapie und Psychosomatik Nachbarfach für das Studium der Psychologie Betreuung für Psychologiestudenten: Dr. Christian Kinzel Die Reflective Self Functioning Scale (Skala des Reflexiven Selbst) nach Peter Fonagy Anwendung und Ergebnisse Beate Ruppel 2 1. Inhalt: Seite I. Die Bindungstheorie 1. Der Fremde-Situation-Test FST 2. Das Erwachsenen-Bindungsinterview 3 3 4 II. Mentalisierung und Vorhersage des Bindungsmusters 1. Spezifische Faktoren für die Transmission von Bindung 2. Metakognitive Steuerung – das Reflexive Selbst 2.1 Metakognitive Steuerung 2.2 Komponenten der Selbstreflexivität 6 6 7 7 7 III. Stabilität der reflexiven Fähigkeiten 10 1. Veränderungsmöglichkeiten bei der Bindungsqualität 2. Die Psychopathologie von Kindern 3. Die Auswirkung der Bindung auf die Entwicklung der Metakognition 10 10 Die Reflective Self Functioning Scale (Skala des Reflexiven Selbst) 1. Die Auswertung der Interviews aus dem AAI 2. Die wissenschaftliche Überprüfung der RSFS 3. Zusammenhänge zwischen fehlender reflexiver Funktion und schweren Persönlichkeitsstörungen 4. Validitätsstudien der RSFS 4.1 Das Londoner Eltern-Kind-Projekt 4.2 Die Cassel-Hospital-Studie 4.3 Die Prison-Health-Care-Center-Studie 12 12 17 V. Diskussion 22 VI. Literaturverzeichnis 23 IV. 11 18 18 18 19 20 3 I. Die Bindungstheorie: John Bowlby – britischer Psychiater und Psychoanalytiker – begründete in den 1950er Jahren die Bindungstheorie, die davon ausgeht, dass ein Kind innerhalb der ersten zwölf Lebensmonate eine starke emotionale Bindung zu einer primären Bezugs- oder Versorgerperson entwickelt, meistens ist dies die Mutter. Bindungsverhalten zeigt sich vor allem im Suchen nach der primären Bezugsperson, im Weinen, Nachlaufen, Festklammern und sie wird bei Trennung sowie bei innerer oder äußerer Gefahr oder Bedrohung aktiv. Die wichtigste Funktion der Bezugsperson ist die Beschützerrolle in Bedrohungssituationen und eine Position als Sicherheit gebender Pol. Diese Funktionen sind für ein hilfloses Neugeborenes von lebenswichtiger und -erhaltender Bedeutung. Wird von der Bezugsperson kein oder nur zum Teil zuverlässiger Schutz geboten, führt dies beim Kind zu Frustration, was wiederum ambivalente Gefühle ihr gegenüber auslöst. Man geht davon aus, dass das Bindungsverhalten bzw. die Qualität der Bindung, die sich im ersten Lebensjahr entwickelt, über das ganze Leben relativ stabil bleibt. 1. Der Fremde-Situation-Test: Mary Ainsworth – eine Mitarbeiterin von John Bowlby – untersuchte die Bedeutung der Feinfühligkeit der primären Pflegeperson für die Entwicklung eines Kindes. Ein Säugling bindet sich an die Versorgerperson, die dessen Bedürfnisse in einer feinfühligen Art beantwortet. Feinfühligkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Signale des Kindes, wie lächeln, weinen etc., durch die Bezugsperson wahrgenommen und von ihr darauf adäquat und relativ zeitnah reagiert wird, ohne dass diese die durch deren eigenen Bedürfnisse oder Zustände verzerrt werden. Ainsworth untersuchte anhand des von ihr entwickelten Fremde-SituationTest FST (Strange Situation Test) das Verhalten von Kindern bei Wiedervereinigung mit der Mutter nach einer kurzen Trennungszeit im Alter von etwa zwölf Monaten. Sofern die Bedürfnisse des Kindes hinreichend befriedigt werden, bindet der Säugling sich sicher an die Pflegeperson, bei Zurückweisung oder Reaktion auf die Bedürfnisse in Vermischung der eigenen emotionalen Zustände der Bezugsperson findet die Bindung in unsichervermeidender Form statt. Wird auf die Nöte des Kindes inkonsistent eingegangen - das heißt, die Mutter reagiert teilweise zuverlässig und feinfühlig, teilweise aber mit Zurückweisung und Ablehnung – entwickelt sich beim Kind eine unsicher-ambivalente Bindung an die Mutter. Durch spätere weitergehende Untersuchungen zeichnete sich noch ein viertes Bindungsmuster – die desorganisierte bzw. desorientierte Bindungen – ab. Herbei zeigen Kinder stereotype Verhaltensweisen oder ein Erstarren für Sekunden im aktuellen Handlungsablauf, was darauf zurückgeführt wird, dass sie momentan keine verfügbare Strategie für ein bestimmtes Bindungsverhalten haben. 4 2. Das Erwachsenen-Bindungsinterview: Anhand des Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI) von Mary Main – ein speziell zu diesem Zweck entwickeltes, halbstrukturiertes Interview – wurden Untersuchungen über die Bindungserhaltung von Erwachsenen durchgeführt. Es zeigte sich, dass Erwachsene, die als Kinder sicher gebunden waren im Interview frei und in einem kohärenten Stil über frühe Bindungs- und Trennungserlebnisse und Trauer mit ihrer Primär- und weiteren Bindungspersonen sprechen konnten. Sofern die Kinder eine unsicher-distanzierte Bindung entwickelt hatten, schreiben sie als Erwachsene zwischenmenschlichen Beziehungen und emotionalen Bindungen geringe Bedeutung zu. Ein unsicher-ambivalenter Bindungsstil führt zu ausschweifenden, z.T. widersprüchlichen Aussagen über Beziehungen der frühen Kindheit und Berichten über immer noch bestehende Verstrickungen mit ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen des aktuellen Lebensabschnittes. In diversen Längsschnittstudien weltweit wurde zwischenzeitlich nachgewiesen, dass sicher gebundene Mütter zum Großteil auch sicher gebundene Kinder (im Alter von zwölf Monaten) haben und unsicher gebundene Mütter auch häufiger unsicher gebundene Kinder. Dies führt zu der Annahme, dass der Bindungsstil transgenerationell übertragen wird. