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Zentrum für
Medizinische Ethik
MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN
Heft 39
MEDIZINISCHE FÄLLE FÜR DIE ETHISCHE DIAGNOSE I
Fälle vorgestellt von:
Jürgen Paul Barmeyer
Mechthild Hahn
Bernd Roth
Joachim Schara
Christian Schumann
November 1988
Nachdruck Juli 1996
1
Herausgeber:
Prof. Dr. med. Klaus Hinrichsen
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Herbert Viefhues
Zentrum für Medizinische Ethik Bochum
Ruhr-Universität
Gebäude GA 3/53
44780 Bochum
TEL (0234) 700-2750/49
FAX +49 234 7094-288
Email: [email protected]
Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/zme/zme.html
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des
ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren
verantwortet.
Schutzgebühr:
Bankverbindung:
DM 10,00
Sparkasse Bochum
Kto.Nr. 133 189 035
BLZ: 430 500 01
ISBN 3-927855-XX-X
2
ZUSAMMENFASSUNG: Dieses Heft stellt 5 Diskussionen zur ethischen Analyse
medizinethischer Fälle zusammen, die im Rahmen des I. Forschungskolloquiums zur ethischen
Fallanalyse des Zentrums für Medizinische Ethik im November 1988 durchgeführt wurden. Die
kurzen Gesprächsprotokolle erlauben einen Einblick in die ethischen Probleme, die sich bei der
inhaltlichen und methodischen Analyse und Bewertung von Einzelfällen in der klinischen Praxis
ergeben. Sie stellen zugleich auch einen ersten Test für die praktische Benutzbarkeit des
Bochumer Arbeitsbogens zur medizinethischen Praxis (Heft 2) bei den Güterabwägungen und
Entscheidungsvorbereitungen in der klinischen Einzelfallentscheidung dar.
ABSTRACT: The publication presents 5 discussions of clinical cases. It is a test for the Bochum
Protocol for Ethical Medical Practice.
ISBN 3-927855-XX-X
3
Vorwort
Dieses kleine Heft stellt fünf Diskussionen zur ethischen Analyse medizinischer Fälle
zusammen, die im Rahmen des I. Forschungskolloquiums zur ethischen Fallanalyse des
Bochumer Zentrums für Medizinische Ethik im November 1988 durchgeführt wurden. Die Fälle
wurden vorgestellt von J.P. Barmeyer (Bochum), M. Hahn (Mainz), B. Roth (Köln), J. Schara
(Wuppertal), Chr. Schumann (Hannover). Die kurzen Gesprächsprotokolle erlauben einen
Einblick in die ethischen Probleme, die sich bei der inhaltlichen und methodischen Analyse und
Bewertung von Einzelfällen in der klinischen Praxis ergeben. Sie stellen zugleich auch einen
ersten Test für die praktische Benutzbarkeit des Bochum Arbeitsbogens zur medizinethischen
Praxis (Medizinethische Materialien, Heft 2, 1987) bei den Güterabwägungen und
Entscheidungsvorbereitungen in der klinischen Einzelfallentscheidung dar.
Die Kolloquien zur ethischen Analyse medizinischer Fälle sollen in lockerer Folge
fortgesetzt
werden.
Dabei
werden
weiterhin
vor
allem
methodische
Fragen
der
Fallstudienanalyse, der Gesprächsführung und der Brauchbarkeit unterschiedlicher Hilfsmittel in
den Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungskontrolle im Vordergrund stehen.
An die Falldiskussion schließt sich eine kritische Stellungnahme von Lothar Kuttig,
Münster, zur Diskussion um „Patientenaufklärung und Autonomie“ an.
Hans-Martin Sass
Herbert Viefhues
4
Inhalt
Seite
Ein ethischer Konflikt auf der Intensivstation (J. Schara)
Inkurable Karzinomerkrankung und Patienteneinwilligung (M. Hahn)
3
9
Konservative oder aggressive Therapie der Amyloidose (J.P. Barmeyer)
Angeborenes Nephrotisches Syndrom vom Finnischen Typ (B. Roth)
19
23
Doppelblindstudie mit Antideppressiva (Chr. Schumann)
29
Anhang: L. Kuttig, Patientenaufklärung und Autonomie
35
Liste der Teilnehmer:
Barmeyer, Prof. Dr. med. Jürgen Paul, Ltd. Arzt der Abteilung Kardiologie und Angiologie,
"Bergmannsheil Bochum", Universitätsklinik, Bürkle de la Camp Platz 1, 44789 Bochum
Götz-Claren, Prof. Dr. Wolf, Zur Lindung 81, 40489 Düsseldorf
Grawert, Prof. Dr. jur. Rolf, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Hahn, Dipl. Soz. Mechthild, Leiterin: Sozialdienst des Klinikums der Joh. Gutenberg-Universität,
Langenbeckstr. 1, 55131 Mainz
Hinrichsen, Prof. Dr. med. Klaus, Lehrstuhl für Anatomie I, Fakultät für Medizin, RuhrUniversität Bochum, 44780 Bochum
Kensmann, Dr. Bodo, Philosophisches Seminar der WW Universität Münster, Domplatz 23,
48143 Münster
Kuttig, Dr. Lothar, Philosophisches Seminar der WW Universität Münster, Domplatz 23, 48143
Münster
Püschel, Prof. Dr. Dr. med. Erich, Haarholzer Str. 89, 44797 Bochum
Roth, PD Dr. med. Bernd, Universitätskinderklinik, Steltzmannstr., 50937 Köln
Sass, Prof. Dr. Hans-Martin, Zentrum für Medizinische Ethik, Institut für Philosophie, RuhrUniversität Bochum, 44780 Bochum
Schara, Dr. med. Joachim, Ltd. Med.-Direktor, Institut für Anaestesie, Kliniken der Stadt
Wuppertal, Heusner Str. 40, 42283 Wuppertal
Schumann, Dr. rer. nat. Christian, Leiter Klinische Forschung Deutschland, Duphar Pharma,
Freundallee, 30173 Hannover
Viefhues, Prof. Dr. Josef, Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Wagner, Dr. med. Wolfgang, Ärztlicher Direktor, Duphar Pharma, Freundallee, 30173 Hannover
5
Fall 1
Ein ethischer Konflikt auf der Intensivstation
Falldarstellung: Joachim Schara
Diagnose: Polytrauma bei Betriebsunfall
Der Patient Hans Gerd J. geriet unter einen stürzenden Gabelstapler. Multiple Beckenfrakturen,
Abriß der A. iliaca int. re. und der V. iliaca communis re., ausgedehnte Weichteilquetschung im
kleinen Becken, Abriß der Urethra, offene Unterschenkelfraktur re.
Unfall am 26.10.1988. Der Pat. kann präoperativ nicht kreislaufstabilisiert werden, erst
intraoperativ nach Abklemmen der Aorta abdominalis. Bis zu diesem Zeitpunkt 17 EryKonzentrate, insgesamt bei dieser 1. OP 32 Ery-Konzentrate. Es werden die Gefäße rekonstruiert,
das kleine Becken austamponiert. Fixateur re. Unterschenkel. Bei dem Versuch, ausreichend
Volumen zu substituieren, iatrogen Infusothorax li. Anlage einer Thoraxdrainage.
1. p.o. Tag: Rückläufige Ausscheidung unter Lasix, rascher Anstieg des Serum Kaliums und der
Retentionswerte, Anlage einer Hämofiltration an der li. A. und V. brachialis.
2. p.o. Tag: Ischämie des li. Unterarms, Rekonstruktion der li. A. brachialis und Anlage der
Hämofiltration an die li. A. und V. femoralis. Zunehmende Blutung aus der Blase, Inspektion des
kleinen Beckens nach Tamponadenentfernung und erneute Tamponade wegen heftiger Blutung.
Zunehmende respiratorische Insuffizienz, F102 0,8 PEEP 10, Atemminutenvolumen 15 1/min.,
Harnstoff 85,6, Kreatinin 4,24, Thrombozyten nach der 1. OP 32.000, jetzt 72.000, Quick 49,
PTT 246 unter 15.000 I.E. Liquemin, AT3 54, daraufhin Liquemin ab, 12 Ery-Konzentrate an
diesem Tag.
3. p.o. Tag: Retentionswerte stabil, Thrombozyten 50.000, Gerinnung im Normbereich, jetzt 100
IE. Liquemin/Std., respiratorisch besser. 3 Ery-Konzentrate.
4.-6. p.o. Tag: Anstieg der Retentionswerte: Harnstoff 204, Kreatinin 6,12, Thrombozyten
250.000, respiratorisch gut, Fi02 0,3, PEEP 5. Atemminutenvolumen 10.5 1, 4-6 Ery-Konzentrate
pro Tag.
7. p.o. Tag: Wegen der schwierigen Bilanzierung Pulmonalarterien-Katheder, aufgrund der
ansteigenden Temperaturen Tamponadenwechsen, intraoperativ wiederum massive Blutung, 8
Ery-Konzentrate,
postoperativ
starke
Blutung
6
aus
dem
Becken
sowie
aus
den
Oberschenkelentlastungsschnitten, daraufhin nachts Unterbindung der beiden A.iliicae int. An
diesem Tag 43 Ery-Konzentrate.
8. p.o. Tag: Da weiterhin starke Blutungen und die Thrombozyten jetzt nur 14.000: Gabe von
Frischblut, erneute Revision und Tamponade des kleinen Beckens. Harnstoff 201, Kreatinin 4,28,
Quick 65, sonst Gerinnung im Normbereich.
9. p.o. Tag: Blutungen jetzt geringer, 5 Ery-Konzentrate, Harnstoff 253, Kreatinin 5.3,
Thrombozyten 56.000, Quick 57, Gerinnung sonst im Normbereich, Bilirubin 5,7.
10. p.o. Tag: Erneut Revision, geringe Blutung, Durchblutung der Blase gefährdet, Bilirubin 8,5.
Bis zum 19. p.o. Tag: Patient blutet weiter, zunächst 2, später 4 Ery-Konzentrate pro Tag,
Anstieg der Retentionswerte: Harnstoff 360, Kreatinin 7,3, Kalium 5,24, Thrombozyten ca.
100.000, Quick 33, PTT 50-70 unter 50 bis 100 Einheiten Liquemin pro Stunde, Anstieg des
Bilirubin auf 38,9, Cholinesterase 2,3 kgÜ, Amoniak 59,1. Am 17. p.o. Tag Nachweis von
Candida in der Blutkultur, antimykotische Therapie. Am 19. p.o. Tag erneut stärkere Blutung,
Blutdruckabfall. Am 20. p.o. Tag Entschluß zum Abbruch der Therapie. Zu diesem Zeitpunkt
Kreatinin 7,99, Harnstoff 358,1, Kalium 5,63, Bilirubin 28,62, davon direkt 24,69, Quick 41,5,
PTT 57,7, Thrombozyten 51.000, Liquemin 50 IE/Stunde.
Insgesamt wurden 148 Ery-Konzentrate gegeben.
