Leitlinien1 für die Behandlung von depressiven Störungen mit Gesprächspsychotherapie (Klientenzentrierte Psychotherapie nach Rogers) Jochen Eckert (2002) Behandlungsprinzipien Der zentrale Begriff der Ätiologiekonzeptionen im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts ist die Inkongruenz, die Nichtübereinstimmung der im Bewußtsein repräsentierten Erfahrung mit der Gesamtheit der Erfahrung. Inkongruenz ist das Ergebnis einer Selbstentwicklungsstörung. Grundlage der Entwicklung des Selbst ist die Aktualisierungstendenz. Sie äußert sich auch in der Tendenz, Selbsterfahrung in ein Selbstbild (-konzept) zu integrieren. Sie wird als Bedürfnis nach „bedingungsfreier Anerkennung“ (need for positive regard) erlebt. Erfahrungen werden unter der Bedingung in das Selbstkonzept integriert, daß zumindest im Ansatz wahrgenommen wird, daß sie von einem wichtigen anderen empathisch verstanden werden und das Kind in diesen Erfahrungen bedingungsfrei anerkannt wird. Selbsterfahrungen sind am Anfang der Entwicklung des Selbstkonzepts Erfahrungen des Wahr- und Angenommenwerdens und des damit körperlich und psychisch am Leben-gehalten-werdens. Wenn solche Erfahrungen gemacht werden, entwickelt sich ein Selbstkonzept, das mehr oder weniger affektive Erfahrung als zum Selbsterleben gehörend nicht abwehren („abspalten“) muß, sondern anerkennen und in die Selbsterfahrung integrieren kann, bzw. ein Selbstkonzept, in das auch Trauer als Selbsterfahrung integriert werden kann. Wenn sich ein solches Selbstkonzept nicht entwickelt hat, können sich Vernichtungsängste als Ausdruck der Bedrohtheit des Selbstkonzepts und/oder Depression als Ausdruck der Stagnation der Weiterentwicklung, z. B. in der Form des vollständigen Zusammenbruchs der Selbstachtung, entwickeln, wenn sich Erfahrungen des Verlassenwerdens und andere, die geeignet sind, den Traueraffekt auszulösen, wiederholen. Aus diesen entwicklungstheoretischen Annahmen leitet sich das therapeutische Behandlungsprinzip ab: Die für depressive Störungen charakteristischen nicht integrierten Erfahrungen können im psychotherapeutischen Prozeß dann ins Selbst integriert werden, d.h. als Selbsterfahrungen anerkannt werden, wenn beide an diesem Prozeß beteiligten Personen - Therapeut und Patient - diese Erfahrungen zunehmend unverzerrt wahrnehmen und ihnen mit bedingungsfreier Anerkennung bzw. ohne Verlust der positiven Selbstbeachtung begegnen können, wobei sich als Voraussetzung für diesen Prozeß im Patienten die bedingungsfreie Anerkennung der Erfahrungen durch den Therapeuten früher einstellen sollte. Es wird ein prozeßspezifisches Vorgehen empfohlen (z.B. Swildens 1991, Finke u. Teusch 1999), nämlich ein auf 1 ) Es handelt sich um einen mit dem Präsidium der DPGG abgestimmten Entwurf von Jochen Eckert. Das Präsi- dium bittet um Rückmeldungen und regt an, Leitlinien für weitere Störungen zu entwickeln. vier aufeinanderfolgende Phasen einer Gesprächspsychotherapie (Symptom-, Beziehungs-, Problem-/Konflikt- und Abschiedsphase) abgestimmtes therapeutisches Handeln. Wirksamkeit Die generelle Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapien gilt als sehr gut und ausreichend belegt, was in den relevanten Übersichtsarbeiten bzw. Meta-Analysen (Meltzoff u. Kornreich 1970, Greenberg et al. 1994, Grawe et al. 1994 und Elliott 2002) nachzulesen ist. Als nicht störungsspezifisches Verfahren mit einer Therapietheorie, die postuliert, daß die Veränderung des Selbstkonzeptes eine Voraussetzung für eine Veränderung der Symptomatik