1 1. Philharmonisches Konzert 16 17 Die heutige Konzertbesetzung des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg Konzertmeister Konradin Seitzer Thomas C. Wolf Joanna Kamenarska-Rundberg Violine 1 Danuta Kobus Jens-Joachim Muth Janusz Zis Stefan Herrling Imke Dithmar-Baier Christiane Wulff Sidsel Garm Nielsen Tuan Cuong Hoang Hedda Steinhardt Daria Pujanek Jakub Nowak Katharina Weiß María del Mar Vargas A.* Razvan-Eugen Aliman Violine 2 Hibiki Oshima Sebastian Deutscher Marianne Engel Berthold Holewik Thomas F. Sommer Herlinde Kerschhackel Martin Blomenkamp Felix Heckhausen Anne Schnyder Döhl Annette Schmidt-Barnekow Josephine Nobach Ludovica Nardone Susanne Schmidt Boris Bachmann Thomas Huppertz Viola Naomi Seiler Isabelle-Fleur Reber Sönke Hinrichsen Jürgen Strummel Roland Henn Elke Bär Liisa Haanterä Thomas Rühl Stefanie Frieß Adrienne Hochmann Teresa Westermann Thomas Oepen David Lau Violoncello Thomas Tyllack Clara Grünwald Markus Tollmann Ryuichi R. Suzuki Monika Märkl Arne Klein Brigitte Maaß Yuko Noda Benjamin Stiehl Lukas Helbig Katharina Kühl Kontrabass Stefan Schäfer Tobias Grove Katharina von Held Franziska Kober Franziska Petzold Philipp-Daniel Singer Kerstin Lück-Matern Karsten Lauke Flöte Björn Westlund Manuela Tyllack Jocelyne Fillion-Kelch Oboe Nicolas Thiébaud Melanie Jung Ralph van Daal Klarinette Rupert Wachter Patrick Alexander Hollich Kai Fischer Fagott Christian Kunert Olivia Comparot Fabian Lachenmaier Hannah Gladstones* Horn Bernd Künkele Pascal Deuber Clemens Wieck Ralph Ficker Torsten Schwesig Jonathan Wegloop Trompete Andre Schoch Martin Frieß Mario Schlumpberger Posaune Felix Eckert Hannes Tschugg Jonas Burow Edgar Manyak Tuba Andreas Simon Pauke Jesper Tjærby Korneliusen Schlagwerk Matthias Hupfeld Špela Cvikl* Dirk Wucherpfennig Harfe Clara Bellegarde Orchesterwarte Thomas Geritzlehner Thomas Schumann Thomas Storm * Mitglied der Orchesterakademie 1. Philharmonisches Konzert Sonntag 18. September 2016, 11 Uhr Montag 19. September 2016, 20 Uhr Laeiszhalle Hamburg Richard Strauss (1864-1949) Don Quixote op. 35 Fantastische Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters 1. Introduktion: Don Quixote verliert über der Lektüre der Ritterromane seinen Verstand und beschließt, selbst fahrender Ritter zu werden 2. Thema: Don Quixote, der Ritter von der traurigen Gestalt / Sancho Panza 3. Variation I: Abenteuer an den Windmühlen 4. Variation II: Der siegreiche Kampf gegen das Heer des großen Kaisers Alifanfaron 5. Variation III: Gespräch zwischen Ritter und Knappen 6. Variation IV: Unglückliches Abenteuer mit einer Prozession von Büßern 7. Variation V: Die Waffenwache 8. Variation VI: Begegnung mit Dulcinea 9. Variation VII: Der Ritt durch die Luft 10. Variation VIII: Die unglückliche Fahrt auf dem venezianischen Nachen 11. Variation IX: Kampf gegen vermeintliche Zauberer 12. Variation X: Zweikampf mit dem Ritter vom blanken Mond 13. Finale: Wieder zur Besinnung gekommen, beschließt er seine Tage in Beschaulichkeit. Don Quixotes Tod Pause Johannes Brahms (1833-1897) Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 1. Un poco sostenuto – Allegro 2. Andante sostenuto 3. Un poco Allegretto e grazioso 4. Adagio – Allegro non troppo, ma con brio Dirigent Kent Nagano Viola Naomi Seiler Violoncello Gautier Capuçon Philharmonisches Staatsorchester Hamburg Einführung mit Juliane Weigel-Krämer am Sonntag 10.15 Uhr und am Montag, 19.15 Uhr im Studio E Familienangebot am Sonntagvormittag: Spielplatz Orchester und Künstlergespräch für Kinder mit Gautier Capuçon 2 „Es ist nicht schwer zu komponieren. Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“ Johannes Brahms 3 Im Zeichen der Variation: Wie Richard Strauss sie kunstvoll zertrümmerte und Brahms sich daraus neu als Symphoniker erfand Richard Strauss‘ „Don Quixote“ Entstehung: April bis Dezember 1897 Uraufführung: 8. März 1898, Gürzenich-Orchester Köln Orchesterbesetzung: Viola solo, Violoncello solo – Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 6 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tenortuba, Basstuba, Schlagwerk, Harfe, Streicher Johannes Brahms und Richard Strauss: Ein größerer Gegensatz lässt sich kaum denken. In musikalischer wie in menschlicher Hinsicht. Hier der norddeutsche Grübler, der in Wien seine zweite Heimat fand und das Erbe der Klassik für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterführte, dort der kernige Bajuware, der als jugendlicher Senkrechtstarter die symphonische Welt aus den Angeln hob und später mit seinen Opern Salome und Elektra kühn den Weg ins 20. Jahrhundert beschritt. Man mag es nicht glauben: Kaum mehr als 20 Jahre liegen zwischen den beiden Werken, die im heutigen Konzert zu hören sind. Und doch spiegeln sie die Welten wider, die in formaler, harmonischer und auch instrumentationstechnischer Hinsicht zwischen beiden Komponisten liegen. Übrigens: Brahms hat zwar noch die frühen Erfolge von Richard Strauss erlebt, nicht aber die Uraufführung des Don Quixote von 1898. Er starb ein Jahr zuvor, mit fast 64 Jahren, in Wien. Immerhin war sein letztes, 1888 komponiertes symphonisches Werk ebenfalls ein Konzert für zwei Streicher: das berühmte Doppelkonzert a-Moll für Violine und Violoncello. Doch daran dürfte sich Strauss kaum orientiert haben. Wie er überhaupt dem Kollegen Brahms in herzlicher Abneigung verbunden war. Nicht einmal beim Hamburger Gedenkkonzert 1894 zu Ehren des verstorbenen Dirigenten Hans von Bülow – gleichermaßen Verehrer und Vorkämpfer für die Werke von Brahms und Wagner – konnte sich Strauss überwinden, ein Werk des Hamburgers zu dirigieren, und sagte seine Teilnahme ab. Insofern ist auch die Wahl des Typus „Variation“ für ein symphonisches Werk aus der Feder von Strauss mehr als pikant. Er selbst hat zwar auf die lange und reiche Tradition der Variation hingewiesen; er schreibt von Bachs „unglaublich genialer“ Chaconne, von den „Kaiservariationen“, also dem berühmten Streichquartett Joseph Haydns, und nennt – als Krönung – 4 Honoré Daumier: Don Quixote in den Bergen (ca. 1850) 5 den Adagio-Satz aus Beethovens Es-Dur-Quartett op. 127. Doch das alles sind Tempi passati. Von Brahms, der sich in den Jahrzehnten zuvor in unzähligen Klavier- und Orchestervariationen gerade diesem Genre intensiv gewidmet hatte, keine Rede! Was sich Richard Strauss für Don Quixote als Variation vorgenommen hat, ist also mehr eine Variation der Variation in ihrem herkömmlichen Sinne. Es ist eine Zertrümmerung und künstlerische Neuformung gleichermaßen, in die symphonische Elemente ebenso wie typische Merkmale des Solokonzerts einflossen – schließlich wird die „Hauptrolle“ des Don Quixote, des „Ritters von der traurigen Gestalt“ aus dem gleichnamigen Roman von Miguel de Cervantes, einem Solo-Violoncello zugedacht. Herausgekommen ist letztlich wiederum eine jener so genannten Tondichtungen, mit denen Strauss seit seinen Anfängen mit Don Juan (1888) und Tod und Verklärung (1890) Furore gemacht hatte. 