Rückwirkend betrachtet, hätten wir die Intensivtherapie hier bereits am 7. oder 8. Tag nach dem
Unfall abbrechen sollen, aber irgendeinen im Behandlungsteam gab es immer, der die Hoffnung
hatte, daß wir es doch schaffen würden.
Falldiskussion
Viefhues: Der Fall ist ein klassisches Beispiel für ethische Dilemmas in der ärztlichen Praxis. Der
Bochumer Arbeitsbogen kann grundsätzlich nicht ins Detail gehen, sondern er soll prinzipiell den
Diskussionsrahmen bilden, in dem das Ärzteteam oder der hauptverantwortliche Arzt mit dem
Patienten und seinen Angehörigen redet.
Sass: Wie gut war die Prognose am Tag der Einlieferung? Was wäre, wenn man die Blutung in
den Griff bekommen hätte?
Schara: Die Prognose war erst etwa ab dem 10. Tag p.o. (nach dem dritten Versuch, die Blutung
zu stoppen) relativ sicher quoad vitam.
7
Von vornherein war aber wahrscheinlich, daß dieser Patient sein Leben lang schwer behindert
bleiben würde, wohl wieder gehfähig, aber kaum arbeitsfähig. Jedoch können auch schwere
körperliche Behinderungen durch entsprechende Einstellung überwunden werden.
Roth: 1. Gab es eine Schocklunge?
2. Gab es eine Tendenz zur Besserung?
Schara: Eine Schocklunge war bald auszuschließen, eine echte Tendenz zur Besserung gab es
jedoch in allen übrigen Parametern nicht.
Vliegen: Ist denkbar gewesen, daß die Blasenfunktion wieder herzustellen gewesen wäre?
Schara: Operative Möglichkeiten, die zerstörte Blase zu ersetzten, die gibt es heute. Die Impotenz
ist nicht zu beheben.
Vliegen: Wäre die Entscheidung bei einem Menschen mit bleibend eingeschränkter
Kommunikationsfähigkeit leichter? Wie sind diese Aspekte in die 'Lebensqualität' mit
einzubeziehen?
Schara: Lebensqualität ist nur individuell vom Betroffenen zu beurteilen. Für mich ist
Lebensqualität ohne Kommunikationsfähigkeit nicht denkbar. Grundsätzlich kann jedoch ein
nicht Betroffener solche Entscheidungen nicht treffen. Maßgeblich ist wohl die bio-psychische
Sphäre des Patienten, d.h. das Gefühl 'gut' zu leben, kann bei gestörter Bio-Sphäre auch durch
eine gut funktionierende Sozial-Sphäre vermittelt werden.
Hahn: Besonders bei solchen Überlegungen fließt die Werthaltung des Arztes mit ein. Bei alten
Menschen fällt es häufig leichter, pro und contra Entscheidungen zu fällen. Was Lebensqualität
ist, läßt sich nur für sich selbst entscheiden. Der Kompensationsgedanke umschließt zwei
Ebenen: 1. die Wertung der Kompensation von außen, 2. die Beurteilung der Kompensation
durch den Handelnden.
Viefhues: Ein Patient, der nach Entlassung aus stationärer Behandlung nicht in der Lage ist zu
kommunizieren, ist auch für seine Angehörigen eine schwere Belastung.
Barmeyer: Der Arzt sollte nicht von vornherein davon ausgehen, daß der Patient im nachhinein
sein Leid ertragen kann. Die Lebensqualität, die der Patient nach einer Behandlung hat, sollte
unbedingt in die Überlegung für oder gegen eine Methode miteinbezogen werden. Dazu gehören
auch Leiden wie ständige Luftnot etc. Der Arzt sollte auf ein adäquates Leben für den Patienten
abzielen und eine Prognose nicht nur 'ad vitam', sondern auch im Hinblick auf Lebensqualität
formulieren.
Schara: Seine zukünftige Lebensqualität haben wir nicht in die Überlegung mit einbezogen. In
anderen Fällen stand diese Frage jedoch schon im Mittelpunkt unserer Überlegungen. Die
8
Kernfrage ist dann aber: Was ist Lebensqualität im individuellen Fall? Zumindest
Kommunikationsfähigkeit müßte erhalten bleiben.
Hinrichsen: In den USA wurde in den 50er Jahren ein Fall diskutiert, bei dem einem Patienten
nach einer Tumoroperation der Unterleib bis oberhalb des Beckens amputiert worden war. Die
Kernfrage war damals, ob es sich nach dieser Operation noch um einen Menschen handelte. Eine
solche Operation wäre auch hier eine sichere Methode des Überlebens gewesen.
Schara: Mental sind wir zu einer solchen Therapie nicht fähig. Die Frage, ob ein Patient auf jeden
Fall leben will, auch wenn er dann ohne Unterleib leben muß, ist seine eigene Entscheidung, sie
kann nicht vom Arzt getroffen werden.
Wagner: Sollte man eine solche Amputation vornehmen?
Schara: Nein - nicht wenn der Patient nicht ansprechbar ist.
Wagner: Wollten die Angehörigen, daß alles technisch Machbare getan wird?
Schara: Zunächst ja - nach 10 Tagen allerdings nicht mehr.
Roth: War nach dem 10. Behandlungstag größerer Konsens unter den behandelnden Ärzten?
Schara: Ja - aber erst nach dem 10. Tag.
Roth: Wann war der Konflikt vollends gelöst?
Schara: Erst am 19. Tag. Auch für das Pflegepersonal war dann der Zustand des Patienten so, daß
sie weitere Therapiemaßnahmen als für sich selber unzumutbar empfanden.
Sass: Wie wurde in der Behandlung des Falles mit der Selbstbestimmung des Patienten
umgegangen?
Schara: Patientenangehörige wurden zu Rate gezogen. Ein Konsens mit dem Patienten war
aufgrund seiner Bewußtlosigkeit unmöglich. Da die Stabilisierung seines Zustandes vorrangig
war, gab es keine Überlegungen zu alternativen Methoden. Nach meiner Meinung hat der Patient
sowohl in medizinischer, als auch in ethischer Hinsicht eine optimale Behandlung erhalten.
Sass: War der 7. Tag maßgeblich für die Weiterbehandlung des Patienten?
Schara: Ja, aufgrund des Dissenses im Ärzteteam. Das Team war nicht bereit zum
Behandlungsabbruch.
Grawert: Ist die Selbstbestimmung oberstes Gesetz? Rechtfertigt die Existenz als solche, den
Pateinten für Jahre in diesem Zustand zu erhalten? Stellte sich die Frage, ob der Mann in seiner
Existenz erhaltenswürdig ist? Und spielten die Kosten, die für die Solidargemeinschaft entstehen
würden, eine Rolle bei den zu treffenden Entscheidungen? - M.a.W. spielte, besonders unter
Berücksichtigung der nicht möglichen Selbstbestimmung des Patienten, die Frage eine Rolle, ob
der finanzielle Aufwand zu groß ist, um gerade diesen Menschen zu erhalten?
9
Schara: Nein! Finanzielle Überlegungen spielten keine Rolle. In bezug auf Selbstbestimmung
handelt es sich hier um Behandlungsführung ohne Auftrag. Die Würde wird bei der Behandlung
verletzt, wenn es allein darum geht, das Sterben eines Menschen zu verlängern. Dieser Punkt
spielte während des gesamten Verlaufs keine Rolle.
Hinrichsen: Kann der Aspekt der Kommunikationsfähigkeit entscheidungsweisend sein?
Schara: In diesem Fall war die Prognose eine auf zwei Ebenen stark eingeschränkte
Kommunikationsfähigkeit.
1. wegen erheblicher körperlicher Schäden,
2. aus mentalen Gründen.
Diese Ebenen müssen unterschieden werden, weil sie jeweils zu unterschiedlichen
Entscheidungen führen können. Mit körperlichen Defiziten können sich viele abfinden. Geistige
Defizite sind nicht zu kompensieren.
Barmeyer: Welches Resümee können wir aus der Diskussion ziehen? Die Frage ist, wie jeder
einzelne von uns gehandelt hätte. Was rät der Jurist?
Grawert: Die Frage ist juristisch nicht relevant.
Viefhues: Wie kommt man mit dem Team und den Angehörigen zu einem Konsens?
Sass: Der Arbeitsbogen ist eine pragmatische Hilfe. Man müßte seinen Fragenkatalog aber für
diesen wie für andere Fälle detaillieren. An welcher Stelle sollte der Arbeitsbogen erweitert
werden?
Schara: Ich habe großes Bedenken gegen solche Listen.
Barmeyer: Der Begriff Lebensqualität sollte bezüglich des Lebens nachher in den Arbeitsbogen
aufgenommen werden. (Z.B. in der Kardiologie der Luftnot des Patienten.)
Viefhues: Wir versuchen, diesen Komplex in eine Form zu bringen, die aufgenommen werden
kann.
Wagner: Eingeschränkte und/oder aufgehobene Möglichkeit zur Selbstbestimmung des Patienten
könnte Grundlage für ein Feinraster des Arbeitsbogens bilden.
Roth: Der psycho-soziale Befund könnte ein 3. Komplex des Arbeitsbogens sein.
10
FALL 2
Inkurable Karzinomerkrankung und Patienteneinwilligung
Falldarstellung: M. Hahn
Frau M.W. wurde 1981 im Alter von 29 Jahren wegen eines Mamma-Karzinoms im Stadium T2
No Mc (Hormonrezeptor Lochpositiv) linksseitig radikal operiert. Keine tumorspezifische
Nachbehandlung. Engmaschige Befundkontrollen bei niedergelassenem Frauenarzt (auf Wunsch
der Patientin).
Zur psychosozialen Situation: anamnestisch "schwere Kindheit": früh verwaist, fremdplaziert
aufgewachsen). Frau W. ist seit 6 Jahren verheiratet und hat 2 Töchter im Alter von 6 und 4
Jahren. Der 33jährige Ehemann ist Busfahrer der Städt. Verkehrsbetriebe. Frau W. ist gelernte
Floristin, arbeitete zuletzt bis zur Geburt des 2. Kindes halbtags als Kassiererin und ist zum
Zeitpunkt der Erkrankung nicht mehr berufstätig. Familie bewohnt eine 3-Zimmer-Wohnung im
3. Stockwerk (kein Aufzug). Wirtschaftliche Lage knapp ausreichend. Eheliche Bindung fest; es
gibt jedoch häufiger Auseinandersetzungen ("...unsere Temperamente sind zu verschieden ..., er
bremst mich immer ab ..."). Pat. zierlich, lebhaft, energisch, impulsiv, - Ehemann wirkt eher
schwerfällig, aber gutmütig. Auf Krebserkrankung reagiert Pat. teils verleugnend, teils
kämpferisch. - Ehemann zuerst verstört, ratlos, dann gleichfalls verleugnend. Im Laufe der
Erkrankung wird die am gleichen Ort wohnende, verwitwete Schwiegermutter, zu der die Pat.
früher ein gespanntes Verhältnis hatte, stärker in die Familie einbezogen zur Versorgung der
beiden Kinder, was die Patientin ambivalent, aber doch eher dankbar annimmt.
