I. BOHUSLAV MARTINŮ IN PARIS Einleitung AUF DER FLUCHT VOR DEM TSCHECHISCHEN MUSIKLEBEN Co Čech to muzikant! – Was ein Tscheche [ist], ist ein Musikant!1 Dieser geläufigen Redewendung liegt ein Verständnis zugrunde, wonach der tschechische Boden für musikalische Begabungen besonders fruchtbar sei, ein Topos, der sowohl die Eigen- als auch die Fremdwahrnehmung in einem Masse bestimmt, dass sogar in neuerer Zeit der österreichische Schlagersänger Peter Alexander ohne weitere Erklärungen behaupten konnte: Aus Böhmen kommt die Musik2. Selbst wenn man von diesem liebgewonnenen Klischee Abstand nimmt, stellt sich die Frage, weshalb ein tschechischer Komponist im Jahr 1923 um jeden Preis von Prag nach Paris ziehen wollte. Wenn man zudem bedenkt, dass die Tschechen mit der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg endlich die politische Eigenständigkeit erlangt hatten, erscheint die Entscheidung des jungen Bohuslav Martinů geradezu paradox. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass – der nationalen Aufbruchstimmung zum Trotz – in musikalischer Hinsicht von einem Neuanfang keine Rede sein konnte. Durch den beherrschenden Einfluss Zdeněk Nejedlýs galt in Prag nach wie vor das Werk des längst verstorbenen Bedřich Smetana als massgebend, weshalb sich selbst in der Zwischenkriegszeit weder die Musiksprache Leoš Janáčeks noch diejenige Martinůs als adäquate Alternative durchsetzen konnte. Stattdessen wurde ein Erbe weitergeführt, das in der patriotischen Bewegung Národní obrození (Nationale Wiedergeburt) aus dem 19. Jahrhundert wurzelte, als tschechische Politiker und Künstler mehr Rechte vom Habsburger Kaiser gefordert hatten, wobei das Tschechische neben dem Deutschen überhaupt wieder zur Amtssprache hätte erklärt werden sollen, verbunden mit einer grösseren Autonomie nach dem Vorbild Ungarns3. Vor diesem Hintergrund war es einst darum gegangen, auf den für die Tschechen allein zugänglichen Foren – also den Konzert- und Opernbühnen – politisch Stellung zu 1 Sämtliche Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen von der Verfasserin. Die Entscheidung, nur tschechische, nicht aber englische und französische Zitate in deutscher Übersetzung wiederzugeben, beruht auf einem rein praktischen Grund, der sich mit dem Prager Franz Werfel in folgende Worte fassen lässt: Das Tschechische ist eine zu schwierige Sprache eines zu kleinen Volkes. 2 Peter Alexander, Aus Böhmen kommt die Musik (1983), BMG Deutschland, Deutsche Schlager Ariola, CD-Nr. 610029. 3 Zum Národní obrození (Nationale Wiedergeburt) siehe u.a. Hoensch, Geschichte Böhmens (1992), S. 305-384. beziehen, was unmittelbar mit der Suche nach einer tschechischen Nationalmusik verknüpft gewesen war4. Obwohl aus dieser Absicht, mit musikalischen Mitteln ein nationales Selbstverständnis zu demonstrieren, die Notwendigkeit erwuchs, eine genuin tschechische Kunstmusik zu erlangen, orientierte sich die Bewegung dennoch offensichtlich an der deutschen Tradition. So erkoren Otakar Hostinský, der einflussreichste Musiktheoretiker der damaligen Zeit, sowie dessen selbsternannter Nachfolger Nejedlý Smetanas Opern gerade deshalb zum Modell für den ‚tschechischen‘ Stil, weil sie auf der Grundlage von Richard Wagners ‚modernem‘ Musikdrama entstanden seien5. Mit Blick auf die zahlreichen ariosen und chorischen ‚Nummern‘ sowie die häufigen Anklänge an tschechische Folklore im gesamten Opernschaffen Smetanas, mutet die direkte Verknüpfung mit Wagners Musikdramen durchaus willkürlich an, avancierte jedoch zum bestimmenden Topos der Diskussion um die tschechische Nationalmusik6. So wurde Antonín Dvořák im Gegensatz zu Smetana die mangelnde Auseinandersetzung mit Wagners Werk vorgeworfen, da sich der kosmopolitische Komponist stattdessen der ‚alten‘ italienischen und französischen Opernformen bediente, womit er in den Augen der Patrioten die bis dahin durchlaufene Entwicklung der tschechischen Oper leugnete. Unter der Ägide Nejedlýs erreichte die Polemik gegen Dvořák zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt, der als Boj o Dvořáka (Kampf um Dvořák) das Prager Musikleben der Vorkriegszeit nachhaltig bestimmen sollte7. Wenden wir uns nun Dvořák zu. Während Smetana seine Opern auf eine moderne Grundlage stellte, griff Dvořák auf die alte italienische und französische Opernform zurück. Seine Opern schlagen die entgegengesetzte Richtung von Smetanas ein. Dimitrij ist Dvořáks bestes Werk; 4 5 6 7 Siehe auch Jitka Ludová, Nationaltheater und Minderheitentheater. Ideen und Theaterpraxis, in: Jakubcová/Lubová/Maidl, Deutschsprachiges Theater in Prag (2001), S. 43-54. Vgl. Tyrrell, Czech Opera (1988), S. 10. In Hostinskýs später Smetana-Monographie kommt dessen Standpunkt bezüglich eines zwingenden Zusammengangs zwischen Wagners Musikdramen und der tschechischen ‚Nationaloper‘ im Geiste Smetanas besonders deutlich zum Ausdruck. Vermutlich bezweckte Hostinský (Lebensdaten: 1847-1910) mit dieser Monographie nicht nur, die Bedeutung Smetanas erneut zu unterstreichen, sondern auch die eigene Ästhetik gleichsam als verpflichtendes Vermächtnis in prägnanter Weise für die nächste Generation aufzubereiten. Hostinský, Bedřich Smetana a jeho boj o moderní českou hudbu [Bedřich Smetana und sein Kampf um die moderne tschechische Musik] (1901), siehe insbesondere Kapitel V: „Wagnerianismus“ a česka národní opera [Der „Wagnerianismus“ und die tschechische Nationaloper], S. 146-178. Vgl. Karbusický, Die missverstandene Eigenart der Operndramatik Janáčeks (1997), S. 33. Siehe auch Martinů, Prodaná nevěsta [Die verkaufte Braut] (1928); Martinů, Poučení z Prodané nevěsti [Lehren aus der Verkauften Braut] (1928); Martinů, O Smetanovi a Berliozovi [Über Smetana und Berlioz] (1928). Alle Texte nachgedruckt in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 102-109. Vgl. auch Bek, Mezinárodní styky české hudby 1924-1932 [Internationale Berührungspunkte der tschechischen Musik 1924-1932] (1967), S. 648. Zur grundsätzlichen Problematik einer ‚tschechischen‘ Musik vgl. Beckerman, In Search of Czechness in Music (1986). Zum Boj o Dvořáka (Kampf um Dvořák) siehe Smetana, Dějiny české hudební kultury 1890/1945, Bd. 1 (1972), S. 116-119. 2 es ist zugleich sein konservativstes – nein, sein regressivstes. Dvořák negiert die Entwicklung der tschechischen Oper 8. Wegen seinen vermeintlich ‚modernen‘ Opern, aber auch aufgrund des aktiven Engagements innerhalb der tschechischen Nationalbewegung für die Gründung des Prager Nationaltheaters, war Smetana bereits zu Lebzeiten zur Ikone der tschechischen Nationalmusik stilisiert worden. Nach dem Tod des Komponisten sorgte hauptsächlich Nejedlý mit seiner Propaganda dafür, dass das Ideal nicht zu einer rein historisch relevanten Erscheinung verkümmerte, sondern als unverändert zwingender Massstab ins 20. Jahrhundert hineingetragen wurde9. Die Legitimation als zentrale Instanz im tschechischen Musikleben schöpfte Nejedlý allein aus seiner Position als vermeintlicher Nachfolger des renommierten Hostinský, eine Erbschaft, die er etwa mit seinen Schriften über Hostinskýs Ästhetik zu untermauern suchte10. Womöglich im Wissen um seine mangelnde fachliche Kompetenz, war Nejedlý peinlich darauf bedacht, die Jahrzehnte alten Ansichten seines Vorgängers zu übernehmen, wozu er jedoch eines neuen Komponisten mit Vorbildcharakter bedurfte11. Dementsprechend suchte also der ‚Erbe‘ Hostinskýs nach dem ‚Erben‘ Smetanas, welchen er zweifellos in dem bereits von Hostinský hochgeschätzten Komponisten Zdeněk Fibich gefunden hätte, wäre dieser nicht dummerweise schon im Jahr 1900 verstorben12. Dennoch ergriff er die Gelegenheit, Fibichs szenische Melodramen von Smetanas Opern abzuleiten und damit eine vermeintliche Verbindungslinie zu Wagner zu ziehen, ein Traditionszusammenhang, durch den Fibich posthum geradezu zwingend zum neuen Heroen der tschechischen Nationalmusik avancieren musste13. In Josef Bohuslav Foerster und im Fibich-Schüler Otakar Ostrčil fand Nejedlý schliesslich die lebenden Stellvertreter für das erkorene Vorbild und damit die aktuellen 8 Nejedlý, Zdenko Fibich (1901), S. 172. Vgl. Nejedlý, Zpěvohry Smetanovy [Smetanas Opern] (1907) sowie Nejedlý, Česká moderní zpěvohra po Smetanovi [Die tschechische moderne Oper nach Smetana] (1911). 10 Siehe u.a. Nejedlý, Dějiny esthetiky [Geschichte der Ästhetik] (1902) sowie Otakara Hostinského Esthetika [Die Ästhetik von Otakar Hostinský] (1921). 11 Bezüglich Nejedlýs fragwürdiger fachlicher Kompetenz sowie dessen über Jahrzehnte hinweg beherrschende Rolle im Prager Musikleben siehe Karbusický, Die missverstandene Eigenart der Operndramatik Janáčeks (1997), S. 24-26, 29. 12 Die Rolle Zdeněk Fibichs (1850-1900) als Nachfolger Smetanas musste für Nejedlý um so zwingender erscheinen, als die Verbindungslinie bereits durch Hostinský vorgezeichnet gewesen war. Dessen Wertschätzung Fibichs in Zusammenhang mit Smetanas ‚Nationalmusik‘ tritt in besonders deutlicher Weise in seiner späten Smetana-Monographie zutage, hatte der Musiktheoretiker diese doch dem Andenken des kurz zuvor verstorbenen Fibich gewidmet. Hostinský, Bedřich Smetana a jeho boj o moderní českou hudbu [Bedřich Smetana und sein Kampf um die moderne tschechische Musik] (1901). 13 Dass Nejedlý darauf zielte, Fibichs szenische Melodramen und insbesondere die Trilogie Hippodamie (188991) zur einzig wahren Gattung der damaligen Oper zu propagieren, trat bereits in seiner apodiktischen FibichMonographie zutage: Zdenko Fibich. Zakladatel scénického melodramatu [Zdenko Fibich. Der Begründer des szenischen Melodrams] (1901). 9 3 Exponenten der tschechischen Nationalmusik – gleichsam die ‚Enkel‘ Smetanas14. Gleichzeitig geriet Janáček, welcher derselben Generation wie die beiden neuen ‚Idole‘ angehörte, unter Beschuss des einflussreichen Kritikers, der dem Komponisten vorwarf, dass seine Opern eine blosse Aneinanderreihung von ‚napěvky‘ (Sprechmelodien) wären, also eine reine Transkription gesprochener Passagen ohne jede formale Gestaltung15. Obwohl sich eine direkte Herleitung der musikalischen Struktur von der gesprochenen Sprache für eine Analyse von Janáčeks Opern als wenig hilfreich erweist, musste Nejedlýs Vorwurf dennoch plausibel wirken, da der mährische Komponist schliesslich selbst aktiv zum Mythos von der überragenden Bedeutung der ‚napěvky‘ für seine Werke beigetragen hatte. Gerade aus einem Vergleich zwischen Janáčeks theoretischen Schriften einerseits und dessen kompositorischen Schaffen andererseits wird aber deutlich, dass der eigenwillige Komponist zwar den Entwicklungsschritt vom Wort zum Volkslied in einen theoretischen Zusammenhang zu stellen, jedoch die offenkundige Lücke zwischen dieser Stufe und der Kunstmusik – und damit seinem eigenen musikalischen Œuvre – nicht zu füllen vermochte16. Es war daher für den Kritiker ein leichtes, die letztlich abstrakte Idee einer im gesprochenen Tonfall verwurzelten Musik zu einer kompositorischen Tatsache umzudeuten und als solche zum Beweis vermeintlicher kompositorischer Unzulänglichkeit zu erklären. Weder ein von Janáček karikierter Vortrag Nejedlýs, dessen überzeichnete Intonationslinie er in Notenbeispielen transkribierte, noch die Anspielung des lächerlichen Mondästheten Lunobor an den Prager Rezensenten in der Oper Výlety pána Broučka (Die Ausflüge des Herrn Brouček [Käferchen], 1917) vermochten dagegen im geringsten an der Machtposition des Kritikers zu rütteln17. 