1896 war Also sprach Zarathustra, eine pompöse Huldigung an Friedrich Nietzsche, hinzugekommen, und nur ein Jahr später, im Frühjahr 1897, begann Strauss mit den Skizzen für Don Quixote. Im Kopf hatte er ein symphonisches Doppel – sozusagen die zwei musikalisch-philosophischen Seiten einer Medaille. Dem „Satyrspiel“ um den spanischen Edelmann wollte er eine Symphonische Dichtung „Held und Welt“ gegenüberstellen. Daraus wurde später in der Tat Ein Heldenleben, in dem die Frage des Heldentums auf eine sehr viel diesseitigere Art und Weise gespiegelt wird als in den träumerischen Fantasien des Don Quixote. Der feierte im Frühjahr 1898 seine erfolgreiche Premiere im Kölner Gürzenich; erst danach nahm Ein Heldenleben seine endgültige Gestalt an und wurde 1899, fast genau ein Jahr nach dem „ungleichen Bruder“, in Frankfurt zur Uraufführung gebracht. Wie zwingt man einen so üppigen Roman wie Don Quixote in eine musikalische Form? Indem man ihn klugerweise nicht nacherzählt, sondern – wie Strauss es tat – einzelne Episoden herausgreift, die in ihrer Summe ein farbiges Porträt von den fantastischen Taten und Träumen der Hauptfigur zeichnen. Der Ritter selbst wird durch das Solo-Cello sehr pointiert in den Mittelpunkt gerückt; der französische Romancier und Musikschriftsteller Romain Rolland charakterisierte ihn 1899 als „steif, schmachtend, angriffslustig, ein alter Spanier, ein wenig Troubadour, abschweifend in den Gedanken und immer wieder auf die gleiche Marotte zurückkommend“. Wohlgemerkt: Dieser Don ist der ruhende Pol in all den Wirrungen; Strauss verändert dessen Themen musikalisch nur wenig. Er bleibt er – im Sinne der „idée fixe“ eines Berlioz, als eine feststehende Größe, um die herum die Musik eine ständige Verwandlung erlebt. Für diese Verwandlungen bietet der Roman breitesten Raum, und hat das Werk erst einmal die Phase der „Introduzione“ hinter sich gebracht, in welcher der Hörer auf die kommenden 45 Minuten eingestimmt wird, dann folgen die Stimmungswechsel Schlag auf Schlag. Für jede Variation – sprich: jedes Abenteuer – findet Strauss schlafwandlerisch die passende musikalische Idee: Bleibt der Kampf gegen die Windmühlen noch in den luftigen Trillern 6 der geteilten Violinen und den Glissandi der Harfe stecken (Variation 1), so markieren markige Marschrhythmen, kombiniert mit meckernden Blechbläsern, den „siegreichen Kampf“ gegen die Hammelherde (Variation 2). Das „verrückte Gespräch“ zwischen Don Quixote und seinem Diener Sancho Panza (Variation 3) ist ebenso leicht wiederzuerkennen: Eine Solo-Bratsche verkörpert den braven, durch und durch gediegenen Mitkämpfer, dem kaum mehr als die Rolle eines Stichwortgebers bleibt. Für das „Abenteuer mit einer Prozession von Büßern“ lässt Strauss einen schrägen Pilgermarsch in Trompeten und Posaunen vorbeiziehen (Variation 4), während für die Darstellung der „Bauerndirne“, der angeblichen Dulcinea, ein derber Bauerntanz – im kuriosen Wechsel von Zweier- und Dreiertakt – herhalten muss. Ein grandioses Beispiel für Strauss’ Instrumentationskunst ist der „Ritt durch die Luft“ (Variation 7) mit virtuosesten Figuren von Holzbläsern und Streichern – wie überhaupt die Partitur des Don Quixote mit einer unerhörten Differenzierung der einzelnen Orchesterinstrumente aufwartet. Für die „Unglückliche Fahrt auf dem verzauberten Nachen“ bedient sich der Komponist des wohlbekannten 6/8-Taktes einer Barcarole (Variation 8), während die beiden windigen „Pfäfflein auf ihren Maultieren“ als kontrapunktisch aufmarschierendes Fagottduo leicht zu erkennen sind (Variation 9). Dass all diese ungeschminkten Klanggemälde von Windmühlen, Hammelherden und Prozessionen für die damalige Zeit eine Sensation waren und nicht überall auf Gegenliebe stießen, hat wiederum Romain Rolland bei einer Aufführung in Paris im März 1900 vermerkt: „Das Publikum erstickt vor Entrüstung. (...) Es duldet keinen Scherz. Die Leute sind außer sich über das Blöken von Schafen; sie glauben, man wolle sich über sie lustig machen, man bringe ihnen nicht die gehörige Achtung entgegen.