Aufmerksamkeitsstörungen im Kinder

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Aufmerksamkeitsstörungen im Kinder- und Jugendalter – Beschreibung,
Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten
(Vortragskonzept der Referenten Dr. M. Schultebraucks (Sonderschulrektor SfK Bad
Sassendorf) und Dr. R. Fidler (SoPäd E/LB) ohne Anschauungsmaterial und ausführliche
Quellenangaben)
1 Erscheinungsbild
Die früheste und bekannteste Beschreibung aufmerksamkeitsgestörten Verhaltens stammt von
dem Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffman (1845):
„Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?"
Doch der Philipp hörte nicht,
was der Vater zu ihm spricht,
er gaukelt und schaukelt,
er trappelt und zappelt auf dem Stuhle hin und her.
“Philipp das missfällt mir sehr!“
1.1 Hauptmerkmale
Unaufmerksamkeit (ADHS) / Verträumtheit (ADS)
Hyperaktivität
Impulsivität
Ausschlussmerkmale: Dauer der Symptome weniger als 6 Monate, Beginn erst nach dem
7. Lebensjahr, Vorliegen tiefgreifender Entwicklungsstörungen
1.2 Situationen und Rahmenbedingungen, in denen aufmerksamkeitsgestörtes Verhalten
gehäuft auftritt
In stark strukturierten Situationen, die zielgerichtete Koordination von
Lösungsstrategien erfordern (schulischer Kontext, Hausaufgaben) – Problemkreis:
Schulleistungen
Im Zusammenhang mit Sozialkontakten, die Rücksichtnahme, Einordnung in ein
(verdecktes) Regelsystem und Frustrationstoleranz voraussetzen – Problemkreis:
Umgang mit Gleichaltrigen
Im familiären Bereich (Konflikte bei der Hausaufgabenerledigung, Vergessen von
Aufträgen und „Werkzeug“, Protestverhalten, Beziehungsschwierigkeiten –
Problemkreis: familiäre Konflikte
1.3 Persönlichkeitsmerkmale aufmerksamkeitsgestörter Kinder
Unsicherheit und negatives Selbstbild (oft kaschiert durch expansive
Verhaltensweisen wie Großspurigkeit, Aggressivität, offensives/oppositionelles
Verhalten)
Stimmungslabilität
Verhaltensauffälligkeiten als reaktive Folgen der o.g. problematischen Erfahrungen
Niedrige Frustrationstoleranz
1.4 Wie äußert sich die Aufmerksamkeitsstörung?
Aufmerksamkeitsstörungen erklärt man sich mit einer „Filterschwäche“ des Gehirns bei der
Verarbeitung von Informationen. Diese Störung führt dazu, dass ADS-Kinder Umweltreize,
die auf sie einströmen, weniger gut filtern können als andere Kinder. Diese Filterfunktion des
Gehirns, die sich im Laufe der Entwicklung eines Kindes herausbildet, ist ganz besonders
wichtig für die Steuerung von Verhalten. Sie ermöglicht es, Wichtiges von Unwichtigem zu
unterscheiden, sich auf eine Sache zu konzentrieren, ohne von einem anderen Reiz abgelenkt
zu werden, und bei der Erledigung einer Aufgabe einen Schritt nach dem anderen zu tun.
Vereinfacht ausgedrückt ist Aufmerksamkeit, die Fähigkeit bei einer Sache zu bleiben auch
wenn sie im Augenblick langweilig oder anstrengend geworden ist.
Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind mit dem Auto in einer schönen Landschaft unterwegs
und hören dabei eine Sendung im Autoradio. Sie können sich auf das Autofahren
konzentrieren, die Landschaft bewundern und Ihre Lieblingsmusik im Radio verfolgen. Wenn
Sie allerdings in eine gefährliche Situation kommen, wird Ihre ganze Aufmerksamkeit auf
diese Gefahrensituation gebündelt, die Filterfunktion des Gehirns sorgt dafür, dass Landschaft
und Lieblingsmusik als Reize für die Bewältigung unwichtig sind, sie werden unterdrückt, um
all Ihre Konzentration auf das Autofahren zu verwenden.