14 Vgl. ebd., S. 173. Zu Josef Bohuslav Foerster (1859-1951) und Otakar Ostrčil (1879-1935) siehe u.a. Smetana, Dějiny české hudební kultury 1890/1945, Bd. 1 (1972), S. 144-147, 157-160 sowie eine späte Aufsatzsammlung von Foerster, Co život dal [Was das Leben gab] (1942). Tyrrell stellte in seiner Studie zur tschechischen Oper einen Vergleich zwischen Foersters Oper Eva (1895-97) und Janáčeks Její pastorkyňa [Jenůfa] (1894-1903) an; Tyrrell, Czech Opera (1988), S. 92-95. 15 Ein vergleichbarer Vorwurf findet sich auch in einer Kritik des fachlich ungleich versierteren Julius Korngold anlässlich der Wiener Erstaufführung von Jenůfa im Jahr 1918: Janacek [sic] geht weiter. Er versucht die Tonfälle, die Akzente, die Rhythmen, den gleitenden Sington der gewöhnlichen Sprechweise [...] nachzuahmen. [...] Auch mehrere Personen rede- oder schreisingen zugleich bei Janacek nach dieser Methode, ohne recht auf harmonisches Einvernehmen zu achten: Ensembles sonderbarer Art. So soll, wie Janacek glaubt, „Wortmelodie“ herauskommen; es kommen aber nur außer nichtssagenden und geschraubten Rezitationsphrasen dürftige melodische Floskeln, Anfänge, Ansätze heraus, die – wie lehrreich! – auffallend wenig charakteristische Kraft haben. Melodie sieht anders aus; und nur gestaltete Melodie charakterisiert, drückt aus. Zitat Korngold, Jenůfa (1918), in: Ders., Die romantische Oper der Gegenwart (1922), S. 237. 16 Siehe insbesondere Janáčeks umfangreiche Analyse mährischer Volkslieder: O hudební stránce národních písní moravských [Über die musikalische Seite der mährischen Volkslieder] (1901), in: Bartoš/Janáček, Národní písne moravské, S. I-CXXXVI. Siehe auch Kapitel III, S. 119 f., 154-156. 17 Zum Streit zwischen Janáček und Nejedlý siehe Fukač, Leoš Janáček a Zdeněk Nejedlý (1963), S. 5-29 sowie Karbusický, Die missverstandene Eigenart der Operndramatik Janáčeks (1997), S. 24-31. 4 Primär aufgrund von Nejedlýs Einfluss blieb die auf Wagner rekurrierende Ästhetik für das Prager Musikleben auch dann bestimmend, als mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Oktober 1918 die Forderung nach Eigenständigkeit eingelöst worden war und folglich die politische Notwendigkeit einer Nationalmusik hinfällig wurde. Dass Nejedlý auf einer nationalistisch gefärbten Musikästhetik aus vergangenen Habsburger Zeiten dermassen erfolgreich beharren konnte, wurde womöglich durch eine allgemeine Orientierungslosigkeit begünstigt, die selbst die staatstragenden Bevölkerungsteile der jungen Republik erfasst hatte und mit der Angst vor einem Traditionsverlust verbunden war, weshalb es durchaus dem Zeitgeist entsprach, an althergebrachten Werten festzuhalten18. Das Musikverständnis Nejedlýs erlangte einen Stellenwert, der den Anspruch auf alleinige Gültigkeit vollumfänglich durchzusetzen erlaubte, eine Art von Zensur, die Martinů um so mehr ins Auge stechen musste, als sich seine kompositorischen Ideale grundsätzlich von denjenigen des Kritikers unterschieden. Angesichts des Prager Umfeldes, in dem Ästhetiker und Universitätsprofessoren, nicht aber Komponisten die Richtung der Musik bestimmten, fühlte er sich zunehmend ausserstande, eigene musikalische Ziele zu verfolgen19. Aus der Pariser Wahlheimat sollte der Komponist schliesslich die Prager Zustände verurteilen und an nicht namentlich genannte Kritiker appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden – dass es sich dabei um eine Abrechnung mit Nejedlý handelte, konnte den Lesern der renommierten Zeitschrift Listy Hudební matice nicht entgangen sein20. Wer in den letzten zehn Jahren die Arbeit der Kritiker verfolgt hat, muss viele Dinge entdeckt haben, die ihn nicht zufriedenstellen. Besonders auffällig sind die Hinweise auf ein einseitiges und erbittertes Verfolgen einer einzigen Richtung, eines ästhetischen Nebenzweigs, der alles gänzlich verwirft, was nicht in diesen Rahmen passt. Die Schädlichkeit dieser Erscheinung ist aus dem Chaos ersichtlich, das daraus erwachsen ist und das viele Gegensätze und Ungereimtheiten der Kritik verschuldet. Man kann sagen, dass sich eine Art „Vorschrift“ für das Verständnis von Werken herausbildet hat. Diese Richtung, die übrigens selbst im Lauf der Zeit ihr Urteil über dieselben Werke (Debussy, Suk) geändert hat, zwang sich darüber hinaus zur einzig richtigen auf. Sie trägt alle Zeichen der alten deutschen Ästhetik und genau so, wie sie ungestraft die Werke aufnimmt, die durch die deutsche Kultur beeinflusst sind, weist sie jeden Ausdruck eines anderen Verständnisses zurück21. 18 Vgl. Hoensch, Geschichte Böhmens (1992), S. 423. Zitat Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 318. 20 Martinů, Ke kritice současné hudby [Zur Kritik an zeitgenössischer Musik] (1925), in: Listý Hudební matice 4 (1925), H. 6, nachgedruckt in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 41-43. 21 Ebd., S. 41. 19 5 Zwar wurden längst verstorbene Komponisten allmählich rehabilitiert, das Urteil über jüngere Musiker änderte sich jedoch keineswegs, eine Tendenz, die sich unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges erneut verstärken sollte, als mit der Auflösung der Republik die politische Dimension einer tschechischen Nationalmusik erneut virulent wurde. So räumte etwa der 83jährige Foerster in seiner Aufsatzsammlung Dvořák einen Platz direkt hinter Smetana ein, und der in Prag vielgespielte Debussy gelangte noch vor die russische Tänzerin Anna Pavlová, dagegen wurde Janáček nur ein einziges Mal genannt, nämlich als letzter einer langen Auflistung der Schüler František Zdeněk Skuherskýs – der zu dieser Zeit in Amerika überaus erfolgreiche Martinů wurde sogar gänzlich ignoriert22. Damit entsprach Foerster durchaus Nejedlýs Urteil, der Martinůs Werk zunächst deshalb verwarf, weil er dieses der Tradition der Dvořák-Schüler Novák und Suk zuordnete; nach dem Zweiten Weltkrieg erschien ihm Martinů wiederum suspekt, da sich seine Kompositionen nicht in das Konzept des sozialistischen Realismus einreihen liessen. Schliesslich avancierte der ‚nationale‘ Kritiker aus Habsburgs Zeiten, der seine Auffassung unverändert in die Zeit der Ersten Republik hineingetragen hatte, nach der endgültigen Machtübernahme der Kommunisten 1948 zum vehementen Vertreter des ideologisch motivierten Realismus23. Auch sollte Nejedlý zu verhindern wissen, dass Martinů, der in Tanglewood unterrichtet hatte und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf eine baldige Heimkehr hoffte, als Kompositionslehrer nach Prag kommen konnte: Die ersehnte Rückkehr scheiterte daran, dass zwar der Direktor des Prager Konservatoriums, Václav Holzknecht, nicht aber das zuständige Amt unter Zdeněk Nejedlý eine Anstellung Martinůs befürwortete24. Martinů hatte bereits früh alles daran gesetzt, Komponist zu werden – wovon unter anderem sein Desinteresse an weiteren Instrumentalstudien zeugten –, weshalb er schliesslich neben einer Anstellung als zweiter Geiger an der Tschechischen Philharmonie 1922 in die neugegründete Meisterklasse von Josef Suk eintrat25. Vor dem Hintergrund des beherrschenden Einflusses Nejedlýs auf das dortige Musikleben musste sich Martinů jedoch von Beginn an 22 Foerster, Co život dal [Was das Leben gab] (1942), S. 25-29 (Smetana), S. 30-35 (Dvořák), S. 95-102 (Debussy), S. 55 (Nennung Janáčeks). 23 Siehe Nejedlýs schriftliches Bekenntnis zum Kommunismus, erschienen anlässlich der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948: Nejedlý, Komunisté – dědici velikých tradic Českého národa [Die Kommunisten – die Erben der grossen Traditionen des Tschechischen Volkes] (1948). Vgl. Karbusický, Die missverstandene Eigenart der Operndramatik Janáčeks (1997), S. 25; Pukl, Bohuslav Martinů (1991), S. 150155. Zum sozialistischen Realismus in der Musik siehe auch Kapitel IV, S. 237 [Fussnote 166]. 24 Pukl, Bohuslav Martinů (1991), S. 150-155. 25 Zu Martinůs Violin- und Orgelstudium in Prag (1906-10), zu seiner Zeit als Geiger an der Tschechischen Philharmonie sowie zu seinem Unterricht bei Josef Suk siehe u.a. Mihule, Martinů (2002), S. 32-40, 86-108; Šafránek, Bohuslav Martinů (1964), S. 67, 92-94. 6 darüber im klaren gewesen sein, unmöglich als junger Komponist mit einer nahezu entgegengesetzten Musikauffassung in Prag Fuss fassen zu können. Es kann folglich kaum erstaunen, dass er spätestens seit dem kläglichen Ende seines Violin- und Orgelstudiums nach einer Möglichkeit suchte, von Prag nach Paris zu ziehen. Nach zehn Jahren vergeblichen Bemühens wurde ihm im Sommer 1923 vom Ministerium für Schulwesen und Volkskultur ein dreimonatiges Stipendium für einen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt verliehen – er sollte 17 Jahre bleiben26. Als zentralen Grund für den ersehnten Umzug nach Paris führte Martinů selbst den beherrschenden deutschen Einfluss auf das Prager Musikleben an, der bereits in eine musikalische Sackgasse geführt habe und zugleich alle anderen Strömungen erdrücke27. Weder das Werk Richard Wagners noch dasjenige Smetanas prangerte er an, sondern hauptsächlich die Rezeption durch Nejedlý und dessen Jünger, die noch immer den Idealen des 19. Jahrhunderts mit Wagner als Hauptredner verpflichtet seien, so dass die gängige Kompositionspraxis längst zu einer vollständigen ‚Psychologisierung‘ der Musik geführt habe28. Von Nejedlý gepriesen, hatte insbesondere Fibich zu dieser – von Martinů gescholtenen – Entwicklung beigetragen, indem er in seinen szenischen Melodramen die Gesangsstimmen jeglicher musikalischer Funktion entbunden und den psychologischen Gehalt der deklamierten Worte allein durch das Orchester wiedergegeben hatte29. In der Folge vertrat auch Foerster als indirekter ‚Smetana-Nachfolger‘ eine Nejedlý konforme Musikauffassung, indem er das Gefühl über alles stellte, weshalb sich diesem auch die musikalische Form zu unterwerfen hatte, denn: alle grossen Dinge auf dieser Welt sind durch das Gefühl entstanden30. Genau diese überragende Gewichtung des emotionalen Gehalts stellte Martinůs Hauptkritikpunkt an den in Prag gefeierten Komponisten dar. Bereits zu dieser Zeit (1920-24) steht er [Martinů] mit seiner musikalischen Ausdrucksweise völlig vereinsamt in einem Umfeld, das den grössten Nachdruck auf den Inhalt des Werkes legt und die Frage der Form in die zweite Reihe rückt. Für ihn stellt dagegen die Frage der 26 Bereits 1914 hatte Martinů ein erstes Gesuch um ein Stipendium an die Akademie der Wissenschaften gestellt, um nach Paris zu reisen. Anlässlich einer Tournee mit der Tschechischen Philharmonie im Jahr 1919 besuchte er die französische Hauptstadt schliesslich zum ersten Mal. Siehe Mihule, Martinů (2002), S. 56, 105; Halbreich, Bohuslav Martinů (1968), S. 22. 