Im Mai 1984 werde im Zuge der Staging-Untersuchung bei subjektiver Beschwerdefreiheit
Knochenmetastasen (Ileosacralgelenk li., Rippen) und Lebermetastasen diagnostiziert.
Pat. wird erneut in Univ.-Frauenklinik stationär eingewiesen.
Rekonstruktion des Verlaufs nach dem Bochumer Arbeitsbogen zur Medizinethischen Praxis
Zeit:
05/84 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
Im Grundsatz ist die Prognose aufgrund der Metastasierung langfristig gesehen ungünstig, - somit
keine kurative, sondern nurmehr eine palliative Therapie zudem mit erheblichen subjektiven
Nebenwirkungen möglich.
11
Als am wirksamsten im Sinne der angestrebten Remission der Metastasierung wäre folgende
Therapie optimal: Wegen des jugendlichen Alters der Pat. (32 J.) bei hochpositivem
Rezeptorbefund sofortige Ovarektomie und im Anschluß aggressive Chemotherapie (FAC) in
UFK stationär durchzuführen.
Medizinisch-Ethische Befunde
Pat. wird über Befunde vollständig informiert mit Therapievorschlag - die langfristig ungünstige
Prognose wird ihr nicht mitgeteilt. Ehemann in Aufklärung einbezogen.
Guter AZ läßt rel. gute Verträglichkeit der Chemotherapie erwarten. Pat. lehnt Ovarrektomie als
weiteren "Weiblichkeitsverlust" ab, - weist diesbezügliche Einflußnahme des Ehemannes zurück.
Mit der FAC-Therapie ist sie einverstanden. Deren sofortiger Beginn wäre optimal.
Behandlung des Falles
Angesichts der Gesamtprognose wird nach Abwägen aller Gesichtspunkte (subjektives Befinden,
Selbstwertgefühl der Pat., Lebensqualität gegen wissenschaftlich-objektive Kriterien) sofort mit
der FAC-Therapie begonnen, da dies dem Wertprofil der Pat. am ehesten entspricht. (Die nicht
einhelligen ärztlichen Meinungen darüber bleiben der Pat. allerdings nicht verborgen.) Therapie
wird stationär in UFK durchgeführt.
Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung
- kurzfristige Verlaufskontrolle
- psychosozialer Support
- Verordnung einer Perücke
- mit Pat. wird vereinbart, daß bei nicht befriedigendem Ansprechen der FAC-Therapie in einigen
Monaten erneut über Ovarektomie beratschlagt wird.
09/84 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
Staging: Remission der Lebermetastasen, "no-change" der Knochenmetastasen.
Vorgesehen: Ovarektomie + Hysterektomie (da bei Versagen der Zytostase auf GestagenTherapie umzusetzen, unter der es möglicherweise zu Blutungen kommen kann. Pat. menstruiert
nach 4 Zyklen FAC noch in Regelstärke), - dann Fortsetzen der FAC-Therapie bis zur
ADRIBLASTIN-Höchstdosierung.
Medizinisch-Ethische Befunde
Pat. wird über Befunde vollständig informiert, - stimmt jetzt der Ovarektomie, nicht jedoch der
Hysterektomie zu. - AZ unter der Zytostase deutlich verschlechtert, jedoch keine Schmerzen -
12
zeitweilig depressiv aggressiv gestimmt! Kann ihren Alltag annähernd normal gestalten und ist
auch außerhäuslich aktiv (Selbsthilfegruppe, Karnevalsverein).
Deshalb: Ovarektomie, Fortsetzung der FAC-Therapie.
Behandlung des Falles
Risiko spätere Komplikation (Blutungen ex utero) ist in Kauf zu nehmen nach Abwägung aller
Gesichtspunkte, da Wertsetzung der Pat. Vorrang hat, und sie außerdem über das (vermutliche)
Versagen der FAC-Therapie noch nicht informiert ist, um deren Fortsetzung nicht zu gefährden.
Ovarektomie (27.09.1984)
Fortsetzung der FAC-Therapie.
10/84 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
Eine weitere Metastase im re. Ovar diagnostiziert.
Fortsetzung der FAC-Therapie.
Medizinisch-Ethische Befunde
Patientin wird über diesen "Zufallsbefund" nicht informiert.
Fortsetzung der FAC-Therapie.
Behandlung des Falles
Fortsetzung der FAC-Therapie.
Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung
- kurzfristige Verlaufskontrolle
- psychosozialer Support
- Terminvariationen der Chemotherapie mit Rücksicht auf soziale Aktivitäten der Pat.
(Karneval!)
02/85 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
Staging: Pulmo o.B., Lebermetastasen nicht mehr nachweisbar, "no change" der
Knochenmetastasen.
Vorgesehen: Fortsetzen der FAC-Therapie, noch 3 Zyklen bis ADRIBLASTIN-Höchstdosis
erreicht ist.
("second line": Umsetzen auf Gestagen-Therapie/MPA/1000 mg/die)
Medizinisch-Ethische Befunde
13
Pat. lehnt Fortsetzung der FAC-Therapie trotz eingehender Aufklärung strikt ab wegen
zunehmender subjektiver Beeinträchtigung (anhaltende Übelkeit, tagelanges Erbrechen etc.),
Lebensqualitätsverlust.
Umsetzen auf Gestagen-Therapie.
Behandlung des Falles
Bei Abwägen aller Gesichtspunkte (Lebensqualität gegen "Teilerfolg" der bisherigen FACTherapie) keine massive Beeinflussung der Pat. zu deren Fortsetzung, sondern Umsetzen auf
Gestagen-Therapie/MPA/1000 mg/die. Therapie wird ambulant in UFK durchgeführt.
Zusätzliche Fragen der ethischen Bewertung
- "Therapiemüdigkeit" der Pat. ist verstärkt durch häuslich-familiäre Konflikte, - deshalb
gemeinsame Gespräche mit Pat. und Ehemann (Ärzte/Sozialarbeiterin)
- kurzfristige Verlaufskontrolle
- regelmäßige Hormonspiegelkontrolle
06/85 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
Pulmo und Leber frei, röntgenologisch deutliche Zunahme der ossären Filiae (Kreuzbein, BWS ohne Frakturgefährdung)
Vorgesehen: Absetzen der MPA-Therapie. Umsetzen auf Zytostase: "5er Kombination" (MFVP)
("second line": Kombination von MPA + Aromatosehemmer = OREMETEN).
Medizinisch-Ethische Befunde
Von Gewichtszunahme abgesehen wird MPA-Therapie sehr gut vertragen, unter der sich das
subjektive Befinden deutlich verbessert hat, - keine Schmerzen im Skelettsystem. Pat. wird
vollständig über Befunde informiert - lehnt jede Form der Zytostase strikt ab - MPA +
OREMETEN.
Behandlung des Falles
Da Kriterium der Lebensqualität Vorrang hat gegenüber der nur bedingten besseren
Erfolgsaussicht einer erneuten Zytostase, wird MPA-Therapie kombiniert mit OREMETEN
fortgesetzt.
Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung
- kurzfristige Verlaufskontrolle.
08/85 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
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Starke Blutung ex utero unter MPA-Therapie. Schmerzen im Bereich der unteren BWS und im li.
Hüftgelenk.
Vorgesehen: Absetzen der MPA-Therapie, palliative Radiatio d. unteren BWK u. d. li.
Ileosacralgelenkes unter Weitergabe von OREMETEN nach Abschluß der Radiatio. Zytostase:
"5er-Kombination".
Medizinisch-Ethische Befunde
Erhebliche Schmerzzustände. Pat. wird über Befunde eingehend informiert, stimmt palliativer
Radiatio + OREMETEN zu, lehnt anschließende Zytostase weiterhin ab.
Behandlung des Falles
Palliative Radiatio des li. Gelenkes und d. unteren BWK + OREMETEN unter stationären
Bedingungen, orthop. Stützkorsett.
Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung
- psychologischer Support, Pat. muß von der Notwendigkeit stationärer Therapie mühsam
überzeugt und zum Tragen des Stützkorsetts angehalten werden.
10/85 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
Staging: massive Progredienz der jetzt generalisierten osseren Filialisierung, erneut
Lebermetastasen, pulmonde Metastasen.
Vorgesehen: Absetzen tumorspezifischer Therapie, lediglich symptomatische Therapie,
Schmerztherapie.
Medizinisch-Ethische Befunde
Pat. über Skelettbefunde informiert, nicht jedoch über Leber- und Lungenmetastasen (da klinisch
stumm), - stark verschlechterter AZ, Schmerzen im Skelettsystem, - angstvoll, aber noch
kämpferisch eingestellt. Symptomatische Therapie + OREMETEN (Wunsch d. Pat.).
Behandlung des Falles
Symptomatische Therapie + OREMETEN+ ("aus psychologischen Gründen").
Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung
- psychosozialer Support
- Antrag auf Pflegegeld beim Sozialamt
- Verordnung von Faltfahrstuhl
11/85 Medizinisch-wissenschaftliche Befunde
15
Notfallmäßige stationäre Wiederaufnahme: Komplette Querschnittslähmung infolge Fraktur d.
unteren BWK, Pleuritis carcinomatosa (Punktion).
Vorgesehen: (nach neurochirurgischem Konsil ohne Intervention) symptomatische Therapie.
Pflege, wenn möglich, Entlassung nach Hause.
Medizinisch-Ethische Befunde
Gesamtzustand desolat. Pat. psychisch noch immer kämpferisch eingestellt, - wünscht jetzt
zytostatische Therapie - wird diesbezüglich "vertröstet" bis AZ durch substituierende
Maßnahmen gebessert sei. Pat. kennt und kontrolliert die Medikation (will "irgendeine
Tumortherapie"). Entlassungswunsch.
Behandlung des Falles
Symptomatische
Therapie,
Pflege,
Gipsschale,
Weitergabe
von
OREMETEN
"aus
psychologischen Gründen".
Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung
- Ehemann muß durch Gespräche mit Ärzten und Sozialarbeiterin gehindert werden,
Wohnungswechsel (bzw. Neubau) "behindertengerecht" vorzunehmen (unvertretbare Kosten!), er wird über kurzfristig ungünstige Prognose ausdrücklich aufgeklärt, Vorbereitung der
Entlassung in häusliche Pflege:
- Hausarzt informiert
- Sozialstation informiert
- Krankenbett beschafft
- Verhandlung mit Arbeitgeber des Ehemannes wegen Freistellung von Wechselschichtdienst.
02.12/85 Medizinisch-Wissenschaftliche Befunde
Lungen-Embolie, Heparinisierung (am Perfusor), stationärer Verbleib indiziert.
Medizinisch-Ethische Befunde
Pat. drängt in den folgenden Tagen auf baldige Entlassung, Ehemann wünscht diese ebenfalls
(hat inzwischen die Wohnung vorbereitet und neu tapeziert!).
Umsetzen der Heparinisierung auf "low dose" (subcutan).
Behandlung des Falles
Da Wunsch der Pat. und ihrer Familie den Vorrang hat vor intensiver Embolie-Therapie bei
infauster Prognose, wird Pat. auf "low-dose"-Heparinisierung trotz des Risikos einer erneuten
Embolie umgesetzt, erhält Analgetika, sonst keine weitere Therapie, Demissio am 11.12.85.