“ Strauss setzt hier fort, was bereits Berlioz in seinen symphonischen Werken vorgezeichnet hatte und was er selbst in der Alpensinfonie zum Höhepunkt führen sollte. Auffällig jedoch ist, dass es dem Komponisten nie um plumpe Nachahmung geht: Das Sujet des fantasierenden Ritters bringt es mit sich, dass immer die Note der Verfremdung, der Karikatur oder gar des Visionären mitschwingt. Die Welt des Don Quixote bleibt eine Welt des Irrealen; das gibt der Musik von Strauss eine Dimension, die so in keiner seiner anderen Symphonischen Dichtungen zu finden ist. Zwischen Bewunderung und Distanzierung: Brahms’ Auseinandersetzung mit Beethoven in seiner ersten Symphonie c-Moll Entstehung: 1862-1877 Uraufführung: 4. November 1876, Großherzogliches Hoforchester Karlsruhe Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher 7 Wie schon erwähnt, hatte Strauss ursprünglich an eine Kopplung seines Don Quixote mit Ein Heldenleben gedacht. Das heutige Konzert dagegen stellt eine andere Paarung zur Diskussion, die ein nicht weniger schicksalhaftes Werk in den Mittelpunkt rückt: die Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Johannes Brahms. Leidenswerk und endgültige Befreiung zugleich: Jahrelang kämpfte der Komponist um seinen symphonischen Erstling, dessen Uraufführung er 1876 als bereits 43-jähriger reifer Mann erlebte. Danach jedoch ging es Schlag auf Schlag: Bereits ein Jahr später folgte die 2. Symphonie D-Dur. Kein Text über Brahms’ Erste kommt ohne jenes berühmte Zitat aus, das der Komponist selbst von sich gab, als er auf die merkwürdige Ähnlichkeit zwischen dem C-Dur-Thema des Finales und Beethovens Neunter angesprochen wurde: „Jawohl, und noch merkwürdiger ist, dass das jeder Esel gleich hört.“ Dass ein so formbewusster Künstler wie Brahms an dem übergroßen Symphoniker Beethoven nicht vorbei kam, versteht sich von selbst. Wie er aber den Weg weitergehen könnte, das bereitete ihm gewaltiges Kopfzerbrechen und zeitigte diverse Kompositionsversuche, die immer wieder in der Sackgasse endeten. Oder anderweitig Verwertung fanden, wie jene d-Moll-Symphonie (in der Tonart von Beethovens Neunter!), die zum einen die Basis für das 1. Klavierkonzert bildete, aber in Teilen auch ins Deutsche Requiem übernommen wurde. Schließlich waren es die Umwege über die kleinere Form der Orchesterserenaden, Streichquartette und Klaviertrios, welche für Brahms die Türen zu neuen symphonischen Lösungen öffneten. Worin lag das Problem? Kurz gesagt: Beethoven hatte in seiner dialektischen Zuspitzung auf zwei gegensätzliche Themen und die Ausrichtung der Sätze auf einen Spannungshöhepunkt eine Vollendung erreicht, die höchstens kopierbar, aber nicht erreichbar oder fortzuführen war. Brahms suchte nach neuen Formprinzipien und fand sie schließlich in dem, was Arnold Schönberg später die „entwickelnde Variation“ nannte. Ein Thema wird zur Keimzelle für einen ganzen Satz, wenn nicht gar für die ganze Symphonie. Veränderung und Verwandlung findet fortwährend statt, ohne dass ein zweites Thema benötigt würde. Mit Brahms bekommt die Bezeichnung „Variation“ einen doppelten Sinn: Sie folgt einerseits dem traditionellen Vorbild – wie etwa in den Haydn-Variationen op. 56, den Händel-Variationen für Klavier op. 24 oder der Verwendung der Passacaglia in der 4. Symphonie. Und sie bedeutet auch jenes neue Formprinzip, das bei Brahms