27 Martinů, Ke kritice současné hudby [Zur Kritik an zeitgenössischer Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 41. 28 Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Premiere] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 216. 29 Zu Fibichs szenischen Melodramen siehe Smetana, Dějiny české hudební kultury 1890/1945, Bd. 1 (1972), S. 184. 30 Foerster, Co život dal [Was das Leben gab] (1942), S. 19. 7 Form, d.h. das organische Beherrschen und die Realisierung des Ausdrucks, die vollständige Übereinstimmung von Inhalt und Form (nicht Formalismus), das grösste Problem dar 31. Weniger wegen der Bedeutung, die er Formfragen beimass, sondern vielmehr aufgrund seiner impressionistischen Frühphase, die im Ballett Istar (1921) ihren abschliessenden Höhepunkt gefunden hatte, wurde Martinů lange vor seinem Umzug nach Paris als ‚französischer‘ Musiker rezipiert32. Dass er bereits im Jahr 1922 und folglich noch in Prag mit dem Ballett Kdo je na světě nejmocnějšý? (Wer ist der Mächtigste auf der Welt?), in welchem Mäuse zu Klängen der damals aufkommenden Tanzlokale tanzen, die Abkehr vom Impressionismus vollzog, wurde von seinem Umfeld weitgehend ignoriert. Aus der Sicht der Prager Musikwelt, die noch immer den Impressionismus Debussys als aktuellen französischen Stil wähnte, stellte daher sein Umzug nach Paris im Jahr 1923 gleichsam die Heimkehr eines ‚französischen‘ Komponisten nach Frankreich dar33. In Wirklichkeit war es vielmehr die Reise eines nicht mehr impressionistisch komponierenden Musikers in eine Stadt, die den Impressionismus längst hinter sich gelassen hatte. [...] er [Martinů] fährt 1923 nach Paris, in ein vollkommen neues und seltsames Umfeld, in dem er sich vollständig verloren fühlt, da nur wenige Werke den Vorstellungen entsprechen, die er sich in Prag von der gegenwärtigen westlichen Produktion gemacht hat; sein sogenannter „französischer Ausdruck“ ist meilenweit von dem entfernt, was er um sich herum hört34. Von der Entwicklung überrascht, die die Musik in Frankreich seit Debussy durchlaufen hatte, komponierte Martinů in seinen ersten Pariser Monaten kaum, sondern suchte zunächst Albert Roussel auf, den er in den folgenden Monaten regelmässig treffen sollte, jedoch weniger zum Zweck eines tatsächlichen Kompositionsunterrichts, als vielmehr für freundschaftliche 31 Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 318. Vgl. ebd., S. 318. 33 In der tschechischen Berichterstattung zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielten die Aufführungen tschechischer Kompositionen oder tschechischer Musiker im Ausland eine wichtigere Rolle als die Ereignisse des internationalen Musiklebens. Dies änderte sich erst ab 1923, als feststand, dass die zweite Auflage des neu gegründeten IGNM-Festivals in Prag organisiert werden sollte. Zum ersten Mal konnten sich bei dieser 1924 stattfindenden internationalen Veranstaltung alle tschechoslowakischen Musiker und Kritiker ein Bild von bislang unbekannten zeitgenössischen Kompositionstechniken machen, was nahezu alle in Panik versetzte und damit ein sprichwörtliches Erdbeben in der tschechoslowakischen Musiklandschaft auslöste. Siehe Březina, Das ausländische Musikleben in der tschechischen Presse, in: Ders., Prager Musikleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts (2000), S. 30-37; Bek, Mezinárodní styky české hudby 1924-1932 [Internationale Berührungspunkte der tschechischen Musik 1924-1932] (1967), S. 628-648 [zum IGNM-Festival 1924 v.a. S. 631-635]. 34 Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 318. 32 8 Gespräche über Musik35. Daneben war er hauptsächlich darum bemüht, sich eine Meinung über die in Paris vorherrschenden musikalischen Strömungen zu bilden, wobei die Konzertprogramme einerseits geprägt waren von Werken Maurice Ravels, Albert Roussels, Eric Saties, den Komponisten des ‚Groupe des Six‘ – von denen er nur Arthur Honegger schätzte –, sowie andererseits Arnold Schönbergs und in erster Linie Igor Strawinskys, wobei Martinů die beiden letztgenannten als für die neue Musik wegweisend erachtete36. Überwältigt vom damaligen Pariser Musikleben war Martinů bestrebt, Einfluss auf die Prager Situation zu nehmen. Deshalb fühlte er, der bis zu diesem Zeitpunkt kein Interesse an publizistischer Tätigkeit gezeigt hatte, sich dazu veranlasst, Kritik an der nahezu hermetischen tschechischen Musikwelt zu üben und zugleich einen Eindruck von zeitgenössischen Alternativen zu vermitteln, obwohl es für einen Komponisten keine Freude ist, diese Dinge zu erklären37. Seine eigene kompositorische Produktivität erlangte er dagegen erst ein Jahr nach der Ankunft in Paris wieder: Den fulminanten Auftakt zu seiner experimentellsten Phase, die er selbst als diejenige des Dynamismus bezeichnete, bildete das mit polytonaler Harmonik und hämmernder Rhythmik an Strawinsky gemahnende Orchester-Rondo Halftime (1924) – eine Verwandtschaft, die ihm in Prag den Vorwurf des Plagiats einbrachte38. Vor dem Hintergrund seiner kurz zuvor in Prag publizierten fünf Aufsätze über Strawinsky hatte die Uraufführung von Halftime durch die Tschechische Philharmonie zur Folge, dass der Komponist in der Heimat nun nicht mehr als Debussy-, sondern neu als Strawinsky-Jünger verschrieen war, was am Urteil ‚französisch‘ freilich nur wenig änderte39. Martinůs Versuch, in einem weiteren Zeitungsartikel klarzustellen, dass Strawinsky ihn nicht mehr beeinflusst habe als alles andere, was ihn in Paris umgab, war keineswegs dazu geeignet, sich dem nationalen Stereotyp 35 Zum Verhältnis zwischen Martinů und Roussel siehe Martinůs Nachruf auf den verstorbenen Komponisten, in: La Revue Musicale 18 (1937), H. 170, S. 17. Siehe auch Šafránek, Bohuslav Martinů (1964), S. 109-111; Halbreich, Bohuslav Martinů (1968), S. 24; Mihule, Martinů (2002), S. 110; Erismann, Martinů (1990), S. 71-74; Nicole Labelle, Roussel, Martinů et la presse musicale tchèque, in: Březina, Prager Musikleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts (2000), S. 99-121. 36 Martinů, Současné směry v hudbě francouské [Zeitgenössische Richtungen in der französischen Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 46. 37 Zitat Martinů, O současné melodii [Über die zeitgenössische Melodie] (1926), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 81. Martinůs Aufsätze und Artikel aus dieser Zeit wurden nachgedruckt in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 13-109. Vgl. auch Vysloužil, Martinů hudební poetika pařížských let [Martinůs musikalische Poetik der Pariser Jahre] (1990), S. 221. 38 Martinů, Bilance vlastný tvorby do r. 1935 [Bilanz des eigenen Schaffens bis 1935] (1935), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 329; Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 230. 39 Martinů, Cestou ke Stravinskému [Der Weg zu Strawinsky], in: Tribuna Nr. 122 (24. 5. 1924); Martinů, Svatba [Les Noces], in: Národní a Stavovské divadlo 2 (1924), Nr. 3; Martinů, Balety Igora Stravinského [Die Ballette Igor Strawinskys], in: Národní a Stavovské divadlo 2 (1924), Nr. 4; Martinů, Stravinského Petruška [Strawinskys Petrouchka], in: Národní a Stavovské divadlo 2 (1924), Nr. 8; Martinů, Igor Stravinskij, in: Listy hudební matice 4 (1924), Nr. 3. Die fünf Texte wurden nachgedruckt in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 24-33. 9 zu entziehen: Zeitlebens sollte ihm der Ruf des ‚französischen‘ Komponisten anhaften, eine Einschätzung, die niemals zurückgenommen, jedoch wie in diesem Fall mehrfach aktualisiert wurde. Die Auffassung von Martinů als explizit ‚tschechischem‘ Komponisten, die wiederholt ins andere Extrem fiel, setzte sich dagegen erst nach seinem Tod durch40. Untrennbar verbunden mit dem Martinů verliehenen Etikett des ‚Französischen‘ war die Vorstellung von etwas Seichtem, das zwar unterhaltsam, nicht aber von bleibendem Wert ist. Ein sprechendes Beispiel für dieses abschätzige Urteil findet sich in Martinůs Ridgefielder Tagebuch: Mein Aufenthalt in Frankreich, und das, was ich dort geschaffen habe, lastet wie eine Art nationaler Sünde auf mir, und bei jeder neuen Komposition wird untersucht, inwieweit ich mich dieses Einflusses entledigt habe oder eben nicht41. Die pejorative Einschätzung französischer Kunsteinflüsse im Gegensatz zu deutschen mag insofern erstaunen, als die Frankophilie in Prag nach der Jahrhundertwende erneut einen starken Auftrieb erhalten hatte, und damit das Etikett des ‚Französischen‘ durchaus positiv hätte erscheinen sollen42. Da jedoch die Begeisterung für das ‚Französische‘ primär als Folge der verworrenen politischen Situation im böhmischen Kronland der auseinanderbrechenden Habsburgmonarchie zu verstehen ist, strahlte sie nur partiell auf ausserpolitische Gebiete aus. Dementsprechend war auch nach der Staatsgründung das Interesse für die französische Kultur durchaus gegeben, diese wurde aber unverändert als zu reizorientiert und leicht wahrgenommen, als dass ihr künstlerischer Gehalt nicht suspekt gewesen wäre. Darin liegt eine gewisse Heuchelei im Verhältnis zur französischen Kultur, das nicht aus der Phase des Begreifens und der Kritik herausgekommen ist. Wir bewundern und feiern sie [die französische Kultur] und doch trauen wir ihr nicht und bezeichnen sie als „oberflächlich“. Unter einer oberflächlichen verstehen wir eine ungenügend ernsthafte, ungenügend tiefgründige und künstliche Kultur. Dies ist im Hinblick auf unsere ganze Erziehung verständlich, die uns über lange Jahre hinweg planmässig eingehämmert wurde und die sowohl mit deutscher Metaphysik und geheimnisvoller Ideologie, mit der alle menschlichen Probleme und Rätsel erklärt wurden, als auch mit gewöhnlicher, absichtlicher Propaganda unterlegt war 43. Dass Martinů die ‚tschechische‘ Musik als ‚deutsche‘ entlarvte und dieser eine ‚französische‘ entgegenstellte, ist allein vor dem Hintergrund der damaligen Prager Musikwelt zu verstehen, 40 Martinů, Případ Halftimu [Der Fall Halftime] (1924), Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 34. Vgl. Miroslav K. Černý, Českost a světovost – nejen na případě Bohuslava Martinů [Das Tschechische und das Internationale – nicht nur im Fall von Bohuslav Martinů], in: Mazurek, Bohuslav Martinů (2000), S. 7. 