Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-1 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) 2. Industrieökonomische Grundlagen Definition: Industrieökonomik (industrial organization, IO) beschäftigt sich mit Auswirkungen von Marktmacht auf das Verhalten von Firmen Grundlage: allgemeine mikroökonomische (Preis-) Theorie bei unterschiedlichen Marktformen (⇒ Kap. 2.1) Entwicklung eines eigenständigen Fachgebietes in 2 Phasen: 1940-1960: empirische Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Marktstruktur, Firmenverhalten und Marktergebnis (Harvard Schule, ⇒ Kap. 1.3, 2.2) Kritik an theoretischen ad-hoc Annahmen dieser Arbeiten (u.a. durch die Chicago-Schule, vgl. Kap. 1.3) seit 1970: theoretische Industrieökonomik entsteht durch Anwendung der (nicht-kooperativen) Spieltheorie • grundlegendes Lehrbuch: Jean Tirole, The Theory of Industrial Organization, 1988 • wirtschaftspolitische Anwendung in allen Bereichen der Wettbewerbs- und Regulierungspolitik Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-2 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) 2.1. Grundmodelle der theoretischen IO (vgl. Weimann 2005, Kap. 7.1) • Industrieökonomik schließt sowohl monopolistische als auch oligopolistische Marktformen ein • zentral für oligopolistische Märkte ist strategische Interaktion zwischen den Firmen • zwei Grundmodelle: Preiswettbewerb (Bertrand) versus Mengenwettbewerb (Cournot) 2.1.1 Bertrand Wettbewerb • hier: homogene Güter • zwei Firmen i ∈ {1, 2} mit identischen Grenzkosten c (keine Fixkosten) versorgen den gesamten Markt (Duopol) • strategische Variable der Firmen ist der Preis (p1, p2) • gleichzeitige Entscheidungen der Firmen, nicht-kooperatives Spiel • bei gleichem Preis teilt sich die Nachfrage D(p1, p2) gleichmäßig auf beide Firmen auf Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-3 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Nachfragefunktion aus Sicht jeder Firma: D(pi) wenn pi < pj Di(pi, pj ) = D(pi)/2 wenn pi = pj 0 wenn pi > pj Gewinnfunktion jeder Firma (keine Fixkosten): πi = Di(pi, pj )(pi − c) (2.1) Nash-Gleichgewicht: • liegt Preis von Firma i über den Grenzkosten, kann Firma j durch marginales Unterbieten die gesamte Nachfrage auf sich ziehen und Gewinn erhöhen • ⇒ Preiswettbewerb senkt Preise beider Firmen bis zu Grenzkosten; p1 = p2 = c als einziges Nash-Gleichgewicht unerwartetes Ergebnis (Bertrand Paradox); zeigt, dass funktionierender Wettbewerb nicht notwendig viele Firmen voraussetzt 2.1.2 Cournot Wettbewerb • Annahmen wie unter A., aber strategische Variable ist jetzt Menge qi und inverse Nachfrage ist p(q1, q2) Gewinnfunktion jedes Unternehmens: πi(q1, q2) = p(q1, q2) qi − Ci(qi) ∀ i (2.2) Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-4 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Bedingung erster Ordnung: ∂πi ∂Ci ∂p = p(qi, qj ) − + qi (qi, qj ) = 0 ∂qi ∂qi ∂qi (2.3) • Differenz der ersten beiden Terme: Zusatzgewinn aus Mengenausweitung • dritter Term: inframarginaler Gewinnverlust durch induzierte Preissenkung (abhängig von eigener Marktmacht) Reaktionsfunktion: jeder Outputentscheidung von Firma j wird eine optimale (gewinnmaximierende) Reaktion von Firma i, Ri(qj ), zugeordnet. Diese ist implizit definiert durch: ∂πi F (qi, qj ) ≡ Ri (qj ), qj = 0. | {z } ∂qi qi (2.4) Im Cournot-Nash GG ist die Reaktion beider Firmen jeweils die optimale Antwort auf die Aktion