zeitgenössische musik in frankreich

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© SACEM
ZEITGENÖSSISCHE MUSIK
IN FRANKREICH
EIN DEUTSCH-FRANZÖSISCHER DIALOG
Am 29. Februar dieses Jahres trafen sich Olivier Bernard (SACEM), Eric Denut (Durand – Salabert – Eschig), Frank
Madlener (IRCAM), Rainer Pöllmann (Deutschlandradio Kultur / Festival Ultraschall) und Sophie Schricker (Deutschfranzösischer Fonds für zeitgenössische Musik / Impuls neue Musik) zu einem Gedankenaustausch über die Situation
der zeitgenössischen Musik in den Nachbarstaaten. Das deutsch-französische Gespräch, initiiert von Sophie Schricker
und Olivier Bernard, fand im IRCAM Paris statt und wurde von Sophie Schricker moderiert.
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THEMA
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Diskutanten (v.l.n.r.) Rainer Pöllmann, Olivier Bernard,
Eric Denut im IRCAM, Paris
fiziert: Die erste wäre die Generation der
Komponisten, die zwischen 1908 (dem
Geburtsjahr von Olivier Messiaen) und
1916 (dem Geburtsjahr von Henri Dutilleux, dem letzten noch lebenden Komponisten dieser Generation) geboren wurden.
Hierzu zählt auch Pierre Schaeffer, der
1910 geboren wurde. Er hat einige neue
Felder erschlossen, die noch immer sehr
fruchtbare sind. Es folgt die zweite Generation der um 1925 herum Geborenen
mit Iannis Xenakis, Pierre Boulez, Henri
Pousseur, André Boucourechliev, Claude
Ballif oder Betsy Jolas. Darauf wiederum
folgt die Generation der zwischen den
1920er Jahren und 1945 geborenen Komponis-ten. Diese noch immer aktive, aber
schwer zu definierende Übergangsgeneration, die vom Unterricht Messiaens geprägt ist, scheint sich verpflichtet zu fühlen, sich von der vorhergehenden Generation abgrenzen zu müssen. Zu ihr gehören Gilbert Amy, Paul Méfano oder auch
François-Bernard Mâche.
Mit Georges Aperghis taucht eine Generation auf, mit der ich tagtäglich arbeite,
nämlich die Generation von Komponisten, die die sechzig erreicht oder gerade
überschritten hat: Philippe Manoury,
Pascal Dusapin, Philippe Hurel, Philippe
Fénelon, Hugues Dufourt, aber auch
Philippe Hersant, Michael Levinas und
Tristan Murail. Auch sie stellen eine Übergangsgeneration dar, die ganz andere Integrationspraktiken in der künstlerischen
Arbeit entwickelt hat als die Generation
der 1950er Jahre. Das ist die Generation
französischer Komponisten, die derzeit im
Ausland am deutlichsten wahrgenommen
wird, zusammen mit all denen, die nach
1976 geboren wurden und heute extrem
aktiv sind.
Sophie Schricker: Könnten Sie die ästhetischen Strömungen sowie die großen
Trends der zeitgenössischen Musik in
Frankreich beschreiben? Welche Komponisten sind Ihrer Meinung nach heute
besonders präsent?
Eric Denut: Zunächst vielleicht eine allgemeine Bemerkung. Die Musik von
heute ist direkt von der längeren Lebenserwartung der Menschen geprägt. Noch
nie hat die französische Musiklandschaft
gleichzeitig so viele aktive Generationen
gezählt. Ich habe mindestens fünf identi-
Olivier Bernard: Man muss dazu einige
Schlüsselmomente hervorheben, die die
kulturelle Landschaft sehr tiefgreifend
verändert haben. Das Geschehen am
Ende der 1970er Jahre ist wichtig, um die
aktuelle Struktur der französischen Musikszene zu verstehen. Die Gründung
des IRCAM und des Ensemble Intercontemporain, Erfolge des Boulez’schen
Voluntarismus, fallen nahezu zeitgleich
mit der Entstehung von 2e2m und Itinéraire zusammen, zweier Ensembles, die
von Komponisten gegründet wurden, die
stellvertretend für die beiden nachfolgenden Generationen standen. Die Neugründung der Groupe de Recherches Musicales (GRM) auf Betreiben von François
Bayle 1975 stellte eine überzeugende
Alternative zum IRCAM-Projekt dar,
zumindest in Bezug auf die Forschung.
All dies geschieht, als ob – abgesehen
von den von der einen und anderen Seite
geführten Kämpfen zur Durchsetzung
konkurrierender Projekte (nebenbei bemerkt werden diese Kämpfe immer von
Komponisten geführt) – die institutionelle Macht, die sich sicherlich nicht so
leicht teilen lässt, nur durch subtile generationenübergreifende Allianzen erobert
werden könnte.
Denut: Bestimmte Komponisten aus
der zwischen Kriegsende und 1960 geborenen Generation haben die schon bestehenden namhaften Institutionen gebraucht, weil sie sich insbesondere mit
dem Schreiben von Opern oder der Forschung befasst haben – sie hatten somit
weniger Zeit und Platz, sich der Entwicklung eigener Arbeitsumgebungen
zu widmen. Andere haben sich dafür
entschieden, zu unterrichten oder in
Institutionen wie dem Rundfunk oder
im Kulturministerium tätig zu sein.