41 Martinů, Ridgefieldský deník [Ridgefielder Tagebuch] (1944), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 149. 42 Hoensch, Geschichte Böhmens (1992), S. 389. 43 Martinů, Ridgefieldský deník [Ridgefielder Tagebuch] (1944), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 149. 10 deren gleichsam chauvinistische Orientierung letztlich nach einer Entgegnung auf derselben Ebene nationaler Stereotypen verlangte. Gerade weil sich Martinůs Umzug nach Paris als Flucht vor der vorherrschenden deutschen Metaphysik innerhalb der ‚tschechischen‘ Musik herleiten lässt, mutet es mit Blick auf seine Werke aus der Pariser Zeit wenig sinnvoll an, ihn zum Vertreter einer neuen ‚tschechischen‘ Musik zu stempeln, musste er sich doch der negativen Folgen einer national begründeten Musikästhetik um so bewusster sein, als er diese selbst in Prag erlebt hatte. Da Martinů die vermeintlich ‚tschechische‘ Qualität aber allein dadurch infrage stellen konnte, dass er sie überhaupt thematisierte, schlingt sich die Diskussion des ‚Tschechischen‘ wie ein dünner Faden durch seine Schriften aus der Pariser Zeit – dies jedoch immer mit der offenkundigen Absicht, das Monopol einer Ästhetik zu durchbrechen, die in Nejedlý ihren einflussreichsten Exponenten gefunden hatte. So zeigt sich die Kritik an der in Prag propagierten Auffassung einer ‚tschechischen‘ Musik etwa darin, dass sich Martinů während seiner Pariser Zeit intensiv um eine Relativierung der Abhängigkeit Smetanas von Wagner und Liszt und damit einer der Kernideen von Nejedlýs Ästhetik bemühte44. Die Ideen, welche als direkte Einflüsse von Franz Liszt auf den eng befreundeten Smetana gedeutet werden, seien ebenso „in der Luft“ gewesen, wie diejenigen Wagners, weshalb jeder innovative Komponist zu vergleichbaren Idealen gelangen musste: Ich werde nicht über den Einfluss Wagners sprechen [...]. Es ist etwa dasselbe Phänomen, wie wenn heute in jeder Komposition, die aus den Konventionen ausbricht, nach I. Strawinsky gesucht wird45. Indem Martinů schliesslich ausgerechnet den Franzosen Hector Berlioz als einzigen direkten Vorläufer Smetanas nannte, da dieser mit seinem revolutionären Temperament auf den böhmischen Komponisten gewirkt habe, machte er die Provokation perfekt46. ‚Deutsch‘ hin oder her: Martinůs Umzug nach Paris hätte sich keineswegs aufgedrängt, wäre seine Musikauffassung nicht grundverschieden von der in Prag propagierten gewesen. Dennoch prägt in einer geradezu paradoxen Weise die Frage nach dem ‚Tschechischen‘ einen beachtlichen Teil der Sekundärliteratur, wobei ins Auge fällt, dass nicht nur die tschechisch- 44 Siehe Martinů, Prodaná nevěsta [Die verkaufte Braut] (1928); Martinů, Poučení z Pradané nevěsti [Lehren aus der Verkauften Braut] (1928); Martinů, O Smetanovi a Berliozovi [Über Smetana und Berlioz] (1928). Alle Texte nachgedruckt in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 102-109. Vgl. auch Bek, Mezinárodní styky české hudby 1924-1932 [Internationale Berührungspunkte der tschechischen Musik 1924-1932] (1967), S. 648. 45 Zitat Martinů, O Smetanovi a Berliozovi [Über Smetana und Berlioz] (1928), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 108. 46 Zitat Martinů, ebd., S. 108 f. 11 sprachigen Beiträge am Bild des komponierenden Tschechen strickten und stricken47. Die mitunter überraschende Gewichtung des nationalen Moments ist zunächst durch die schlichte Tatsache begründet, dass insbesondere die umfangreicheren Schriften als Biographien angelegt sind, weshalb den aussermusikalischen und – bedingt durch Martinůs Leben – in hohem Masse den politischen Umständen ein vorrangiger Stellenwert eingeräumt wurde48. Selbst der langjährige Martinů-Forscher Jaroslav Mihule kam in seiner überaus verdienstvollen Biographie letztlich nicht umhin, angesichts der immensen Faktenfülle übergreifende musikalische Erwägungen hintanzustellen49. Bedenkt man zudem, dass mit dem Diplomaten Miloš Šafránek und Martinůs Witwe Charlotte, einer französischen Schneiderin, die beiden wichtigsten Biographen der ersten Stunde nur über sehr begrenzte musikalische Fachkenntnisse verfügten, kann die wiederholte Betonung des tschechischen Selbstverständnisses auf Kosten musikästhetischer Fragestellungen kaum erstaunen50. Anstelle des von Nejedlý vertretenen ‚offiziellen‘ Konzeptes einer tschechischen Nationalmusik, das für eine Annäherung an Martinůs Schaffen denkbar ungeeignet wäre, wird in der Regel Martinůs Biographie als Bezugspunkt für das ‚Tschechische‘ herangezogen, wobei gerade seine Geburt und Kindheit auf dem Kirchturm der Kleinstadt Polička als Sinnbild für eine tschechische Verwurzelung prädestiniert erscheinen51. Brian Large sieht sich in seiner Biographie gar bemüssigt, mit Harry Halbreichs frühem Kommentar eine der bis heute sachlichsten Studien zu kompositorischen Fragen in einem kurzen Vorwort vernichtend zu kritisieren, nur um auf der allerersten Seite den geographischen Ort Polička gleichsam zur ‚condition sine qua non‘ von Martinůs Musik zu erklären52. 47 Siehe u.a. Large, Martinů (1975), S. 1; Hirsbrunner, Ein Komponist aus Polička, in: Ders., Von Richard Wagner bis Pierre Boulez (1997), S. 171-175. 48 Vgl. u.a. Šafránek, Bohuslav Martinů (1964); Erismann, Martinů (1990); Mihule, Martinů (2002). 49 Mihule, Martinů (2002). Siehe auch Mihules ältere Arbeiten zu Martinůs Biographie: Bohuslav Martinů v obrazech [Bohuslav Martinů in Bildern] (1964); Bohuslav Martinů (1966); Bohuslav Martinů. Life and work (1990). 50 Siehe u.a. Šafránek, Bohuslav Martinů (1943), S. 329-354; Ders., Bohuslav Martinů. The Man and his Music (1946); Ders., Martinůs schöpferische Entwicklung, in: Lindlar, Tschechische Komponisten (1954), S. 15-23; Šafránek, Bohuslav Martinů (1964); von besonderer Bedeutung sind ausserdem die beiden umfangreichen Sammlungen von Primärtexten Martinůs: Šafránek, Bohuslav Martinů. Domov, hudba a svět [Heimat, Musik und Welt] (1966) sowie Ders., Divadlo Bohuslava Martinů [Das Theater Bohuslav Martinůs] (1979). Charlotte Martinů (geborene Quennehen), Můj život s Bohuslavem Martinů [Mein Leben mit Bohuslav Martinů] (1971). 51 Eine geglückte Zusammenstellung von Fotos, Skizzen und Texten hinsichtlich Martinůs Beziehung zu seiner Geburtsstadt findet sich bei Popelka, Martinů a Polička [Martinů und Polička] (1990). Siehe auch Šafránek, Bohuslav Martinů (1964), S. 23; Mihule, Martinů (2002), S. 14-30. 52 Halbreich, Bohuslav Martinů (1968), S. 55-101; Large, Martinů (1975), S. xii. 12 Here, in the northeasterly tip of Bohemia, the countryside is not typically highland in character but pleasantly hilly with a thickly-wooded landscape steeped in tradition. To this region, known locally as the Vysočina [Böhmisch-Mährische Hochebene], Martinů was bound as strongly as a child is tied to its mother. And to the Vysočina and to Polička he kept returning all his life, in his writings if not in person. But it was not only in words that Martinů recalled his home; above all it was in music that he gave expression to the experiences and impressions evoked by it. Though Martinů’s life’s course took him from Polička to Prague, to Paris, on to America and back to Europe, neither foreign surroundings nor international fame could wipe out the memories of youth and home. Talent is sometimes nurtured by environment, and there are few people to whom this applied in greater measure than Bohuslav Martinů 53. Mit Blick auf diese mehrfach kolportierte Behauptung mutet Michael Wittmanns scharfe Kritik an der Tendenz, Martinů zu einem tschechischen Nationalkomponisten zu stempeln, durchaus berechtigt an, wenngleich die tschechische Musikwissenschaft nicht als alleiniger Adressat der Schelte genannt werden sollte54. Dies nicht nur, weil wie im Fall von Large auch nicht-tschechische Autoren einer nationalen Verbrämung anheim gefallen sind, sondern auch in Anbetracht der Tatsache, dass Martinů durch den Einfluss Nejedlýs von der offiziellen ‚Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik‘ (ČSSR) zu Lebzeiten soweit wie möglich ignoriert wurde. Als Reaktion darauf wurde Martinů zwar wiederholt als Gegenmodell zur offiziell proklamierten tschechischen Musik herangezogen, jedoch haftete dem Hinweis darauf, dass der im kapitalistischen Westen erfolgreiche Komponist ein geborener Tscheche war, unweigerlich ein Moment von politischer Provokation an. Sogar die zwanzig Jahre nach seinem Tod erfolgte Überführung der sterblichen Überreste vom Schönenberg im schweizerischen Kanton Baselland – wo der Komponist auf dem Gut Paul Sachers zunächst begraben worden war – nach Polička erschien der staatlichen Seite zu problematisch, als dass man sie in der damaligen Tschechoslowakei über die Stadtgrenzen hinaus publik gemacht hätte. Während sich einige tschechischsprachige Autoren weitgehend darauf beschränkten, Martinů als Tschechen ins Zentrum ihrer Überlegungen zu rücken55, zeugen dennoch zahlreiche Texte 53 Ebd., S. 1. Tyrrell stellte sich in seiner Studie zur tschechischen Oper auf einen nahezu entgegengesetzten Standpunkt, brach er doch seine auf Smetana zentrierte Untersuchung nicht zuletzt deshalb mit Janáček ab und resisted the temptation, auch Martinů einzubeziehen, weil er daran zweifelte, dessen Werke vorbehaltlos in die nationale Tradition einordnen zu können. Tyrrell, Czech Opera (1988), S. ix. Nicht berücksichtigt werden konnte dagegen Vladimír Karbusickýs Untersuchung zur tschechischen Oper, ist sie doch für den Juli 2004 angekündigt und wird somit erst nach Fertigstellung dieser Arbeit erscheinen. Karbusický, Geschichte des böhmischen Musiktheaters, hrsg. von Peter Petersen, Albrecht Schneider und Melanie Unseld, Hamburg: Von Bockel, [Juli 2004]. 54 Wittmann, Ist Bohuslav Martinů ein tschechischer Komponist? (Druck in Vorbereitung). 