von nun an zur vorherrschenden Idee all seiner Instrumentalwerke wird. Für die erste Symphonie bedeutet das, dass schon in der langsamen so genannten Einleitung die gesamte Substanz des folgenden Werkes im Keim angelegt ist, wie es der Musikpublizist Bernhard Rzehulka in seiner Analyse zusammengefasst hat: „Zwei chromatisch gefärbte Linienzüge, die aufwärts strebenden Stimmen von Violinen und Celli sowie die gegenläufigen in den Holzbläsern, organisieren sich mit dem Orgelpunkt der Pauken und Bässe zum dreistimmigen kontrapunktischen Geflecht.“ Diese drei Elemente werden im anschließenden Allegro-Teil zum Teil wörtlich wieder aufgenommen, ansonsten aber auch 8 fragmentiert als kleinere Bausteine für das große Gesamtgebäude genutzt. Soweit sich Brahms auch bisweilen harmonisch von der Grundtonart c-Moll entfernt, so stringent hält er den Charakter des Satzes durch: unruhig, vorwärtsdrängend, von düsteren Klangfarben geprägt, welche durch die zusätzliche Verwendung des Kontrafagotts (Vorbild: Beethovens Neunte!) noch verstärkt werden. Wo alles Entwicklung und Veränderung ist, verliert die klassische Durchführung des Sonatenhauptsatzes – die sonst für das „Abklopfen“ der Themen auf ihre Substanz zuständig war – an Gewicht. Bei Brahms wirkt sie wie eine Fortsetzung der Exposition mit gesteigerten Mitteln, die dann, mit chromatisch aufsteigenden Akkorden, nahtlos in die Reprise zurückführt. Hier versagt sich der Komponist weitere Neuerungen, indem er die Klanggestalt der Exposition nahezu wörtlich wiederholt. Mag auch der Andante-Satz aus dem gleichen Tonmaterial gespeist sein: Er führt dennoch in eine völlig andere Klangwelt, deren liedhafter Charakter sich zuerst in den Streichern, dann in den Holzbläsern wie Oboe und Klarinette entfaltet. Doch gar zu idyllisch mag es Brahms auch hier nicht. Immer mehr verdichtet sich das Klanggeflecht; synkopische Gegenbewegungen bringen ebenso Unruhe wie die permanente Konfrontation von Triolenund Duolen-Bewegungen. Erst mit der Wiederkehr des A-Teils setzt sich das Licht endgültig durch – mit einer Solovioline, die ihre Ornamente wie absichtslos in den Orchesterpart hineinspinnt. Im dritten Satz vermeidet Brahms augenscheinlich jede Auseinandersetzung mit Beethoven: Statt des traditionellen Scherzos im markanten 3/4-Takt entscheidet er sich für ein Allegretto im 2/4-Takt. Nach dem wiederum heiteren Beginn mit einer Klarinettenmelodie über Pizzicato-Bässen, mit den von Brahms so geschätzten Terz- und Sextabfolgen, wagt er im Mittelteil eine spannende Kombination: Melodisch wandelt er weiter auf den Pfaden des Allegretto, rhythmisch kehrt er mit dem 6/8-Takt und seinen pochenden Achteln unüberhörbar zum ersten Satz zurück. Und mit seinen Fortissimo-Ausbrüchen setzt er einen deutlichen Kontrapunkt zu dem pastoralen Rahmen dieses Satzes. Was danach kommt, ist wirklich neu. Kein heiterer Ausklang mehr, kein rasanter Kehraus im Presto-Fieber, der die düsteren Gedanken eines Adagio-Satzes verscheucht. Stattdessen ein Finale, das an Länge wie an Komplexität das Eingangs-Allegro bewusst noch übertrifft. Eher zögerlich nimmt dieser Satz Gestalt an: eine Phrase der Violinen in c-Moll, gefolgt von einem ziellos beschleunigten Pizzicato, dann ein zweiter Anlauf nach demselben Schema, der in ein energisches Crescendo und einen theatralischen Paukenwirbel mündet. Wie das Aufgehen eines Vorhangs wirkt danach die Hornmelodie, die sich über tremolierenden Streichern und Posaunen (erstmals in dieser Symphonie) völlig frei entfalten kann. Die Soloflöte nimmt das Motiv auf, die tiefen Bläser antworten mit einem Choralmotiv, ein zweites Horn fällt ein – auffällig ist die bewusste Rücknahme der bisher so komplexen Kompositionsstrukturen zugunsten einer schlichten, sinnlichen Melodik. 