Wieder anderen – dies allerdings in nur
wenigen Fällen – ist es gelungen, ihre
eigenen Arbeitsumgebungen zu verwirklichen oder sich an schon existierende
Institutionen wie das IRCAM anzulehnen.
Bernard: Man könnte die Generationsanalyse erweitern, indem man sukzessiv
Phasen des Eklektizismus und ganz unterschiedliche Momente der Konzentration einander gegenüberstellt. Bestimmte
Generationen sind von Natur aus eher
eklektisch, aber die ihnen nachfolgende
Generation übernimmt dann aus Opposition eine Art rigorose, systematischere
Leitlinie, die wiederum Anreize schafft für
neue pragmatischere und somit eklektischere Herangehensweisen. Dieses Schema
funktioniert für die «Dutilleux-Generation», die eine eklektische Generation ist,
während dann in der Umgebung von
Boulez und der Neo-Serialisten, d. h. der
«Generation 1925», einer Rückbesinnung
und Fokussierung erfolgt.
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© SACEM
Moderatorin Sophie Schricker
Als Reaktion auf die Autorität von Boulez hat sich eine Übergangsgeneration von
Komponisten herausgebildet, die zum Teil
das Feld der institutionalisierten zeitgenössischen Musik verlassen haben, weil sie in
der Boulez’schen Landschaft nicht genügend Luft zum Atmen fanden. Sie haben
sich in Richtung Kino, funktionale Musik,
Orchesterleitung oder Oper entwickelt,
auch wenn einige von ihnen im Laufe
ihrer Karriere schließlich wieder zur Konzertmusik zurückgefunden haben. So war
es bei Antoine Duhamel, Maurice Jarre,
Georges Delerue und in der darauffolgenden Generation bei Laurent Petitgirard.
Mit den Spektralisten entstand ein neuer
Moment der Kondensation. Die junge
Generation wiederum erscheint mir sehr
eklektisch. Dieses Ausbalancieren der Ge-
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nerationen, das unterschiedlichen Arten
der Wahrnehmung von Musik entspricht,
erscheint mir ein äußerst interessantes
Phänomen zu sein, und ich frage mich, ob
etwas Ähnliches in Deutschland existiert.
Rainer Pöllmann: Auch in Deutschland versucht man, verschiedene Generationen zu destillieren, und gleichzeitig hat
es immer etwas Künstliches, Generationen festzulegen. Aber ich würde mich,
was die deutsche Szene angeht, wesentlich schwerer tun, eine Generation als
ästhetische Antwort auf eine andere zu
verstehen.Vor dreißig, vierzig Jahren war
das anders, aber heute, glaube ich, ist es
vielmehr eine Frage von individuellen
Prägungen, von individuellen Neigungen
als von Generationszugehörigkeit.
Frank Madlener: Ich denke, dass diese
vertikale Generationenachse durch eine
horizontale Achse ergänzt werden muss,
die in Frankreich sehr stark wahrnehmbar
ist. Es geht hier um die Art und Weise, in
der man auf das reagiert, was anderswo
komponiert wird. Diese zweite Achse
wird durch eine große Durchlässigkeit
zwischen allen Stilen charakterisiert, zu
denen die Komponisten heutzutage Zugang haben. Darüber hinaus beeinflussen
europäische Komponisten wie Lachenmann, Furrer, Rihm, Benjamin, Sciarrino
die junge Generation in hohem Maße. Es
gibt gewiss keinen Kampf mehr zwischen
der Generation der Dreißigjährigen und
ihren Vorgängern, statt dessen gibt es den
Versuch, alles aufzusaugen, was man sehen
und hören kann. Die Situation des Komponisten heute stellt sich so dar: Man steht
vor einer riesigen Bibliothek, gefüllt mit
dem, was gestern war, aber auch und insbesondere mit dem, was heute ist. Wie
kann ein Komponist sich da von allem,
was ihm zur Verfügung steht – und das ist
gewaltig viel –, abheben?
Was aber kann man tun, damit der Blick
auf die anderen nicht in einem so großen
Missverhältnis zur wahren Entwicklung
der musikalischen Realitäten im jeweils
anderen Land steht? In Deutschland beispielsweise kursieren Stereotypen über
französische Komponisten, denen zufolge
diese immer von einem gewissen verführerischen Charme, einer dekorativen Anmut umgeben seien. In Wirklichkeit treffen diese Klischees, wenn Sie die Musik
von Komponisten wie Franck
Bedrossian oder Raphaël Cendo hören –
Letzterer erlangt übrigens gerade in
Deutschland Berühmtheit –, überhaupt
nicht zu. Die Analysen hinken eben oft
der Realität dessen, was die Komponisten
selbst entwickeln können, hinterher.
Pöllmann: So schwierig es ist, individuelle Künstler in Generationen einzuordnen, so ist es doch nötig, um eine
Ordnung zu finden, um Kategorien zu
haben. Und es bleibt trotzdem immer
unzureichend. Genau so schwierig ist
es auch letzten Endes mit «Nationalcharakteren», bestimmten Traditionslinien, die vorhanden sind und die in
einer globalisierten, europäisierten neuen
Musikszene eigentlich gar nicht mehr
da sein dürfen und trotzdem natürlich
ohne Weiteres erkennbar sind. Nicht in
jedem einzelnen Werk, aber in der
THEMA
Summe der Création musicale eines jeden
einzelnen Landes.
