Klinischpsychologische Konzepte der Depression Die Melancholie, Albrecht Dürer (1471–1528) Psychologische Depressionsmodelle 1. Verstärkertheoretische Erklärungsansätze Ein Mangel an positiven und ein Zuviel an negativen Erfahrungen begünstigt die Auslösung und Aufrechterhaltung depressiver Störungen. (a) LEWINSOHN (b) Belastungs-/ Stress-Modelle Unterlagen http://www.uni-graz.at/clinicalpsychology/ Öffentlichkeitsarbeit Psychologische Depressionsmodelle 2. Kognitionspsychologische Ansätze Depressiven Störungen liegen kognitive Dysfunktionen zugrunde. (a) SELIGMAN - Hilflosigkeit (b) ABRAMSON - Hoffnungslosigkeit (c) BECK – Negative kognitive Triade (d) PAPAGEORGIOU & WELLS – Depressives Grübeln/ Rumination Verstärkungstheoretisches Modell (Lewinsohn, 1974) Grundannahme Depressionen werden durch eine geringe Rate verhaltenskontingenter positiver Verstärkung, insbesondere im Bereich sozialer Interaktionen ausgelöst und aufrechterhalten Verstärkungstheoretisches Modell (Lewinsohn, 1974) Lernmechanismen Zu wenig Verstärkung fungiert als unkonditionierter Stimulus für das Auftreten von Depressionssymptomen Zu wenig Verstärkung führt nach dem Prinzip der Extinktion zu herabgesetzten Verhaltenshäufigkeiten – Rückzug, Passivität, Vermeidung v.a. von sozialen Situationen Verstärkungstheoretisches Modell (Lewinsohn, 1974) Depressionsrelevante Aspekte positiver Verstärkung (a) Anzahl/Qualität potentiell verstärkender Ereignisse für das Individuum (Verstärkerpotential) (b) Verfügbarkeit verstärkender Ereignisse (situative Aspekte) (c) Fertigkeiten des Individuums diese zu erreichen/ (Verhaltensrepertoire) (d) Depressives Verhalten wird oftmals kurzfristig sozial verstärkt; langfristig bestraft Anzahl Belohungswert Sozial Körperlich Intellektuell Konsumatorisch Kompetitiv Suche nach Stimulation Therapieziel Fertigkeitsvermittlung um Quantität/ Qualität positiv verstärkender Person-Umwelt-Interaktionen zu erhöhen; negative Interaktionen zu reduzieren Identifizierung/ Modifizierung ungünstiger Verhaltensmuster Identifizierung/ Nutzung neuer Verstärkerquellen Verbesserung der Diskriminationsleistung für Verstärkerreize Umsetzung Gruppen-Therapieprogramm für Erwachsene nach Lewinsohn; Depression bewältigen (Herrle & Kühner (1994); Weinheim: Beltz Modifizierte Versionen (a) für Jugendliche (vereinfachte Kursbausteine der Originalversion + zusätzlicher Fokus Konfliktbearbeitung Eltern-Kind-Interaktion; (b) für ältere Patienten, (c) für Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen Diagnostik Pleasant Event Schedule (PES; MacPhillamy & Lewinsohn, 1982): 320 potentiell angenehme Tätigkeiten, Situationen und Erfahrungen Anwortmodus: wie angenehm, wie oft hat das Ereignis im letzten Monat stattgefunden (3-stufig) Liste angenehmer Ereignisse (Hautzinger et al., 1992); 40 Items Tübinger Anhedonie-Fragebogen (TAF; Zimmer, 1990); 55 Fragen bezogen auf den letzten Monat; Antwortmodus wie PES TAF Wie häufig Etwas Erfreuliches planen Ein angeregtes Gespräch führen Sich körperlich pflegen/ hübsch machen Sport treiben Jemanden kennenlernen Eine Aufgabe zu Ende bringen Weitere Dinge, die Sie gern getan haben oder gerne tun würden. sehr mittel nicht > 6 mal 1 – 6 mal Gar nicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. … Wie angenehm Interaktion Depressiver mit ihren Sozialpartnern Depressionsspezifisches Verbalverhalten • Wortkarg • Mürrisch • Negative Selbstbewertung • Negative Befindensäußerungen, Klagsamkeit • Pessimismus • Forderungen stellen • Auf sich selbst bezogen • Abhängig • Um Hilfe bittend Hautzinger (1980) Soziale Defizite 1. 2. 3. 