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Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung
- Ehemann wird über Risiko erneuter Lungen-Embolie aufgeklärt und ihm nötigenfalls die stat.
Wiederaufnahme der Pat. zugesichert.
- 12.12.85 telefonische Rücksprache der Stationsärztin und der Sozialarbeiterin mit Ehemann der
Pat.: Übergang in häusliche Pflege ist wie vorgesehen erfolgt.
13.12/85: Pat. verstirbt zu Hause an erneuter Lungen-Embolie.
Falldiskussion:
Hahn: In diesem Fall haben verschiedene Umstände dazu geführt, der Patientin die Prognose über
ihren Zustand nicht mitzuteilen. Besonders ausschlaggebend war dabei die anfängliche
Befürchtung, die Patientin könne verzweifeln und sich selbst aufgeben. Darüber hinaus ergab
sich eine schwierige Kontaktsituation mit ihr dadurch, daß sie eine stationäre Behandlung
ablehnte und darauf bestand, ambulant behandelt zu werden. Nach einiger Zeit stellte sich die
Vermutung ein, daß die Patientin 'verdrängte', denn sie ließ weder bei sich, noch bei anderen
Angst zu.
Im allgemeinen bestehen die Probleme darin, daß es im Hinblick auf Prognosen zu wenig
Sicherheit gibt, so daß der Arzt ein besonders hohes Risiko eingeht, wenn er sie dem Patienten
mitteilt. Des weiteren ist das Vertrauen zwischen Arzt und Patient häufig nicht groß genug, um
einerseits die Unsicherheit darzustellen und andererseits den psychologischen Effekt abschätzen
zu können. Der Arzt steht dann in Angst, evtl. 'falsch' aufzuklären. Die Folge könnte sein, daß
sich der Patient im Spannungsfeld von objektiven Fakten (z.B. Prognose: Tod) und innerem
Befinden (gegen die Krankheit ankämpfen zu wollen) aufgibt. Zu fordern wäre eine Ausbildung
der Ärzte zu solchen Fragestellungen, die bisher überhaupt nicht gewährleistet ist.
Sass: In der Onkologie in Deutschland gibt es drei unterschiedliche ethische Positionen:
1. man sagt dem Patienten nichts;
2. man sagt dem Patienten alles;
3. man sagt dem Patienten teilweise oder schrittweise etwas zu seinem Zustand.
Demgegenüber besteht das amerikanische Konzept des "informed consent" darin, dem Patienten
die volle Wahrheit über seinen Zustand zu sagen und daraufhin die Zustimmung zur besten
Behandlungsmethode einzuholen. Der Gegensatz zwischen den beiden ersten Positionen kann
nicht scharf genug betont werden: auf der einen Seite steht die Wahrhaftigkeit am Krankenbett
als Ausdruck eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient, auf der anderen
Seite der therapeutische Vorbehalt der hippokratischen Ethik, die Wahrhaftigkeit oder
17
Unwahrhaftigkeit als Mittel zum Ziel von Therapie oder Leidenslinderung einsetzt. Aber selbst
das hippokratische Ethos erfordert doch wohl heute, wie der Bochumer Arbeitsbogen es hat,
zumindest den Versuch eines aktiven Aufklärungsmanagements durch den Arzt; im
Schichtbetrieb des Krankenhauses ergibt sich das nachgeordnete ethische Problem: welcher der
Ärzte ist für diesen einen Patienten zuständig. Die Organisationsethik fordert, Verfahren
einzurichten, die jedem Patienten 'seinen' Arzt zuordnen. Medizinische Ethik ist aber nicht nur
eine Ärzte-Ethik, sondern auch eine Patienten-Ethik. Selbstbestimmung des Patienten muß hier
auch bedeuten, zu fragen und Aufklärung vom Arzt zu verlangen. Das finden wir in der
Bundesrepublik selten. Es stellt sich in Anbetracht dieses Phänomens die Frage, warum der
Patient nicht fragt und warum er vor der Wirklichkeit flieht.
Schara: Erfahrungsgemäß gibt es zwei extreme Verhaltenstypologien bei Patienten: Die einen
legen alle zu treffenden Entscheidungen in die Hand des Arztes. Die anderen widersprechen dem
Arzt in jeder Hinsicht und sind unkooperativ. In einer solchen Situation ist eine vernünftige
Aufklärung notwendig. Diese Aufklärung sollte in einem gemeinsamen Gespräch erfolgen, das
vom Arzt geleitet wird. Das Ziel ist dann, durch gegenseitige Fragen und Antworten, also
prozeßhaft, dem Patienten genau zu verdeutlichen, worum es geht und wie die jeweiligen
Prognosen und Befunde sind.
Roth: Der Patient sollte dazu gebracht werden, das beste Therapiekonzept mitzumachen, wenn es
eine eindeutige Entscheidung seitens des Arztes gibt. Grund für diese Ansicht ist die Erfahrung,
daß Patienten angenehme Nachrichten/Aufklärung gut verstehen, bei unangenehmen
Informationen aber nicht gut zuhören, so daß es sehr leicht zu falschen Entscheidungen kommt.
Ein weiteres, häufig unüberbrückbares Problem ist der Zeitmangel des Arztes.
Kensmann: Das amerikanische Konzept der radikalen Aufklärung bedingt die Prämisse eines 'als
ob'. Man tut so, 'als ob' der Patient in einer ganz speziellen Situation entscheiden könne. Diese
Prämisse muß auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
Viefhues: In diesem Fall wurde das Prinzip der Autonomie extrem beachtet. Sogar objektiv
falsche Entscheidungen wurden respektiert. D.h. ein 'animal rationale' wurde vorausgesetzt. Diese
Voraussetzung ist diskussionsbedürftig.
Hinrichsen: Um volle Zustimmung der Patientin erwarten zu können, ist es unbedingt notwendig,
ihr sowohl die Befunde, als auch die Prognosen mitzuteilen.
Götz-Claren: Vor der Entscheidung, wie der Arzt dem Patienten Informationen über den
medizinischen Befund und die weitere Prognose gibt, sollte Rücksprache mit dem Patienten
nahestehenden Personen gehalten werden. Dazu können Freunde, Angehörige und evtl. Pfarrer
18
gehören. Diese Befragung ist besonders im Hinblick auf 'compliance' wichtig. Beim
amerikanischen Konzept der vollen sofortigen Aufklärung wird 'compliance' sofort vorausgesetzt.
Diese Voraussetzung muß auf ihre Bedingtheiten überprüft werden.
19
20
FALL 3
Konservative oder aggressive Therapie der Amyloidose
Falldarstellung: J.P. Barmeyer
T.P., 30.5.39, 49 Jahre
Angehörige: Ehefrau 41 J., 1 Kind 4 Jahre.
Diagnosen:
- primäre Amyloidose (Alt-Typ) mit gesichertem Befall von Herz, Niere, Rektum, Schilddrüse,
Lunge
- schwere restriktive Kardiomyopathie mit globaler Herzinsuffizienz
- schweres nephrotisches Syndrom
- kompensierte Niereninsuffizienz
- Hypothyreose
- mäßige restriktive Lungenfunktionsstörung
Aufnahmegrund:
Bis vor 4 Jahren nie ernsthaft krank gewesen. Vor 4 Jahren unklarer Drehschwindel, stat.
Behandlung. Seitdem beschwerdefrei bis Anfang d.J., wo zunehmende Beinödeme bds. und
Belastungsdyspnoe auftraten. Mehrfach Schwindelattacken. Eine Synkope. Seit einiger Zeit
Feststellung von komplexen Rhythmusstörungen. Zunehmender Gewichtsverlust bis Juni von 3-4
kg. Appetitlosigkeit. Therapieresistente Ödeme.
Wegen dieser Beschwerden Aufnahme in einem peripheren Krankenhaus mit intensiver
Durchuntersuchung. Dabei drei Befunde besonders auffallend: Harnsäure 10,6 g %, im Urin
erhebliche Proteinurie. In der Serum-Elektrophorese erniedrigtes Gesamteiweiß mit 4 g %,
Albumin 3 g % sowie Erniedrigung der Gamma-Globuline. Sämtliche anderen Werte im
Normbereich.
Beim Rechtsherzkatheter Verdacht auf restriktive Kardiomyopathie. Lungenfunktion zu diesem
Zeitpunkt unauffällig. Zur Abklärung der evtl. restriktiven Kardiomyopathie Verlegung zu uns.
Auffallend in der Anamnese weiterhin ein schlagartiger Potenzverlust, der bisher unklar blieb.
Bei der klinischen Aufnahme steht im Vordergrund eine protrahierte Luftnot mit in der
Zwischenzeit mehrfach aufgetretenen Synkopen und therapieresistenten Ödemen, die nicht
schmerzhaft sind.
21
Bei der klinischen Untersuchung Pat. in schlechtem Allgemeinzustand mit massiven präsakralen
Ödemen und Beinödemen. Anasarka, Pleuraergüsse rechts. Ausgeprägte Halsvenenstauung,
mäßig vergrößerte, nicht druckschmerzhafte Leber.
EKG: Sinusrhythmus mit hochgradiger peripherer und zentraler Niedervoltage, die den Verdacht
bei gleichzeitig nachgewiesener Verdickung des Septums und des linken Vertrikels auf eine
restriktive Myokardiopathie erhärtet.
Echo: Normale Dimensionen des linken Vertrikels, Wand des linken Vertrikels stark verdickt.
Kontraktilität bis auf Hypokinesie im Bereich des Septums normal. Rechter Vertrikel ebenfalls
verdickt. Massiv vergrößerte Vorhöfe, fehlender Kollaps der v. cava superior als Zeichen einer
Druckerhöhung vor dem rechten Herzen.
Langzeit-EKG: Polytope ventrikuläre Extrasystolie mit Bieminusphasen, Couplets und mehreren
ventrikulären Salven.
Rechtsherzkatheter: Belastbarkeit bis 25 Watt. Abbruch wegen massiver Luftnot. HZV in Ruhe
3,9 1, hochgradig erniedrigt. Anstieg nur auf 4,9 1. inadäquat. Rechter Vorhofdruck ansteigend
von 8 mm Hg auf 18 mm Hg bei 25 Watt. Lungengefäßwiderstand mit 120 dyn normal.
Katheterdiagnose: Massive Ruhe-Herzinsuffizienz mit massiv erhöhten Drucken. Formanalytisch
restriktive Kariomyopathie.
Myokardbiopsie: (Septum) Interstitiell massive Amyloidose m. subendokardialer Betonung ohne
Herzmuskelnekrosen. Keine entzündlichen Erscheinungen.
Linksherzkatheter: Generalisiert reduzierte Kontraktilität. Ejektionsfraktion 50%. Kranzgefäßte
unauffällig.
Mangelnde
Beweglichkeit
der
Koronararterien.
Eindeutige
restriktive
Kardiomyophathie.
Lungenfunktion: Reduzierte statische Compliance mit 0,137. Vitalkapazität auf minus 42%
reduziert. Normale Atemwegswiderstände. Somit Hinweise auf restriktive Ventilationsstörung.