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse hinsichtlich des Verhaltens der Kinder bzw. der Narrative aus dem AAI bezüglich des Bindungsverhaltens gibt die folgende Aufstellung: Kleinkindalter – Fremde Situation Test: Sicher: - Offener Ausdruck emotionaler Betroffenheit - Nähe oder Kommunikation mit Bezugsperson suchen - Rasche Beruhigung Unsicher-vermeidend: - eingeschränkter Emotionsausdruck - Nähe vermeiden - Höchste Explorationsneigung Unsicher-ambivalent: - Starke emotionale Betroffenheit - Mischung aus Nähe suchen und ärgerlichem Kontaktvermeiden - Passiv bei Suche nach Mutter - Keine oder wenig Exploration - Keine oder kaum Beruhigung bei Wiedervereinigung Desorganisiert/desorientiert: - bizarre Verhaltensweisen wie Einfrieren des Gesichtausdrucks - sich widersprechende Bindungsverhaltensstrategien (z.B. Unterbrechen des Nähesuchens) 5 6 Jahre – Wiedervereinigung nach einstündiger Trennung: sicher: - rasche Kontaktaufnahme durch Kommunikation - entspannter Dialog unsicher-vermeidend: - Vermeiden von Kontaktaufnahme - Ignorieren elterlicher Kommunikationsversuche Unsicher-ambivalent: - übertriebener Emotionsausdruck - unreifes passives Verhalten - Zurückweisung der Bezugsperson Desorganisiert/desorientiert: - Kind gibt Mutter Anweisungen oder kümmert sich freundlich um die Bezugsperson (kontrollierend) - Nicht klassifizierbares Verhalten Jugend- und Erwachsenenalter – Erwachsenen-Bindungsinterview (Main): Sicher: - kohärente Schilderung und Bewertung der eigenen Bindungserfahrungen - Wertschätzung von Bindung Unsicher-distanziert: Inkohärenz durch - Idealisierung der Bezugsperson(en) - Mangel an Erinnerungen - Mangelnde Integration von Erfahrungen - Abwertung von Bindung Unsicher-verwickelt: Inkohärenz durch - Berichte von irrelevanten Details - Ständig widersprüchliche Bewertungen der eigenen Bindungsgeschichte - Ärger über Bezugsperson - Passivität des Diskurses Unverarbeitet-traumatisiert: - Inkohärenz durch sprachliche Auffälligkeiten beim Bericht über traumatische Erfahrungen 6 Anmerkung: Im weiteren Text werden die Begriffe Metakognition, Reflexive Funktion, Mentalisierung, theory of mind und reflecitve functioning weitgehend synonym verwendet. II. Mentalisierung und Vorhersage des Bindungsmusters Aufgrund dieser Befundlage kam Fonagy im Londoner Eltern-Kind-Projekt – worauf ich später noch näher eingehe – zu dem Ergebnis, dass ein bestimmter Bindungsstil mit hoher Wahrscheinlichkeit transgenerationell weitergegeben wird. Fast 75 Prozent der Kinder, deren Mütter im Adult Attachment Interview als unsicherverstrickt/belastet oder unsicher-distanziert/gebunden kategorisiert worden waren, reagierten auf die Rückkehr der Mutter nach den kurzen Trennungen der Fremden Situation unsicher, ihr Verhalten war also vermeidend oder abwehrend. 80 Prozent der Kinder als autonom eingestufter Mütter zeigen bei Wiedervereinigung mit der Mutter offene Zuwendung bzw. deutlich angstreduzierte Annäherung, dies trat nur bei 27 Prozent der Kinder von unsicher-gebundenen Müttern auf. Für die Väter zeigte sich zwar ein schwächeres, aber dennoch statistisch signifikanten Muster der Bindungsübertragung. Der stärkste Zusammenhang für beide Elternteile zeigte sich zwischen dem Interviewergebnis unsicher-distanziert und unsicherem Verhalten des Kindes bzw. zwischen der frei-autonomen Bindungsform und sicherem Verhalten des Kindes. Unabhängig von Kontrollen, die Fonagy durchführte (wie Persönlichkeit, Wortgewandtheit, Zufriedenheit in der Ehe und Psychopathologie-Screening bei den Eltern) ließ sich eine statistisch signifikante Prognose der Bindungssicherheit des Kindes bereits während der Schwangerschaft aufstellen. Van Ijzendoorn (1995) zeigte in einer Metaanalyse über 18 Studien mit insgesamt 853 ElternKind-Paaren, dass die im Erwachsenen-Bindungsinterview erhobenen mentalen BeziehungsRepräsentanzen etwa ein Viertel der bei der Fremden Situation ermittelten Varianz der Sicherheit des Kindes erklären. Die Assoziation zwischen Erwachsenen-Bindungsinterview und Fremder Situation liegt bei 70 Prozent bis 80 Prozent. 1. Spezifische Faktoren für die Transmission von Bindung Die Transmission einer sicheren Bindung des Kindes verläuft für jeden Elternteil in einer spezifischen Form. Weder genetische bzw. temperamentbedingte Unterschiede bieten eine hinreichende Erklärung für die Entwicklung bestimmter Bindungsstile. Das bedeutet, dass eine sichere Bindung des Vaters keinen erkennbaren Einfluss auf die Qualität der Bindung des Kindes zur Mutter hat und umgekehrt. Somit lässt sich das Verhalten des Kindes im FST nur aus dem entsprechenden Interview des jeweiligen Elternteils vorhersagen lässt. 7 Dies zeigt, dass ein Kleinkind wahrscheinlich die inneren Arbeitsmodelle für die wesentlichen Bezugspersonen getrennt voneinander verarbeitet. Nach einer bestimmten Menge an gesammelter Erfahrung von Bindungserlebnissen stellt es ein Modell in den Vordergrund und wird dann in seinem Verhalten und Erleben von diesem geführt. Fonagy und seine Mitarbeiter zeigten, dass die metakognitive Steuerung entscheidend dafür ist, welchem Bindungsmodell das Kind in welcher spezifischen Situationen den Vorzug gibt. 2. Metakognitive Steuerung – das Reflexive Selbst 2.1 Metakognitive Steuerung Mary Main (1991) sieht eine ausgeprägte Verbindung zwischen den Unterschieden in der Bindungsstruktur des Kindes und der Qualität der Metakognition der Mutter. Sie hält inkohärente Berichte der Mutter, die auf schwach strukturierte Modelle von Bindungsbeziehungen verweisen, für eine der wichtigsten Ursachen unsicherer Bindungsmuster beim Kind. Das Fehlen metakognitiver Fähigkeiten macht Säuglinge und Kleinkinder für inkonsistentes Verhalten der Mutter anfällig. Kleinkinder können sich lediglich auf die unmittelbar erlebte Realität beziehen und können so auch nicht zwischen diesen Erfahrungen und den dafür ursächlichen mentalen Zuständen differenzieren. Da sich aus den Ratings der beobachtbaren mütterlichen Feinfühligkeit und Versorgung keine zuverlässigen Prognosen über die Qualität der Bindung zwischen Kind und Bezugsperson treffen lassen, muss die Ursache für die hohe Wahrscheinlichkeit einer sicheren Bindung des Kindes eher in den metakognitiven, selbstreflexiven Fähigkeiten der Mutter liegen. Dies bedeutet, dass sie mentales Befinden identifizieren und berücksichtigen kann. So lässt sich aus der mehr oder weniger vorhandenen reflexiven Fähigkeit der Mütter sich eine gute Voraussage über die Bindungsentwicklung beim Kind treffen. 