Diese Steuerungsfunktion des Gehirns können Sie auch daran erkennen, dass Sie sich nach
einer solch gefährlichen Situation nur schwer daran erinnern können, welche Musiktitel im
Auto zu dem Gefahrenmoment gespielt wurden. Bei ADS-Kindern funktioniert dieser Prozess
der Ausblendung unwichtiger Reize nur sehr eingeschränkt oder überhaupt nicht. Auch die
Fokussierung der Aufmerksamkeit ist aus diesem Grund nur in geringem Umfang möglich
(Warnke, Andreas: Informationsheft zum Hyperkinetischen Syndrom, Klinik und Poliklinik
der Universität Würzburg o.J., S. 5f.)
1.5 Folgen von Aufmerksamkeitsstörungen und Probleme aufmerksamkeitsgestörter
Kinder im Jugend- bzw. im Erwachsenenalter
Die Kinder können wichtige normative Anforderungen nicht erbringen und
sogenannte Entwicklungsaufgaben nicht bewältigen (z.B. Lernleistungen erbringen,
Schulabschlüsse erwerben)
Sie können zentrale entwicklungsrelevante Kompetenzen nicht erlernen (z.B.
Lernkompetenzen, soziale Konfliktregelungen)
Sie sind eher von förderlichen Sozialkontakten ausgeschlossen (z.B. GleichaltrigenKontakte)
Sie sind eher von Selektionsmaßnahmen betroffen (z.B. Wiederholen einer Klasse,
Überweisung in Sondereinrichtungen)
Aufmerksamkeitsstörungen beeinträchtigen so die Entwicklungsvoraussetzungen und stehen
dadurch oft am Beginn eines negativen Entwicklungsverlaufes. Längsschnittuntersuchungen
haben zudem ergeben, dass solche Störungen „sich nicht verwachsen“, wenn die Kinder älter
werden. Solche Kinder haben auch als Jugendliche bzw. junge Erwachsene ausgeprägte
Probleme.
1.6 Merkmale des ADS im Erwachsenenalter
Vorherrschen chronischer zwischenmenschlicher Konflikte
Ruhelosigkeit
Abrupte Lebensentscheidungen
Konfliktreiche Sozialbeziehungen, unstete Lebensführung
Wenig konsistente Zielsetzungen
Deutlich weniger befriedigende soziale Kontakte als unauffällige Vergleichsgruppen
= soziale Isolation
2 Synonyme Bezeichnungen und Verbreitung
Heute gültiger Begriff: „Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung“
(Diagnostic and Statistical Manual - III - R 1987) - Verwandte Begriffe zur
Bezeichnung derselben Phänomene: Hyperkinetisches Syndrom, Hyperaktivität,
MCD, Psychoorganisches Syndrom
Multifaktorielles Syndrom mit weitreichenden individuellen,
gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Auswirkungen
Verbreitung:
laut DSM R 1987: 3% einer unausgelesenen Population in den USA
im deutschen Raum 4 - 10% (Brocke 1984), Vollbild des Syndroms: 3-4% der
Grundschüler, etwa 2% der Jugendlichen; sehr schwer ausgeprägte Störungen (=
unbeschulbare Kinder ): 1% (Kinderärztliche Praxis, Sonderheft „Unaufmerksam und
hyperaktiv“, Kirch Verlag Mainz 2001)
bei ausgewählten Populationen (Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten auf einer
neuropsychiatrischen Station): 56% (Kinze, Barchmann, Ettrich, Handreg 1984) bzw.
60-80% (Barchmann 1988), häufig ist eine Kombination von Verhaltensstörungen und
Aufmerksamkeitsstörungen (in mehr als 50% aller Fälle Überschneidungen)
bei Kindern, die in Erziehungsberatungsstellen betreut werden, stellen
„Lernschwächen/Aufmerksamkeitsstörungen“ mit 26% den häufigsten
Behandlungsanlass dar
ca. 80% der Lehrer sprechen von einem Anwachsen der Zahlen in den letzten Jahren
und diagnostizieren gleichzeitig eine Zunahme der Schwere der Störung
(Lauth/Schlottke 1993, S. 7)
Remschmidt 2001: "ungefähr 3% der Grundschulkinder"
Geschlechterverteilung
3:1, bzw. 5:1 Relation zwischen Jungen und Mädchen
Ursachen für die ermittelte Relation: stärkere Beachtung der Jungen in der
Forschung, kulturell vorgeprägte geschlechtsabhängige Verhaltensmuster: Jungen
tendieren bei emotionalen Problemen und Überforderung eher zu expandierenden
Verhaltensweisen und werden so häufiger auffällig, Mädchen ziehen sich eher zurück
3 Sichtweisen und Erklärungsansätze
3.1 Medizinische Sichtweise
Genetische Faktoren: „Familien-, Adoptions und Zwillingsstudien zeigen, dass die
ADHS die extreme Ausprägung eines primär genetisch determinierten Verhaltens
darstellt. Etwa 80% der Verhaltensvarianz sind auf erbliche Faktoren zurückzuführen.
