Jörg Wollenberg „Goethe in Dachau“. Das Konzentrationslager als Lernort zur Selbstbehauptung in Grenzsituationen Beitrag zur 27. Konferenz des Arbeitskreises zur Aufarbeitung historischer Quellen der Erwachsenenbildung – Deutschland – Österreich – Schweiz - vom 20. bis 23. November 2007 im Wissensturm Linz/Österreich Musikalischer Einstieg: Aus der Mauthausen Trilogie von Mikis Theodorakis (CD 2000 Verlag ‚pläne’88840). In Erinnerung an die Befreiung am 7. Mai 1945, 1995 uraufgeführt im KZ Mauthausen; Nr. 1: Das Hohelied („Ihr Mädchen aus Auschwitz, Ihr Mädchen aus Dachau, Habt ihr meine Liebste nicht gesehn?“, gesungen von Elinoar Moav Veniadis, Auszug aus dem Stück von 3.33 Minuten). Dazu Folie 1: Programm des Osterkonzerts im KZ Sachsenhausen im Block 28 am 26. April 1943 mit Beteiligung des tschechischen Streichquartetts unter Leitung von Bohumir Cervinka (vgl. Kuna,1998, S.260). Das nicht weit von Linz entfernte, kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ eingerichtete KZ Mauthausen erlangte mit seinen rund 40 Außenlagern in der ersten Kriegshälfte mit der Lagerstufe III die politische Funktion eines Tötungslagers, in dem mehr als die Hälfte der über 200.000 Häftlinge aus Europa und den USA zwischen 1938 und 1945 ums Leben kamen. Mehrere tausend Häftlinge wurden ab Sommer 1941 im Rahmen der Aktion 14 f 13 in die am Rande von Linz gelegene Tötungsanstalt Hartheim gebracht und mittels Giftgas erstickt. 1 Selbst nach der Umwandlung in ein Zwangsarbeitslager für die Rüstungsindustrie verzeichnete die Lagerleitung Todesraten ab 1942 von 30 bis 40 Prozent. Im Gegensatz zu den anderen großen Konzentrationslagern und Ghettos im „Deutschen Reich“ blieben die individuellen Überlebensstrategien der Häftlinge in Mauthausen auch deshalb eingeschränkt, weil sie kaum auf kulturelle Freizeitaktivitäten zurückgreifen konnten. Auch unterblieb die Zustellung von Lebensmittelpaketen und die Verteilung von Kleidungsstücken, die aus Beständen der Judenvernichtung stammten. 1 Florian Freund/Bertrand Perz, Mauthausen – Stammlager, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 4, Flossenbürg-MauthausenRavensbrück, München 2006, S.293-346. Seite: 2/31 Im Folgenden wollen wir an künstlerische und literarische Ausdrucksformen in deutschen Konzentrationslagern aus der Sicht der Häftlinge erinnern, die zur eigenen Lebensbehauptung und zur Lebensermutigung der Leidensgenossen beitrugen. Und für einige der Überlebenden entwickelten sich aus der Artikulation von Kunst und Kultur feste Formen des Widerstands im Lager. Ihnen gelang es, durch legale, halblegale und illegale Veranstaltungen Ansätze einer moralisch-philosophischen Kraft aufzubauen und die nicht ganz ohnmächtige Gegenmacht des Überlebens - unter der Kontrolle der absoluten Macht der NS-Gewaltherrschaft – zu stabilisieren. 2 „Goethe in Dachau“, das Tagebuch von Nico Rost, gab den Anlass zu dieser Erinnerung an das weniger bekannte Kapitel der Geschichte des Konzentrationslagers als Lernort zur Selbstbehauptung in Grenzsituationen. KZ Dachau, Lagerbücherei 2 Vgl. dazu u.a. die Schilderung von Wilhelm Girnus, Damals vor vielen Jahren, in: Sowjetliteratur 10/1972, S. 135ff., und Harry Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen, Köln 1987, S.282-314, zur Weihnachtsfeier von Häftlingen in Sachsenhausen 1940 und 1941 nach dem Massenmord an tausenden von sowjetischen Kriegsgefangenen und der Exekution von holländischen Geiseln und jüdischen Häftlingen in Sachsenhausen, u.a. im Block 4 mit dem Bremer Edgar Bennert und Erich Klan und Egon Nickel aus Lübeck oder im Block 65 mit dem Cevinka-Quartett aus der CSR und dem Spanienkämpfer Ebergard Schmidt, die den russischen Trauermarsch “Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin“ spielten und eine Tolstoi-Lesung anschlossen. 2 Seite: 3/31 Nico Rost, vom 10. Juni 1944 bis zum30. April 1945 im KZ Dachau als Häftling, veröffentlichte am 1. August 1946 seine „an Hand von zahlreichen, an Ort und Stelle, auf den verschiedenartigsten Papieren und Zetteln gemachten Tagebuchaufzeichnungen“ unter dem Titel „Goethe in Dachau“. 