Bernard: Ein weiteres wichtiges Thema
ist das Verhältnis zu den elektroakustischen
Techniken und zur Computertechnik.
Diejenigen, die diesbezüglich mit Pierre
Schaeffer zumindest in Frankreich eine
neue Sichtweise begründeten, stammten
aus der Gründergeneration der Komponisten zu Beginn des letzten Jahrhunderts – und mit Varèse sogar noch davor.
Aber seltsamerweise ist es erst die nachfolgende Generation, die sich – letztlich
nicht ohne entsprechende Mühen – auch
diese Art und Weise des Musikmachens
angeeignet hat. Mit der Informatik ist
man zu einem ganz anderen Paradigma
übergegangen, das am IRCAM wahrnehmbar und außerordentlich präsent ist.
Interessant ist, dass insbesondere durch
das IRCAM diese Art des Schreibens
die Zeit zurückholt. Dieses Jahr finden
hier Lenot, Canat de Chizy, oder Amy –
d. h. KomponistInnen früherer Generationen – die Mittel, ihre Kompositionsweise nicht vollständig zu ändern, aber
immerhin ein ganz anderes Licht auf das
zu werfen, was man bislang von ihnen
kannte.
Madlener: Ich möchte hier nicht die
Geschichte des IRCAM erzählen. Aber
wenn man über die Entwicklung des
Instituts nachdenkt, könnte man sagen,
dass sich die Technologie heute ästhetisch
verweltlicht hat.Vor dreißig Jahren war
man gezwungen, sich gegenüber der Computertechnik zu positionieren. Heute ist
die Bereitstellung dieser Technologien
Teil der regulären Ausbildung. Sie sind in
die Studiengänge integriert – woher
auch immer die Komponisten kommen, .
Schricker: Rainer, wie ist die Situation
in Deutschland?
Pöllmann: Ich glaube, dieser pragmatische oder technologisch basierte Zugang
ist auch in Deutschland vorherrschend.
Elektronik ist selbstverständlicher Teil der
musikalischen Praxis, ein Instrument unter
anderen. Besonders spannend finde ich
übrigens, dass es neben den großen Produktionsstudios – dem Experimentalstudio des SWR und dem ZKM – einen
höchst ausgefeilten Umgang mit «Low
Tech» gibt. Da entsteht gerade wirklich
Neues.
Schricker: Vielleicht können wir noch
einmal kurz zu den Generationen zurückkehren und über das Verhältnis zwischen
Orchester, Ensemble, Solist etc. sprechen?
Bernard: Die «Generation Dutilleux /
Messiaen» hat insbesondere für das Orchester viel getan, weil diese Komponisten in einer Zeit gelebt haben, in der dies
durch die Organisation des damaligen
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Ordnung der einzige Ort, an dem ein
Komponist eine gewisse gesellschaftliche
und medienwirksame Aufmerksamkeit
erringen kann.Vor fünfzig Jahren wurde
die Oper als überholt, spießig, veraltet bezeichnet. Heute hat man den Wunsch, die
Schranken zwischen den Genres und den
jeweiligen Hörerschaften zu durchbrechen, und davon profitiert die Oper. «Ich
durchbreche den eingeschworenen Zir-
«
In Deutschland kursieren Stereotypen über französische Komponis-
ten, denen zufolge diese immer von einem gewissen verführerischen
Charme, einer dekorativen Anmut umgeben seien. In Wirklichkeit treffen diese Klischees, wenn Sie die Musik von Komponisten wie Franck
Bedrossian oder Raphaël Cendo hören […], überhaupt nicht zu. Die
Analysen hinken eben oft der Realität dessen, was die Komponisten
»
selbst entwickeln können, hinterher.
musikalischen Lebens noch möglich war.
In der nachfolgenden Generation – und
Pierre Boulez ist dafür das beste Beispiel
– übernimmt das Ensemble allmählich
die Macht. Und dieser Durchbruch der
Ensemblemusik hält bis heute an. Abgesehen davon, dass die Übergangsgenerationen und die jüngste Generation versuchen ihrerseits darüber hinauszugehen,
indem sie auf das Orchester zugehen,
sei es, dass sie sich anderen Formen wie
dem Tanz, der Oper oder Installationen
öffnen und sich vom engen Paradigma des
«Ensemblekonzerts» lösen.
Denut: Ich habe das Gefühl, dass der
Wunsch, für Ensemble zu schreiben, insbesondere bei den bekanntesten Komponisten abzunehmen scheint. Warum?
Woher stammt die Faszination so unterschiedlicher Komponisten wie Jonathan
Harvey, Wolfgang Rihm oder Pascal Dusapin für das große Orchester? Ich habe
den Eindruck, der Ensemblekomposition
muss neues Leben eingehaucht werden,
um sie wieder zu verzaubern, und dass
die Landschaft dafür völlig offen ist.
Madlener: Es gibt eine weitere Tendenz,
die man hier unbedingt erwähnen muss
und die vielleicht den relativen Bruch
mit dem Ensemble erklärt, nämlich das
wachsende Interesse an der Oper. Sie ist
heute und aufgrund der soziologischen
kel, das spezialisierte Ensemble, ich verlasse das Konzert. Selbst wenn ich mich
auf das Gebiet einer so konventionellen
Form wie der der Oper begebe, versuche
ich dennoch, meine Eigenheit zu bewahren.» Das ist eine extrem riskante und
verführerische Herausforderung.