Rektumbiopsie: Amyloidablagerung in der Wand der submucösen Blutgefäße.
Neurologische Untersuchung: Kein sicherer Hinweis auf amyloidbedingte Polyneuropathie.
Röntgenologisch: Ergüsse rechts und links. Mäßige Vergrößerung des Herzens mit Zeichen einer
zentralen Lungenstauung. Herzgröße 13,6 ml/kg.
Oberbauch-CT: Lebergröße normal und unauffällig. Milzgröße im oberen Normbereich. Nieren
und Nebennieren normal groß.
Auffälligster Laborbefund: Hochgradig reduziertes Gesamteiweiß mit 4,6 g %, 50 % Albumin,
10 % Gamma-Globulin, Vermehrung der Alpha2- und Beta-Globuline. Urin-Elektrophorese:
hochgradige Proteinurie von 12 g Eiweiß/Tag. 75 % Albumin. Kreatinin 1,9 bis 2,6 mg %.
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Endokrinologische Untersuchung: Noraderenalin und Adrenalin erniedrigt. Erniedrigt T3 und T4,
TSH im oberen Normbereich. Somit diskrete Hinweise auf Hypothyreose, Cortisol und 17Ketosteroide im unteren Normbereich. Zusammenfassend generalisierte primäre Amyloidose
(nach Typisierung AL-Typ) mit besonderem Befall des Herzens und der Niere, schweres
nephrotisches Syndrom mit hochgradigem Eiweißverlust. Restriktive Kardiomyopathie,
Eiweißmangelödem.
Therapie vorgesehen: Mit Thoraxchirurgen und nephrologisch orientierten Chirurgen besprochen
evtl. HTX, Nierenentfernung und Nierentransplantation.
Ethisches Problem:
Die Amyloidose ist eine unheilbare fortschreitende Erkrankung. Unser Problem war, ob wir bei
diesem relativ jungen Patienten eine Herztransplantation sowie eine Nierentransplantation
durchführen sollten mit den entsprechenden belastenden Folgen für Patient und junge Familie.
Außerdem ist danach das Fortschreiten der Erkrankung unklar. Weiterhin sollten in der
Akuttherapie alle möglichen Maßnahmen durchgeführt werden, um in diesem Fall das Leben zu
verlängern (Albumin-Infusionen, Hämofiltration, Hämodialyse)? Psychogramm des Patienten
nach Aussagen der Ehefrau und eigener Erfahrung hochgradig introvertierter Patient, sehr einfach
strukturiert (Frage nach Compliance nach Transplantation). Mißtrauisches Verhalten auch schon
in der prämorbiden Zeit, extreme Kontakschwäche.
Ethische Fragen:
1. Maximale konservative Therapie ethisch vertretbar zur Verlängerung des Lebens?
2. Maximale aggressive Therapie mit Herztransplantation und Nierentransplantation nach
Nephrektomie ethisch verantwortbar?
Falldiskussion:
Hinrichsen: Die Langzeitwirkung einer Behandlungsmethode muß generell stärker in Betracht
gezogen werden; besonders wenn es um die Entscheidung geht, welche von mehreren möglichen
Methoden angewendet werden soll.
Barmeyer: Erfahrungsgemäß leben Patienten nach einer Transplantation beschwerdefrei,
wodurch das Gebundensein an eine medizinische Einrichtung in Kauf genommen wird.
Götz-Claren: Ein generelles Handeln nach bloßen Erfahrungswerten ist falsch. In Anbetracht des
depressiven Zustandes des Patienten hätte hier nicht nur von der Operation, sondern auch von der
Aufklärung des Patienten Abstand genommen werden müssen.
23
Barmeyer: Im Rückblick auf den Fall stimmt das. In die Situation gesetzt, liegt das Problem
jedoch in der Unzugänglichkeit des Patienten. Es stellt sich die Frage, was der Arzt tun kann, um
Zugang zum Patienten zu bekommen.
Püschel: Ist das Tabu-Thema Potenzverlust möglicherweise ein Grund für die Haltung des
Patienten gewesen?
Barmeyer: Nein, das glaube ich nicht!
Götz-Claren: Man muß bedenken, daß der Potenzverlust erfahrungsgemäß nur vordergründig ein
Problem für den Patienten darstellt.
Grawert: Soll man denn aus diesem Fall schließen, daß man den Patienten generell nicht über
seinen Zustand aufklären soll?
Barmeyer: Vor einer solchen Operation sind genaue Prognosen über 'compliance' essentiell.
24
FALL 4
Angeborenes Nephrotisches Syndrom vom Finnischen Typ
Falldarstellung: B. Roth
Medizinisch-Wissenschaftlicher Befund
Diagnose:
1. Frühgeborenes der 36. SSW
2. Angeborenes Nephrotisches Syndrom vom Finnischen Typ (durch Biopsie gesichert)
Prognose: Quoad vitam infaust
Tod spätestens im Kleinkindesalter bei:
a) nicht beeinflußbaren Oedemen/Ascites
b) thrombo-embolische Komplikationen
c) bakteriellen Infektionen
Erblindung
Keine kausale Therapie möglich
Therapie-Alternativen:
I. Konservative Behandlung:
parenterale Eiweiß-Substitution
diuretische Behandlung
anti-thrombotische Therapie
anti-infektiöse Therapie
Schilddrüsen-Hormone
II. Nieren-Transplantation mit 2 - 3 Jahren
Ggf. frühzeitige beidseitige Nephrektomie und überbrückend chronische Peritoneal-Dialyse
III. Konservative Therapie bis zu einem Alter von 2 - 3 Jahren; dann wäre eine NierenTransplantation zu erwägen.
Spezielle Überlegungen:
ad I. Palliative Behandlungsmaßnahmen, die objektive Beschwerden mildern und eine ambulante
Betreuung ermöglichen.
25
ad II. Aggressive Behandlungsmaßnahmen mit z.T. "experimentellem Charakter": Zerstörung der
körperlichen Integrität: Nephrektomie, Peritoneal-Katheter, Peritonitis etc. Unklare somatische
und psycho-soziale Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindesalter
Transplantations-Probleme (Lebend-Spende)
Dauerhafte Immunsuppression
Derzeit noch keine Aussagen über den Velauf der frühkindlichen Enwicklung möglich.
Keine Verbesserung der allgemeinen Prognose.
Ärztliches Handeln:
a) Behandlungsvoraussetzungen:
für die Alternativen I - III in adäquater Weise gegeben
b) Stand der medizinischen Forschung und ärztlichen Erfahrung: J. Rapola: Paediatr. Nephrol. 1:
441-446 (1987)
Zusammenfassung:
Behandlungsalternative III):
Versuch mit konservativer Therapie ein Alter von 2 - 3 Jahren zu erreichen. Dann wäre eine
Nierentransplantation zu erwägen.
Medizinisch-ethischer Befund
Gesundheit und Wohlbefinden:
A) Patient
Behandlungsverfahren I):
Kommplikationen können gemildert werden; Tod ist sicher
Behandlungsverfahren II):
Komplikationen
können
gemildert
werden;
mit
Dialyse
und
Transplantation
neue
schwerwiegende Komplikationen.
Behandlung ermöglicht ein "Überleben" von unbestimmter Dauer.
Eine adäquate somatische, seelische und soziale Entwicklung ist fraglich. Zerstörung der
Familien-Struktur ist möglich.
Behandlungsverfahren III):
Beinhaltet Aspekte der obigen Alternativen; allerdings wird zunächst der spontane KrankheitsVerlauf "akzeptiert".
B) Familie
26
Gesunde türkische Eltern (Mutter 29 Jahre, Vater 27 Jahre, arbeitslos) mit zwei gesunden
Kindern (Tochter 9 Jahre, Sohn 7 Jahre)
Mutter:
Differenziert; erfaßt adäquat die Konsequenzen der Erkrankung und der BehandlungsAlternativen. Mutter befürwortet eindeutig Alternative I.
Vater:
Offenbar geringerer Informationsstand; wehrt sich gegen die Vorstellung, den Tod seiner Tocher
hinzunehmen.
Selbstbestimmung
A) Patient: nicht gegeben
B) Eltern:
Bei Alternative I) gegeben. Bei Alternative II) nicht gegeben, da eine Rückkehr der Familie in die
Türkei auf unabsehbare Zeit nicht möglich wäre. Möglicherweise Trennung der FamilienMitglieder.
Ärztliche Verantwortung
A) Konflikte
a) mit den Eltern: nein; Behandlungsalternative I) wird akzeptiert.
b) im Behandlungs-Team: ja; Konflikt konnte durch Alternative III gemildert werden.
B) Vertrauens-Verhältnis:
Zwischen Eltern und Team ungetrübt.
C) Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit:
a) Behandlung und Aufklärung nach exakter Diagnose in vollem Umfang unter Präsentation aller
Alternativen vorgenommen.
b) Keine unberechtigten Hoffnungen auf "Heilung" durch "neue Niere" gemacht.
c) Jegliches wissenschaftliches Interesse gezielt ausgeklammert, besonders was die "Fascination
der Methoden" angeht.
D) Zusammenfassung:
Optimale Behandlung angesichts des medizinisch-ethischen Befundes: Behandlungs-Alternative
I).
Behandlung des Falles
27
Aufgrund des Verbundes des medizinisch-wissenschaftlichen und des medizinisch-ethischen
Befundes in der Behanldungs-Alternative I) wurde der Säugling in die häusliche Betreuung
gegeben. Gleichzeitig wurde eine ambulante ärztliche Versorgung ermöglicht. Den Eltern wurde
die Möglichkeit gegeben, zu jeder Zeit einen informierten und verantwortlichen Arzt zu
erreichen. Der medizinische Befund verschlechterte sich innerhalb weniger Monate deutlich:
trotz zuverlässiger Medikamenten-Einnahme Progredienz der Oedeme und des Ascites. Zu
diesem Zeitpunkt war erkennbar, daß die Therapie-Alternativen I und III (konservative
Behandlung bis zu einem Alter von 2-3 Jahren, dann Nieren-Transplantation) nicht zu realisieren
waren. Das Überleben des Kindes wäre zu diesem Zeitpunkt mit Therapie-Alternative II möglich
gewesen. Es hätte eine beidseitige Nephrektomie durchgeführt werden müssen, gefolgt von einer
chronischen Peritonealdialyse-Behandlung bis zu einem Lebensalter von 2-3 Jahren, um dann
eine Nierentransplantation vornehmen zu können. In Anbetracht dieser Situation wurde die
Behandlung des Falles im Team erneut besprochen. Aufgrund der Haltung der sehr fürsorglichen
Eltern, die eingreifenden Therapiemaßnahmen zunehmend ablehnender gegenüberstanden, und
aufgrund neuerer Literaturmitteilungen zur Dauerdialyse von Säuglingen (B.A. Warady et al.: J.
Pediatr. 112: 714-719 (1988)), die auf erhebliche Einschränkungen in der somatischen und
psychomotorischen Entwicklung dieser Kinder hinwiesen, wurde die Therapie-Alternative II
abgelehnt. Behandlungs-Alternative I wurde in Übereinstimmung mit den Eltern fortgeführt. Im
weiteren Verlauf wurde seitens der Mutter die Bitte geäußert, alle Medikamente abzusetzen.