3 Der aus den Niederlanden stammende Schriftsteller Rost (1896-1967) hatte als Pfleger im Häftlingskrankenbau Dachau alle Torturen überstanden. Für ihn bedeutete die Beschäftigung mit deutscher Literatur Überlebenshilfe. Sie trug zur geistigen Selbstbehauptung bei. Kultur und Bildung erweisen sich gerade in Grenzsituationen als „Ausdrucksformen der Aufrechterhaltung des Mensch-Seins unter unmenschlichen Bedingungen“. 4 „’Die alte Erde steht noch, und der Himmel wölbt sich noch über mir!’ Ein alter Ausspruch Goethes…So lange es noch ist, wie Goethe sagt, ist nichts verloren“. So beginnen seine Tagebuchaufzeichnungen. Und sie halten am 11. Februar 1945 angesichts des Flecktyphus im Lager fest: „Konstatiere stets aufs neue, wie gut es ist, so viel wie möglich zu lesen und zu schreiben. Wer vom Essen spricht, bekommt stets größeren Hunger. Und die am meisten vom Tode sprachen, starben zuerst. Vitamin L (Literatur) und Z (Zukunft) scheinen mir die beste Zusatzverpflegung“ (S. 223). Der Büchermensch, Übersetzer und Autor Rost überlebte so die KZ-Haft und konnte nach 1945 weiter als Kulturvermittler zwischen Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wirken. 3 Nico Rost, Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit, 1946, Vorbemerkung. Die erste deutsche Ausgabe, übersetzt von Edith Rost-Blumberg, erschien 1948 im Verlag Volk und Welt, Berlin-Ost, mit einer Einleitung von Anna Seghers. Neuaufgelegt mit einem Nachwort von Wilfried F. Schöler in München 2001. 4 Lutz Niethammer, Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. In: Ulrich Herbert u.a. (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Bd. 2, Göttingen 1998, 1058. 3 Seite: 4/31 Einer der Pioniere der deutsch-französischen Zusammenarbeit und Förderer der deutschösterreichischen Erwachsenenbildung, der 1918 in München geborene Professor für deutsche Geschichte und Politik an der Sorbonne, Joseph Rovan, berichtet in seinen „Geschichten aus Dachau“ über ähnliche Erfahrungen, die er zum gleichen Zeitpunkt als Häftlingsschreiber in der politischen Abteilung von Dachau festhielt. 5 So gelang es u.a., den Roman seines Freundes, des in Dachau zu Tode gequälten Schriftstellers Francois Vernet (Vous ne mouriez nullement), der erst nach dessen Verhaftung erschienen war, in der Effektenkammer unter dem Gepäck eines Franzosen aufzutreiben, diesen heimlich in die Lagerbibliothek zu integrieren und dem Autor im Krankenblock von Dachau vorzulegen, dem bis zu seinem Tode (am 24. März 1945 im Typhusblock) die Leidenschaft für Literatur, Theater und Musik nicht verließ. 6 Auch der aus Nürnberg stammende Karl Röder, nach 1945 enger kulturpolitischer Mitarbeiter von Viktor Matejka in Wien, beschreibt in seinen Erinnerungen über die zehn Jahre Haft in Dachau und Flossenbürg (von 1934 bis zum 10.11.1944) den Prozess der „geistigen Selbstbehauptung“ im Umgang mit Büchern und in den monatelangen Diskussionen darüber. 7 Dazu gehörte unter anderen das Buch des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker »Zum Weltbild der Physik«: „Ich war damals 26 Jahre alt und vier Jahre im Lager. Schon damals hatte ich mich an Diskussionen beteiligt. In diese stürzte ich mich mit der größten Begeisterung. Sie gingen auf prinzipielle Fragen ein, deren Bedeutung für unser Lagerleben außer Zweifel stand. […] Wir haben damals viel gelernt und nicht nur Einblicke in eine fremde Welt gewonnen. […] Wir lebten auf, das Lager verlor viel von seinen Schrecken: gemessen an der Unendlichkeit wird das Endliche unendlich klein. Deshalb gab es immer wieder Diskussionen. […] Manch einer hat im Lager die Grundsteine zu einem Weltbild gelegt, die sich später als brauchbar und ausbaubar erwiesen. Ich jedenfalls habe erst dort die Kraft des Denkens entdeckt. Der wichtigste Teil meiner geistigen Entwicklung hat sich im Lager vollzogen.“ 8 (Dazu Folie 2) Während der in der Buchbinderei arbeitende Österreicher Bruno Furch die Gedichte von Lamartine und Baudelaires „Fleur du Mal“ übersetzte, übertrug Röder die Novellen 5 Joseph Rovan, Geschichten aus Dachau, München 1992 (Paris 1987). Rovan, 1992, S.152-157 7 Karl Röder, Nachtwache. 