Pöllmann:Was die Oper angeht, würde
ich das ein bisschen anders akzentuieren.
Es gibt natürlich von großen bis zu kleinen Opernhäusern immer wieder auch
Auftragswerke, d. h. die Möglichkeit,
Opern zu schreiben. Trotzdem habe ich
den Eindruck, dass das ein Bereich ist, der
von der eigentlichen Neue Musik-Szene
eher unabhängig läuft. Ich beobachte innerhalb der neuen Musik die Entwicklung kleinerer, unabhängiger, unkonventioneller Formen von Musiktheater. Oft
entstehen aus der «konzertanten» Musik
selbst eine Szene oder zumindest szenische Momente, die nicht unbedingt die
große Bühne brauchen. Und es gibt eine
ganz neue Art von Musiktheater, welche
das Werk aus der gleichberechtigten Zusammenarbeit von Komponisten, Interpreten und Regisseuren entstehen lässt.
Auch das Ensemble halte ich nach wie
vor für die wesentliche Besetzung in der
neuen Musik. Orchester und Oper, die
«repräsentativen» Gattungen, sind dabei,
so glaube ich, weniger innovativ als kleinere, unkonventionelle Gattungen.
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Madlener: Um das Thema «Generationen» abzuschließen, möchte ich noch
gerne eine Überlegung hinzufügen: Die
Idee, dass eine Institution eine Ästhetik
vorschreiben kann, hat sich heute erschöpft. Dagegen kann sie ein Ort der
Kritik sein, und ich glaube sogar, dass
heute der kritische Blick, den man auf
die zeitgenössische Musik bzw. auf die
Praktiken, durch die sie geschaffen wird,
richten muss, dieser ist: dass die Erfindung
neuer Materialien, die sehr schnell jeden
Erneuerungscharakter verlieren, sobald sie
wiederholt werden, letztlich keine neuen
Formen bzw. zu wenig neue Formen
oder neue Dramaturgien hervorgebracht
hat. Und der Begriff der Form, der neue
Perspektiven ermöglicht, das Gedächtnis
und den Blick auf Kommendes anregt, ist
ein Thema, das die Komponisten mehr
und mehr beschäftigt.
Schricker: Nach den Ensembles und
den Orchestern würde ich gern die Rolle
der Festivals in Frankreich ansprechen.
Sind es die so genannten «festivals spécialisés», die die zeitgenössische Musik tragen
und fördern?
Madlener: In Frankreich sind es vor
allem die spezialisierten Festivals, die sich
um musikalische Innovation kümmern,
viel mehr als die jeweiligen Konzertsaisons. In diesen Festivals gehört es zu den
Aufgaben der regionalen Orchester (etwa
in Strasbourg oder Lyon) oder auch des
Philharmonischen Orchesters von Radio
France, zeitgenössisches Repertoire zu
spielen.
Bernard: Was beispielsweise das Festival
«Musica» in Strasbourg betrifft, so entstand dies ursprünglich auf Wunsch des
Kulturministeriums. Es sollte ein großes
Festival für einen Bereich ins Leben gerufen werden, der in Frankreich unterrepräsentiert war, und das in Zusammenarbeit mit den öffentlichen Körperschaften
des Elsass, vor allem mit der Stadt Strasbourg. Dazu kamen nach und nach weitere Finanzierungen. Im Hinblick auf die
Mittel, die sie für die lokale Kulturszene
bereitstellen, befinden sich die französischen Regionen aber keinesfalls auf gleichem Niveau wie die Bundesländer in
Deutschland.
Denut: Eine französische Eigenheit besteht auch hinsichtlich der Bedeutung
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der Finanzierungen aus der Musikwelt
selbst. Die SACEM, die in Frankreich das
ist, was die GEMA in Deutschland ist,
gibt jedes Jahr vier Millionen Euro für
zeitgenössische Musik aus. Dann kommen einige private Mäzene und Sponsoren dazu, die im Allgemeinen nicht wirklich der Kunstszene, sondern eher der
Vermittlung nahe stehen. Und schließlich
generiert die Branche einen Teil eigener
nicht unerheblicher Mittel, die aus dem
Kartenverkauf, aber auch aus der Produktionstätigkeit stammen. Eine Institution
kann Veranstaltungen und Konzerte produzieren und sich dann um nachhaltigen
Erfolg und Rentabilität bemühen.
Madlener: Die Kulturszene in Frankreich ist in eine europäischere Phase eingetreten. Der Beitrag und die Bedeutung
der Europäischen Union zur Kulturpolitik sind heute wichtiger geworden. Ich
künstlerischen Leiters gegründet wurde.
Ein Modell, das Frankreich noch nicht
erkundet hat …
Pöllmann: … und das jetzt nach vier
Jahren zu Ende gegangen ist, aber natürlich unendlich viel angestoßen hat. Die
Festivals für neue Musik in Deutschland
– Donaueschinger Musiktage, Ultraschall,
MaerzMusik, Eclat oder Witten – sind
auch in Deutschland Basis der Neuen
Musik. Finanziert von der öffentlichen
Hand und vor allem auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Wenn wir über Deutschland und
Frankreich reden, darf man nicht vergessen, dass sehr viel in den Regionen und
auch grenzübergreifend geschieht. Der
enge kulturelle Austausch gerade zwischen dem Elsass und Baden und der Baseler Region ist ja historisch gewachsen.