4. Depressiven Patienten fehlt oft die Fähigkeit, sich im Gespräch so zu verhalten, dass beide Interaktionspartner dies als angenehm erleben. Depressive entwickeln oft ungünstige Interaktionsstile (z.B. Überwiegen von Klagen und hilfesuchenden Bemerkungen,...). Depressive können häufig negative Gefühle nicht offen und direkt zum Ausdruck bringen, wirken auf Mitmenschen eher mürrisch und feindselig. Patienten wissen oft nicht, wie ihr Verhalten auf ihre Mitmenschen wirkt und welchen Einfluss dies auf den Umgang mit anderen hat; kurzfristig erwecken sie Mitleid und langfristig werden sie für die Interaktionspartner belastend. Soziales Kompetenztraining Therapiebausteine (Herrle & Kühner) Sitzung 5: Angenehme Tätigkeiten und Depression - Interindividuelle Unterschiede - Stimmungsbezogene Tätigkeiten - Diagnostik (PES, TAF, Wochenpläne) - Störbedingungen - Individueller Zusammenhang Aktivität und Stimmung Therapiebausteine (Herrle & Kühner) Sitzung 9/10: Soziale Fertigkeiten und ihre Anwendung - Bedeutung sozialer Austausch - Definition soziale Kompetenz - …. - Erstellung einer Problemliste - konkrete Übungen: z.B. Durchsetzungsfähigkeit - Wünsche direkt äußern - Konfliktgespräche führen/ Kompromisse schließen (i.B. in der Interaktion mit dem Partner) -… Schematic representation of variables involvend in the occurence of unipolar depression (Lewinsohn, 1985) C Reduced rate of positive reinforcement and/or elevated rate of aversive experience D Increased self- awareness (state): focus of oneself Self-criticism Negative expectancies B Disruption of „scripted“ or automatic behavior patterns And/or immediate emotional response A Antecedents: depression evoking events E Increased dysphoria/ depression G Predisposing characteristics: Vulnerabilities & immunities F Consequences: Behavioral, cognitive, emotional, somatic, interpersonal Kritik Verstärkungstheoretisches Erklärungsmodell Faktoren eher relevant für Aufrechterhaltung Es fehlen Längsschnittstudien, die mangelnde soziale Kompetenzen mit der Entstehung depressiver Störungen in Verbindung bringen. Therapieevaluation: z.T. mit medizierten Patienten, mit subklinischer Symptomatik… ‚A combination of preexisting internal, stable, and global way of construction causality for negative events followed by an actual encounter with failure will be sufficient to cause depression.‘ Seligman (1981) Erlernte Hilflosigkeit (Peterson & Seligman, 1984) Therapeutische Ziele Modifizierung des kognitiven Stils (Attributionen) „Katastrophieren“ vermeiden Vermeidung von Situationen mit hohem Risiko Kontrollierbarkeitserfahrungen als Immunisierung Abramson, L., Metalsky, G.I. & Alloy, L.B. (1989). Hopelessness Depression: A Theory-Based Subtype of Depression. Psychological Review, 96, 358-372 Wahrnehmung des vermehrten Auftretens negativer Ereignisse, Ausbleiben positiver Ereignisse Ursachen, Konsequenzen, Selbst Schlussfolgerungen Was? (Stabil, global, wichtig) Und/oder Folgen? (schwerwiegend) Und/oder Trait/ Vulnerabilität HOFFNUNGSLOSIGKEIT Depressionsfördernder kognitiver Stil bez. Was sagt das über mich? (schlecht, wertlos…) State Leitsymptome: Antrieb Traurigkeit Suizidalität Therapeutische Ziele Hoffnung erzeugen/ Hoffnungslosigkeit reduzieren Herstellung positiver Erfahrungen Umgebungsveränderung Veränderung des Attributionsstils Verhaltensänderungen Diagnostik Hoffnungslosigkeitsskala von Krampen (1994) Geringes Vertrauen Geringes Selbstkonzept eigener Fähigkeiten Erhöhte Externalität in Kontrollüberzeugungen Niedriges Konzeptualisierungsniveau Aufgabe von Handlungszielen (20 Items; 6-stufige Skala) - Häufig möchte ich alles hinschmeißen, weil ich es doch nicht besser machen kann. - Die Zukunft liegt für mich im Dunkeln. - Ich glaube nicht, dass ich im Leben bekomme, was ich mir in Wahrheit wünsche. .. (aus der Beck-Hoffnungslosigkeitsskala entwickelt) Kritische Aspekte: Hilflosigkeits-/ Hoffnungslosigkeitsdepression Empirische Studien zu den Modellen wurden primär mit gesunden bez. subklinisch depressiven Patienten durchgeführt; Studien mit depressiven Patientenpopulationen fehlen weitgehend (Generalisierbarkeit?) Modelle erklären eher Variationen der Syndromschwere, nicht den Beginn einer Depression. Prospektive Studien, die vorhersagen, dass mittels Hoffnungslosigkeit/ Hilflosigkeit der Depressionsbeginn vorhergesagt werden kann fehlen. Kritische Aspekte: Hilflosigkeits-/ Hoffnungslosigkeitsdepression Hoffnungslosigkeit: spezifischer Suizidalitätsindikator?? Kann das Syndrom der Hopelessness Depression von anderen Formen der Depression wirklich abgegrenzt werden? Dysfunktionaler Attributionsstil (internal, global, stabil...) State- oder Trait-Faktor?? Henkel et al. (2002). Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci, 252: 240-49 Belastungen/ Stress 1. Kritische Lebensereignisse - Klarer Bezug zwischen belastenden Lebensereignissen und der Manifestation von Depression, z.B. nach - Verlust- und Trennungsereignissen - Massiven Kränkungen - Sozialen Rang- und Rollenverlusten 2. Chronische Lebensbelastungen und alltäglicher Ärger (daily hazzles) - Fehlen emotional positiver unterstützender Sozialbeziehungen Kritische Lebensereignisse Vor dem Ausbruch einer unipolaren Depression treten gehäuft aversive Ereignisse auf, oder es kommt zur Kummulierung chronischer Schwierigkeiten 6 Monate nach einem kritischem Ereignis: Depressionsrisiko 6fach erhöht (Hautzinger, 1998) Aber: bei ca. einem Drittel aller Erkrankten liegen keine Berichte vor (z.B. Goodyer et al., 1993) Bedeutung interindividueller Unterschiede in der Vulnerabilität/ Suszeptibilität Influence of Life Stress on Depression: Moderation by a Polymorphism in the 5-HTT Gene (Caspi et al., 2003 in Science) Serotonin-Transporter-Gen (Allele: short/long) Influence of Life Stress on Depression: Moderation by a Polymorphism in the 5-HTT Gene (Caspi et al., 2003 in Science) Individuelle positive Psychotherapie bei unipolarer Depression Arbeiten an positiven Aspekten der Persönlichkeit Virtues and Character Strengths (Peterson & Seligman, 2004) Wisdom and knowledge (creativity, openmindedness, curiosity…) Courage (authenticity, persistence…) Humanity (kindness, love..) Therapie Identifizierung von Signaturstärken Coaching/ Real-Life-Übungen: Signaturstärken anwenden Coaching: Aufmerksamkeit und Erinnerungen auf positive Dinge des eigenen Lebens richten. Coaching: Verhalten erlernen, das positives Feedback von anderen bringt. Festigen positiver Aspekte im Leben; weniger Reinterpretation negativer Aspekte. Dankbarkeitsübungen (jeden Abend 3 Dinge für die ich dankbar bin aufschreiben + kausale Verursachung Individuelle positive Psychotherapie bei unipolarer Depression Stichprobe: n = 46 Patienten, die in der psychologischen Beratungseinrichtung der Universität Pennsylvania um eine Behandlung ansuchten. Einschlusskriterien: • 18-55 Jahre • Major Depression nach DSM-IV Ausschlusskriterien: • Aktuelle Behandlung gegen Depression • Substanzmissbrauch/ Panikstörung/ (hypo)manische Seligman (2005) Studiendesign Gruppen: Individuelle PPT (n = 13) vs. Standardbehandlung (TAU; n = 15) mit randomisierter Zuweisung Nicht randomisierte, gematchte Gruppe: TAU + Antidepressiva (TAUMED; n = 17). (Gruppen vergleichbar bezüglich Syndromschwere) Intervention: 14 Therapieeinheiten über 12 Wochen Kognitionstheoretisches Modell (Beck, 1976) Negative Kognitive Triade SELBST negative Sichtweise UMWELT ZUKUNFT Modell nach Beck Kognitive Triade depressiver Patienten Negative Sicht von sich Selbst Klient sieht sich selbst als fehlerhaft, unzulänglich und wertlos. Unerfreuliche Erfahrungen werden seiner eigenen physischen, intellektuellen oder moralischen Unvollkommenheit zugeschrieben. Negative Sicht von der Umwelt Klient interpretiert Umwelterfahrungen als Niederlage, Verlust, Entbehrung etc. Negative Sicht von der Zukunft Klient interpretiert seine gegenwärtigen Leiden als unbegrenzt fortdauernd. Kognitionstheoretisches Erklärungsmodell (Beck, 1976, 1981) 1. 