Diesem Wunsch wurde unsererseits entsprochen. Das Kind verstarb kurze Zeit später im
Familien-Kreis. Unmittelbar nach dem Tod des Kindes wurde die Familie von einem ärztlichen
Mitarbeiter aufgesucht, u.a. um die gesetzlich notwendigen Formalia zu erledigen.
Falldiskussion
Roth: Der experimentelle Charakter aller Behandlungsmaßnahmen muß betont werden. Eine
definitiv Heilung ist bei keiner der drei Alternativen möglich. Bei der ersten Alternative wird
zwar die Lebensqualität verbessert, der Tod ist aber sicher. Bei der zweiten und dritten
Behandlungsalternative wird das Überleben gesichert, alles andere bleibt aber unsicher, auch das
Familienleben könnte zerstört werden. Solche Patienten sind wie seltene Briefmarken und wir
haben daher versucht, den Patienten von der Wissenschaft freizuhalten und entschlossen uns für
die Alternative I.
Hahn: Fand man bei den Eltern Konsens?
28
Roth: Der Vater hat mehrere Wochen gebraucht, um sich zu dieser Entscheidung durchringen zu
können.
Schara: Ethische Entscheidungen sind prozessual, d.h. man kann sich ihnen nur langsam, unter
Abwägung nach allen Seiten nähern.
Püschel: Mit welchem Geburtsgewicht kam das Kind auf die Welt?
Roth: Mit 2100 bis 2200 g.
Wenn wir es gewollt hätten, dann hätten wir den Eltern die Transplantation/Dialyse "verkaufen"
können.
Schara: Es kann nicht therapiebestimmend sein, daß der Arzt sich dabei als "Könner" bestätigen
kann.
Viefhues: Ja.
Roth: Die medizinische Entwicklung bekommt eine normative Kraft.
Viefhues: Es gibt da verschiedene Phasen: Entwicklung der Technik und des Denkens darüber
kann man da nicht trennen.
Sass: Zwei Fragen: (1) Wie steht es mit der religiösen oder weltanschaulichen Akzeptanz von
Organspende und Organtransplantation im Islam? - (2) Wir wissen, daß die Niere als Organ vom
70. Tage p. c. funktionsfähig sein könnte. Ist es unethisch, an die über 700
Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik pro Tag zu erinnern und zu fragen, ob fetales
Gewebe, das sowieso zugrunde gehen wird, nicht therapeutisch genutzt werden darf? Ich
verweise auf die Nierentransplantation durch Herrn Beller in Münster vor einem Jahr von einem
Anenzephalen, mit der zwei Menschen das Leben gerettet wurde. Wäre das hier nicht eine
Alternative?
Viefhues: Ist das so mit der Entwicklung der Niere?
Hinrichsen: Ich glaube nicht, daß sie schon die volle Funktion übernehmen kann.
Viefhues: Warum muß man heute noch das Alter von 2-3 Jahren erreichen, bevor eine
Nierentransplantation durchgeführt werden kann?
Roth: Das sind Erfahrungen aus Minneapolis: Frühtransplantate führen zu Gefäßkomplikationen.
Zu Frage 1): Weder Obduktion noch Organentnahme oder Transplantation verstößt gegen den
islamischen Glauben. Praktisch erleben wir es aber nie, daß die Angehörigen zur Explantation
einwilligen. Mit einer Transplantation sind sie aber einverstanden.
Zu Frage 2): Zum fetalen Nierengewebe sind mir keine Erfahrungen bekannt.
Barmeyer: Bis zu welchen Wochen ist das embryonale Gewebe immunologisch neutral?
Hinrichsen: Immuntoleranz besteht bei der Mutter während der Schwangerschaft.
29
Barmeyer: Der Vorschlag stammte von den Neprologen. Eine Nephrektomie hat eine Mortalität
von 4 - 5 %. Deswegen wurde sie vorverlegt.
30
Fall 5
Doppelblindstudie mit Antidrepressiva
Falldarstellung: Chr. Schumann
Frau M. erscheint im Oktober 1987 mit depressiven Symptomen bei ihrem Hausarzt. Sie ist 48
Jahre alt. Hausfrau und ohne psychiatrische Anamnese: aus der allgemeinmedizinischen
Untersuchung ist jedoch ein Glaukom bekannt. Sie wird zur Bestätigung des Befundes
"depressives Syndrom" und zur Weiterbehandlung zum Nervenarzt Dr. A. überwiesen. Dieser
diagnostiziert "endogene Depression", vom ängstlich-agitierten Typ.
Dr. A. hält Frau M. für geeignet, an der Doppelblindvergleichsstudie zweier Antidepressiva
teilzunehmen, die er gerade durchführt. Außer seinem Interesse an dieser Studie kommt bei Frau
M. noch hinzu, daß sie nicht mit den bekannten und bewährten trizyklischen Antidepressiva
behandelt werden kann, da diese bei Glaukom kontraindiziert sind. Die Studie vergleicht ein
neueres, nicht trizyklisches Antidepressivum (Glaukom keine Kontraindikation) mit einer
Entwicklungssubstanz, die in der Phase III der klinischen Prüfung ist. Es wurden bisher ca. 600
Patienten mit diesem neuen Antidepressivum behandelt. Nach einem längeren Gespräch über
Wesen, Bedeutung und Tragweite der Studie ist Frau M. bereit, an der Studie teilzunehmen und
bestätigt ihre Einwilligung durch ihre Unterschrift auf einem dafür vorgesehenen Formular. Frau
M.'s Ehemann zeigt sich am Abend zwar kritisch, läßt sich aber durch die von seiner Frau
weitergegebenen Argumente überzeugen.
Die Aufnahmeuntersuchung sowie die Untersuchung nach einer Woche verlaufen problematisch,
wenn auch von einigen unspezifischen unerwünschten Arzneiwirkungen (UAW) berichtet wird,
die als leicht empfunden werden. Frau M. berichtet von Kopfschmerzen, morgendlichem
Kribbeln in den Armen und schwer beschreibbaren gastrointestinalen Beschwerden. Die
depressive Symptomak ist nicht gebessert. Dr. A. erläutert, daß die unerwünschten
Arzneiwirkungen als Zeichen dafür zu sehen seien, daß das Antidepressivum "anschlägt".
Üblicherweise hätten diese Mittel einen verzögerten Wirkeintritt, dem gelegentlich unerwünschte
Arzneiwirkungen vorausgingen. Als Frau M. die Praxis verläßt, ist sie nicht überzeugt, aber
bereit, das Prüfmedikament eine weitere Woche einzunehmen.
Nach der zweiten Woche berichtet sie von den schon genannten UAW und fügt noch
Mundtrockenheit, Hitzewallungen und Rückenschmerzen hinzu, die auch schon in der
31
vorangehenden Woche vorhanden gewesen seien. Die psychiatrische Untersuchung zeigt nur
geringfügige Verbesserung, die der Patientin selbst nicht deutlich ist.
Mit unveränderter Symptomatik und den UAW, die durch ihre ständige Beeinträchtigung des
körperlichen Empfindens nun als sehr störend betrachtet werden, begründet Frau M. den
Wunsch, die Teilnahme an der Studie zu beenden; sie möchte mit einer bewährten
Standardtherapie weiterbehandelt werden.
Was soll Dr. A. tun?
Bewährte Standardmittel sind vor allem trizyklische Antidepressiva, die wegen der
Kontraindikation Glaukom nicht in Frage kommen: die verbleibenden Antidepressiva - mit
Ausnahme der Vergleichssubstanzen - haben alle eine aktivierende Komponente, so daß deren
Anwendung in diesem Fall weniger ratsam ist.
Frau M. mit der bereits bekannten Vergleichssubstanz aus der Studie zu behandeln, birgt die
50%ige Wahrscheinlichkeit, sie mit eben jenem Antidepressivum zu behandeln, das ihr die
gegenwärtigen Beschwerden macht.
Falldiskussion:
Schumann: Im Gegensatz zu den bisherigen geschilderten Fällen ist dieser deutlich anders
gelagert. Es ist aber auch ein Fall, der besonders häufig vorkommt.
Hinrichsen: Es stellt sich hier die Frage nach dem Therapieabbruch.
Sass: Als Laie würde ich zwischen therapeutischer und nichttherapeutischer Forschung
unterscheiden. Und in diesem Fall fragen, ob diese Forschung überhaupt notwendig ist?
Schumann: Die meisten auf diesem Gebiet verwendeten Arzneimittel sind schon älter.
Vliegen: Ich möchte hier einwenden, daß trizyklische Antidepressiva in der Psychiatrie an erster
Stelle rangieren.
Schumann: Tryziklische Antidepressiva sind eindeutig die Mittel der Wahl, und gegen diese muß
heute getestet werden. Durch niedrigere Dosierung versucht man, eine geringere
Nebenwirkungsrate zu erreichen. Neuere Antidepressiva haben weniger Nebenwirkungen, aber
dafür ganz andere.
Hinrichsen: Mich stören bei diesem Fall die erwähnten 50 %. Wie läßt sich durch Therapie die
Chance z. B. für Suizid vermindern?
Vliegen: Die Krankheit wurde vom praktischen Kollegen diagnostiziert. Dies stellt eine eigene
Problematik in der Falldarstellung dar, da nicht hinreichend zwischen depressivem Syndrom und
endogener Depression unterschieden wird. Die angegebenen Nebenwirkungen ließen sich unter
32
Umständen auch unter die Diagnose subsumieren. Weiter müßte man hinterfragen, ob in diesem
Feld der Erkrankungen solche Studien durchgeführt werden sollten. Es scheint mir aber kein
großes Ethik-Problem zu sein.
Schumann: Die genannten Fragen muß der Prüfarzt sich stellen: der jeweilige pharmazeutische
Unternehmer ist ohne Einfluß auf die Situation.
Vliegen: Probleme hatte ich auch bei der Aussage, daß die geschilderten Nebenwirkungen vom
Prüfarzt als Zeichen dafür gewertet wurden, daß das Mittel anschlägt.
Schara: Man muß bedenken, daß die Patientin nur mit 50%iger Wahrscheinlichkeit das Mittel
bekommen hat, da es sich hier um eine Doppelblindstudie handelt.
Man sollte bei diesem Fall zwei Überlegungen anstellen. Was würden wir machen, wenn die
Frau nicht in der Prüfung wäre und was, wenn sie an diesem Prüfversuch teilnimmt. Im ersten
Fall sollte man nur das Verum-Präparat geben.
Viefhues: Eine Prüfsituation erfordert bestimmte Dinge - Einwilligung des Patienten und die
Möglichkeit zum jederzeitigen Ausstieg des Patienten aus der Prüfung. Wenn sich die
Prüfsituation nur im Kopf des Arztes abspielen würde, dann wäre die Rücknahme der
Einwilligung nicht möglich.
Schumann: Heißt das, sie würden das Präparat weiter verschreiben?