Die bisherigen molekulargenetischen Befunde (z.B. Zusammenhang mit DRD 4-7Rezeptorgen und DAT 1-10-Transportergen-Polymorphismen) legen nahe, dass die
Übertragung in mehreren Genen zu suchen ist, deren Zusammenwirken komplexe
Neurotransmitterfunktionen kontrollieren. [...] Die genetischen Befunde unterstützen
die Hypothese, dass die ADHS in erster Linie von einer Fehlregulation des
Dopaminstoffwechsels begleitet wird“ (T. Banaschewski / A. Rothenberger:
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Pathophysiologische Hintergründe und therapeutische
Chancen, in: extracta psychiatrica/neurologica, 7-8/2003, S. 8-12, bes. S. 9f.).
Organische Faktoren: leichtgradige Hirnschädigung (Minimale Cerebrale
Dysfunktion) wird als Ursache für Wahrnehmungsstörungen, unstabile
Aufmerksamkeit und Beeinträchtigung der Intelligenzentwicklung angesehen.
Grundsätzlich günstige Prognose wegen der Möglichkeit der Kompensation im Laufe
der Entwicklung: aber: günstiger Nährboden für abnorme Reaktionen und Neurosen.
Empirische Studien können nicht eindeutig nachweisen, dass AD(H)S-Kinder häufiger
pränatale oder perinatale Anomalien mit der Folge einer MCD aufweisen als NichtAD(H)S-Kinder → nicht ausreichender Erklärungsansatz
Neurologischer Erklärungsansatz nach Prof. Gerald Huether, Uni Göttingen:
Unzureichend entwickelte Ich-Funktionen (Selbstbild, Leitbilder, Haltungen,
Handlungsplanung u. Fähigkeit zur Folgeneinschätzung = “Frontalhirndefizit“) als
Folge eines überstark entwickelten dopaminergen System aufgrund von
Reizüberflutung und nicht ausreichend stabilen emotionalen Beziehungen → Dopamin
wirkt dann als Unruhestifter im - genetisch nicht vorstrukturierten - Frontalhirn und
verhindert, dass sich dort die komplexen Ich-Funktionen entwickeln können. „Man hat
nicht genug Frontalhirnfunktionen, um die inneren Impulse zu steuern und die von
außen kommenden Reize so zu filtern, dass sie nicht gleich auf die emotionalen
Zentren einwirken. Und man hat in den emotionalen Zentren [= limbisches System]
ein zu stark entwickeltes Dopamin ausschüttendes System, das diese Impulse wieder
in Handlungen übersetzt, so dass man im Frontalhirn keine stabilen Erregungsmuster
aufbauen kann.“ (negativ gesteuerte Rückkkopplung = Teufelskreis)
Komplexe Funktionen innerhalb des Frontalhirns:
"Ich"-Funktionen
(z.B. Selbstbild, Selbstwirksamkeitskonzept)
Leitbilder, Ziele, Orientierungen (Motivation)
Haltungen,
Verantwortung,
Empathie
(sozial/emotionale
Kompetenz)
Handlungsplanung
Folgeneinschätzung
(Impulskontrolle)
3.2 Psychosoziale Sichtweise
psychoanalytischer Ansatz: AD(H)S = missglückte Persönlichkeitsentwicklung:
ein schwaches Ich ist nicht hinreichend in der Lage, zwischen den nach Abfuhr
drängenden Triebkraftimpulsen des Es und den Kontrollinstanzen des Über-Ich
ausgleichend zu vermitteln → Schuldgefühle, emotionale Instabilität → AD(H)S =
Symptom für tieferliegende Ursache
sozialisationstheoretischer Ansatz: In der frühkindlichen Interaktion zwischen
Mutter und Kind wird das auffällige Verhalten mit Missbilligung und Druck bestraft
→ vergiftetes Beziehungsverhältnis und negative Verstärkung → Minderung des
Selbstwertgefühls
3.3 Lerntheoretische Sichtweise
Unterstimulierungshypothese (Zentall 1970): Die Kinder leiden an
Reizdeprivation und stimulieren sich deshalb durch vermehrte Aktivitäten selbst; auch
die Zuwendung zu anderen Personen (z.B. durch Schreien zur Mutter) bewirkt