ist, wurden zur Untersuchung der Wirksamkeit des Verfahrens störungsspezifische Untersuchungspläne als dem Verfahren nicht adäquat eher selten durchgeführt. Untersucht wurden die Effekte von Gesprächspsychotherapie bei Patienten z.B. mit der Diagnose „Neurose“ bzw. „neurotische Störung“ und die Auswertungspläne sahen keine getrennte Auswertung der Behandlungseffekte für Patienten mit neurotischer Depression im Vergleich zu Patienten mit einer Angstneurose vor, zumal viele Patienten die Kriterien für beide Störungen erfüllten. Für den spezifischen Nachweis der Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie bei Depression kann auf drei kontrollierte Studien verwiesen werden: Fleming & Thorton (1980), Beutler et al. (1991) und Probst et al. (1992). Weiterhin liegen naturalistische Studien im ambulanten (z.B. Elliott et al. 1990) und im stationären (z.B. Böhme et al. 1998) Bereich vor. Gesprächspsychotherapie gilt bezüglich der Indikation als „niederschwelliges Verfahren“, weil es in der Regel für ein Therapieaufnahme ausreicht, daß der Patient eine ausreichende Änderungsbereitschaft und eine gewissen Ansprechbarkeit auf das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot zeigt. So ist für Patienten mit depressivem Erleben, das nicht an bestimmte Situationen (Auslöser) gebunden ist, eine Verhaltenstherapie in der Regel nicht indiziert, profitieren sie von einer Gesprächspsychotherapie deutlich (Zielke 1979). LITERATUR Beutler LE, Engle D, Mohr D, Daldrup RJ, Berga J, Meredith K, Merry W (1991) Predictors of differential response to cognitive, experiential and self-directed psychotherapeutic procedure. J. consult clin. Psychol. 59, 333-340. Böhme H, Finke J, Teusch L (1998) Effekte stationärer Gesprächspsychotherapie bei Patienten mit verschiedenen Krankheitsbildern: 1-Jahres-Katamnese. Psychother. Psychosom. Med Psycho. (PPmP) 48, 20-29. Elliott R, Clark C, Kemeny V, Wexler MM, Mack C, Brinkerhoff J (1990) The impact of experiential therapy on depression: The first ten cases. In: Lietaer G, Rombauts J, van Balen R (Eds) Client-centered and experiential psychotherapy in th nineties, 549-577. University Press: Leuven. 2 Elliott R (2002) The effectiveness of humanistic therapies: A meta-analysis. In: Cain, D. J.; Seeman, J. (Eds.): Humanistic Psychotherapies. Handbook of Research and Practice. American Psychological Association: Washington, DC, p. 57-81. Finke J, Teusch L (1999) Psychotherapiemanual. Entwurf zu einer manualgeleiteten Gesprächspsychotherapie der Depression. Psychotherapeut 44, 101-107. Fleming BM, Thornton F (1980) Coping skills training as a component in the short-term treatment of depression. J. consult clin. Psychol. 48, 652-654. Grawe K, Donati R, Bernauer F (1994) Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Hogrefe: Göttingen. Greenberg L, Elliott R, Lietaer G (1994) Research on Experiential Psychotherapies. In: Bergin, A. E., Garfield, S. L. (Eds.): Handbook of Psychotherapy and Behavior Change. 4th Edition, p. 509-539.Wiley: New York. Meltzoff J, Kornreich M (1970) Research in Psychotherapy. Atherton Press: New York. Propst LR, Ostrom R, Watkins P, Dean T, Masburn (1992) Comparative efficacy of religious and non-religious cognitive-behavioral therapy for the treatment of clinical depression in religious individuals. J. consult clin. Psychol. 60 (1) 94-103. Swildens H (1991) Prozeßorientierte Gesprächspsychotherapie. GwG-Verlag: Köln. Zielke M (1979) Indikation zur Gesprächspsychotherapie. Kohlhammer: Stuttgart. 3