55 Siehe u.a. Jiránek, Národní rysy hudební řeči Bohuslava Martinů [Nationale Züge in der musikalischen Sprache Bohuslav Martinůs] (1991), S. 115-124; Fukač, Bohuslav Martinůs Tschechentum, in: Macek, 13 von einer Suche nach einem grösseren ästhetischen Kontext, eine Tendenz, die spätestens seit den Ereignissen von 1989 Oberhand gewonnen hat56. Schliesslich ist nach dem Zerfall des kommunistischen Systems ein Interesse in den Vordergrund getreten, das nicht mehr zwingend ideologisch oder politisch konnotiert ist, sondern frei, ohne den Einfluss und die gnädige Zustimmung wankelmütiger Apparate verfolgt werden kann57. Mit Blick auf diese Entwicklung ist durchaus davon auszugehen, dass Wittmanns polemische Frage – Konnte Martinů akzentfreie Musik schreiben? – bald jeglicher Berechtigung entbehrt58. Zweifellos trug neben seinen Biographen auch Martinů selbst zum Etikett des ‚Tschechischen‘ für sein Schaffen bei. Denn während er sich zu Beginn der Pariser Zeit in erster Linie über die erfolgte Abkehr vom deutschen Einfluss positioniert und in diesem Zusammenhang das nationale Moment des Prager Musiklebens thematisiert hatte, beharrte er ab 1938 zunehmend auf dem ‚Tschechischen‘ des eigenen Ausdrucks59. Davon zeugt sowohl die im ersten Jahr seines amerikanischen Exils verfasste Autobiographie als auch das 1944 in Ridgefield (Connecticut) angelegte Notizbuch, beides Schriften, die einen offensichtlichen tagespolitischen Hintergrund aufweisen60. Denn ebenso wie das tschechische Selbstverständnis im Zuge der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts ein zentrales Mittel im Kampf gegen die Habsburger Machtstrukturen darstellte, so war es spätestens nach der Liquidation der Ersten Tschechoslowakischen Republik durch das Münchner Abkommen von 1938 der letzte Strohhalm, der vor dem vollständigen Absinken ins Dritte Reich und dem damit verbundenen Identitätsverlust bewahren sollte. Wie sehr dieses politische Engagement auf Martinů zutraf, wird etwa daraus ersichtlich, dass sich der Fünfzigjährige bei Kriegsausbruch sogar als Freiwilliger für den Militärdienst tschechoslowakischer Staatsangehöriger in Frankreich gemeldet hatte und schliesslich denen, die nicht wie er für untauglich befunden wurden, die Polní mše Colloquium Bohuslav Martinů (1993), S. 5-12; Trojan, Moravismy v díle Bohuslava Martinů? [Moravismen im Werk Bohuslav Martinůs?], in: Ebd., S. 13-17. 56 Siehe u.a. die Arbeiten von Aleš Březina; Bajer, Martinů a evropská divadelní avantgarda [Martinů und die europäische Theateravantgarde] (1971), S. 365-370; Vysloužil, Martinů hudební poetika pařížských let [Martinůs musikalische Poetik der Pariser Jahre] (1990), S. 221-224; Černý, Českost a světovost. Nejen na případě Bohuslava Martinů [Das Tschechische und das Internationale. Nicht nur im Fall von Bohuslav Martinů], in: Mazurek, Bohuslav Martinů (2000), S. 6-12. 57 Zitat Iša Popelka, Bohuslav Martinů (1996), S. 5 [Hervorhebung original]. 58 Zitat Wittmann, Ist Bohuslav Martinů ein tschechischer Komponist? (Druck in Vorbereitung). 59 Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 318: [...] sein [Martinůs] Ausdruck ist und bleibt tschechisch. 60 Ebd., S. 317-324; Martinů, Ridgefieldský deník [Ridgefielder Tagebuch ] (1944), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 140-192. 14 (Feldmesse, 1939) widmete61. Mit der finanziellen Unterstützung von Paul Sacher und Ernest Ansermet und dank eines Spendenaufrufs der schweizerischen Zeitschrift Dissonances gelang Martinů, der wegen seinen Beziehungen zur tschechoslowakischen Exilregierung in London auf der Schwarzen Liste der Nationalsozialisten stand, im Winter 1941 eine beschwerliche Flucht über Spanien und Portugal in die USA62. Dass für den im amerikanischen Exil lebenden Martinů, der etwa im Auftrag von Edvard Beneš’ Exilregierung den Památník Lidicim (Gedenkstück für Lidice, 1943) komponiert hat, die Charakterisierung des ‚Tschechischen‘ stark politisch motiviert gewesen ist, kann in keiner Weise überraschen63. Da ihm das Bewusstsein, Tscheche zu sein, durch die Geschehnisse ständig in Erinnerung gerufen wurde, betraf die Frage der nationalen Eigenheiten unweigerlich auch das kompositorische Selbstbild – sowohl das gegenwärtige als auch das vergangene. [...] er selbst fühlte, dass seine musikalische Ausdrucksweise dem reinen und freien Charakter des tschechischen Charakters entspringt. Auch als er später, während seines Pariser Aufenthaltes, einen universalen Ausdruck annimmt, bleibt dieser in der tiefsten Grundlage rein tschechisch. Ohnehin ist das Problem des Begriffs „nationale“ Musik ein sehr breiter Komplex, der eine vollständige Revision benötigen wird64. Während die definitive Rückkehr nach Europa schliesslich im Jahr 1953 erfolgte, blieb dem frischgebackenen amerikanischen Staatsbürger die Reise in die mittlerweile kommunistisch regierte Tschechoslowakei vorerst verwehrt65. Und als die kulturpolitischen Verhältnisse Mitte der 1950er Jahre eine leichte Entspannung erfuhren und ein Besuch politisch denkbar wurde, hinderte ihn wiederum der schlechte Gesundheitszustand an der Fahrt, bis der sowjetische Einmarsch in Ungarn von 1956 die Angelegenheit endgültig obsolet werden liess. In diesen letzten Jahren, die er als Weltbürger wider Willen verlebte, machte sich bei Martinů sowohl in persönlicher wie in kompositorischer Hinsicht eine gesteigerte Sehnsucht nach der 61 Zu Martinůs Polní mše (Feldmesse) siehe Karbusický, Von fremden Ufern, fern im Exil... (1999), S. 333-372; Mihule, Martinů (2002) S. 298-300; Halbreich, Bohuslav Martinů (1968), S. 32. 62 Zu Martinůs Flucht in die USA siehe Šafránek, Bohuslav Martinů (1964), S. 213-227; Mihule, Martinů (2002) S. 297-318. 63 Als Strafaktion für das geglückte Attentat auf Reinhard Tristan Heydrich (amtierender Reichsprotektor des Protektorats Böhmen, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und SS-Obergruppenführer) in Prag, wurde am 19. Juli 1942 das Bergarbeiterdorf Lidice bei Kladno zerstört, alle Männer über 14 Jahre erschossen sowie die Frauen in Konzentrationslager gebracht. Zur Vernichtung von Lidice siehe u.a. Naumann, Lidice (1983); Droulia/Fleischer, Von Lidice bis Kalavryta (1999); Wheeler, Lidice (1962). Vgl. auch Heinrich Manns Roman Lidice (1942) sowie die Nachbemerkung von Sigrid Anger zur Ausgabe von 1985, S. 293-319. 64 Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 318. 65 Vgl. Mihule, Martinů (2002), S. 435. 15 Tschechoslowakei bemerkbar66: Ebenso wie er eine zunehmend intensiver werdende Korrespondenz mit seinen tschechischen Freunden pflegte, wandte er sich nach einer langen Pause etwa mit dem Duett-Zyklus Petrklič (Schlüsselblume, 1954) oder den Kantaten über Texte von Miloslav Bureš (1955-59) wieder der Vertonung böhmischer und hauptsächlich mährischer Volkstexte zu67. Im Gegensatz zu einigen Spätwerken, deren tschechische Textvorlagen auf biographische sowie politische Gründe schliessen lassen, ist die Situation bei den Kompositionen aus der Pariser Zeit eine andere. Nicht nur, dass sich Martinů aus freien Stücken für ein Leben in Frankreich entschieden hatte, verleiht diesem Aufenthalt eine besondere Bedeutung, sondern auch, dass er bereit war, dort während Jahren in zumeist miserablen finanziellen Verhältnissen zu leben, obwohl sich seine Position in der Tschechoslowakei der 1930er Jahre vorübergehend zu festigen begann68. Fest entschlossen, in Paris zu bleiben, schlug Martinů sogar das ehrenvolle Angebot aus, die Nachfolge Janáčeks am Brünner Konservatorium anzutreten, wollte er doch als Komponist die günstige Ausgangslage nutzen69: Zum einen wurden ihm mehrere Auszeichnungen verliehen (der Elizabeth Sprague-Coolidge-Preis 1932 für das Streichsextett, der Smetana-Preis 1933 für Špalíček und der Tschechoslowakische Staatspreis 1935 für die Hry o Marii), zum anderen interessierten sich mit Serge Koussevitzky, Charles Munch, Ernest Ansermet und Paul Sacher einflussreiche Dirigenten für sein Schaffen70. Dass er aufgrund seiner kompositorischen Ziele auf einem Aufenthalt in der französischen Hauptstadt beharrte, ist letztlich ein kausaler Zusammenhang, der von der überragenden Bedeutung zeugt, die Martinů dem Pariser Umfeld für seinen kompositorischen Werdegang beimass. Paris hatte einen entscheidenden Einfluss auf sein Schaffen, das eigentlich bereits bei den allerfrühesten Kompositionen gänzlich instinktiv gewisse Eigenschaften der westlichen Kultur verraten hatte (Leichtigkeit, Klarheit, Sinn für die reine Form, Ökonomie der Mittel und eine gewisse Asentimentalität, Rationalität – die Elemente der westlichen Produktion). Diese Elemente erachtet er geradezu als Elemente, die dem tschechischen Wesen und dem tschechischen Naturell entsprechen 71. 66 Vgl. Halbreich, Bohuslav Martinů (1968), S. 42. Zu Martinůs Bureš-Kantaten zählen folgende Werke: Otvírání studánek [Das Maifest der Brünnlein] (1955); Legenda z dýmu bramborové nati [Legende aus dem Rauch des Kartoffelkrauts] (1956); Romance z pampelišek [Löwenzahn-Romanze] (1957); Mikeš z hor [Mikeš aus den Bergen] (1959). 68 Von den überaus ärmlichen Verhältnissen des Ehepaars Martinů in Paris zeugt insbesondere die von der Witwe des Komponisten verfasste Biographie; Charlotte Martinů, Můj život s Bohuslavem Martinů [Mein Leben mit Bohuslav Martinů] (1971), S. 20-27. 69 Zur Anfrage für die Nachfolge Janáčeks in Brünn siehe Mihule, Martinů (2002), S. 178 f. 70 Vgl. u.a. ebd., S. 140, 189, 265, 281 f., 305. 71 Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 317. 67 16 Zwar versuchte Martinů, seine Kompositionspraxis rückblickend mit einem tschechischen Naturell zu verknüpfen, was sowohl als Reaktion auf das frühere Prager Musikleben, als auch vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs zu verstehen ist. Wenn man aber von dieser nationalen Bewertung absieht, ein Schritt, der sich mit Blick auf die mutmasslich zugrundeliegende Motivation anbietet, destilliert sich ein Bekenntnis heraus, das erläutert, was der Komponist auf seiner Flucht vor der alten deutschen Ästhetik eigentlich gesucht hatte72. Denn sowenig die Adjektive ‚tschechisch‘ und ‚deutsch‘ als musikalische Charakterisierungen dafür taugen, den Auslöser für den Umzug konkret fassbar zu machen, sowenig sagt letztlich die Bezeichnung ‚französisch‘ über die Gründe für die langjährige Wahlheimat aus. Es war keineswegs der abstrakte Reiz einer ‚französischen‘ Musik, der einen nachhaltigen Einfluss auf sein Werk hätte nehmen können, sondern vielmehr konkrete Kompositionspraktiken, die sich vom ‚Wagnérisme‘ emanzipiert hatten und von der Suche nach einem neuen musikalischen Ausdruck geprägt waren. Diesem Verständnis lag ein Ideal zugrunde, das sich Martinůs Beschreibung entsprechend durchaus als ‚klassizistisches‘ begreifen lässt: Leichtigkeit, Klarheit, Sinn für die reine Form, Ökonomie der Mittel und eine gewisse Asentimentalität, Rationalität73. MARTINŮS ‚KLASSIZISMUS‘ UND SEINE OPERN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Der zukünftige Historiker wird in seiner Analyse leicht die entscheidende Grenze finden. Vor dem Krieg und nach dem Krieg. Nicht, dass der Krieg in vielen Fragen die Hauptrolle gespielt hätte, auch kann man nicht sagen, dass er die Lösung zahlreicher Theorien und Themen oder Veränderungen begünstigt hätte, deren Kommen bereits erahnt werden konnte; dennoch haben wir nach dem Krieg nicht viele Dinge in demselben Zustand wiedergefunden, in dem wir sie zurückgelassen hatten. Und die Änderung ist radikal. [...] der Blickwinkel unserer Betrachtungsweise hat sich nahezu diametral verändert74. Der Erste Weltkrieg hatte die Grundfesten des Denkens erschüttert und dadurch die sich am Horizont abzeichnenden Wandlungen in extremer Weise beschleunigt. Da sich die Welt markant verändert hatte, konnten Martinůs Standpunkt entsprechend die ästhetischen Vor72 Zitat Martinů, Ke kritice současné hudby [Zur Kritik an zeitgenössischer Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 41. 