Stimulation (Streicheln), die ohne das auffällige Verhalten nicht erreichbar gewesen
wäre → positive Verstärkung, die durch intermittierende Verstärkung gegen Löschung
resistent wird. Fortsetzung im Schulalter → schließlich wird auch die negative
Verstärkung (Schimpfen des Lehrers usw. ...) als positiv wahrgenommen (= Reduktion
der Reizdeprivationsempfindungen ; Erfolgserlebnisse durch Im-Mittelpunkt-Stehen)
→ Generalisierung von Verhaltensauffälligkeiten
Modellernen: Bandura/Ross/Ross konnten nachweisen, dass man - ohne direkt
selbst verstärkt zu werden - von Modellen (= AD(H)S-Elternteil) lernen kann.
Stigmatheorie: Ein Personenmerkmal weicht von den gesetzten Standards ab und
wird von der Umwelt negativ bewertet; unter ungünstigen Bedingungen (z.B.
Lehrerstandards, Lehrerwahrnehmung) wird darüber hinaus die gesamte Person
negativ wahrgenommen und bewertet → dieser Prozess wirkt sozial ansteckend, so
dass das betroffene Kind vermehrt auch von anderen Personen (z.B. Mitschülern)
negative Rückmeldungen über sich erhält → das Kind identifiziert sich nun mit den
ihm zugeschriebenen negativen Verhalten (= verstärkte Übernahme und
Eigenbejahung des negativen Verhaltens) → deviante Karriere als Folge von
Etikettierungsprozessen
3.4 Sozio-ökologische Verursachungsfaktoren
Umweltfaktoren: fluoreszierendes Licht, Rauchen und Alkoholkonsum während der
Schwangerschaft, Zusammensetzung der Nahrung (Phosphate und andere
Lebensmittelzusätze), Bleikonzentration in der Luft → statistische Korrelationen
zwischen zwischen dem im Körper festgestellten Bleigehalt und AD(H)S und
zwischen Nahrungsmittelzusätzen und AD(H)S sind nachweisbar; aber: die dadurch
ausgelösten hirnorganischen Prozesse sind noch unbekannt bzw. werden von einigen
Forschern sogar bestritten → Diätbehandlungen („Feingold-Diät“) zeigten zwar
Erfolge, doch sieht man diese Erfolge weniger durch die Diät, sondern eher durch das
veränderte Zuwendungsverhalten der Bezugspersonen bedingt.
Milieureaktive Verursachungshypothesen:
- Arbeitslosigkeit der Eltern
- niedriger Bildungsstand
-geringe häusliche Lernförderungsmöglichkeiten
- Alkoholmissbrauch
Es handelt sich bei diesen Faktoren um eher unspezifische Risikofaktoren: Kinder aus
Familien mit niedrigem sozio-ökonomischem Status entwickeln eher problematische
Verhaltensmuster aber nicht überzufällig häufig aufmerksamkeitsgestörtes Verhalten.
3.5 Multifaktorielle Entstehungshypothese zur Entwicklung von
Aufmerksamkeitsstörungen:
Kein Ansatz allein kann die Ursache für das beobachtete Störungsbild ausschließlich
und empirisch nachweisbar vollständig erklären → nicht ausreichender
Erklärungswert monokausaler Ansätze
Konsequenz: multifaktorieller Ansatz, der von
1.
ungünstigen genetischen oder hirnorganischen Dispositionen ausgeht, die
durch
traumatische prä- und perinatale Erfahrungen (nach heutigem Kenntnisstand
eher unwahrscheinlich, Meusers 2001) sowie Sozialisationsdefizite negativ
ausgeformt und verstärkt werden
3. im Rahmen von operanter Verstärkung durch negative, positive und
intermittierende Konditionierung stabilisiert werden und durch
4. Etikettierungsprozesse (Stigmatheorie) zu generalisierten Störungsbildern mit
negativer Selbsteinschätzung und zu Ausfällen im Leistungsbereich sowie im
Sozialverhalten führen;
5. ungünstige soziokulturelle Rahmenbedingungen verschärfen die Problematik.