9 Max Ernst: Tag und Nacht (1941/42) 10 Ausschnitt aus einem Deckengemälde in der Neuen Tonhalle Zürich von Peregrin von Gastgeb und Karl Peyfuss (Johannes Brahms, Ludwig van Beethoven) 11 Aber auch diese Episode ist nur Vorahnung und Vorspiel zum eigentlichen Hauptthema des Finales, jener von einem sonoren Streichersatz breit ausgespielten C-Dur-Melodie, deren Ähnlichkeit mit Beethovens Neunter Erstaunen und Befremden gleichermaßen ausgelöst hat. Dass Brahms nicht nur hier, sondern auch in anderen Werken – wie in der Orchesterserenade op. 11 oder dem Streichquintett op. 88 – immer wieder Beethoven zum Vorbild genommen hat, darauf hat der Hamburger Musikwissenschaftler Constantin Floros in seinem Brahms-Buch ausführlich hingewiesen. Zwischen Bewunderung und Distanzierung war es dem jüngeren Komponisten ein lebenswichtiges Anliegen, sich produktiv mit dem Werk des überragenden Vorgängers zu messen; am auffälligsten ist die Nähe zu ihm in der formalen Gestaltung wie im Gestus des musikalischen Ausdrucks. Kopiert hat Brahms Beethoven keineswegs, und auch das Finale der Ersten zeichnet ein völlig eigenständiges Bild, in dem sich zudem handwerkliche Meisterschaft und un­ trüglicher Klangsinn gegenseitig befruchten. So schafft es Brahms, im Laufe des Satzes das Streicherthema zwanglos mit dem Hornthema zu verknüpfen, indem er nach einer gewaltigen, von Fortissimo-Synkopen abgebremsten Steigerung beide Instrumente in einen Dialog treten lässt. Die klare Ausrichtung ohne kontrapunktische Verwicklungen wird konsequent durchgehalten. Sie verleiht dem Satz eine Zielstrebigkeit, die im Più Allegro-Teil – thematisch als weitere Variation des C-Dur-Themas angelegt – noch einmal eine massive Beschleunigung erfährt. Der Orgelpunkt der Pauken bildet hier nicht nur das Fundament dieses Schlussspurts, mit ihm schließt sich auf eindringliche Weise auch kompositorisch der Ring zum Anfang der c-Moll-Symphonie. Michael Horst 12 13 Kent Nagano Kent Nagano gilt als einer der herausragenden Dirigenten sowohl für das Opernals auch das Konzertrepertoire. Seit der Spielzeit 2015/16 ist er Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Hamburgischen Staatsoper und Hamburgischer Generalmusikdirektor des Philharmonischen Staatsorchesters. Zudem ist er seit 2006 Music Director des Orchestre symphonique de Montréal und seit 2013 Artistic Advisor und Principal Guest Conductor der Göteborger Symphoniker. Im Bewusstsein der bedeutenden Tradition der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters möchte Kent Nagano gemeinsam mit Opern- und Orchesterintendant Georges Delnon im Spannungsfeld zwischen sorgsamer Pflege eines breiten Repertoires und markanter Leidenschaft für das Neue ein eigenes und erkennbares Profil für die Musikstadt Hamburg entwickeln. Als vielgefragter Gastdirigent arbeitet Kent Nagano weltweit mit den führenden internationalen Orchestern. Von 2014 bis 2016 gestaltete er im Rahmen der AUDI-Sommerkonzerte ein eigenes Festival, das Vorsprung-Festival. Für seine Aufnahmen von Busonis Doktor Faust mit der Opéra National de Lyon, Prokofjews Peter und der Wolf mit dem Russian National Orchestra sowie Saariahos L’Amour de loin mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin wurde er mit Grammys ausgezeichnet. Wichtige Stationen in Naganos Laufbahn waren seine Zeit als Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper in München von 2006 bis 2013 sowie als