73 Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 317. 74 Zitat Martinů, Tvůrce Tristana [Der Schöpfer des Tristan] (1933), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 92. 17 stellungen unmöglich bestehen bleiben, hätte doch die Kunst dadurch unweigerlich den Bezug zur Wirklichkeit und damit ihre Glaubwürdigkeit verloren75. Folglich entsprang ein neuer musikalischer Ausdruck einer Notwendigkeit, denn ebenso wie die Ideale der Vorkriegszeit ihre Bedeutung eingebüsst hatten, war auch die Musiksprache des Impressionismus kein adäquater Ausdruck für die Geisteshaltung der Nachkriegszeit: Selbst der verfeinerte, raffinierte Impressionismus mit seinen individuellen Geschmäckern reicht nicht mehr aus [...]. Er ist zu zerbrechlich geworden für Hände, die während langer Zeit nur Waffen trugen76. Zerschellten die individualistischen Sehnsüchte des ‚Fin de siècle‘ und deren impressionistisches Abbild an der Realität des Krieges, so war die subjektive Gefühlsbezogenheit romantischer Kompositionen endgültig suspekt geworden. Gerade die dieser Musik zugrundeliegenden „Programme“ – sei es die Beschreibung des Gefühlslebens oder einer metaphysischen Idee –, avancierten zum zentralen Kritikpunkt, da die aussermusikalischen Parameter der allgemeinen Ernüchterung unmöglich Rechnung tragen konnten77. Idealen wurde grundsätzlich misstraut, weshalb selbst das heroische Moment der Romantik keinen Platz mehr finden konnte, hatten doch die Helden der Tragödien ihren Glanz verloren. Hunderttausende Menschen tragen Gefechte aus, einigen sich, gewinnen, verlieren, ohne dass sie sich in irgendeiner Weise heroisch fühlen würden. Es ist einfach das Leben [...]. Die Leute haben selbst Tragödien durchlebt, so dass diese zur normalen Erscheinung, alltäglich geworden sind. Das Publikum hat das Spiel bald durchschaut. Es glaubt nicht mehr daran [...] 78. Da die Kunst ihre Ideale eingebüsst hatte, war es unumgänglich geworden, analog zu den übrigen Lebensbereichen nach einem neuen Ausdruck zu suchen, eine Tendenz, die sich etwa in der französischen Musik bereits durch Roussel und Ravel abgezeichnet habe, gleichsam als Stufe zwischen Vincent d’Indy und Debussy einerseits sowie den Komponisten der Nachkriegszeit andererseits79. Die allgemeine Ernüchterung hatte althergebrachte Werte vom Sockel gestürzt, infolgedessen jedes neue kompositorische Ziel unweigerlich von der grundsätzlichen Frage nach dem eigentlichen Wesen der Musik ausgehen musste. Die Besinnung 75 Vgl. Martinů, O současné hudbě [Über zeitgenössische Musik] (1928), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 82. 76 Zitat Martinů, Současné směry v hudbě francouské [Zeitgenössische Richtungen in der französischen Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 44. 77 Zitat Martinů, O současné hudbě [Über zeitgenössische Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 76. 78 Vgl. Martinů, O současné hudbě [Über zeitgenössische Musik] (1928), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 82. 79 Vgl. Martinů, Současné směry v hudbě francouské [Zeitgenössische Richtungen in der französischen Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 44. 18 auf musikalische Grundlagen kam vor diesem Hintergrund jedoch keiner Abkehr von der Realität gleich, sondern entsprach laut Martinů direkt der gesellschaftlichen Situation, die vom Streben nach einer neuen Objektivität gekennzeichnet war. [...] die Musik hat sich nicht vom „Leben“ abgewendet, sondern sich im Gegenteil wieder an dieses angelehnt. Sie hat alle diese Ideologien, alles, was künstlich konstruiert worden war, geleugnet, und ist nicht ausdruckslos geworden; sie stellte sich nur gegen dieses Umkippen, Verdrehen der Werte, kurz: gegen leere Phrasen. Selbstverständlich suchte sie die Rettung im Element der Musik selbst, und dies ist das schönste Merkmal der ganzen Bewegung 80. Da gemäss Martinůs Auffassung die Suche nach der Musik selbst im Sinne einer ‚musique pure‘ als logische Folge der politischen Umwälzungen durch den Ersten Weltkrieg zu verstehen war, musste es sich hierbei um ein europäisches Phänomen handeln, das sich weder auf Frankreich beschränkte, noch als blosses Programm einer einzelnen Richtung definiert werden konnte. Allein wegen dieses umfassenden Verständnisses des neuen Stils konnte er Schönberg und Strawinsky in einem Atemzug zu dessen prominentesten Vertretern erklären, war das proklamierte Ideal doch auf der Ebene abstrakter Ziele, nicht aber konkreter Kompositionstechniken angesiedelt81. Ausgehend von den zentralen Parametern, nämlich die Abkehr von der Romantik und deren ‚Subjektivität‘ sowie die Suche nach einem ‚objektiveren‘ Verhältnis von Inhalt und Form, lässt sich die beschriebene Geisteshaltung durchaus als eine ‚klassizistische‘ bewerten, wobei der problematische Begriff in seiner weitesten Bedeutung zu begreifen ist82. Aus mehreren Gründen bietet es sich in diesem Zusammenhang an, den ‚Klassizismus‘ nicht als Terminus für konkrete Kompositionspraktiken heranzuziehen, was zwingend zur Benennung von Unterkategorien führen müsste, sondern ihn als wenig distinkte Grundidee zu belassen, nicht unähnlich der Vorgehensweise Kurt Westphals, den ‚neuen Klassizismus‘ als Epochenbegriff für die damals nahe Vergangenheit und Gegenwart zu verwenden83. Eine Differenzierung ‚klassizistischer‘ Termini für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dagegen bereits dann fragwürdig, wenn man berücksichtigt, dass die einzelnen Schattierungen von Klassizismus, Junger oder Neuer Klassizität, Neuklassizismus, Neoklassizismus, Néoclassicisme, Nouveau Classicisme erstens nahezu unmöglich von einer 80 Zitat Martinů, O současné hudbě [Über zeitgenössische Musik] (1928), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 83. 81 Zitat Martinů, Současná hudba ve Francii [Zeitgenössische Musik in Frankreich] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 46; vgl. Martinů, Současné směry v hudbě francouské [Zeitgenössische Richtungen in der französischen Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 45. 82 Vgl. Diepgen, Innovation oder Rückgriff?, S. 17. 83 Westphal, Die moderne Musik (1928), S. 88-97; vgl. Diepgen, Innovation oder Rückgriff? (1997), S. 230. 19 Sprache in die andere übersetzt werden können, ohne entscheidende inhaltliche Verschiebungen nach sich zu ziehen, und dass zweitens selbst innerhalb derselben Sprache die Bedeutung der einzelnen Bezeichnungen selten auf einen Nenner zu bringen sind84. Obwohl es unter gewissen Aspekten durchaus sinnvoll sein mag, den Terminus aufzufächern, etwa für eine begriffsgeschichtliche Darstellung des keineswegs wertneutralen ‚Neoklassizismus‘ oder bei expliziten Stellungnahmen einzelner Komponisten, so sticht dennoch ins Auge, dass erst eine akribische Unterteilung zu konkreten Merkmalen führt, die im Extremfall für jeden Autor neu bestimmt werden müssen85. Mit Blick auf das zu thematisierende Opernschaffen ist es zweifellos wenig sinnvoll, nach einem treffenden ‚klassizistischen‘ Unterbegriff für Martinůs Werk der Zwischenkriegszeit zu suchen86. So spricht zunächst dagegen, dass sich Martinů selbst offenkundig von jeglicher Klassifizierung durch die allgegenwärtige Vielzahl von Schlagworten distanzierte und sich stattdessen auf eine allgemeine Grundstimmung bezog, indem er sich der Kernbegriffe der damaligen Diskussion bediente, ohne auch nur ein einziges der kursierenden ‚Klassizismus‘-Derivate zu nennen87. Dementsprechend stellte er sich etwa auf den entgegengesetzten Standpunkt von Wagners Prinzipien, und verlangte ausgehend vom Ideal der reinen Musik nach einer grösstmöglichen Kongruenz von Inhalt und Form – wobei in jedem Fall die Grenzen der musikalischen Möglichkeiten zu respektieren seien –, ohne aber mit einem konkreten 84 Das allgemeine Problem einer stringenten Definition ‚klassizistischer‘ Unterkategorien zeigt sich besonders deutlich beim Begriff des ‚Neoklassizismus‘. Da bereits der ‚Klassizismus‘ ein überaus vages Stichwort darstellt, dessen Bedeutung sich für das 19. und 20. Jahrhundert kaum konkretisieren lässt, ist es nahezu unmöglich, überhaupt eine sinnvolle Abgrenzung durch den Begriff ‚Neoklassizismus‘ zu erwirken. Dies um so mehr, als dieser Terminus der französischen Diskussion um Werke aus einer Zeit entsprungen ist, von der sich die Vorsilbe ‚Neo‘ unter anderem abgrenzen soll, nämlich von les œuvres de Brahms et des néoclassiques allemands. Zitat d’Indy, Cours de Composition Musicale (1909), S. 427; zum ‚Néoclassicisme‘ in Frankreich 1870-1914 siehe u.a. Messing, Neoclassicism in Music, S. 1-59. Vgl. auch Faure, Du néoclassicisme musicale dans la France du premier XXe siècle (1997). 85 Gereon Diepgens Studie zur Begriffsgeschichte des ‚Neoklassizismus‘ kam offenbar so zustande, dass der Autor für das eigentliche Thema (den Neoklassizismus in Deutschland 1945-50) erst einer Klärung des Terminus bedurfte. Die Frage nach Bedeutung und Herkunft des Begriffs erwies sich im Verlaufe der Forschungen als so komplex, daß sich der Verfasser dazu entschied, auf eine musikanalytische Studie der Zeit zu verzichten und eine ausschließlich begriffsgeschichtliche Untersuchung vorzunehmen. Zitat Diepgen, Innovation oder Rückgriff?, S. 9. 86 Wenn der bei Schott unter Vertrag stehende Martinů von Andreas Liess im Verlagsorgan zum Neoklassiker von reinstem Wasser erklärt wurde, besagt dies mehr über die damaligen Verkaufsstrategien des betreffenden Verlages, als über den Komponisten selbst. Liess, Bohuslav Martinů (1932), S. 41. Auch Philippi verzichtet in ihrem Aufsatz über Martinůs Konzert für Cembalo und kleines Orchester sowie das Doppelkonzert auf eine präzisere Differenzierung und stützt sich stattdessen auf den wertneutralen sowie weitgehend indistinkten Begriff der auf Busoni rekurrierenden ‚Klassizität‘; Philippi, Die neue Klassizität im Instrumentalschaffen von Bohuslav Martinů, S. 221-235. 87 Zitat Martinů, O současné hudbě [Über zeitgenössische Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 78. 