2.2 Komponenten der Selbstreflexivität Fonagy wollte im Londoner Eltern-Kind-Projekt nun herausfiltern, ob das Maß an selbstreflexiver Beobachtung eigener und fremder mentaler Befindlichkeiten in den Berichten des Erwachsenen-Bindungsinterviews die Prognose einer Bindungssicherheit des Kindes ermöglicht. Als Bezeichnung für derartige mentale Vorgänge bzw. Fähigkeiten wurde die „reflective selfscale“ (Skala des reflexiven Selbst) gewählt, da herausgestellt werden sollte, dass es von Belang ist, dass die Bezugsperson sowohl das eigene als auch das mentale Befinden anderer Personen erkennen und spiegeln kann. Die Erkenntnis, dass man selbst und andere von mentalen Zuständen motiviert handelt, ist ein Entwicklungsschritt, der nur in einer sicheren Bindungsbeziehung hinreichend erlangt werden kann. 8 Für eine reife reflexive Persönlichkeit zeigen sich folgende typische Erzählstile im Erwachsenen-Bindungsinterview: (1) Spezielle Erwähnung mentalen Befindens: die Befragten repräsentieren sich oder andere als denkend und fühlend; Antizipation der Reaktion eines anderen Menschen, die dessen Wahrnehmung der eigenen mentalen Befindlichkeit berücksichtigt Einfühlungsvermögen in die Charakteristika mentalen Befindens, wie es sich zum Beispiel in der expliziten Anerkennung der begrenzten Macht von Wünschen, Gedanken und Begehren in der realen Welt manifestiert. (2) Einfühlungsvermögen in die Komplexität und Unterschiedlichkeit mentalen Befindens: explizite Anerkennung der Möglichkeit, ein und dasselbe Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven zu gesehen werden kann und verschiedene Standpunkte dazu eingenommen werden können (3) Spezielle Bemühungen, beobachtbares Verhalten mit mentalem Befinden zu verknüpfen: Bemerkungen, dass jemand andere Gefühle zum Ausdruck bringen, als die tatsächlich empfundenen und dass jemand durch eigennützige Selbstdarstellung bewusst täuschen wollen kann (4)Anerkennung der Veränderungsmöglichkeit mentalen Befindens und damit implizit auch des entsprechenden Verhaltens: Feststellungen, dass sich Einstellungen in der Zukunft verändern können Personen, die eine geringe reflexiven Funktion besitzen, sind weder in der Lage, das Selbst oder andere Personen als intentional zu erkennen, noch können sie interpersonelle Ereignisse psychologisch erklären, dies tun sie in soziologischer Weise. Bei einer mittleren Reflexionsfähigkeit stellen sich Wahrnehmungen der mentalen Welt recht ungenau dar oder gehen weit über die Verhaltenserzählungen hinaus. Psychoanalytisch betrachtet setzt sich hier die Projektion durch. Aus den Ratings für die Reflexive Funktion (RF) lassen sich bereits pränatal gute Prognosen für das Verhalten des Kindes im FST treffen. Bei Vätern und Müttern mit hoher RF liegt die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines sicheren Bindungsstils beim Kind drei- bis viermal höher als bei Eltern mit niedrigen RF-Werten. Bezogen auf die von Bion beschriebene „Container-Funtion“ der Mutter meint Fonagy, dass eine feinfühlige Reaktion der Mutter über das reine Spiegeln der mentalen Zustände des Kindes hinausgeht, sie hat die Fähigkeit, mit Störung umzugehen, statt sich davon überwältigen zu lassen. Mütter mit geringeren reflexiven Fähigkeiten gefährden ihre Container-Funktion, indem sie als verstrickt/belastete Mutter möglicherweise zwar den Affekt spiegeln, aber kaum 9 oder nur schlecht vermitteln können, dass sie ihn bewältigen können. Oder – als Mütter der Kategorie unsicher-distanziert – vermitteln dem Kind vielleicht das Gefühl von Stabilität und Bewältigung, ohne die Affekte exakt zu spiegeln. Hierbei ist zu betonen, dass Feinfühligkeit nicht gleichzusetzen mit Spiegeln von Emotionen. 10 III. Stabilität der reflexiven Fähigkeiten Die metakognitive Kontrolle ist vor allem dann von Belang, wenn das Kind extrem ungünstige Interaktionsmuster (Missbrauch oder Traumatisierung) ertragen muss. Ohne eine reflexive Fähigkeit muss das Kind mütterliche Ablehnung als Realität annehmen und so eine negative Sichtweise seiner selbst zu übernehmen. Ein Kind, das mentales Befinden anderer begreift, kann auch verstehen, dass die Ablehnung der Mutter wahrscheinlich auf falschen Überzeugungen basiert, kann so die Folgen von negativen Erfahrungen dämpfen. Fonagy zeigte in seinem Londoner Eltern-Kind-Projekt, dass vor allem in sozioökonomisch deprivierten Familien die Mütter mit hohen RF-Werten auch sicher gebundene Kinder hatten. Das heißt, dass die transgenerationelle Transmission früher negativer Erfahrungen unterbrochen werden kann, sofern die Mutter gelernt hat, psychische Erfahrungen realistisch zu repräsentieren und reflektieren. 1. Veränderungsmöglichkeiten bei der Bindungsqualität Weitere Ergebnisse zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Bindung fünfjähriger Kinder, die mit einem Jahr unsicher an die Mutter gebunden waren, sich stark erhöhte, wenn die Mütter vor der Geburt des Kindes sicher-autonom waren. Bei Kindern, die mit einem Jahr eine sichere Mutterbindung entwickelt hatten, obwohl ihre Mütter vor der Geburt distanziert oder verstrickt waren, war die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Mutterbindung mit fünf Jahren höher als bei Kindern, deren Mütter vor der Geburt als autonom eingestuft wurden. Bei den Vätern steigt die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Bindung der anderthalbjährigen Kinder an die Väter, wenn diese beim Erwachsenen-Bindungsinterview vor der Geburt des Kindes als autonom eingestuft wurden. Die Vaterbeziehung des Kindes scheint in den ersten 18 Monaten stabiler zu sein als die Mutterbeziehung. Mütter, die ursprünglich eine negative Einstellung zur Geburt des Kindes zeigten, haben in der Folgezeit sehr viel mehr Möglichkeiten, das innere Arbeitsmodell des Kindes hinsichtlich Beziehungen zu verbessern als die Väter, deren Kontakt in der Regel eingeschränkter ist. Das Geschlecht des Kindes sowie Alter, Zahl und Geschlecht der Geschwister haben keinerlei Einfluss auf die Beziehung zwischen der Klassifikation der Eltern im AAI, der Bindung des Kindes mit 18 Monaten und der mit sechs Jahren. 