Diese Nähe und diese Verwandtschaft
«
Auf jeden Fall gibt es Modelle, die von Deutschland übernommen
werden könnten. Diese Modelle basieren auf den Institutionen der
bürgerlichen Gesellschaft, die sich durch Unternehmensstiftungen und
private Stiftungen neu strukturieren müsste, entsprechend der Kulturstiftung des Bundes und ihren Projekten wie das «Netzwerk Neue
Musik» […] Ein Modell, das Frankreich noch nicht erkundet hat …
denke an die Schaffung des Produktionsnetzwerks «Varèse» (1999) und an die
jüngst erfolgte Gründung des Netzwerks
«Ulysses», das der Professionalisierung
dient (Akademien in Europa für junge
Komponisten); beide sind auf Initiative
französischer Fachleute entstanden. Dann
muss man die Frage nach den privaten
Quellen der Finanzierung stellen. Man
sieht sehr wohl, dass es immer wichtiger
wird, neben den staatlichen Mitteln weitere Geldquellen zu finden. Auf jeden Fall
gibt es Modelle, die von Deutschland
übernommen werden könnten. Diese
Modelle basieren auf den Institutionen
der bürgerlichen Gesellschaft, die sich
durch Unternehmensstiftungen und private Stiftungen neu strukturieren müsste,
entsprechend der Kulturstiftung des Bundes und ihren Projekten wie das «Netzwerk Neue Musik», das unter Leitung
eines kompetenten und anerkannten
»
gibt es seit Jahrhunderten, und es wäre
völlig absurd, diese Verbindung zu kappen
und den Rhein auch als kulturelle
Grenze zu sehen. Es ist wunderbar, wenn
sich so etwas über die Landesgrenzen,
über die Nationengrenzen hinweg entwickelt aus einem kreativen Bedürfnis heraus. Das ist ja nicht oder nur zum Teil
politisch verordnet, sondern entsteht aus
künstlerischen Bedürfnissen heraus.
Zum anderen wollte ich noch zum
Kulturstiftung des Bundes und zum deutschen System ergänzen: Das alles ist wesentlich komplizierter als in Frankreich.
Bildung und Kultur sind verfassungsrechtlich Angelegenheiten der Länder. Es gibt
keinen Bundeskulturminister. Es gibt einen
Beauftragten des Kanzlers für Kultur und
Medien, er hat enorme Bedeutung, aber
er ist wohlweislich kein Minister mit vollem Ressort. Die Länder sind sehr darauf
bedacht, ihre Autonomie zu wahren.
Schricker: In Deutschland verursachen
das System der Projektförderung und die
Bedeutung der Ausschüsse gewisse Probleme. Die Ensembles, die nicht dauerhaft
öffentlich oder privat finanziert werden,
sind gezwungen, immer neue Projekte
ins Leben zu rufen, um zu überleben.
Und im Endeffekt sind manche Ensembles so damit beschäftigt, neue Projekte
ins Leben zu rufen, dass sie keine Zeit
mehr haben, Musik zu machen. Man
darf daher das deutsche System nicht
idealisieren …
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© SACEM
THEMA
Bernard: Mir scheint, dass die Musikszene gleichzeitig solide Institutionen
und eine ausreichende kritische Masse
von Projektförderungen braucht. Diese
außergewöhnliche Verbindung besteht in
Deutschland schon seit einigen Jahren.
Aber in Frankreich hat man sich zu sehr
damit begnügt, Institutionen ins Leben zu
rufen, die heute Budgetkürzungen unterworfen sind. Und die seitens des Kulturministeriums neue Haltung zur Projektförderung, das sagt, dass es die Institutionen nicht mehr unterstützen kann, ist
heikel, da sie die wirkliche Gefahr birgt,
auf beiden Seiten zu verlieren: weniger
personelle und finanzielle Mittel für die
Institutionen, aber auch für die Projekte.
Diskutant Frank Madlener
Madlener: Ideal wäre, wenn die Institution als eigene Agentur für Projektförderung fungierte. Die Institution würde
dann zugleich für die Nachhaltigkeit wie
auch für die eigene Erneuerung und Infragestellung eben durch eigene Projekte
sorgen. Neue Projekte zu betreiben ist für
eine Institution unerlässlich, andernfalls
geht sie zugrunde. Eines der aktuellen
IRCAM-Projekte ist ein pluridisziplinäres Akademieprojekt: «acanthes@ircam».
Es versammelt verschiedene nationale
und internationale Partner (u.a. das Ensemble Intercontemporain). Das verweist
auf eine sehr wichtige Angabe, die wir
noch nicht erwähnt haben: die Frage der
Vermittlung, der Ausbildung und der
Professionalisierung, die notwendige
Beziehung zu den Konservatorien und
Hochschulen. Die Ausbildung der Interpreten im zeitgenössischen Bereich ist
fundamental, und da lässt die aktuelle
Situation zu wünschen übrig. In den
Studiengängen müssen sich die jungen
Musiker ein Repertoire des 20. Jahrhunderts aneignen können. Heute lernt der
Interpret dieses Repertoire während sei-
ner Ausbildung nicht unbedingt kennen.