2.
4 Integratives Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung von
Aufmerksamkeitsstörungen
4.1 Grundannahmen
Aufmerksamkeitsstörungen sind auf mehrere Verursachungsfaktoren zurückzuführen
(multifaktorielles Modell)
Aufmerksamkeitsstörungen sind Folge einer komplexen Entwicklung
(Prozessmodell)
Aufmerksamkeitsstörungen entwickeln sich auf verschiedenen Ebenen
(hierarchisches Modell)
o
Neurophysiologische Grundlagen :
o
nicht ausreichende Ausschüttung von Dopamin und dadurch
bedingte gestörte Reizweiterleitung zum Vorderhirn
o
bzw. (nach Huether 2004) durch fortgesetzte Erregung der
emotionalen Zentren zu stark ausgebildetes dopaminerges
System und damit gekoppeltes Frontalhirndefizit infolge
fortgesetzter „Unruhe“ im Frontalhirn
o
Einschränkung der Verhaltensregulation (z.B. mangelnde inhibitorische
Kontrolle, Unfähigkeit zur Reaktionsverzögerung)
o
Einschränkung der Verhaltensorganisation (unzureichende zielbezogene
Organisation von Bewältigungsstrategien)
o
Umweltreaktionen und deren reaktive Verarbeitung durch das Kind
Psychophysiologische, neuropsychologische und verhaltensbezogene Befunde stehen
zueinander in Beziehung, d.h. zwischen ihnen bestehen dynamische
Wechselwirkungen (interaktives Modell)
4.2 Konsequenzen für Diagnostik und Therapie
Die Therapie kann an insgesamt sechs zentralen Störungsmomenten ansetzen und dabei
folgende Ziele anstreben:
1.
Veränderung der neuro- und psychophysiologischen Grundlagen durch
medikamentöse Therapie (Psychostimulantien: z.B. Ritalin (SR + N), Tradon,
Medikinet, Concerta o.ä. Aus medizinischen Studien ist jedoch bekannt, dass etwa 1020 % der betroffenen Kinder (sog. „non responder“) nicht in wünschenswertem
Umfang auf die durch diese Medikamente bewirkte Regulation des Neurotransmitters
Dopamin ansprechen. In solchen Fällen hat sich das Medikament Strattera als
hilfreich erwiesen, welches Einfluss auf die Resorption des Neurotransmitters
Noradrenalin nimmt. Strattera wird seit 2002 in den USA eingesetzt. Voraussichtlich
in der ersten Jahreshälfte 2005 wird dieses Medikaments auch auf dem deutschen
Markt zugelassen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist es im Rahmen des „off label use“ über
den Auslandsapothekendienst und gegen Rezept beziehbar.),
a. um der gestörten Reizweiterleitung zum Vorderhirn entgegen zu wirken,
b. bzw. - nach Huether (2004) - um die Resorption des Dopamin zu unterbrechen und
dadurch das dopaminerge antriebsübersetzende System rückwirkend abzuschalten.
Unabhängig davon, welcher Sichtweise man zustimmt, bleibt das Ergebnis der
medikamentösen Therapie dasselbe: Die Kinder werden ruhiger und damit aufnahme- und
lernfähiger.
2.
Aufbau stabiler emotionaler Beziehungen, um die bei ADS-Kindern erhöhte
Ausschüttung von Dopamin (= nach Huether [2004] Folge der fortgesetzten Erregung
der emotionalen Zentren im Kleinhirn) durch Vertrauen und Sicherheit vermittelnde
Maßnahmen zu vermindern und so die Voraussetzung für den Erwerb der komplexen
Ich-Funktionen zu schaffen
3.
Verbesserung der Verhaltensregulation, um ungeeignete und ineffiziente Reaktionen
zu unterdrücken (→ „Reaktionsverzögerung“) und Aufmerksamkeitsprozesse zu
verstärken (→ „Basistraining“)
4.