künstlerischer Leiter und Chefdirigent beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin von 2000 bis 2006. Der gebürtige Kalifornier wurde 2003 zum ersten Music Director der Los Angeles Opera ernannt. Von 1978 bis 2009 war er Music Director beim Berkeley Symphony Orchestra und ist dort weiterhin als Conductor Laureate tätig. Seine ersten großen Erfolge feierte er 1984 beim Boston Symphony Orchestra, als Messiaen ihn für die Uraufführung seiner Oper Saint François d’Assise zum Assistenten des Dirigenten Seiji Ozawas ernannte. Von 1988 bis 1998 war er Music Director der Opéra National de Lyon und von 1991 bis 2000 Music Director des Hallé Orchestra. 14 Gautier Capuçon Gautier Capuçon hat sich längst als einer der führenden Cellisten seiner Generation etabliert und sorgt regelmäßig mit seinen Aufnahmen und Konzerten für Aufsehen. 1981 in Chambéry geboren, begann Capuçon im Alter von fünf Jahren mit dem Cellospiel. Er studierte am Conservatoire National Supérieur in Paris bei Philippe Muller und Annie Cochet-Zakine und anschließend in der Meisterklasse von Heinrich Schiff in Wien. Als Gewinner zahlreicher erster Preise bei internationalen Wettbewerben, darunter der Internationale André Navarra Preis, wurde Capuçon 2001 bei den Victoires de la Musique als Nachwuchskünstler des Jahres ausgezeichnet und erhielt 2004 einen Borletti-Buitoni Trust Award. Seitdem wurde er auch mit mehreren Echo Klassik Preisen geehrt, zuletzt für seine Aufnahme mit Gergiev und für die Einspielung von Faurés kompletter Kammermusik. Gautier Capuçon spielt als Solist mit den großen Orchestern weltweit und arbeitet regelmäßig mit Dirigenten wie Eschenbach, Gergiev, Nelsons, Nézet-Seguin und vielen weiteren. Er ist gern gesehener Gast bei Orchestern wie den Berliner Philharmonikern, dem New York Philharmonic, London Symphony Orchestra und dem Mariinsky Orchestra, um nur einige zu nennen. Neben Auftritten bei europaweiten Festivals, ist Gautier Capuçon auch immer wieder mit Partnern, wie zum Beispiel Nicholas Angelich, Daniel Barenboim, mit seinem Bruder Renaud und den Quartetten Artemis und Ebène zu hören. Mit der CD La Muse et le poète, die im Herbst 2013 erschien, präsentieren Gautier und Renaud Capuçon zusammen mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France und Lionel Bringuier Werke von Saint-Saëns. Seine jüngste Veröffentlichung sind die beiden Cellokonzerte von Schostakowitsch mit Valery Gergiev und dem Mariinsky Orchester. Gautier Capuçon engagiert sich aktiv im Education-Bereich und ist Botschafter des 1997 gegründeten Zegna & Music Project. Seit Dezember 2014 gibt er im Auftrag der Louis Vuitton Stiftung Meisterkurse für exzellente Nachwuchs-Cellisten. Naomi Seiler Naomi Seiler ist als Tochter einer japanischen Pianistin und eines bayrischen Pianisten in einer musikalischen Familie aufgewachsen und genoss schon in ihrer Kindheit in Japan und Salzburg eine weitläufige musikalische Ausbildung. Nach dem Familienumzug nach Salzburg, wo beide Eltern als Professoren am Mozarteum unterrichteten, erhielt sie als 14-Jährige ein Hochbegabten Stipendium für ein Studium an dieser Universität bei Professor Jürgen Geise. Mit ihren Geschwistern gründete sie schon in dieser Zeit das „Seiler Quartett“, mit dem sie bis heute in der ganzen Welt konzertiert, wann immer es ihre gemeinsame Zeit erlaubt. Als 19-Jährige erwarb Naomi Seiler bereits ihr Diplom in Salzburg und setzte dann ihre Studien fort bei Ulrich Koch in Freiburg und bei Hirofumi Fukai an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, wo sie das Konzertexamen ablegte. Die mehrfach