Kein französisches Ensemble hat es bis
heute geschafft, eine Kooperation hinzubekommen wie die, die dem Ensemble
Modern mit der Musikhochschule Frankfurt gelang und die äußerst produktiv
ist.
Denut: Es wäre interessant für uns zu
erfahren, wer aus Frankreich den Durchbruch in Deutschland geschafft hat, wie
Ihre Haltung zu den französischen Komponisten ist und wie Sie auf sie kommen?
Pöllmann: Da sind zum einen natürlich
die großen, alten Komponisten Frankreichs …, Messiaen ist im Repertoire.
Der wird in Deutschland eigentlich nicht
mehr als im engeren Sinn zeitgenössischer Komponist verstanden, taucht auch
in den Festivals nicht mehr auf, aber dafür
im Repertoire. Boulez ist an der Grenze
zum Repertoire und steht natürlich eben-
falls außer Frage. Das ist sozusagen der
Olymp. Interessant finde ich die Situation
der eingangs Genannten: Manoury, Dusapin, Dufour, Murail. Alle diese Namen
spielen in Deutschland eine Rolle, aber
ich würde von keinem sagen, dass er eine
beherrschende Rolle spielt und eine Stellung hat, wie sie eine Generation vorher
mit Boulez vergleichbar wäre. Ich habe
dafür keine wirkliche Erklärung:Viel
hängt von den konkreten Umständen
ab, also von der Kenntnis der Musik, auch
von persönlichen Begegnungen. Das betrifft Festivalleiter und Dramaturgen, aber
auch die Zusammenarbeit von Komponisten mit Ensembles spielt für die Präsenz
oft eine große Rolle. Entweder in Form
eines eigenen Ensembles oder mit befreundeten Ensembles.
Die Interpreten haben wiederum gute
Kontakte zu den Festivals, so ergibt sich
dann aus dem einem das andere und es
entsteht ein Netzwerk.
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INFO
Impuls neue Musik
Der deutsch-französische Fonds für zeitgenössische Musik
«Impuls neue Musik» begleitet und finanziert seit 2009 anteilig deutsch-französische Projekte in Deutschland und
Frankreich. Die unterstützten Projekte sind Auftragswerke,
Festivals, Konzertreihen sowie pädagogische Projekte,
wobei die Veranstaltungsorte von eher unbekannten, alternativen Orten bis zu den klassischen anerkannten Sälen
reichen. Die Gesamtfördersumme pro Jahr beträgt etwa
100 000 Euro.
«Impuls neue Musik» wurde auf Initiative der französischen
Botschaft in Deutschland, des Ministère de la Culture et
de la Communication, der SACEM, des Bureauexport de
la musique française, der Fondation Francis et Mica Salabert und Arte Actions Culturelles gegründet. Partner sind
heute auch das Institut français, das Goethe-Institut, die
Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung (2010),
der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und
Medien (2011) und die Deutsche Bank AG (2013).
Nächste Antragsfrist: 14. September 2012
Weitere Infos unter www.impulsneuemusik.com
Olivier Bernard, seit 1986 verantwortlich für die kulturellen
Fördermaßnahmen der SACEM, der französischen Verwertungsgesellschaft für Musik. Zwischen 2003 und 2010
Lehrbeauftragter für das Management von Musik und
Darstellender Kunst an der Université d’Evry.
Eric Denut, seit 2009 Promotion Manager beim Verlag
Durand-Salabert-Eschig/Universal Music Publishing
Classical. In der Spielzeit 2005/2006 Geschäftsführer
des Ensemble Modern in Frankfurt am Main, zwischen
2006 und 2009 beim Pariser Ensemble «La Chambre
Philharmonique».
Frank Madlener, seit 2006 Leiter des IRCAM (Institut de
Recherche et Coordination Acoustique/Musique), vorher
u. a. künstlerischer Leiter des Festivals «Musica» in Strasbourg und des Festivals «Ars Musica» in Brüssel.
Rainer Pöllmann, seit 1996 Redakteur und Produzent bei
Deutschlandradio Kultur. 1999 Gründer und Künstlerischer
Leiter des Berliner Festivals für neue Musik «Ultraschall».
Seit 2003 Mitglied im Beirat der «Edition Zeitgenössische
Musik» des Deutschen Musikrats.
Sophie Schricker, seit 2011 Leiterin von «Impuls neue
Musik» und verantwortlich für den Bereich Klassik im Bureau Export de la Musique (Berlin). 2008 Gründung des
Festivals «Shared Sounds» im Berliner Radialsystem, 2011
Mitinitiatorin und künstlerische Leiterin des Vokalfestes
«chor@berlin». Managerin der Vokalakademie Berlin.
Die unterschiedliche Präsenz französischer Komponisten in Deutschland ästhetisch zu begründen, ist schwierig. Man
bewegt sich auf sehr dünnem Eis. Dass
ein Komponist wie Bruno Mantovani,
der in Frankreich sehr präsent ist, in
Deutschland nicht dieselbe Popularität
hat, hängt aber wohl schon mit seiner
musikalischen Haltung zusammen. Er
verfügt über ein exzellentes Handwerk,
aber seine Musik ist für das deutsche
Gemüt vielleicht doch «trop leger».