20 Schlagwort aufzuwarten88. Zwar war er Teil der ‚Ecole de Paris‘, der ausserdem Marcel Mihalovici, Tibor Harsany, Conrad Beck und etwas später Alexander Tscherepnin, Alexander Tansman sowie Alexander von Spitzmüller angehörten, nur führt der auf den Verleger Michel Dillard zurückgehende Name insofern in die Irre, als es weder ein eigentliches Programm, noch ein erkennbares Lehrer-Schüler-Verhältnis gab, weshalb es sinnvoller ist, von einer losen Gruppe ähnlich Gesinnter, denn von einer wirklichen Schule zu sprechen89. Auch Martinůs Mitgliedschaft im Aktivkomitee der ,Société Triton‘ zeugt von einem regen Interesse an neuen Kompositionen, verknüpft mit einem Verzicht auf dogmatische Diskussionen, ging es in der von Pierre-Octave Ferroud gegründeten Gesellschaft zur Aufführung zeitgenössischer Musik doch hauptsächlich darum, eine Plattform für eine Vielfalt neuer Werke anzubieten90. Während für eine Annäherung an Martinůs Musikauffassung die Frage nach einem konkreten ‚klassizistischen‘ Etikett in Anbetracht der latenten Beliebigkeit kaum von Interesse sein kann, ist ungleich entscheidender, welche Bedeutung dem Bezug zur Vergangenheit auf der Suche nach einem ‚klassischen‘ Gleichgewicht zwischen Inhalt und Form zukam. Wenn Martinů dafür plädierte, nach einem Ausgangspunkt in der vorromantischen Zeit zu suchen – denn an diesen knüpft der neue, rein musikalische Ausdruck an –, muss dies als ausschliesslich abstrakte Forderung verstanden werden, auch wenn die Idee einer kompositionstechnischen Regression durch die Formulierung hindurchschimmern könnte91. Gerade weil Martinů aber von einem Musikverständnis ausging, das auf einem unauflöslichen Zusammenhang zur jeweiligen Geisteshaltung beharrte, konnte er unmöglich den Rückgriff auf ehemalige Kompositionspraktiken gutheissen, verlangte doch jede Zeit nach ihrem eigenen Ausdruck. 88 Zitat Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 323; Zitat Martinů, Ke kritice současné hudby [Zur Kritik an zeitgenössischer Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 41; vgl. Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus ‚Marienspiele‘] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 207. 89 Zur ‚Ecole de Paris‘ siehe u.a. Březina, Ecole de Paris – fikce nebo skutečnost? [Ecole de Paris – Fiktion oder Wirklichkeit?] (Druck in Vorbereitung); Nicole Labelle, Roussel, Martinů et la presse musicale tchèque, in: Březina, Prager Musikleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts (2000), S. 107; Melkis-Bihler, Pierre-Octave Ferroud (1900-1936) (1995), S. 249 f.; Labelle, Albert Roussel (1995), S. 318; Halbreich, Bohuslav Martinů (1968), S. 27; Large, Martinů (1975), S. 38 f.; Jaroslav Mihule, Pařížská škola [Die Pariser Schule], in: Macek, Colloquium Bohuslav Martinů (1990), S. 102-104; Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés à Paris de 1871 à 1939 (1997), S. 204. 90 Zum ‚Triton‘ sowie zur nachfolgenden Vereinigung, der ‚Société de la Musique Contemporaine‘, in der neben Charles Munch auch Martinů eine wichtige Rolle spielte, siehe u.a. Mihule, Martinů (2002), S. 204, 305; Melkis-Bihler, Pierre-Octave Ferroud (1900-1936) (1995), S. 433-466; Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés à Paris de 1871 à 1939 (1997), S. 80, 133-144. Zum Verhältnis zwischen Ferroud und Martinů vgl. Ferroud, Bohuslav Martinů (1936), S. 497-501. 91 Martinů, O současné melodii [Über die zeitgenössische Melodie] (1926), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 79. 21 Folglich konnten neue Werke, die sich klassischer oder vorklassischer Modelle bedienten, ohne sich am gegenwärtigen Stand kompositorischer Neuerungen zu orientieren, bloss ein modischer Ausdruck des damaligen Geschmacks, niemals aber Teil einer wirklichen Entwicklung sein – ein Verdikt, das in besonderem Masse auf die späten Satie-Schüler der ‚Ecole d’Arcueil‘ gemünzt war92. Die neue junge Gruppe [‚Ecole d’Arcueil‘] hat zwar einen kämpferischen Charakter, aber nur fürs Auge. In Wirklichkeit ist daran nichts kämpferisch, aber vieles bequem. Bei dieser Gruppe scheint es, dass sie mit einer ungeheuren Freude die Rückkehr zum „Klassizismus“ begrüsst hat. Aber es ist dies bei ihnen ein Klassizismus, der nicht die harte Schule der modernen Möglichkeiten, neuen Bestrebungen und neuen Ideen durchlaufen hat. Und so hören wir moderne Kompositionen, die Haydn auffallend ähnlich sehen, ohne eine besondere Idee, gut gemacht, die von einer gewissen Fähigkeit und Kenntnis zeugen, aber mit Sicherheit keine Lösung bedeuten und auch ohne besonderes Interesse für uns sind. [...] Aber charakteristisch ist bei ihnen diese Rückkehr zu einer übertriebenen, gewollten Einfachheit, die alle Möglichkeiten völlig beiseite lässt, die der Aufschwung der modernen Musik gebracht hat93. Verurteilte Martinů den imitatorischen Rückgriff von Saties Schülern aufs Schärfste, so stand er auch dem ‚Groupe des Six‘ sehr kritisch gegenüber, dessen Komponisten er entgegen der vorherrschenden Meinung keineswegs für die Begründer des neuen Stils hielt, lagen doch die im schönen Programm beschriebenen Ideale ohnehin ‚in der Luft‘94. Diese Auffassung gründete auf einer negativen Einschätzung von deren Werken, wobei er allen ausser Honegger vorwarf, dass sich die Umsetzung der proklamierten Ideale sehr an der Oberfläche abspielen würde und keineswegs die Ernsthaftigkeit Strawinskys oder Schönbergs aufweise; auch sah er bereits Zerfallserscheinungen, die ihn vermuten liessen, dass der ‚Groupe des Six‘ bald von der ‚Ecole d’Arcueil‘ verdrängt würde95. In Anbetracht von Martinůs fehlendem Interesse am ‚Groupe des Six‘, den er als gänzlich überschätzt empfand, kann nicht erstaunen, dass sich 92 Zitat Martinů, O současné hudbě [Über zeitgenössische Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 78. Die ‚Ecole d’Arceuil‘ bestand aus einer Gruppe junger Komponisten, die sich im Jahr 1923 um Eric Satie bildete, bestehend aus Roger Desormière, Jacques Benoit-Méchin, Maxime Jacob, Henri Saguet. Siehe u.a. Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 50; Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés à Paris de 1871 à 1939 (1997), S. 162, 216. 93 Martinů, Dnešní hudební Pařiž [Das heutige musikalische Paris] (1927), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 51. 94 Vgl. Martinů, Současné směry v hudbě francouské [Zeitgenössische Richtungen in der französischen Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 46; Zitat Martinů, Současná hudba ve Francii [Zeitgenössische Musik in Frankreich] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 49. 95 Zitat Martinů, Současná hudba ve Francii [Zeitgenössische Musik in Frankreich] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 48; vgl. Martinů, Současné směry v hudbě francouské [Zeitgenössische Richtungen in der französischen Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 46. 22 abgesehen von den ‚in der Luft liegenden‘ Grundzügen auch keine grösseren Parallelen zu Jean Cocteaus Schriften finden lassen. Zwar suchte Martinů nach einem vorromatischen Gleichgewicht aller musikalischen Elemente, nur musste dieses Ziel mithilfe eines neuen musikalischen Idioms angestrebt werden: Gerade jetzt beginnt eine neue Epoche, und dies eine der grössten und schönsten, ein Stadium, in dem sich etwas wirklich Neues entwickelt96. Indem Martinů den Standpunkt eines prospektiven ‚Klassizismus‘ vertrat, wonach durch eine Synthese aller kompositorischen Errungenschaften erst etwas wirklich Neues erreicht werden musste, rückte er in unverkennbare Nähe zu den Idealen Ferruccio Busonis und Alfredo Casellas97. Trotz zahlreicher Parallelen findet sich ein offenkundiger Unterschied hinsichtlich der angekündigten neuen Epoche im zugrundeliegenden geschichtlichen Bewusstsein: Während Busoni – hauptsächlich in seinem frühen Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst – die Musik vergangener Jahrhunderte als blosse Vorstufe zur eigentlichen ,Klassik‘ erachtete, da eine vollgültige Musik niemals existiert habe, gründete Martinůs vergleichbare Zielsetzung in einem impliziten Historismus98. Im Gegensatz zum weitgehend absolut gedachten Musikverständnis Busonis, erweist sich Martinůs schliesslich insofern als historistisches, als dieses von einem zwingenden Zusammenhang zwischen jeweiliger Zeit und dazugehörigem musikalischem Ideal ausgeht. Da sich die Welt nach dem Ersten Weltkrieg radikal verändert hatte – der revolutionäre Geist wehte über der ganzen Welt –, konnte auch die Musikauffassung nicht dieselbe bleiben, so dass die Suche nach einem neuen Ideal unausweichlich wurde99. Die Avantgarde erschien, auf der Grundlage des von Dahlhaus beschriebenen Phänomens, als Gebot der Stunde: Der Historismus als Denkform und der Geist der Avantgarde sind also durchaus nicht unvereinbar; sie stützen sich sogar eher, als daß sie sich durchkreuzen100. 96 Vgl. Martinů, O současné melodii [Über die zeitgenössische Melodie] (1926), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 80 f. Zitat Martinů, Ke kritice současné hudby [Zur Kritik an zeitgenössischer Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 43. 97 Zitat Martinů, O současné hudbě [Über zeitgenössische Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 78. Vgl. Alfredo Casella (1918), zitiert nach Ludwig Finscher, Altes im Neuen, in: Boehm/Mosch/Schmidt, Canto d’Amore (1996), S. 68: [...] daß unsere Musikalität sich in Richtung auf eine Art Klassizismus entwickelt, der in einem harmonischen Gleichmaß alle jüngsten italienischen und fremden Neuerungen zusammenfassen wird. Siehe auch Busoni, Junge Klassizität [‚Klassizitätsbrief‘ an Paul Bekker] (1920), in: Ders., Von der Einheit der Musik, S. 276 f.: Unter einer „jungen Klassizität“ verstehe ich die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente: ihre Hineintragung in feste und schöne Formen [alles gesperrt gedruckt]. Zur Rezeption von Busonis Schriften in Frankreich ab den 1920er Jahren siehe Roberge, Ferruccio Busoni et la France, S. 297 f. 98 Vgl. Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1908/21916). 99 Zitat Martinů, Současné směry v hudbě francouské [Zeitgenössische Richtungen in der französischen Musik] (1925), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 46. 100 Dahlhaus, Was ist musikalischer Historismus? (1973), S. 52. 