des Konkurrenten: Ri(qj∗) = qi∗; Rj (qi∗) = qj∗ (2.5) Steigung der Reaktionsfunktion aus impliziter Differentiation von (2.4) ∂qi ∂Ri ∂F/∂qj (∂ 2πi/∂qi ∂qj ) ≡ = = . (2.6) 2 2 ∂qj ∂qj −∂F/∂qi −(∂ πi/∂qi ) bei konkaver Gewinnfunktion gilt ∂ 2πi/∂qi2 < 0 und damit 2 ∂Ri ∂ πi sign = sign ∂qj ∂qi ∂qj Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-5 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) allgemeine Interpretation: führt eine Erhöhung des Wettbewerbsparameters von Firma j dazu, dass eine Erhöhung des Wettbewerbsparameters von Firma i profitabler wird? • ∂Ri/∂qj > 0: (q1, q2) strategische Komplemente (Bertrand Fall) • ∂Ri/∂qj < 0: (q1, q2) strategische Substitute (Cournot Fall) Abbildung 2.1: Cournot-Nash Gleichgewicht q2 6 - Index W : Wettbewerb; M : Monopol q1 Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-6 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Lerner Index: aus (2.3) ergibt sich nach Division durch p und Erweitern: p − C 0 −qi ∂p Q −qi ∂p Q α L= = = ≡ p p ∂qi Q Q ∂qi p ε (2.7) • α ≡ qi/Q ist Marktanteil der Firma (Q = q1 + q2 + ...) • ε = −p/p0Q ist (positiv definierte) Preiselastizität der Nachfrage Marktmacht (→ Preis über Grenzkosten) hängt ab von: 1. Marktanteil der Firma 2. Preiselastizität der Nachfrage auf dem Markt =⇒ im Cournot-Duopol erzielen die Firmen übernormale Gewinne, die erst mit großer Anzahl der Firmen im Markt verschwinden [α → 0; vgl. auch (2.3)] =⇒ qualitativ andere Ergebnisse bei Bertrand und bei Cournot Wettbewerb Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-7 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Cournot oder Bertrand Wettbewerb? • keine generelle Antwort in der Industrieökonomie, aber stärkere Verbreitung des Cournot Modells • partielle Rechtfertigung der Wahl des Cournot Modells durch Kreps/Scheinkmann (1983): zweistufiges Spiel mit Kapazitätsentscheidungen beider Firmen in der ersten Stufe und Preisentscheidung in der zweiten führt zu den gleichen Ergebnissen wie das einstufige Cournot Modell • gewisse Plausibilität des Ergebnisses: Kapazitätsentscheidungen sind ‘langfristiger’ als Preisentscheidungen; können im Vorfeld zur Abmilderung des Preiswettbewerbs eingesetzt werden (Kapazitäten zu gering, um die gesamte Nachfrage beim Grenzkostenpreis zu bedienen) • ähnliche Effekte durch Produktdifferenzierung: Firmen wählen in erster Stufe differenzierte Produkte, um nachfolgenden Preiswettbewerb abzuschwächen Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-8 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) 2.1.3 Bestreitbare Märkte (vgl. Weimann, Kap. 7.2.4-7.2.5; Knieps, Kap. 2.2) zentrale Referenz: Baumol, Panzar, Willig (1982): in einem bestreitbaren Markt (=Markt ohne Eintrittsbarrieren) wird die Marktmacht auch durch potenziellen Wettbewerb beschränkt • von n Firmen seien m in einem Markt aktiv und (n−m) seien potenzielle Wettbewerber • Marktkonfiguration: Preis und Produktionsmenge für alle im Markt aktiven Firmen • ein perfekt bestreitbarer Markt liegt vor, wenn beide der folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1. kein aktives Unternehmen macht Verluste und der Markt ist geräumt [die Marktkonfiguration ist erreichbar (feasible)] 2. kein potenzieller Wettbewerber kann durch Markteintritt Gewinne machen [die Marktkonfiguration ist sustainable] Beispiel: monoton fallende Durchschnittskosten → Abbildung 2.2 Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-9 