Verbesserung handlungsorganisatorischer Möglichkeiten im Rahmen des
Strategieerwerbs
5.
Verbesserung von verhaltensorganisierenden Wissensanteilen (Erweiterung des
Wissens um Begriffs- und Regelsysteme) → Grundlagenkenntnisse als Voraussetzung
für die Speicherung von Informationen und die Erinnerung an schon bekannte
Lösungswege und Kenntnis strategisch metakognitiver Momente des Wissenserwerbs:
Reaktionsverzögerung als Voraussetzung für Kontroll- und Prüfverfahren; Techniken
des Informationserwerbs aus Texten; Gedächtnisoptimierung durch aktive
Strukturierung (=Bildung von Oberbegriffen); Aufgliederung komplexer Sachverhalte
in einzelne Zwischenschritte
6.
Zusammenarbeit mit Eltern und Lehrern, um negativen Umweltreaktionen
vorzubeugen und geeignete Umgangsformen mit der Aufmerksamkeitsstörung zu
fördern
5 Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen
5.1 Diagnose und Therapiezuweisung
Exploration (Fragebogen entsprechend DSM-III-R): mindestens 8 Kriterien seit
mindestens 6 Monaten erfüllt; Klassifikation nach „leichte“, „mittlere“ und „schwere“
Aufmerksamkeitsstörung (außer den acht erforderlichen Kriterien sind viele weitere
erfüllt, bedeutende Sozialisations- und Schulschwierigkeiten kommen hinzu)
Verifikation:
D(ortmunder) A(ufmerksankeits)T(est)
a)
Wiedererkennen einer oben dargestellten Abbildung innerhalb einer Gruppe
von sechs darunter angeordneten jeweils geringfügig veränderten ähnlichen
Bildern. Nur eine Abbildung entspricht in allen Punkten der eingangs
abgebildeten Darstellung. Auswertung nach Antwortlatenz (weniger als 20
Sekunden bis zur ersten Antwort = Hinweis auf impulsive Arbeitsstrategien)
und Fehlerhäufigkeit (weniger als 8 richtige Antworten bei 12 Aufgaben =
Hinweis auf die unzureichend entwickelte Basiskompetenz des "genauen
Hinsehens").
b) d 2 - Aufmerksamkeitstest
Der Test misst, wie gut Schüler unter simulierten Stressanforderungen die
Identifikation eines durch zwei Striche gekennzeichneten Buchstabens „d“ in
Abgrenzung von anderen Buchstaben und „d“s mit einem, drei oder vier
Strichen vornehmen können. Auswertung nach Gesamtzahl der bearbeiteten
Zeichen (GZ) (= Hinweis auf Arbeitstempo) und Fehlerhäufigkeit (= Hinweis
auf Sorgfalt).
c) Arbeitsprobe
Beobachtung einer Arbeitsprobe (in Verbindung mit Intelligenztest möglich),
um weitere Aufschlüsse über Basisfertigkeiten und mögliche Strategiedefizite
zu erhalten
Diagnostische Therapiezuweisung
Auf der Grundlage weiterer Arbeitsproben werden die Hauptstörungsmomente
ermittelt und entsprechende Therapiebausteine ausgewählt:
Basistraining
genau hinsehen (exakte Wiedergabe visuell aufgenommener
Informationen) und
genau zuhören (exakte Wiedergabe akustisch aufgenommener
Informationen)
(=Wahrnehmungstraining)
überprüfen (Einüben von Reaktionsverzögerung und
Überprüfungskompetenz) (= Handlungsregulation)
b) Strategietraining
Entwickeln zielorientierter Bewältigungsstrategien („Was ist meine
Aufgabe?“ – „Was weiß ich schon?“ – „Ich kann mir einen Plan machen.“
– „Bin ich auf dem richtigen Weg?“ .....) (= Ausbildung metakognitiver
Strategien: Lernen, wie man lernt.)
c) Wissensvermittlung: Grundlagenkenntnisse, Vokabeln, Grammatik usw.
a)
5.2 Durchführung des Trainings (Operante Verstärkung und Selbstinstruktionstraining)
Die Durchführung des Trainings orientiert sich an den Prinzipien der humanistischen
Psychologie nach Rogers (Akzeptanz, Empathie und Echtheit).