2. Die Psychopathologie von Kindern Somit gibt es komplexe Beziehungen zwischen der Bindungsrepräsentanzen der Eltern, der frühen Bindung des Kindes und der Bindung mit fünfeinhalb oder sechs Jahren, also bei der Entwicklung von mentalen Konfliktmodellen. 11 Bindungsmuster sind keine Prädiktoren für psychische Störungen beim Kind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass psychische Schwierigkeiten bei kleinen Kindern mit Problemen bei der Konstruktion kohärenter innerer Beziehungsrepräsentanzen zusammenhängt. Fonagy nimmt an, dass Aggression und anderes Oppositionsverhalten beim Kind als Abwehr gegen eine akute innere Konfliktsituation eingesetzt werden, in der das Kind versucht, drei entgegengesetzte Anforderungen zu erfüllen: dem Arbeitsmodell beider Eltern zu entsprechen; zu akzeptieren, dass das innere Arbeitsmodell der Mutter möglicherweise grundlegend anders ist; die Notwendigkeit, ein einziges, kohärentes eigenes inneres Arbeitsmodell zu entwickeln. Innerhalb dieses Vorganges ist die Kenntnis des Kindes über geistige und seelische Zustände von Menschen von großer Bedeutung. 3. Die Auswirkung der Bindung auf die Entwicklung der Metakognition Ein positiver Effekt der sicheren Bindung auf den Erwerb einer theory-of-mind beim Kind steht hauptsächlich in Verbindung mit der Mutter und den ersten beiden Lebensjahren Die Arbeitsgruppe um Fonagy vermutet, dass das Kind im Verhalten der Mutter nicht nur deren Reflexivität wahrnimmt, sondern dass es über die Haltung der Mutter ein Bild von sich selbst als reflexives Wesen übernimmt. Fonagy (1998) beschreibt dies mit der Aussage: „Sie denkt mich als denkend, und also existiere ich als denkendes Wesen“. Dies bedeutet, dass eine Mutter aufgrund ihrer Reflexivität die intentionale Haltung ihres Kindes repräsentieren kann und sich so das Kind als geistig-seelisches Individuum in der Mutter finden kann. Sofern die Mutter nicht dazu in der Lage ist, kann das Kind keine Repräsentation einer fürsorglichen Bezugsperson entwickeln und ist somit nicht in der Lage, wirklich intime Beziehungen aufzunehmen. 12 IV. Die Reflective Self Functioning Scale, RSFS (Skala des Reflexiven Selbst): Neben der englischen Originalfassung der Reflective Self Functioning Scale liegt zwischenzeitlich auch eine leicht modifizierte deutschsprachige Fassung „Skala des Reflektiven Selbst, SRS“ von Elke Daudert (2001) mit geeigneten Testgütekriterien vor. Ferner gibt es eine von E. Mergenthaler in Ulm entwickelte computergestützten Auswertungsmethode für das AAI. Die Daten der für die Skala relevanten Informationen werden durch eine zusätzliche Art der Auswertung der Narrative aus dem AAI gewonnen. Der Erzählstil über frühe Bindungs- und Trennungserfahrungen führte zu einer neunstufigen Skalierung der reflexiven Funktion. Die Skalierung geht von 0 = negative bzw. ablehnende RF bis 9 = außergewöhnlich hohe RF. Es gibt diverse Störungen der Reflexivität. (siehe auch Tabelle unten) 1. Die Auswertung der Interviews aus dem AAI: Die einzelnen Abschnitte der Interviews werden anhand des von Fonagy und Mitarbeitern entwickelten Manuals geratet, am Ende wird aus den Einzelscores ein Gesamtscore ermittelt. Die einzelnen Passagen werden abhängig vom Kontext bestimmt, in dem sie erzählt werden. Die Fragen des AAI lassen sich in zwei Gruppen aufteilen. Zum einen sind es Fragen, die dem Interviewten erlauben und von ihm fordern, seine Selbstreflexivität zu zeigen, zum anderen gibt es sie sogenannten Demand-Fragen, die den Befragten dazu auffordern, seine Fähigkeit zur Selbstreflexion zu zeigen. Folgende Fragen sind Demand-Fragen (fordernde Fragen): - Warum verhielten sich ihre Eltern während Ihrer Kindheit so, wie sie es taten? - Bezüglich des Einflusses von Kindheiterfahrungen: Denken Sie, dass Ihre Kindheitserfahrungen einen Einfluss auf ihre heutige Persönlichkeit haben? - Gibt es irgendwelche Nachteile? - Fühlten Sie sich als Kind jemals zurückgewiesen? - Bezüglich Verlusterlebnisse: Wie fühlten Sie sich damals, und wie haben sich Ihre Gefühle im Laufe der Zeit verändert? - Gab es irgendwelche Veränderungen in Ihrer Beziehung zu Ihren Eltern seit Ihrer Kindheit? 13 - Jede weitere Demandfrage, die vom Interviewer gestellt wird wie z.B.: Und was denken Sie, warum haben ihre Eltern dies gemacht? Auch die Antworten auf diese Fragen werden ausgewertet und bei der Gesamtbewertung des Interviews berücksichtigt. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die erreichbaren Gesamtscore in der Skala des Reflexive Selbst SRS und den möglichen Störungen der Reflexivität: GesamtScore SRS Bezeichnung Unterformen von Reflexivitätsstörung 1. 2. feindselige Ablehnung/Negieren von RF Negative, ablehnende RF unintegrierte, bizarre oder unangemes0 sene RF 3. Vermeiden/Verleugnen bzw. Fehlen von Fehlende bzw. Mangel an RF RF (Disavowal) 1 4. verzerrte, eigennützige RF 5. naiv-vereinfachende RF Fragliche bzw. niedrige RF 6. über-analysierende, hyperaktive RF 3 7. gemischt niedrige RF 8. durchschnittliches Einfühlungsvermögen Eindeutige bzw. mittlere RF 5 9. inkonsistentes, widersprüchliches Einfühlungsvermögen Hohe RF Keine Unterformen 7 Außergewöhnlich hohe RF Keine Unterformen 9 (Nach Daudert, 2001) Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Abstufung von Reflexivität und deren Beeinträchtigung, eine grobe Übersicht möchte ich darstellen. Gesamtscore SRS 9: volle reflexive Funktion Diese zeigt sich im Adult Attachment Interview durch - Erkennen verstellter oder täuschender mentaler Zustände - Anerkennung der Grenzen der Einsicht - angemessene normative Beurteilungen