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Abbildung 2.2: Bestreitbarer Monopolmarkt p 6 - x • p < p1 führt zu Verlusten ⇒ nicht feasible • p > p1 führt zu Markteintritt ⇒ nicht sustainable • =⇒ ein Anbieter mit p = p1 ist die einzige Konfiguration, die sustainable ist: ein zweiter Anbieter kann wegen Größenvorteilen nicht eintreten • keine Gewinne und technologische Effizienz durch Ausnutzung der Fixkostendegression ⇒ Gleichgewicht ist second-best effizient: Planer, der keine Subventionen verwenden darf, würde die gleiche Allokation wählen =⇒ Generalisierung der Ergebnisse des Bertrand Wettbewerbes: Ineffizienz von Monopolen wird auf offenen Märkten zumindest entschärft (→ Chicago School, 1.3) Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-10 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Einschränkungen: 1. Theorie bestreitbarer Märkte setzt voraus, dass potenzielle Konkurrenten eine hit-and-run Strategie verfolgen können. D.h. sie können in den Markt eintreten, produzieren und verkaufen und sofort wieder austreten, bevor der incumbent reagieren kann. Aber: der incumbent kann glaubhaft mit Preisen unterhalb der Durchschnittskosten drohen, da seine Fixkosten bereits versunken sind. Dies schreckt potenzielle entrants ab, wenn sie nicht bei hohen (Monopol-) preisen in den Markt eintreten und Gewinne machen können, bevor der incumbent die Preise senkt 2. ist eine hit-and-run Strategie nicht möglich, setzt die Theorie voraus, dass Fixkosten reversibel sind, d.h. alle Investitionen können beim Marktaustritt ohne Verlust verkauft werden (z.B. Fuhrpark). Liegen irreversible Kosten (sunk costs) vor (z.B. firmenspezifisches Kapital, Werbung für brand name), kann der incumbent durch die Drohung mit Preisen unterhalb der Durchschnittskosten jeden Wettbewerber vom Markteintritt abschrecken =⇒ wirtschaftspolitische Problembereiche dort, wo Größenvorteile und irreversible Investitionskosten auftreten. Hier ist Regulierung notwendig (Kap. 5 + 6) Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-11 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) 2.2 Grundlagen der empirischen IO (vgl. Knieps, Kap. 3) • im Mittelpunkt: Erläuterung des Struktur-Verhalten-Ergebnis Ansatzes (structure-conduct-performance paradigm) der Harvard Schule (Kap. 1.3) • von sinnvoller Abgrenzung des relevanten Marktes mittels Kreuzpreiselastizitäten wird im Folgenden ausgegangen 2.2.1 Maße für Marktkonzentration und Marktergebnis Maße für Marktkonzentration: 1. Marktanteil (concentration ratio; CR) • Umsatz der 1, 4, 8 größten Anbieter auf einem Markt am Gesamtumsatz des Marktes (CR1, CR4, CR8) • Problem: kein klares Kriterium, welches Untermaß (CR1, CR4, CR8) ausgewählt werden soll 2. Herfindahl-Hirschman Index • Berechnung nach Formel H = Pni=1 s2i n = Zahl der Anbieter; si= Marktanteil von Anbieter i (Umsatz von Firma i als Anteil am Gesamtumsatz) Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-12 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) • Wert für Monopol (n = 1): H = 1; Duopol (n = 2): H = 1/4 + 1/4 = 1/2; Triopol (n = 3): H = 1/3 • bei gleichen Unternehmensgrößen sinkt H mit Zahl der Unternehmen; für gegebene Unternehmenszahl steigt H mit steigender Asymmetrie der Firmen; sehr kleine Firmen erhalten (fast) kein Gewicht • große Rolle bei Fusionsgenehmigungen in den USA (→ Kap. 4.2) Maße für das Marktergebnis: 1. Ertrag