Das ist natürlich kein Qualitätsurteil,
sondern nur die Beschreibung einer unterschiedlichen Perspektive. Bei vielen
anderen Komponisten kann ich mir vor-
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stellen, dass sie genauso erfolgreich in
Deutschland sind, wenn die Konditionen
stimmen.
Einen Komponisten habe ich bisher
noch gar nicht erwähnt, der aus Frankreich stammt und in Deutschland sehr
präsent ist, der aber auch extrem typisch
ist für die Ambivalenz im Verhältnis der
beiden Länder: Mark Andre. Die Lachenmann-Schule ist nicht zu überhören,
aber eigentlich wird er in Deutschland
doch als aus Frankreich kommender
Komponist betrachtet.
Denut: Ja. Warum hat Mark Andre diesen Erfolg in Deutschland?
Pöllmann: Er hat wirklich viele Aufführungen, sowohl Uraufführungen wie
auch Folgeaufführungen. Ich glaube, er
verbindet in seiner Musik auf sehr schlüssige Weise verschiedene Traditionslinien.
Und sicher spielt auch die metaphysische,
religiöse Seite dabei eine Rolle. Was die
Aufführungspraxis angeht, gibt es im
Grunde zwei Linien: Die klein besetzte
Kammermusik ist eindrucksvoll, sie ist
dem Hörer zugänglich, und sie ist für
viele Interpreten realisierbar. Darüber hinaus gibt es aber auch die großen, extrem
aufwändigen Werke, … hij 2 … und …
hij 1 … oder … auf … . Alle drei Werke
waren beim Publikum und bei der Kritik
ein großer Erfolg.Vor zwei Jahren gab es
in Berlin eine Aufführung des Musiktheaters … 22, 13 … . Alle Aufführungen
waren ausverkauft.
Schricker: Und wie ist die Situation für
Mark Andre in Frankreich?
Madlener: Er genießt eine besondere
Unterstützung durch das Festival d’Automne, wo er als französischer, aber außerhalb von Frankreich etablierter Komponist angesehen wird, für den man also
auch hierzulande etwas tun muss. Ist das
Ausdruck der Faszination am Mythos
des künstlerischen Exils? Im Ernst: In der
Intensität seiner Musik liegt etwas den
Zuhörer Faszinierendes, denn die Oberfläche ihrer Texturen ist sofort erkennbar.
Das ist bezeichnend für eine an der Materialität des Klangs und der Rhetorik
der Stille orientierte Musik: sie entsteht
aus sehr komplexen Prozessen und aus
der Haltung der Strenge, ihre Oberfläche
ist allerdings homogen und unveränderlich.
Schricker: Es ist sehr interessant zu
sehen, dass Andre offensichtlich ein Komponist ist, der in Deutschland großen
Erfolg hat, während er auf französischer
Seite eher als Träger einer anderen ästhetischen Identität betrachtet wird, die weniger passend erscheint.
Pöllmann: Welche Gründe sehen Sie
denn aus französischer Perspektive für
den großen Erfolg von Mark Andre in
Deutschland?
Denut: Das liegt an seiner apokalyptischen Seite, im biblischen Sinn. Dazu
bringt er bringt ein perfekt entwickeltes
Handwerk mit. Er hat zudem sehr wichtige Bezugspersonen in Deutschland: insbesondere Helmut Lachenmann natürlich.
Er hat eine Weltsicht, die in Deutschland
wirklich Anklang findet und die sich
immer am Rande des Verstummens befindet: «Ich kann nicht weitermachen,
ich werde weitermachen …, etc.» Eine
Art Dramatisierung.
Schricker: Gibt es ein Beispiel für ein
anderes Extrem, für einen in Frankreich
sehr bekannten, sehr präsenten französischen Komponisten, der in Deutschland
nicht wirklich wahrgenommen wird?
Denut: Mantovani ist in Frankreich sehr
präsent, da ein Netzwerk von Interpreten
und fachliches Können existiert. Er wurde
schon sehr früh vom Ensemble Intercontemporain gespielt. Seine Musik wird von
jungen Interpreten aufgeführt, ein wenig
wie Jörg Widmann in Deutschland. Er
tritt – selbstverständlich ohne ästhetischen
Bezug - in die Fußstapfen von Pascal
Dusapin mittels Aufbaus eines Katalogs
und hat dabei die jungen Interpreten als
Vermittler sehr wohl im Blick. Und er
entwickelt eine starke musikalische Argumentation, um die Interpreten diesen
Niveaus zu motivieren. Man muss wissen,
dass die Interpreten, sobald sie erst einmal
für einen eingenommen sind, unglaublich
treu sind und dass sie dann den gesamten
Katalog aufführen.
Madlener: Mantovani besitzt außerdem
die in Frankreich ziemlich seltene Haltung
des Losgelöstseins: er kennt die komplette
musikalische Literatur bestens, er hat die
Vergangenheit, die Oper, das Spiel der
Institutionen in sich aufgenommen und
hat sich dabei gleichzeitig eine Art Leich-
THEMA
tigkeit und Lebendigkeit im Handeln
bewahrt. Diese Haltung unterscheidet
ihn von anderen Komponisten, die ihre
Werke unter Schmerzen gebären, ja,
manchmal bis an die Grenze zum Verstummen geraten. Mantovani wird aber
auch angezweifelt: Seine letzte Oper
wurde in Frankreich stark kritisiert.