Wünschenswerte Verhaltensweisen werden durch Token (bunte Heftklammern )
operant verstärkt, die ab einer bestimmten Anzahl (15 Stück nach drei Sitzungen
erreichbar) gegen kleine materielle Verstärker (z.B. Radiergummis, Bleistifte,
Notizblöcke usw.) eingetauscht werden können (= Modellierung mittels
Verstärkung von mit AD(H)S inkompatiblen Verhaltensweisen bzw.
Verstärkerentzug (`response cost`) bei unangemessenem Verhalten).
t:
1.
2.
3.
4.
5.
Ziel ist außerdem eine kognitive Neuorientierung des Kindes durch Verinnerlichung
des beobachteten Modellverhaltens des Trainers auf der Grundlage des
Selbstinstruktionstrainings nach Meichenbaum:
Schritt: Der Trainer instruiert sich laut selbst.
Schritt: Der Trainer instruiert das Kind und begleitet dessen Tun mit Worten.
Schritt: Das Kind instruiert sich selbst laut.
Schritt: Das Kind instruiert sich selbst nur noch flüsternd.
Schritt: das Kind denkt an die verinnerlichten die Anweisungen und richtet sein
Verhalten entsprechend aus.
Abschließend verweisen wir auf die von Quaschner (1997) und Barkley (1990) entwickelten
- im Lehrbuch „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ (Helmut Remschmidt [Hrsg.] 2000)
wiedergegebenen - Regeln zum Umgang mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern. Wir wissen,
dass es im Rahmen des Regelschulunterrichts nur sehr begrenzt möglich sein wird, diese
Regeln immer zu beachten, und möchten sie deshalb lediglich als allgemeine Hinweise
verstanden wissen, wie man diesen Kindern pädagogisch hilfreich begegnen kann:
„1. Regeln, Instruktionen und Anweisungen für ADS-Kinder sollten klar und kurz formuliert
sein sowie deutlich - d.h. sichtbar und hörbar - vorgetragen und veranschaulicht werden.
2. Konsequenzen sollten schnell und umgehend eingesetzt werden, d.h. möglichst zeitnah zum
jeweiligen Fehlverhalten.
3. Im Hinblick auf die motivationalen Probleme von ADS-Kindern sollten Konsequenzen
wesentlich häufiger eingesetzt werden. [...]
5. Konsequenzen mit bestrafendem Charakter sollten eingebettet sein in ein System von
positiven Konsequenzen. [...]
7. Vorausschauende Planung und zeitliche Strukturierung erleichtern es den betroffenen
Kindern, sich auf veränderte Abläufe und Situationen, in denen andere Regeln gelten,
umzustellen“ (ebd. S. 146; die von den Autoren verwandten Begriffe „hyperkinetische
Kinder“ und „hyperaktive Kinder“ wurden durch den heute allgemein gebräuchlichen Begriff
„ADS-Kinder“ ersetzt, R.F.).
Empfohlene Literatur:
Lauth, Gerhard: Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern. Diagnostik und Therapie /
G.W. Lauth; P.F. Schlottke, Weinheim 1993 (Materialien für die psychosoziale Praxis) ISBN
3-621-27134-1
Kommentar: differenziert ausgearbeitetes und theoretisch solide fundiertes
Trainingsprogramm mit vielfältigen Übungsangeboten, das u.a. einen Therapiebaustein
"Elternanleitung" (S. 164-176) und ein Kapitel "Zusammenarbeit mit Lehrern" (S. 182-185)
enthält.
Dr. Meinolf Schultebraucks, Sonderschulrektor, Email: [email protected]
Dr. Rudolf Fidler, Lehrer für Sonderpädagogik (E/LB), Email: [email protected]
Schule an der Rosenau (SfK), Lütgenweg 2, 59505 Bad Sassendorf
Tel: 02921 / 34 59 66
Fax: 02921 / 34 59 68
Linkliste zum Thema Aufmerksamkeitsstörungen (Auswahl):
www.s-line.de/homepages/ads
www.kinderpsychiater.org/linksads.htm
www.kinderpsychiater.org/forum/for100/ikip3.htm
www.zappelphilipp.de/index-1.htm
www.adhs.de
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