preisgekrönte Bratschistin ist als Solistin und Kammermusikerin auf zahlreichen Festivals und Konzertbühnen in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Kanada und Japan, oft verbunden mit Rundfunk- und Fernsehaufnahmen, ein gern gesehener Gast. In Peter Konwitschnys Inszenierung des Weberschen Freischütz war sie wiederholt als weiblicher Samiel auf der Bühne der Staatsoper zu erleben. Naomi Seiler ist seit 1989 Solobratschistin beim Philharmonischen Staatsorchester, bei welchem sie regelmäßig solistische Engagements wahrnimmt, und unterrichtet an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. 15 Vorschau 16 2. Philharmonisches Konzert 1. Kammerkonzert Sonntag 09.10.2016, 11:00 Uhr Montag 10.10.2016, 20:00 Uhr Sonntag 30.10.2016, 11:00 Uhr Joseph Haydn Symphonie d-Moll Hob. 1/80 Elliott Carter Oboenkonzert Ludwig van Beethoven Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36 Dirigent Thomas Zehetmair Oboe Heinz Holliger Dominick Argento: Six Elizabethan Songs Antonio Vivaldi: Concerto a-Moll RV 108 Georg Philipp Telemann: Concerto Nr. 6 a-Moll Antonio Vivaldi: Domine Deus aus Gloria RV 588/589 Ilja Hurník: Sonata da camera Georg Melchior Hoffmann: Aria aus „Meine Seele rühmt und preist“ Laeiszhalle (Großer Saal) Konzert mit Kinderprogramm am 9. Oktober Weitere Informationen unter www.staatsorchester-Hamburg.de/jung Sopran: Maria-Isabella Jung Violine: Hibiki Oshima Violoncello: Yuko Noda Flöte: Vera Plagge Oboe: Nicolas Thiébaud Cembalo: Nadine Remmert Laeiszhalle (Kleiner Saal) Die Blumen für Solisten und Dirigenten werden gesponsert von 17 Stiftung Philharmonische Gesellschaft Hamburg Die Stiftung Philharmonische Gesellschaft Hamburg steht seit ihrer Gründung im Jahre 1985 dem Philharmonischen Staatsorchester zur Seite und führt die hanseatisch-philharmonische Tradition der Gründerväter des Orchesters fort. Die Stiftung unterstützt den Klangkörper im Bereich der Orchesterakademie, bei der Finanzierung von CD-Produktionen und der Zeitungsbeilage „Philharmonische Welt“ oder bei der Anschaffung von Instrumenten. Bringen auch Sie Ihre Verbundenheit mit der Musikstadt Hamburg und dem Orchester der Hansestadt zum Ausdruck! Spendenkonto Haspa, IBAN: DE24 2005 0550 1280 3739 92, BIC: HASPDEHH Freunde und Förderer Freundeskreis-Mitglieder sind ganz nah dran an den Philharmonikern und kommen in den Genuss von Probenbesuchen, Künstler- und Expertengesprächen sowie Einladungen zu exklusiven Veranstaltungen rund ums Orchester. Der Freundeskreis unterstützt die künstlerische Arbeit der Philharmoniker einerseits durch Förderbeiträge, andererseits als engagierter Botschafter für das Orchester in der Hansestadt. Seien auch Sie dabei! Unterstützen Sie Ihr Orchester und werden Sie Mitglied im Freundeskreis! Weitere Informationen: www.staatsorchester-hamburg.de/freundeskreis Herausgeber Landesbetrieb Philharmonisches Staatsorchester Generalmusikdirektor Kent Nagano Redaktion Janina Zell Gestaltung Annedore Cordes Design-Konzept Orchesterintendant Georges Delnon PETER SCHMIDT, BELLIERO & ZANDÉE Orchesterdirektorin Susanne Fohr Litho Repro Studio Kroke GmbH Dramaturgie Dr. Dieter Rexroth Herstellung Hartung Druck + Medien Presse und Marketing Hannes Rathjen Nachweise Der Artikel von Michael Horst ist ein Originalbeitrag für das Philharmonische Staatsorchester Hamburg The Bridgestone Museum of Art, Tokyo – The Menil Collection, Houston. – Werner G. Zimmermann: Brahms in der Schweiz. Zürich 1983 – Felix Broede, Piera Tammaro, Meike Hamman Anzeigenverwaltung Antje Sievert, Telefon (040) 450 69803 antje.sievert@kultur-anzeigen. com