über mentale Zustände in Form von expliziten Äußerungen über das, was eine allgemein erwartete Reaktion in einer spezifischen Situation wäre 14 - Einräumen der Möglichkeit, dass Gefühle eine Situation betreffend ohne Bezug zu deren beobachtbaren Aspekten sein können - Bewusstsein für die defensive Natur bestimmter - oft eigennütziger - mentaler Zustände. Ferner findet ein explizites Bemühen statt, die dem Verhalten zugrundeliegenden mentalen Zustände „auszureizen“ und seine Späßchen damit zu machen: - genaue Zuschreibungen mentaler Zustände an andere - Anerkennen verschiedener Perspektiven zu ein und demselben Ereignis - Berücksichtigung des eigenen mentalen Zustands bei der Interpretation des Verhaltens anderer wie der ausdrückliche Versuch, mentale Zustände hinsichtlich ihrer Wirkung auf sich oder andere zu bewerten oder Berücksichtigung wie andere einen wahrnehmen - Es besteht eine „Frische“ der Erinnerung an und Gedanken über mentale Zustände Von großer Bedeutung für eine volle reflexive Funktion sind weiterhin - Erkennen der Entwicklungsaspekte mentaler Zustände - Einnehmen einer Entwicklungsperspektive, wie eine Linie zwischen den Kindheitserfahrungen und gegenwärtigen Gedanken und Wünschen herstellen - eine generationsübergreifende Perspektive einzunehmen und zwischen den Generationen Verbindungen herzustellen und sich transaktionale Prozesse zwischen Eltern und Kind vorzustellen sowie sich Veränderungen mentaler Zustände zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Gegenwart und Zukunft vorzustellen - Faktoren zu verstehen, die entwicklungsbedingt die Affektregulation bestimmen - Bewusstsein für Familiendynamiken Gesamtscore SRS 0 bis 3: negative oder begrenzte selbstreflexiver Funktion - Zurückweisung von selbstreflexiver Funktion (die Interviewten zeigen sich möglicherweise offen defensiv oder ziemlich feindselig) - extreme Inkongruenzen in der Repräsentation mentaler Zustände im Selbst in Bezug zu Bindungsfiguren. Eindruck, dass die Person nicht die Wahrheit sagt oder ganz von seinen Gefühlen abgeschnitten ist. - häufiges und beinahe vollständiges Ausweichen gegenüber Fragen, die sich auf mentale Zustände beziehen 15 Eine nicht integrierte, bizarre oder unangemessene reflexive Funktion zeigt sich durch eine mangelhafte angemessene Darlegung der frühen Bindungs- und Verlusterfahrungen und durch Schlussfolgerungen von unangemessenen Kognitionen (Gesamtscore SRS 0): - Mentale Zustände werden geäußert, aber die Auswirkungen auf die Gedanken, Überzeugungen und Gefühle werden nicht ausgesprochen. - bizarre Zuschreibungen mentaler Zustände, die schwierig zu verstehen sind, vor allem im Kontext von Erklärungen des subjektiven Affekts Eine Leugnung selbstreflexiver Funktion findet statt, wenn sich folgende Äußerungen über reflexive Fertigkeiten zeigen (Gesamtscore SRS 0): - die selbstreflexive Fähigkeit abstreiten (keine Feindseligkeit, eher höfliche Weigerung) - oft wird Unwissenheit bei direkten Fragen angegeben - Vermeidung von konkreten Erklärungen für Verhaltensweisen der Pflegeperson in Begriffen, die den Bezug zu mentalen Zuständen herstellen (Erklärungen können soziologisch sein, sich auf äußere Bedingungen beziehen, Verallgemeinerungen enthalten) - Gründe für Handlungen werden normalerweise eher im körperlichen, als im seelischen Bereich gefunden. - Erklärungen für Verhaltensweisen der Eltern werden häufig in Begriffen der Familienstruktur ausgedrückt wie Geschwisterfolge, Altersverteilung der Geschwister oder die Anwesenheit der Großeltern. Bei Verzerrung bzw. Eigennutz in der reflexiven Funktion tauchen v.a. Verzerrung im Dienste des Selbst auf, die die Kohäsion der Selbstrepräsentanz des Befragten stärken sollen (Gesamtscore SRS 1): - Erinnerungen mentaler Zustände sind überwiegend egozentrisch, dem Selbst wird eine bedeutsame Rolle zugeschrieben - absichtliche Verzerrung in der Repräsentation der eigenen Motive und denen der anderen in Richtung Selbstwerterhöhung. - Eigennützige Ungenauigkeiten bezüglich der Natur mentaler Zustände - tendenziell werden die mentalen Zustände anderer als leuchtend oder die befragte Person stellt sich als Opfer dar 16 Bei naiver oder vereinfachender selbstreflexive Funktion wird in sogenannten „canned speech-Aussagen“, d.h. konservierte Aussagen in Form von Zitaten, Sprichworten o.ä. (Gesamtscore SRS 3): - mentale Zustände werden vorhergesagt durch oder verkürzt in soziale Klischees, die Repräsentation mentaler Zustände ist eindimensional - eine Spaltung zeigt sich durch eine Darstellung von Bindungspersonen als nur gute oder nur schlechte Menschen (eine beschriebene Person kann völlig inkohärent dargestellt werden - die Interviews verlaufen häufig sehr oberflächlich oder total banal. Negative Erfahrungen in kulturellen Trends sind ein Ausdruck fehlender persönlicher Auseinandersetzungen Überanalytische oder hyperaktive selbstreflexive Funktion präsentiert sich durch folgende Aussagen (Gesamtscore SRS 3): - die Person stellt sich als psychologisch-denkend dar, die Überlegungen im Interview sind aber überwiegend irrelevant für die Aufgabe. Es gibt keine Beziehung zum Verhalten und kann deshalb nicht gewertet werden. - Die Suche nach Einsicht ist ziemlich zwanghaft, aber unproduktiv. Diese Personen sind sich möglicherweise tatsächlich voll der Bedeutungslosigkeit bewusst. Trotzdem reden sie so weiter in der Hoffnung, ihre freilaufenden Gedanken wieder mit einer affektiven Bedeutung zu verknüpfen. - Solche Interviews sind meist exzessiv lang. Kontrast der unbestimmten Beschreibungen in mentalen Zuständen zu präzisen Berichten von historischen Ereignissen. Sobald sich das Narrativ Bindungsbeziehungen zuwendet, wird die Tiefe klar unangemessen zur Interviewsituation. Die Person bietet zu viele Interpretationen an ohne angemessene Unterstützung. Überzeugung, dass der Interviewer die Überlegungen, Begriffe und das Verständnis teilt, wodurch sich das