Pöllmann: Ein gutes Podium für Erfolg
in Deutschland haben zum Beispiel jene
Komponisten, die Gast des Berliner
Künstlerprogramms des DAAD waren.
Aus Frankreich waren das in den letzten
Jahren Fabien Lévy, Jean-Luc Hervé, zuletzt Clara Maïda, die in diesem Jahr auch
den Stuttgarter Kompositionspreis erhalten hat für ein Stück, das beim Festival
Ultraschall uraufgeführt wurde. Und es
gibt Komponisten wie Ondrej Adámek,
die so eng mit Paris assoziiert sind, dass
sie, zumindest aus französischer Sicht, als
«Franzosen» gelten.
Was die Interpreten angeht: Der kontinuierliche Erfolg eines französischen
Komponisten in Deutschland ist wohl
eher zu erwarten, wenn sich ein renommiertes deutsches Ensemble das zu Eigen
macht. Es kann aber durchaus sein, dass
das Gastspiel eines französischen Ensembles mit einem bis dahin unbekannten
französischen Komponisten erst einmal
eine Initialzündung darstellt. Und dann
geht es mit heimischen Kräften weiter.
Das ist eigentlich der ideale Weg, wenn
das Stück von anderen Ensembles nachgespielt wird.
Der große Vorteil der deutschen Neue–
Musik-Szene ist die Kleingliedrigkeit. Es
gibt viele Ensembles, es gibt viele regionale Initiativen. Deshalb ist es ein guter
Weg, diese regionalen Initiativen, die
Künstler vor Ort, zu interessieren und zu
begeistern.
Schricker: Und Sie, Rainer, denken Sie,
dass Deutschland etwas von Frankreich
lernen kann?
Pöllmann: Was es in Deutschland so nicht
gibt, das ist eine aktive Exportförderung.
Die gibt es in Frankreich, auch in der
Schweiz und in Skandinavien; Deutschland ist in dieser Hinsicht eher importorientiert. Der Wunsch, Künstler nach
Deutschland einzuladen, ist erfreulich
groß. Aber das Bewusstsein, deutsche
Kunst und deutsche Künstler auch als
«Exportartikel» zu verstehen und das ent-
sprechend zu unterstützen, wäre ausbaufähig. Das Goethe Institut leistet in dieser
Hinsicht enorm viel, aber ein zusätzliches
Exportbüro oder die sehr aktive Promotion mancher Musikinformationszentren
gibt es bei uns nicht.
Bernard: Ich sehe einen weiteren Unterschied: In Frankreich gibt es, mehr als in
Deutschland, eine Netzwerkkultur. Als
wir letztes Jahr mit Frank Madlener das
«Ulysses»-Projekt entwickelt haben, hat-
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Pöllmann: Ich glaube schon, dass auch
wir in Netzwerken denken, und es gibt
ja auch eine informelle Zusammenarbeit,
die ohne institutionellen Überbau funktioniert. Das Problem dabei ist oft, dass
die Informationen nicht wirklich Verbreitung finden. Es gab vor einigen Jahren die
Idee, ein Büro einzurichten, das nur der
Koordination dienen sollte, den Ensembles und den Komponisten mit Informationen helfen sollte, ein Ansprechpartner
sein sollte.Vielleicht ist das inzwischen
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Was es in Deutschland so nicht gibt, das ist eine aktive Exportför-
derung. Das gibt es in Frankreich, auch in der Schweiz und in Skandinavien; Deutschland ist in dieser Hinsicht eher importorientiert. Der
Wunsch, Künstler nach Deutschland einzuladen, ist hier erfreulich
groß. Aber das Bewusstsein, deutsche Kunst und deutsche Künstler
auch als Exportartikel zu verstehen und das entsprechend zu unterstützen, wäre ausbaufähig.
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ten wir oft das Gefühl, dass wir unsere
deutschen Freunde und Partner wachrütteln müssen, damit sie das Spiel mitspielen.
Schricker: Meiner Meinung nach rührt
das Problem vom Mangel an Institutionen
her. Man wird immer einen deutschen
Partner in Form einer Person finden
(einen Festivaldirektor, einen Journalisten,
einen Dramaturgen), aber eine Institution
zu finden ist nicht leicht, da wir nicht
über genügend öffentliche oder private
Institutionen verfügen, die großen Einfluss haben und wirklich in die Musik integriert sind. Ich glaube, dass man in
Deutschland den Institutionen noch
immer misstraut.
Ich habe das Gefühl, dass die französischen Institutionen näher an der Musik,
den Komponisten, den Schaffenden, den
Interpreten dran sind. Das musikalische
Gefüge erscheint sehr lebendig. In
Deutschland dominiert ein sehr individualistischer Zugang, der die Konfrontation mit den Institutionen verhindert.
Ich denke, dass es sich dabei meistens um
ein formales, nicht um ein inhaltliches
Problem handelt. Alles ist stark mit dem
Individuum, mit den Personen verknüpft,
die oft nicht an Institutionen gebunden
sind.
auch überholt. Aber auch das hängt wiederum mit der dezentralen Struktur in
Deutschland zusammen: Wer soll das
machen, wo sollte ein solches Büro angesiedelt sein, wer soll das finanzieren,
wer hat das Sagen …
Schricker: Ich danke Ihnen allen für
dieses interessante Gespräch.
Übersetzung: Esther Dubielzig
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