Viefhues: Im stationären Bereich wäre dies vielleicht möglich ...
Hinrichsen: Muß man dem Patienten sagen, daß es sich um eine Prüfsubstanz handle?
Sass: Bestimmte Formulare und Absprachen mit dem Patienten sind vorgeschrieben.
Bei der ethischen Wertung einer klinischen Prüfung muß man den langfristigen Nutzen für Dritte
gegen die Sicherheit des Patienten abwägen, das sind die ethischen Parameter, die das
Arzneimittelgesetz vorgibt. Diese Vorgabe ist ethisch nicht unproblematisch, vor allem, wenn nur
dieses Verfahren zur Zulassung führen kann und andere Modelle ausgeschlossen sind, wie die
Verfahren der Investigational New Drugs (I.N.D.'s) und der Ophan Drugs. - Hinzu kommt ein
weiteres ethisches Problem, daß die Risiken einer Klinischen Prüfung umsonst eingegangen
werden. Wenn viele Leute aus der Prüfung aussteigen, kommt keine ausreichende Zahl
zusammen.
Vliegen: Dies habe ich vor 2 Jahren erlebt. Es handelte sich um eine Migränestudie auf
Praxisebene. Und zwar zu einer Zeit, wo es einige Prozesse wegen ähnlicher Studien gab.
Mangels Masse ist auch diese nicht zustandegekommen. Problematisch werden solche Studien,
wenn sie kommerzialisiert werden.
Viefhues: Warum machten sie bei dieser Studie nicht mit?
33
Vliegen: Ich hatte von drei Studien gehört, die mit einem Prozeß geendet hatten. Ich hatte einfach
Angst.
Schumann: Die Phase 3 einer klinischen Prüfung ist die letzte Stufe vor der Erstzulassung oder
vor der Zulassung einer Indikationserweiterung.
Hinrichsen. Wo liegt hier die ethische Problematik?
Schumann: Wenn schwere Nebenwirkungen auftreten, stellt sich für den Prüfarzt die Frage, ob er
den Code (der Doppelblind-Studie) brechen soll, oder einfach die gesamte Studie abbrechen
sollte. D.h. die Zuverlässigkeit oder Aussagekraft der Studienergebnisse wird n.U. beeinträchtigt.
Sass: Geht das technisch? Kann der Arzt die Firma anrufen?
Schumann: Er kann den Sponsor anrufen um zu fragen, wie dieser den Fall beurteilt.
Hinrichsen: Mein Eindruck verstärkt sich, daß der Arzt in diesem Fall keine Wahl hat.
Sass: Ich sehe hier zwei ethische Probleme
1. Ist der Doppelblindversuch moralisch noch zu rechtfertigen? Er war Ausdruck eines
wohlgemeinten, aber wohl etwas blauäugigen Wissenschaftsverständnisses. Ich tendiere danach,
die Frage zu verneinen. Ich glaube, technische und ethische Unzulänglichkeiten der
randomisierten Studien fordern die gesetzliche Einführung mehererer Alternativen zu den
R.C.C.'s. Von der Computersimulation über die Benutzung historischer Kontrollgruppen bis hin
zu den Investigational New Drugs und der vorläufigen Zulassung nach Pilotstudien.
Schumann: Außer bei völlig harmlosen Fällen. Wir müssen zwischen Krebs und Depression
unterscheiden. Bei einer Depression kommt es auf subjektive Symptome an. Die Beurteilung ist
stark subjektiv.
Barmeyer: Wir leben im Zeitalter der Statistik, Randomisierung etc. In letzter Zeit erst ist da
Skepsis aufgekommen. Früher hat der Arzt nur empirisch gearbeitet, dann kam die Statistik. In
unserem Bereich gibt es riesige Statistiken mit bis zu 12.000 Patienten. Bei genauer Betrachtung
der Daten und Variablen kommen einem aber Zweifel an der Aussagekraft der Statistik. Der
Glaube an die Statistik führte dazu, daß übertriebene ethische Auffassung unterdrückt wurde.
Dazu ein Beispiel aus der Kardiologie: Bei einer Betablocker-Studie hat sich gezeigt, daß bei 47
% die Mortalität gesenkt wurde, woraufhin eine Ethik-Kommission den Abbruch der Studie
verfügte, da man diese Betablocker eigentlich ins Trinkwasser geben müßte.
Wir müssen uns von dieser Wissenschafts-, Mathematikgläubigkeit lösen. Es ist beruhigend, daß
die Empirie beim Arzt so eine große Rolle spielt. Es ist aber beunruhigend, um mit Worten
Poppers zu sprechen, daß man an die Wahrheit so schlecht drankommen kann. Wir brauchen
keine übertriebene Ethik.
34
Vliegen: Psychotropie, ich will das vorsichtig formulieren, quantifizierbarer zu machen und
damit einer naturwissenschaftlichen Betrachtung näher zu bringen, steht ganz am Anfang. Solche
Studien sind für mich höchst zweifelhaft, gerade wenn sie in der Praxis gemacht werden.
Sass: Nur in der Allgemeinpraxis.
Viefhues: Dies ist aber gesetzlich vorgeschrieben.
Barmeyer: Deswegen muß es nicht richtig sein.
Götz-Claren: Wir haben keine andere Alternative. Der Mensch denkt mathematisch, was bereits
eine Studie 63/64 an mogoloiden Kindern zeigte. Es darf niemals das relativ Richtige absolut
gesetzt werden.
Hinrichsen: Die meisten Doktorarbeiten sind nur Statistiken mit wenigen Patienten.
Viefhues: Sobald eine Sache gesetzlich fixiert ist, wird es forschungs- und therapiebehindernd.
Wir sollten bei der nächsten Tagung vielleicht einen Pharmakologen zu uns holen.
Sass: Kann man in der Praxis jederzeit auf Wunsch des Patienten die Teilnahme in einer Studie
ohne Gefahr für ihn abbrechen? Ist das immer ungefährlich? Wann muß man 'ausschleichen'? Die
gängigen Einwilligungsformulare sprechen dies Problem nicht an.
Vliegen: Bei Psychopharmaka ist dies nicht selten.
Sass: Wie gesundheitsschädlich ist das?
Barmeyer: Es können Situationen vorkommen, wo durch Absetzen des Präparates Schäden
auftreten können. Z.B. kann das Absetzen von Betablockern zu Blutdruckanstieg führen und
dann zu einem Angina pectoris-Anfall. Auch das Absetzen von Antikoagulantien kann z.B. zu
Infarkten führen.
Schara: Man kann aber eine Therapie mit der sog. Ausschleichmethode beenden.
Hinrichsen: Was aber den Arzt nicht aus der Verantwortung entläßt.
Schara: Gibt es Medikamente, die man, einmal angefangen, immer nehmen muß?
Vliegen: Natürlich, z.B. Insulin.
Schara: Was hat die Diskussion ihnen gebracht, nichts oder doch eine Antwort?
Schumann: Ich würde vielleicht noch eine Woche weiterbehandeln, denn Nebenwirkungen
können abklingen. Allerdings nur wenn ich vom Zweck der Studie überzeugt bin, bin ich als Arzt
motiviert, die Studie weiterzuführen.
Schara: Die Einwilligung muß immer neu bedacht werden.
Schumann: Wie geht der Allgemeinarzt draußen vor? Hat er ein ethisches Gewissen?
Sass: Das ethische Problem ist vom Gesetzgeber als Rahmen gesetzlich vorgegeben, es ist die
Spannung zwischen dem Interesse an der Studie und dem Risiko für den Patienten. Meiner
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Ansicht nach hat aber Dr. A. noch nicht alles versucht, den Patienten optimal zu informieren.
Kann man von der Patientin nicht verlangen, aus ethischen Gründen weiterzumachen?
Vliegen: Ein weiteres Problem scheint mir erwähnenswert. Wenn der Patient depressiv ist, kann
ein solcher Zustand die Geschäftsfähigkeit dieses Patienten einengen.
Hier liegt ein viel tieferes Problem vor als bei dem
Krebspatienten.
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Anhang
Patientenaufklärung und Autonomie
Lothar Kuttig, Münster
Die in diesem Band der Reihe "Medizinethische Materialien versammelten Beiträge
verhandeln konkrete Fälle in ethischer Perspektive. Bei allen Divergenzen im einzelnen lassen
sich doch einige gemeinsame Fragestellungen ausmachen. Hierzu gehört das Problem der
Patientenaufklärung. Ganz bewußt spreche ich hier von einem Problem: denn scheint auch prima
facie die mit diesem Begriff bezeichnete Pflicht des Arztes theoretisch wohl begründet zu sein, so
sind die Probleme in der Praxis oft um so größer: daß jener Begriff aber auch für den mit
medizinethischen Fragen befaßten Philosophen noch einige ungelöste Fragen aufwirft, sobald er
mit dem begründenden Prinzip der Autonomie verbunden wird, dies zu zeigen, scheint mir - auch
aus Gründen der Interdisziplinarität - nicht ganz ohne Wert zu sein.
Es gehört zu den Grundüberzeugungen der Gegenwart, daß die Autonomie des Menschen
nicht am Krankenbett aufhöre, daß er auch als Patient über sein künftiges Geschick, über die
durchzuführende Therapie zu entscheiden habe. Vom Arzt wird erwartet, daß er diese
Entscheidung auch dann respektiert, wenn er nicht mit ihr übereinstimmt, sie für falsch,
womöglich verderblich hält. Autonomie ist damit in den letzten zwei Dekaden - allerdings nur in
den westlichen Staaten - "zum obersten Prinzip medizinischer Ethik" (Viefhues 1988,27)
avanciert und hat das bis dahin vorherrschende Prinzip wohlmeinender Fürsorge aus dieser
Stellung verdrängt.
Mit dem in zahlreichen Staaten inzwischen auch rechtlich kodifizierten Anspruch des
Patienten auf Selbstbestimmung unmittelbar verknüpft ist die Forderung nach seiner
umfassenden Aufklärung durch den Arzt, erscheint doch nur auf ihrer Basis eine selbstbestimmte
Entscheidung des Kranken möglich. Im Angloamerikanischen hat sich hierfür ein Terminus
eingebürgert, der beides, die Aufklärungspflicht wie die Respektierung des Patientenwillens
einschließt: "informed consent" bezeichnet die rechtlich erforderliche Einwilligung des Patienten
zu einer medizinisch indizierten Therapie auf der Basis vorhergehender ärztlicher Unterrichtung
(Anschütz 1987, 253f; Viefhues 1988,27). Die Pflicht des Arztes zur Aufklärung wird so
abgeleitet aus dem Recht des Patienten auf Selbstbestimmung (Kirby 1983.70). Ohne jene scheint
diese nicht möglich zu sein.