Interview überheblich anfühlt. - Schließlich spiegeln die Interviews diffuse mentale Zustände wider. Auszugsweise kann es schwer fallen, solche Interviews von hochreflektierten zu unterscheiden. Insgesamt stechen diese Interviews durch ihre verwirrende Art heraus, einen vorherrschenden unangemessenen Jargon, eine ausgefallene Verwendung von mentalen Zustandsbegriffen und die fehlende Tiefe der Einsichten. Einige oberflächliche Merkmale von Metarepräsentationen sind vorhanden ohne Verbindung zu den tatsächlichen Repräsentationen des mentalen Ereignisses. Fonagy und seine Arbeitsgruppe konnten somit die Hypothese bekräftigen, dass in den Interviews zur Bindungsgeschichte bei der abwehrenden, nicht reflexiven Gruppe verschiedene Kategorien der Mentalisierung weniger häufig auftauchen. In den Interviews, deren RF-Werte in den Scores 0 bis 3 liegen, werden weder das Selbst noch die anderen als intentional, d.h. von Wünschen und Überzeugungen motiviert, repräsentiert. Interpersonale Ereignisse werden 17 auf banale „soziologische“ Weise beschrieben. Kommen selbstanalytische Aussagen vor, sind diese nicht sehr überzeugend. In der Gruppe mit einer mittleren reflexiven Funktion, also einem Score von 4 bis 6, gibt es zwar tendenziell gewisse psychologische Zuschreibungen, allerdings ohne Spezifität. Wahrnehmungen der mentalen Welt wirken entweder ungenau oder gehen weit über die Verhaltensdaten hinaus, sodass projektive Zuschreibungen überwiegen. In den Interviews mit Werten im oberen Drittel (7-9) finden sich zahlreiche Beispiele für die Reflexion von Handlungen unter dem Aspekt geistig-seelischer Befindlichkeit und Annahmen über die Auswirkungen psychischer Konflikte sowie das Wissen, dass Bewusstsein nicht alle Aspekte mentaler Aktivität steuern kann. 2. Die wissenschaftliche Überprüfung der RSFS Seit Entstehen der Skala wurden von der Arbeitsgruppe um Fonagy diverse Validitätsstudien durchgeführt. Folgende psychometrischen Eigenschaften stellten sich heraus: - die Inter-Rater-Reliabilität beträgt ICC = 0,59 bis 0,91 - die Diskriminative Validität zeigt keine signifikanten Zusammenhänge der RSFS mit gängigen Persönlichkeitsinventaren. Es zeigten sich geringe Korrelationen mit soziodemographischen Merkmalen, aber keine signifikanten Koeffizienten bei p = 0,05 für den sprachgebundenen IQ-Wert der Eltern (r = 0,33 bei Vätern; r = 0,27 bei Müttern) und das Bildungsniveau des Vaters (r = 0,35). - Die Kriteriums- bzw. Konstruktvalidität erwies hohe korralative Beziehungen der RF-Werte mit der Kohärenzskala sowie mit der sicheren Bindungsklassifikation im AAI (r = 0,75). - Bei der prädiktiven Validität stellte sich eine Signifikanz für die punkt-biseriale Korrelation zwischen dem Verhalten der Kinder in der FST und dem RF-Wert der Eltern (r = 0,51 für Mütter; r = 0,36 für Väter) heraus. Strauß und Eckert (1997, 1998) bestätigten diese Ergebnisse in einer multizentrischen Studie an stationären Gruppenpsychotherapie-Patienten im wesentlichen. Die Korrelation der RFWerte mit dem Bildungsniveau betrug r = 0,37 bei p ≤ 0,01. Die Ergebnisse zur konvergenten Validität ergaben hoch signifikante korrelative Zusammenhänge mit der SelbstexplorationsSkala (SE, Tausch et al, 1969; r = 0,53, p ≤ 0,01), der Gesprächspsychotherapie sowie der OPD-Strukturachse (Arbeitskreis OPD 1998; r = 0,51, p ≤ 0,01). 18 3. Zusammenhänge zwischen fehlender reflexiver Funktion und schweren Persönlichkeitsstörungen Es wird ein Zusammenhang angenommen zwischen dem Ausmaß der Einschränkung der reflexiven Funktion und der Disposition zu psychopathologischen Erkrankungen. Ein massives – häufig traumainduziertes – Versagen der Selbstreflexivität bzw. der psychischen Integrationsfunktion wird mit schweren Persönlichkeitsstörungen in Verbindung gebracht. Dies ist vor allem relevant für die Betrachtung der Genese von Borderline-Störungen. Die Reflexive Funktion und der entsprechende Bindungskontext werden als Basis der Selbstorganisation bzw. Selbstregulationsfähigkeit begriffen. Empirisch konnten Fonagy et al. sowohl zeigen, dass schwer traumatisierte Patienten nur dann eine BorderlinePersönlichkeitsstörung entwickelten, wenn gleichzeitig ihre reflexiven Fähigkeiten gering ausgeprägt sind., als auch, dass ein massives Versagen der reflexiven Fähigkeiten mit einer Disposition zu destruktiver, mitleidloser Aggressivität und Gewaltdelikten bei jugendlichen Straftätern einhergeht. 4. Validitätsstudien der RSFS: 4.1 Das Londoner Eltern-Kind-Projekt (Fonagy et al. 1991) Das Londoner Eltern-Kind-Pojekt, eine Prospektivstudie, wurde von Fonagy et al durchgeführt, um nachzuweisen, dass die Qualität der kindlichen Bindung abhängig davon ist, inwieweit Eltern bzw. eine Bezugsperson sich in die mentalen Zustände des Kindes hineinversetzen kann und diese durch ihr Verhalten spiegeln können. Es wurden 100 Mütter und ihre Partner im letzten Drittel der Schwangerschaft anhand des Adult Attachment Interview befragt, die Kinder wurden dann während der ersten 18 Lebensmonate mit dem FST untersucht. Sichere Mütter erreichten erwartungsgemäß hohe Werte auf der RSFS, vermeidende eher niedrige. Die Prognoseeignung für die Bindungsqualität des Kindes erwies sich in etwa so groß wie die Skalen des AAI. Besonders aussagekräftig war die Skala für sichere Mütter, die im Erwachsenen-Bindungs-Interview von vielen schlechten Kindheitserlebnissen berichtete, jedoch wegen der kohärenten Art und Weise, wie sie darüber sprachen, als sicher eingestuft wurden: von ihnen hatte 100 Prozent sicher gebundene Kinder. Bei Müttern mit positiven Bindungserfahrungen und sicheren Bindungsrepräsentanzen hatte 79 Prozent sicher gebundene Kinder – im Gegensatz zu nur 28 Prozent der unsicheren Mütter. Bei den belasteten, deprivierten Müttern mit niedriger Fähigkeit zur Reflexiven Funktion hatten nur sechs Prozent sicher gebundene Kinder. Dies zeigt, dass sichere Mütter mit negativen Kindheitserfahrungen wie Deprivation, psychiatrische Erkrankung der Elter, Tod etc. durch die metakognitiven Fähigkeiten dazu in der Lage sind, als Schutzfaktor für das Kind zu dienen. Die Fähigkeit zur Mentalisierung wird als eine Art Puffer bzw. Neutralisierungsmöglichkeit verstanden, die hilft, Interaktionen mit dem Kind abzufedern und unerwünschte Einflüsse zu minimieren. Bei Müttern mit positiven Kindheitserfahrungen ist diese Fähigkeit nicht notwendig. 