2. 2. 3. Grundlage jeder depressiven Entwicklung: kognitive Störung Auslösebedingungen für kognitive Störung: negative, stressbesetzte Erfahrungen im Verlauf der lebensgeschichtlichen Entwicklung, die sich als kognitive Schemata verfestigen Diese Schemata werden aktiviert durch belastende Situationen oder kumulativ verstärkt und führen zu Automatischen Gedanken, sich selbst, seine Umwelt und seine Zukunft negativ zu sehen (Kognitive Triade) Das kognitive Depressionsmodell von Beck Therapeutische Ziele Veränderung von Gedanken und Einstellungen/ Kognitiven Verzerrungen reduzieren 1. Automatische, unbemerkt ablaufende Gedanken identifizieren und ändern z.B. - falsche Ursachenzuschreibungen identifizieren/ ändern - hohe Normen kritisch hinterfragen, die zur Selbstabwertung führen - Gedanken nicht als Tatsache betrachten lernen… Therapeutische Ziele Veränderung von Gedanken und Einstellungen/ Kognitiven Verzerrungen reduzieren 2. Grundeinstellungen herausarbeiten und hinterfragen z.B. Normen, Handlungsziele, Erwartungsmuster, Selbstkonzept… Diagnostik: Problemanalyse S–O–R–C–K S = Stimulus O = Organismus R = Reaktion C = Kontingenz K = Konsequenz Kanfer & Saslow (1964): S-O-R-C-K- Modell Problemanalyse S–O–R–K α β,γ α,β,γ α,β,γ α = externe Variablen β = psychologische Person-Variablen γ = biologisch-physiologische Variablen Ziel: Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells; Identifizierung aufrechterhaltender Faktoren der Depression Problemanalyse Makroebene Ziele/ Pläne Systeme Regeln Mikroebene S–O–R–K Funktionale Problemanalyse (horizontal) Situation Körper Gedanken, Gefühle Konsequenz Bin alleine; beobachte Liebespaar auf der Parkbank Müde, Rückenschmerzen Ich kann ohne ihn nicht glücklich sein. Ich kann so nicht weiterleben. Ich kann keinem (Mann) trauen. Esse nicht. Kann nicht schlafen. Ziehe mich zurück. Grübele. Schmerzen werden stärker. Traurig, verzweifelt Funktionale Problemanalyse (vertikal) Ich bin nur lebensfähig in einer harmonischen Familie/ Partnerschaft Ich selbst bin nicht wichtig. Meinen Wert/ Existenzberechtigung bekomme ich durch andere bzw. durch Leistung Zurückweisung von anderen bedeutet mein persönliches Versagen (ich war nicht gut genug) Versagen ist unerträglich Zeige nach außen keine Schwächen Sei hart mit Dir selbst: löse das Problem oder bring Dich um Kognitive Umstrukturierung Kognitive Fehler (z.B. willkürliche Schlussfolgerungen, selektive Wahrnehmung, Übergeneralisierung…) im sokratischen Dialog identifizieren; Änderungen durch: Entkatastrophisieren Realitätstestung Rollentausch Reattribution Verhaltensexperiment Alternative Erklärungen finden Pro-/ Contra-Argumente Depressive Rumination The moderately or severely depressed patient has a tendency to brood or ruminate over a few characteristic ideas…. The idiosyncratic schemas continually grind out the depressive cognitions that crowd out the nondepressive cognitions)…the patient loses control over his thinking processes, i.e., even when he tries to focus on other subjects, the depressive cognitions continue to intrude and to occupy a central position…(Beck, 1967). Depressives Grübeln/ Sorgen Prospective studies found that ruminative nondepressed individuals are more likely to have a depressive episode from 1 to 2.5 years later. (Just & Alloy, 1997; Nolen-Hoeksema, 2000; Nolen-Hoeksema et al., 1999; Spazojevic & Alloy,2001). Diagnostik Rumination Response Scale Positive/ negative Beliefs about Rumination Scale (Metakognitionen) Therapie Identifizierung/ Änderung der Meta-Sorgen Grübel-Verschreibung für einen festgesetzten Zeitraum Integratives Modell – Hauptkomponenten (Ansatzpunkte für Therapie) Kognitionen Sozialverhalten Aktivitätsrate Hautzinger, M. (1997). Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen. Behandlungsanleitungen und Materialen. Weinheim: Beltz