auf das eingesetzte Kapital (rate of return) • ökonomischer Gewinn: Π = R − wL − (r + δ)K mit R= Erlös; wL= Lohnkosten; r= Kapitalrendite; δ= Abschreibungsrate; K= gesamtes eingesetztes Kapital • Π = 0 setzen und auflösen nach r ergibt r= R − wL − δK K (2.8) 2. Preis-Kosten-Spanne • relativer Aufschlag auf die Grenzkosten (mark-up): (p − C 0)/p Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-13 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) • entspricht dem Lerner Index (Lerner, 1934) aus Kap. 2.1; Index ist 1/ε im Monopol und 0 bei vollk. Konkurrenz 3. Tobin’s ‘q’ • Definition: q = M V mit M : Marktwert des Vermögens und V : Wiederbeschaffungswert des Vermögens • q > 1 als Maß für ökonomische Gewinne • Wiederbeschaffungswert V schwer zu ermitteln → Maß wird selten verwendet 2.2.2 Der Struktur-Verhalten-Ergebnis Ansatz • Annahme eines kausalen Zusammenhanges zwischen Marktstruktur (Konzentration), Preissetzungsverhalten und ökonomischem Gewinn • klassischer Aufsatz von Bain (1951): deutlich höhere rate of return, wenn das Konzentrationsmaß CR8 > 0.7 ist (Durchschnittswerte: 11.8% vs. 7.5%) **** Tabelle 2.1 ***** Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-14 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Tabelle 2.1 Konzentrationsmaß und Ertragsrate (Bain, 1951) Industry Cigarettes Typewriters Motor vehicles Rubber tires Tin cans, tinware Aluminium products Soap Washing machines aircraft and parts Liquors, distilled Carpets, rugs Meat packing Petroleum refining Cigars Cement Boots and shoes Paper goods Confectionery Lumber, timber products CR8 99.4 99.3 94.2 90.4 85.6 83.7 83.1 79.7 72.8 71.4 68.2 63.5 58.9 50.7 44.7 30.8 23.7 19.9 7.6 π (∗) 14.4 15.8 16.3 8.2 9.1 9.7 15.2 14.0 20.8 14.2 4.7 3.6 6.8 6.9 5.4 7.5 12.4 16.0 9.1 (*) average ratio of profits/net worth, 1936-1940 Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-15 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Abbildung 2.3: Scatter Plot von Bain’s Analyse π 6 25 s 20 15 s (((( s 10 5 s s s ( ( ( s ( ( s s (((( (((( (( (( s ((( ((( ( ( s ((( ((( (((( s ss s s s s s - 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 CR8 Tabelle 2.2: Regressionsanalyse CR8 > 0.7 Konstante dummy (1) 6.219 (3.12) (2) 7.452 4.386 (7.99) (3.32) CR8 0.052 (1.84) R2 0.078 0.217 (t-Werte in Klammern) Quelle für Tabelle 2.1-2.2 und Abb.2.3: Martin (2001): Advanced Industrial Economics, 2nd. ed., pp. 124-125 Ausgewählte Bereiche der Wirtschaftspolitik 2-16 Prof. Andreas Haufler (WS 2009/10) Neuere Arbeiten: Überblick: Schmalensee (1989) in Handbook of Industrial Organization oder Martin (2001): Advanced Industrial Economics, 2nd. ed., Ch. 5-7 • in nachfolgenden Arbeiten wird nur ein schwacher und instabiler Zusammenhang zwischen Konzentrationsmaßen und rate of return ermittelt • im Zeitablauf starke Schwankungen der sektoralen rate of return mit Tendenz zum intertemporalen Ausgleich (Marktein- und -austritte) • empirische und theoretische Kritik an exogener Marktstruktur führt zu theoretischen Neuansätzen in der Industrieökonomik, die Marktstruktur endogenisieren und simultan mit Verhalten und Ergebnis bestimmen • in der Zukunft: stärkere Verknüpfung von neuen theoretischen Ansätzen und empirischer Arbeit =⇒ Unsicherheit für die Wettbewerbspolitik: ein direkter und systematischer Schluss von (hohen) Konzentrationsmaßen in einer Industrie auf die Gewinnspanne ist nicht möglich