19 4.2 Die Cassel-Hospital-Studie (Fonagy et al. 1996): Die Arbeitsgruppe um Fonagy ging davon aus, dass Vorhandensein bzw. Fehlen von reflexiven Fähigkeiten eng verbunden ist mit der Entwicklung des Selbst und seinen Störungen und somit auch der Entwicklung von psychischen Störungen, vor allem von (schweren) Persönlichkeitsstörungen. Anhand der Cassel-Hospital-Studie konnte sie nachweisen, dass schwer traumatisierte Personen nur dann eine Borderline-Störung entwickelten, wenn zusätzlich die Reflexive Funktion eingeschränkt ist. Durch die daraus resultierende mangelnde Integrationsfähigkeit wird eine Disposition für Persönlichkeitsstörungen geschaffen. Untersucht wurden 85 nicht-psychotische stationäre Psychiatriepatienten, die verglichen wurden mit einer parallelisierten nicht-psychiatrischen Kontrollgruppe. Die Inter-Rater-Reliabilität für die RSFS betrug ICC = 0,91, der Mittelwert der RF-Ratings 3,7 mit SD = 1,8 in der psychiatrischen Gruppe und 5,2 in der Kontrollgruppe mit SD = 1,5. Die RSF-Scale differenzierte Patienten mit einer Achse-I-Störung laut DSM-III-R bzw. SCID-I ( Symptomdiagnose) nur für die Gruppe der Essgestörten. Patienten ohne eine AchseII-Diagnose hatten signifikant höhere RF-Werte als die mit einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung (p ≤ 0,05). Dieses Ergebnis konnte insbesondere auf die niedrigen RF-Resultate der Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) zurückgeführt werden (p ≤ 0,001). In einer pfadanalytischen statistischen Auswertung wurden die Zusammenhänge zwischen körperlichem bzw. sexuellem Missbrauch, RF-Werten und einer Borderline-Diagnose untersucht. In der Gruppe ohne Missbrauchserfahrung war die Prävalenz der Borderline-Störung gleich hoch für Patienten mit hohen und niedrigen RF-Werten (Median = 3 als Cut-off-Wert). So wurde nur bei 17 Prozent der Patienten mit einer Missbrauchserfahrung und hohen RFWerten eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, demgegenüber aber bei 97 Prozent mit niedrigem RF-Wert. Die RF-Werte erwiesen sich also nur dann als prädiktiv für eine Borderline-Störung, wenn gleichzeitig eine Gewalt- oder Missbrauchserfahrung eruiert werden konnte. Die Ergebnisse stellen sich folgendermaßen dar (Quelle: Daudert 2001) RF-Werte bei verschiedenen Achse-I-Diagnosen Achse-IDepression Angst SubstanzDiagnose Mißbrauch M (SD) 3,8 (1,7) 3,5 (1,8) 3,4 (1,8) bei n = 72 bei n = 44 n = 37 Ess-Störung 2,8 (1,7) n = 14 RF-Werte bei verschiedenen Achse-II-Diagnosen Achse-IIKeine Borderlineantisozial/paranoid andere Diagnose Persönlichkeitsstörung M (SD) 4,4 (1,7) 2,7 (1,6) 3,9 (1,8) 3,3 (1,7) bei n = 23 bei n = 27 bei n = 22 bei n = 38 20 Die Daten aus einer Kieler Stichprobe (Daudert 2001) bestätigen diese Ergebnisse. Borderline-Patienten erzielten mit einem durchschnittlichen RF-Wert von 2,25 (sd = 1,85) einen signifikant niedrigeren Wert als Patienten ohne Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nach ICD10 (RF = 4,61, sd = 2,33). Ferner konnte ein schädigender Einfluss von Kindheitstraumata auf das Reflexionsvermögen nachgewiesen werden. So hatten vor dem zwölften Lebensjahr traumatisierte Patienten mit einem mittleren Wert von RF = 3,46 (sd = 1,91) signifikant geringere metakognitive Fähigkeiten als Patienten ohne die entsprechenden TraumaErfahrungen (RF = 4,71, sd = 2,43). 4.3 Die Prison-Health-Care-Center-Studie (Fonagy et al. 1993): Schließlich widmete sich Fonagy der Untersuchung der Verarbeitung aggressiver Affekte in Zusammenhang mit Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen. Aufgrund seiner bisherigen Ergebnisse ging es davon aus, dass Bindungen an Personen oder soziale Institutionen das Risiko straffällig zu werden, entscheidend verringern und dass soziale Anpassungsprozesse durch Misshandlungen in der Kindheit stark beeinträchtig werden können. Bei 80 bis 90 Prozent der jugendlichen Straftätern liegt eine Vorgeschichte von Misshandlung vor und etwa 25 Prozent Personen, die in ihrer Kindheit und Jugend misshandelt wurden, werden als Straftäter verurteilt. Untersucht wurden 22 Häftlinge, die bereits verurteilt waren oder in Untersuchungshaft einsaßen. Anhand eines Screenings mit SCID-I und –II wurden diejenigen ausgewählt, die mindestens eine Achse-I- oder eine Achse-II-Störung hatten, die Hälfte davon zeigte eine Borderlinestörung gemäß DSM-III-R. Der gewalttätige Teil dieser Gruppe hatte leichte Körperverletzung, schwere Misshandlungen, bewaffneter Raubüberfall, Kindesmissbrauch, Kidnapping oder Mord verübt; die Nicht-Gewalttäter saßen wegen Delikten wie Diebstahl, Einbruch, Hehlerei, Unterschlagung, Eigentumsdelikten oder grober Beleidigung ein. Die Kontrollgruppen waren zum einen stationär behandelte psychiatrische Patienten und zum anderen eine allgemeinbehandelte ambulante Patientengruppe. Die Häftlinge insgesamt erreichten auf der Reflective-Self-Skala insgesamt signifikant niedrigere Werte (m = 2,5; sd = 1,8) als psychiatrische Patienten (m = 3,7; sd = 1,5; p ≤ 0,01) und die nicht-klinische Gruppe (m = 5,8; sd = 2,3). Die gewalttätige Gruppe der Häftlinge zeigte wesentlich weniger Reflexionsfähigkeit als die der nicht-gewalttätigen. Bei einer diagnostizierten Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigten die Häftlinge tendenziell niedrige Reflexionsfähigkeit und der Anteil der Häftlinge aus der Gruppe der gewalttätigen, der unterhalb des Cut-off-Wertes von 3 in der Reflection-Skala war deutlich größer als der aus der Gruppe der nicht gewalttätigen. Somit erwies sich die Skala als eine vielversprechendes Instrument für die Diskrimination von Kriminellen mit Persönlichkeitsstörung und Gruppen mit einer ähnlichen Störung, aber ohne kriminelle Tendenzen bzw. v.a. ohne Tendenzen zu Gewaltbereitschaft. 