23 Der ‚Klassizismus‘ der Zwischenkriegszeit wird unter den genannten Vorzeichen zu einem Ausdruck der damaligen Avantgarde, eine Schlussfolgerung, die einer weitverbreiteten Sichtweise diametral entgegenläuft, wie sie Gian Mario Borio formuliert hat: Der Grundkonflikt in der Musik des 20. Jahrhunderts ist der zwischen Avantgarde und Klassizismus101. So unermüdlich dieser Antagonismus bemüht wird, so unbefriedigend wirkt das Verdikt jenseits von Kompositionen eines regressiven ‚Neoklassizismus‘. Unter dem Eindruck der musikalischen Neuerungen nach 1945 sowie der daraus resultierenden Auffassung davon, was unter Avantgarde zu verstehen sei und was nicht, zeugt die Einschätzung mehr von einer rückblickenden Wertung als von einer tatsächlichen Annäherung an die Situation vor 1939. Nicht zwei verhärtete Fronten in der Person von Strawinsky einerseits und derjenigen von Schönberg andererseits prägten das Musikleben der Zwischenkriegszeit, sondern eine Vielfalt von Stilen, die nicht nur in der Rezeption des damaligen Publikums als disparate Teile einer Grundtendenz verstanden wurden – als Antagonismus erschien wohl vielmehr die neue Musik im Gegensatz zu den Werken der Spätromantik. Zwar wurde die Stichhaltigkeit des von Boris de Schloezer erstmals formulierten Konstruktes Strawinsky versus Schönberg wiederholt in Zweifel gezogen, dies jedoch in der Regel mit dem Argument, dass Schönberg durchaus eine ‚klassizistische‘ Auffassung eignete, nicht dagegen mit Blick auf das avantgardistische Potenzial eines der Regression verdächtigen ,Klassizismus‘102. Während die dem Antagonismus immanente Wertung aber spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg darauf zielte, Schönbergs ,Zweite Wiener Schule‘ zur alleinigen Spitze der Zwischenkriegs-Avantgarde zu erklären, hatte Schloezer mit der Nennung derselben Namen ein genau entgegengesetztes Ziel verfolgt, war es ihm doch darum gegangen, den classicisme des ‚zeitgenössischen‘ Strawinsky dem romantisme des ‚gestrigen‘ Schönberg klar vorzuziehen103. In Martinůs Opernschaffen der Zwischenkriegszeit tritt das vermeintliche Paradoxon eines avantgardistischen Impetus des ‚Klassizismus‘ deshalb besonders deutlich zutage, weil der Komponist die ‚klassizistisch‘ motivierte Abkehr vom Musikdrama auf der Folie von Textbü- 101 Zitat Gianmario Borio, Avantgarde und Klassizismus – eine Antithese?, in: Boehm/Mosch/Schmidt, Canto d’Amore (1996), S. 368. 102 Siehe Schloezer, Igor Strawinsky (1923/24), S. 132 f. Vgl. u.a. Christian Martin Schmidt, Wiener Schule und Klassizismus, in: Boehm/Mosch/Schmidt, Canto d’Amore (1996), S. S. 358-366; Stephan, Schönberg und der Klassizismus (1985), S. 146-154. 103 Schloezer, Igor Strawinsky (1923/24), S. 132 f. Siehe auch Diepgen, Innovation oder Rückgriff?, S. 33-35; Ludwig Finscher, Altes im Neuen, in: Boehm/Mosch/Schmidt, Canto d’Amore (1996), S. 71-73. 24 chern verfolgte, die allesamt der damaligen Theateravantgarde entsprangen104. Die Geisteshaltung der betreffenden Vorlagen erfüllte in geradezu idealer Weise Martinůs Ziel einer Entdramatisierung und Desentimentalisierung der Bühne und damit die ins Musiktheater übersetzte Forderung eines ‚objektiven‘ Ausdrucks anstelle eines gefühlsorientierten ‚Subjektivismus‘105. [...] [in der Oper nach Wagner] richtet sich die musikalische Form nach dem Gefühl und formt so diese unendliche Melodie, eine Form, die zwar gleichsam mit Musik angefüllt ist, aber auf der Grundlage anderer Regeln als derjenigen der logischen Entwicklung musikalischer Formen; es ist gewissermassen eine literarisch-musikalische und expressionistische Form. In der Oper, diesem komplizierten Gebilde, wo der literarischen Komponente eine wichtige Rolle zukommt, ist dies bis zu einem gewissen Punkt ein logisches Verfahren, oder sogar ein notwendiges und in der Romantik das einzig mögliche. Wir urteilen dieses Verfahren nicht ab, müssen aber feststellen, dass es besonders in der Zeit nach Wagner stark missbraucht wurde. Aufgrund der bisherigen Erfahrung sehen wir, dass die Oper in eine Sackgasse gelangt ist [...]. Der Kult der nachwagnerschen Oper und Wagners selbst ist zu einer gesellschaftlichen Konvention geworden [...]. (Ich erwähne nicht den gegenwärtigen Moment, wo Wagners Musik und Reform zu anderen Zwecken als zu rein künstlerischen dienen.) 106. Dass Martinů hinsichtlich des Ideals einer ‚reinen Musik‘ insbesondere die diagnostizierte Vorrangstellung des Gefühls und des Wortes zu überwinden beabsichtigte, um dem Ton zu einer weitgehend unabhängigen Form zu verhelfen, bildet gleichsam den roten Faden durch sein damaliges Opernschaffen. Diesem liegt eine Entwicklung zugrunde, die mit den frühen ,Zeitopern‘ begann, über die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Vorlagen führte und schliesslich im ,lyrischen Singspiel‘ Juliette ein vorläufiges Ende fand. Anhand von drei zentralen Opern sollen diese unterschiedlichen Phasen von Martinůs Bühnenschaffen der Zwischenkriegszeit exemplarisch dargelegt werden. Bei den ausgewählten Werken handelt sich um die letzte fertiggestellte ,Zeitoper‘ namens Les trois Souhaits ou Les Vicissitudes de la vie auf ein Libretto von Georges Ribemont-Dessaignes, des weiteren um Hry o Marii (Marienspiele), das Kernstück der tschechischen Trilogie auf ein Libretto von Vítězslav Nezval, Henri 104 Nicht berücksichtigt werden diejenigen Opern, die Martinůs nach der langen Pause von 1937 bis 1951 verfasst hat – eine Lücke von vierzehn Jahren, in die mit seinem amerikanischen Exil unter anderem alle sechs Symphonien fallen. Die nach dieser langen Unterbrechung komponierten Opern der Nachkriegszeit entstanden folglich unter völlig anderen Vorzeichen, weshalb die Werke von What Men Live by (1951-52) bis zur Griechischen Passion (1956-59) in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt werden. 105 Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 222. 106 Ebd., S. 216 f. 25 Ghéon, Vilém Závada, Julius Zeyer und Bohuslav Martinů, sowie schliesslich um Juliette – Snář (Juliette – Das Traumbuch) nach dem gleichnamigen Theaterstück von Georges Neveux107. Die Frage, mit welchen Mitteln Martinů die Sackgasse der Oper zu überwinden gedachte, und welche Bedeutung den aktuellen Theaterrichtungen bei diesem Unterfangen zukam, steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie108. Über die blossen Textvorlagen hinaus reichen die jeweiligen Geisteshaltungen bis in den musikalischen Satz hinein, was im Fall von Les trois Souhaits zu einer dadaistischen Legitimation der ‚Zeitoper‘ führte, in Juliette dagegen eine surrealistisch gefärbte Objekthaftigkeit musikalischer Motive bedingte, die letztlich eine Annäherung von Wort und Ton erst wieder möglich machte. Trotz der engen Verknüpfung zwischen Dadaismus beziehungsweise Surrealismus einerseits und der Gattung Oper andererseits, geht es keineswegs darum, Martinů zu einem dadaistischen oder surrealistischen Revolutionär zu erklären, würde dies doch die tatsächliche kausale Verkettung ins Gegenteil verkehren. Schliesslich war es die Idee, die Musik vom Wort zu emanzipieren, welche ihn zum Griff nach der damaligen Theateravantgarde veranlasste, nicht aber das zwingende Ziel einer surrealistischen Revolution, das ihn nach einer neuen Opernform suchen liess109. Zwischen der dadaistischen und der surrealistischen Ausformungen eines – im abstrakten Sinne – ‚klassizistisch‘ motivierten Musiktheaters steht mit Špalíček (1931-32), Hry o Marii (Marienspiele, 1933-34) und Divadlo za bránou (Das Vorstadttheater, 1935-36) eine Trilogie, in der sich Martinů explizit um eine grösstmögliche Eigenständigkeit sämtlicher Bühnenmittel nach dem Vorbild des mittelalterlichen Theaters bemühte. In der Auseinandersetzung mit der damals allgegenwärtigen Entdeckung von Mysterienspielen und Volkstheater spiegelten sich nicht zuletzt die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die den ‚Années folles‘ ein jähes Ende bereitet hatte. Da angesichts der lähmenden Unsicherheit der damaligen Lage 107 Les trois Souhaits ou Les Vicissitudes de la vie, komponiert zwischen Herbst 1928 und dem 28. Mai 1929, Uraufführung am 16. Juni 1971 im Brünner Staatstheater; Hry o Marii (Marienspiele), komponiert zwischen Mai 1933 und dem 10. Juli 1934, Uraufführung im Brünner Landestheater am 23. Februar 1935; Juliette – Snář (Juliette – Das Traumbuch), komponiert vom 17. Mai 1936 bis zum 24. Januar 1937, Uraufführung am 16. März 1938 im Prager Nationaltheater. 108 Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 216. 109 Trotz dieser Einschränkung muss die von Martinů in späten Jahren formulierte Ablehnung des Surrealismus primär als Ausdruck einer späten Ernüchterung gedeutet werden. Schliesslich offenbart Martinůs Kritik eine tiefe Enttäuschung über eine Vereinigung, die zunächst utopische Ideale verfolgt hatte, deren Vertreter in vielen Fällen aber zu kommunistischen Funktionären geworden sind. Dies betrifft nicht zuletzt Vítězslav Nezval – einer der Librettisten der Hry o Marii –, der als Mitbegründer der poetistischen sowie der surrealistischen Gruppe in Prag begonnen hatte, um zwei Jahrzehnte später als „Nationaler Künstler“ zum Vorzeigeintellektuellen der tschechoslowakischen Kommunisten zu avancieren. Vgl. Mihule, Martinů (2002), S. 461. 26 plötzlich die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers in den Vordergrund rückte, und es galt, bleibende gesellschaftliche Werte zu definieren, musste der dadaistische Nihilismus zwingend einem neuen Entwurf weichen, der über die blosse Negation hinausging. Im Gegensatz zu dieser Trilogie im allgemeinen und den Hry o Marii im besonderen, die letztlich auf der Intention beruhten, das tschechische Opernpublikum an das moderne Musiktheater heranzuführen, ist bei Juliette keinerlei ‚didaktische‘ Absicht mehr erkennbar. Vielmehr erweist sich der surrealistische Traum des Protagonisten als Voraussetzung dafür, eine Art von musikalischer Phantasie zu verfassen und damit ein hohes Mass an kompositorischer Freiheit zu erlangen110. Während die Idee einer musikalischen Phantasie insofern bereits in die späteren Jahre verweist, als damit eine Form verbunden war, die etwa in Martinůs sechster Symphonie (Fantaisies symphoniques, 1951-53) gipfeln sollte, bildete Juliette gleichsam den Schlusspunkt von Martinůs Opernschaffen der Zwischenkriegszeit111. Dieses ,lyrische Singspiel‘ markiert das Ende einer lange währenden Suche nach einer positiv begründeten Opernform, der zwei Phasen vorausgegangen waren: Ermöglichte in den zwanziger Jahren allein das parodistische Moment der ,Zeitopern‘ die Komposition von Bühnenwerken, so kennzeichneten insbesondere die Hry o Marii einen Wendepunkt, an dem Martinů nach möglichen Wurzeln des Musiktheaters zu suchen begann, um daraus überhaupt eine Legitimation für die Gattung abzuleiten. Es stellt ein Charakteristikum von Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit dar, dass der Komponist das Vakuum, das durch die Ablehnung des Musikdramas entstand, zu kompensieren suchte, indem er sich an aussermusikalischen Gegebenheiten des Theaters orientierte. Da er – infolge seines historistischen Musikverständnisses – auf der Suche nach einer der Zeit adäquaten Opernform war, lag der Griff zur aktuellen Theateravantgarde nahe. 110 Zitat Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 276. 111 Zu den Spuren von Juliette in Martinůs späteren Werken siehe u.a. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus, S. 320-327; Lambert, Desperately seeking Julietta, S. 35-40. 27 28