Nicht nur ein Recht auf Aufklärung, sondern sogar eine Pflicht des Patienten, sich
informieren zu lassen, behauptet David Ost (1984). Er argumentiert dabei im Sinne Kants, daß
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Autonomie jene Eigenschaft sei, die ein Wesen allererst zur Person und damit zum Träger von
Rechten und Pflichten mache (Ebd. 303). Autonomie bezeichne daher einen moralischen Status,
sie stelle kein Recht neben anderen dar, sondern sei deren Basis. Daher sei es logisch
widersinnig, Personen das Recht einzuräumen, auf die Autonomie als der Basis aller Rechte zu
verzichten. Bei dem Recht auf Selbstbestimmung handele es sich folglich um ein obligatorisches
Recht, es gebe eine Pflicht zur Autonomie (Ebd.309). Autonom handeln könne aber nur, wer
wisse, was er tue (Ebd. 303), und - so könnte Ost fortfahren - um diese Bedingung zu erfüllen,
müsse der Handelnde bereit sein, alle relevanten Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Ost
zieht interessanterweise einen etwas umwegigeren Begründungsgang vor: Im Anschluß an die
philosophisch-theologische Tradition geht er von zwei Wesensmerkmalen der Autonomie aus:
der Willensfreiheit und der Rationalität des Handelnden. Könne nun gezeigt werden, daß die
Aufklärungsverweigerung irrational sei, so sei bewiesen, daß es ein Recht hierzu nicht gebe, da
Irrationalität die Autonomie und mit dieser die Basis von Rechten aufhebe (Ebd. 303f.).
Wer sich weigere, entscheidungsrelevante Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen, gebe
damit zu erkennen, daß entweder keine denkbare Nachricht für seine Pläne relevant sei, oder daß
er sich schon im Besitze aller notwendigen Informationen wähne. So oder so sei dies Verhalten
Ausdruck von Irrationalität: entweder liege eine obsessive Fixiertheit auf ein Ziel vor oder es
werde der selbstwidersprüchliche Satz vertreten und zur Basis des Handelns gemacht, daß man
schon wisse, was man nicht wissen könne, daß nämlich jene Nachricht, deren Kenntnisnahme
man verweigere, irrelevant sei. Von einem Recht auf Informationsverweigerung könne folglich
keine Rede sein, da dies auf den oben skizzierten Widerspruch hinausliefe, ein Recht zu
postulieren, die Basis aller Recht abzulehnen (Ebd. 306). Für Ost stellt es daher keine Verletzung
der Autonomie und insofern auch keine paternalistische Bevormundung dar, jemanden gegen
seinen ausdrücklichen Willen aufzuklären.
Gegen Ost läßt sich einwenden, daß er die generelle Entscheidung, über den
Krankheitsverlauf nicht informiert zu werden, mit den konkreten, während der Therapie zu
fällenden Entscheidungen konfundiert. Zu den letzteren außerstande, kann der sich der
Aufklärung Verweigernde doch zu jener in durchaus rationaler, wohlüberlegter Weise und in
Übereinstimmung mit seinem individuellen Wertesystem gelangt sein. Denn zu jener
Entscheidung sind die ignorierten Informationen irrelevant. Und es ist nicht per se irrational, sein
Schicksal in die Hände eines anderen zu legen, wenn man Gründe zu der Annahme hat, daß
dieser andere eher in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
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Doch betrifft diese Kritik lediglich jenen Teil der Ostschen Argumentation, der sich auf
den Pflichtcharakter der Aufklärung bezieht und in dieser Hinsicht ist sowieso kaum jemand
bereit, Ost zu folgen (Zur Kritik vgl. Strasser 1986 und die Replik von Ost 1986). Hingegen kann
seine These, Rationalität sei die conditio sine qua non der Autonomie und ausgezeichnet durch
angemessenen Umgang mit den entscheidungsrelevanten Informationen, auf allgemeine
Zustimmung rechnen. Ihr sind jene verpflichtet, die aus dem Recht auf Autonomie auf die
Berechtigung des Anspruchs schließen, umfassend aufgeklärt zu werden, da nur so eine
selbstbestimmte Entscheidung möglich sei, auf sie stützen sich aber auch jene, die, wie Dworkin
(1983) und Feinberg (1971), einen gemäßigten Paternalismus zu begründen suchen und aus der
Unfähigkeit, gegebene Informationen als entscheidungsrelevant zu erkennen, auf die Irrationalität
des Betreffenden schließen (Murphy 1974, 473f.), die ihn in ihren Augen zum geeigeneten
Objekt eines legitimen Paternalismus bestimmt. Offenbar setzt eine autonome Entscheidung nicht
nur das Recht auf umfassende Information voraus, sondern auch die Fähigkeit eines
angemessenen Umgangs mit diesen Nachrichten.
Hier setzt nun die Kritik an einer unbedingten Pflicht zur Aufklärung an. Diese sei
vielfach schon deshalb nicht oder doch nur andeutungsweise möglich, weil "die
Gesprächssituation durch Emotionen regelmäßig so stark beeinflußt (ist), daß eine Information
über das Für und Wider einer ärztlichen Handlung ..., nicht möglich ist" (Anschütz 1987,133).
Aufklärung, die einerseits erforderlich ist, um rational und selbstbestimmt entscheiden zu können,
droht so bereits im Ansatz an der mangelnden Fähigkeit (Rationalität) des Betreffenden hierzu zu
scheitern. Gravierender noch ist der Einwand, daß mit Aufklärung die Hoffnung auf Heilung und
damit Basis zum Durchhalten bei schwerer Krankheit zerstört werden könne (Ebd.12). Dieses
Argument verdient nicht nur deshalb Berücksichtigung, weil es dem für das Heilwesen
konstitutiven Prinzip der Fürsorge ("beneficence") Geltung verschafft und auf die praktischen
Probleme bei der Realisierung des hehren Ideals der Aufklärung hinweist, er ist für unsere
Themenstellung vor allem deshalb von Bedeutung, weil der Gesundheitszustand nicht ohne
Relevanz für die Autonomiefähigkeit, für die Entscheidungskomponente des Betreffenden sein
kann. Auch wenn man nicht so weit geht wie Mark Komrad (1983), für den Krankheit generell
einen Status verminderter Autonomie repräsentiert (Ebd.41), wird man doch schwerlich
bestreiten können, daß zumindest einige Krankheiten, und zwar gerade die schweren und
existentiell bedrohlichen Krankheiten - also genau jene, die die wirklich wichtigen
Entscheidungen erforderlich machen - die Kompetenz der Leidenden hierzu beeinträchtigen.
Wenn dies aber so ist, kann mit einer durch radikale Aufklärung verursachten Verschlechterung
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des
Gesundheitszustandes
des
Unterrichteten
(Anschütz
1987,140)
auch
dessen
Autonomiekompetenz beeinträchtigt und damit das Gegenteil des mit der Aufklärung
Intendierten bewirkt werden. Doch muß nicht einmal angenommen werden, daß erst der durch
Aufklärung beeinträchtigte Gesundheitszustand die Autonomiekompetenz schmälert: hierzu
genügt es auch schon, daß die plötzliche Konfrontation mit der Realität den Unterrichteten in eine
Panik versetzen kann, die seine Urteilsfähigkeit in den für eine Entscheidung relevanten
Zeiträumen blockiert. Der Arzt kann so in das Dilemma geraten, daß er einerseits den Patienten
aufklären muß, um diesem die Möglichkeit einer autonomen Entscheidung zu geben, er aber
andererseits Gefahr läuft, gerade damit die subjektive Fähigkeit des Patienten zu solcher
Entscheidung zu zerstören.
Es wäre ein Mißverständnis, würde man diese Entwände als Plädoyer begreifen, wieder
zur paternalistischen Medizin vergangener Tage zurückzukehren. Dies wäre nicht nur faktisch ein
zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, es wäre auch unbegründet, lassen sich doch die hier
geschilderten Probleme nicht verallgemeinern. In aller Regel "funktioniert" die Aufklärung, wird
das mit ihr angestrebte Ziel erreicht. Differenziert man sie nach ihren Inhalten, so kann
Aufklärung bedeuten:
1. Erklärung der Krankheit und eine möglicherweise erträgliche Prognose;
2. Unterrichtung über die therapeutischen Möglichkeiten und ihre Alternativen;
3. Schilderung der Risiken und möglichen Konsequenzen therapeutischer und diagnostischer
Eingriffe; oder
4. die Todesankündigung. (Anschütz 255).
Problematisch sind in der Regel nur die unter Punkt 3 und 4 genannten Fälle.
Hier sollte lediglich auf einige Probleme im Verhältnis von Aufklärung und Autonomie
hingewiesen werden, die es fraglich erscheinen lassen, ob der weithin vernehmbare Ruf nach
umfassender Aufklärung tatsächlich theoretisch so gut fundiert ist, wie dies prima facie der Fall
zu sein scheint. Einmal kann das Prinzip der Autonomie in Konflikt geraten mit jenem der
Fürsorge, welch letzteres jedenfalls im Gesundheitswesen nicht so ohne weiteres jenem nachund untergeordnet werden kann. Gravierender jedoch ist die Erkenntnis, daß ein Mehr an
Aufklärung nicht notwendig auch ein Mehr an Autonomie zur Folge hat, daß vielmehr ein Zuviel
an Aufklärung unter unglücklichen, vom Arzt aber kaum zu antizipierenden Umständen gerade
das zu vernichten droht, was sie zu fördern, ja allererst zu ermöglichen beansprucht: die
Autonomie. In dieser aber findet die Forderung nach umfassender Aufklärung, die ja kein
Selbstzweck ist, ihr theoretisches Fundament. Zeigt sich nun, daß Aufklärung kein sicher
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wirkendes Instrument zur Realisierung von Patientenautonomie ist, kann es selbst für den, der das
Prinzip der Autonomie gegenüber dem der Fürsorge präferiert, in bestimmten Fällen moralisch
geboten sein, seinem Patienten nicht die (volle) Wahrheit zu sagen.
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LITERATUR
Anschütz, Felix: Ärztliches Handeln. Grundlagen, Möglichkeiten, Grenzen, Widersprüche,
Darmstadt 1987;
Dworkin, Gerald: Paternalism, in: Sartorius, Rolf (Ed.): Paternalism, Minneapolis 1983, 19-34;
Feinberg, Joel: Legal Paternalism, in: Canadian Journal of Philosophy, I,1, 1971, 105-124;
Kirby, M.D.: Informed Consent: What Dopes it Mean?, in: Journal of Medical Ethics, 9, 1983,
69-75;
Komrad, Mark S.: A Defence of Medical Paternalism: Maximising Patients' Autonomy, in:
Journal of Medical Ethics, 9, 1983, 38-44;
Murphy, Jeffrie G.: Incompetence and Paternalism, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie,
LX,4, 1974, 465-486;
Ost, David E.: The 'Right' Not to Know. in: Journal of Medicine and Philosophy, 9, 1984, 301312;
Ders.: Information Waivers: Reply to Strasser, in: Journal of Medicine and Philosophy, 11, 1986,
279-284;
Strasser, Mark: Mill and the Right to Remain Uninformed, in: Journal of Medicine and
Philosophy, 11, 1986, 265-278;
Viefhues, Herbert: Medizinische Ethik in einer offenen Gesellschaft, in: Sass, Hans-Martin und
Herbert Viefhues: Ethik in der ärztlichen Praxis und Forschung. Bochumer Materialien zur
Medizinischen Ethik, Hannover 1988, 10-33.
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