21 Fonagy et al schlossen daraus, dass die Abwehr der Fähigkeit bzw. das daraus resultierende Unfähigkeit zur Imagination aktueller oder zeitüberdauernden innerer Zustände, vermutlich ein zentraler Bestandteil von Gewalt gegen Personen ist. Somit kann jemand nur dann Gewalttaten gegenüber anderen Personen ausüben, wenn die Einfühlung in das seelische Befinden des anderen beim Täter nicht deutlich genug repräsentiert ist. Gewalt ist bei diesen Personen die Lösung eines psychischen Konfliktes auf der Basis einer unzulänglichen psychischen und kognitiven Repräsentanzen von Empfindungen. Ihre metakognitive Fähigkeit ist eingeschränkt, sie erfahren und erleben Vorstellungen und Gefühle auf physische, körperbezogene Art. In der Folge kann es zu einer Abwertung oder Entmenschlichung des Opfers kommen, was es ihnen erlaubt, andere Menschen wie Objekte zu behandeln. 22 V. Diskussion: Die Reflective Self Functioning Scale – oder Skala des Reflexiven Selbst – von Fonagy ist ein gutes neues Instrument zur Erfassung von Prozessen der Affektregulation und der Fähigkeit zur Mentalisierung bzw. deren Entwicklung. Wie oben gezeigt, hat sich die Skala bereits klinisch und empirisch bewährt, um klinische Phänomene wie schwere Persönlichkeitsstörungen zu erklären, zu differenzieren und deren Komplexität entwicklungspsychologisch zu betrachten. Zum Einsatz der Skala als Messinstrument zu Verlaufsstudien bezüglich Psychotherapie zur Veränderungsmessung liegen bereits diverse Studien vor. Genannt sei hier exemplarisch die (noch nicht veröffentlichte) Untersuchung hinsichtlich der „Reflective Functioning and Its Relationship to Personal Functioning Before and After Therapy” von Sandra Lecce & Jeanne Watson von der University of Toronto. Der Fokus der Untersuchung liegt auf Beurteilung der Reflexiven Funktion im Zusammenhang mit Psychotherapie. Auf folgende drei Fragen wurde eingegangen: der Zusammenhang zwischen RF und der Bindungsgeschichte zu Beginn der Therapie; die Beurteilung, ob RF das „Funktionieren“ im Alltag (personal functioning) zu Beginn und am Ende der Therapie vorhersagen kann; eine Bestimmung, ob die RF im Verlauf der Therapie steigt und, falls dies der Fall ist, ob diese Veränderung das „personal functioning“ am Ende der Therapie vorhersagen kann. Zur Beurteilung der Probanden wurde das von Fonagy entworfene Manual herangezogen. Die Probanden waren Patienten , die sich in kognitiv-behavioraler oder processexperientialer therapeutischer Behandlung wegen einer Major Depression befanden. Die Ergebnisse liegen zur Zeit noch nicht vor, aber es ist anzunehmen, dass sich die Reflexive Funktion positive durch Therapie verändern lässt bzw. dass einen veränderte Reflexionsfähigkeit das alltägliche Zurechtkommen im Leben erleichtern kann. Durch die RSFS werden weitergehende neue Untersuchungen möglich, vor allem zum Verständnis der Persönlichkeitsstörungen bieten sich vielerlei Fragen an, wie Wirkung einer Therapie bzw. einer bestimmten Therapieform auf die Mentalisierung sich abzeichnet bzw. inwieweit sich die individuelle Fähigkeit zur Mentalisierung verändern lässt oder ähnliches mehr – gerade bei schweren psychischen Erkrankungen. Insgesamt ist das Konzept des Reflective Functioning ein wichtiger weiterer Baustein in der Weiterentwicklung der klinischen Bindungsforschung und der psychoanalytischen Schule. 23 V. Literaturverzeichnis: Bischof-Köhler D.: Motivationale Entwicklung. Skript zur Vorlesung. Universität München, Psychologisches Institut. 1994 Daudert, E.: Die Self Reflective Functioning Scale. In: Strauss B., Buchheim A., Kächele H. (Hrsg.): Klinische Bindungsforschung. Theorien – Methoden – Ergebnisse. Stuttgart. Schattauer. 2002 Fonagy, P. (1997). Attachment, the development of the self, and its pathology in personality disorders. zu finden auf www.psychomedia.it. Telematic Review Fonagy, P. (1998). Metakognition und Bindungsfähigkeit. Psyche, 52, S. 349-368. Frankfurt/Main. Verlag Klett-Cotta, Zeitschriften Fonagy, P. (1999). Transgenerational Consistencies of Attachment: A New Theory. Paper to the Developmental and Psychoanalytic Discussion Group, American Psychoanalytic Association Meeting, Washington DC. 13 May 1999. Fonagy, P. (1999). Male Prepetrators of Violance against Women: An Attachment Theory Perspective. Journal of Applied Psychoanalytic Studies, 1, 7-27. Fonagy P., Target M., “Mentalisation and Reflective Function: a measure of interpersonal interpretive function? Issues of application in clinical and non-clinical contexts.” Presentation to the Ulm International Workshop on Clinical Attachment Research, May 2003 Kächele H., Buchheim A., Schmücker G., Brisch KH. „Development, Attachment and Relationship: New Psychoanalytic Concepts”. In: Henn FA, Sartorius N, Helmchen H, Lauter H (Eds) Contemporary Psychiatry. Springer, Berlin, p 358-370, 2001 Lecce S. & Watson J., “Reflective Functioning and Its Relationship to Personal Functioning Before and After Therapy”. Paper in Panel. University of Toronto. Department of Adult Education, Community Development, and Counseling Psychology. Zu finden auf http://www.psychotherapyresearch.org/archive/santa.barbara/program/day06-272002.html#230 Meins E., Ferneyhough C., Fradley E., Tuckey M.. Rethinking Maternal Sensitivity: Mothers` Comments on Infants` Mental Processes Predict Security of Attachment at 12 Month. J. Child Psychol. Psychiat. Vol 42, No. 5, pp 637-648, 2001. Cambrigde University Press. Warsitz R.-P., „Selbstreflexion als Methode der Psychoanalyse“. Paper zum Vortrag Universität Kassel 26. Oktober 2002, Entwurf: 11. 10. 2002, Universität Kassel, Fachbereich 04/Sozialwesen