10 Jahre KZ Dachau und Flossenbürg, Wien-Graz-Köln 1985, S. 278-315. 8 Röder, Nachtwache, a.a.O., S. 279 f. Röder zitiert lediglich den Buchtitel, nicht aber den Autor, der als ältester Sohn des vor dem Nürnberger Militärtribunal als Kriegsverbrecher verurteilten NS-Staatssekretärs im Auswärtigen Amt mit seinem Lehrer Werner Heisenberg an der Atombombe bastelte und 1957 zum „Kampf gegen den Atomtod“ aufrief. 6 4 Seite: 5/31 Maupassants ins Deutsche, nachdem sie zuvor die französischsprachigen Originale aus der Lagerbücherei entliehen hatten. Und Nico Rost berichtet von einer Begegnung mit dem Kapo der Bibliothek, „dass sich eine der Polinnen aus dem Lagerbordell Dantes Hölle ausleihen wollte! ‚Am liebsten eine Ausgabe mit recht vielen Bildern’, hatte sie gesagt. Sie glaubte nämlich, dieses Buch sei eine genaue Beschreibung der Hölle, und da sie fürchtet, dereinst einmal hineinzukommen, wollte sie gern jetzt schon wissen, was ihr dort bevorsteht!“ 9 Rost’s eigener Fluchtversuch aus dem Schrecken der Lagerwirklichkeit in das Reich der Phantasie endete immer wieder bei Goethe und bei dem von den Idealen der Französischen Revolution geprägten deutschen Jakobiner Friedrich Hölderlin (mit Hyperions Lobpreisung des antiken Griechenland, S.102). Das Modell Dachau als internationaler Lernort und Kulturwerkstatt für Ausgegrenzte Das Konzentrationslager Dachau, im März 1933 für maximal 5000 Insassen aus Deutschland geplant und im Verständnis der SS als eine moderne Umerziehungsanstalt für „Nörgler“ und „Arbeitsscheue“ aus den Reihen der Kommunisten und Sozialdemokraten konzipiert, öffnete nach dem Abschluss der Bauarbeiten für ein neues Gefangenenlager im Herbst 1937 seine Tore viermal in der Woche für Besucher und das Internationale Rote Kreuz, um die Öffentlichkeit auf die Erfolge ihrer „Umerziehungspolitik“ aufmerksam zu machen, ab 1938 verstärkt auch für Besucher aus Österreich und der Schweiz. Hinter dem eisernen Eingangstor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ verbargen sich nicht nur Gebäude der SS und 34 lange Baracken für die Häftlinge, sondern auch ein Krankenbau (Revier) für „medizinische Experimente“ und „wehrmedizinische Forschung“. Weiter kamen hinzu Wirtschaftsgebäude mit Küche und Kantine, Dusch- und Waschanlagen, Effektenkammer und Lagerwerkstätten. Dazu gehörte auch ein Zuchthaus – als Bunker mit 136 Zellen –, eine Schule mit Vortrags- und „Schulungsraum“, ein Kinderspielplatz, eine Kaffeestube, ein Standesamt, eine Kapelle für Gottesdienste. Das Mitglied der französischen Résistance de Compiègne, Joseph Rovan, behielt diesen Ort des Terrors nachträglich und für viele heute kaum nachvollziehbar auch als „Stätte des Friedens und der Zurückgezogenheit inmitten eines überbevölkerten und ruhelosen Lagers“ in Erinnerung. 10 Auch andere Häftlinge, besonders aus dem von deutschen Truppen besetzten 9 Rost, a.a.O., 1948, S. 270 Rovan, 1992, S. 161. Rovan wurde am 2. Juli 1944 von Compiègne nach Dachau deportiert und war mit Edmond Michelet wesentlich am Aufbau der internen Informations- und Hilfsstrukturen unter den 5387 Franzosen im Lager beteiligt. Nach 1945 wurde er Berater des Ministers Michelet im ersten Kabinett de Gaulles, später Professor an der Sorbonne, Präsident der Gesellschaft für deutsch-französische Zusammenarbeit und 10 5 Seite: 6/31 Teilen Europas und zahlreiche „Prominente“ aus Österreich, betonen in ihren Erinnerungen immer wieder die Bedeutung der kulturellen Aktivitäten im Überlebenskampf der Häftlinge, die an der Schwelle zwischen Leben und Tod dahin vegetierten und das Ausmaß der Entwürdigung täglich ertragen mussten. 11 Selbstverständlich durfte auch ein leistungsfähiges Krematorium, ausgestattet mit einer Gaskammer, nicht fehlen, auch wenn diese in Dachau kaum zum Einsatz kam. Selbst auf ein Bordell wurde nicht verzichtet. Die „Prämienscheine“ für Lebensmittel und Kleidung für die Funktionshäftlinge wurden ab 11. Mai 1944 auf Bordellbesuche ausgeweitet. Und selbstverständlich ließ die SS neben Sportaktivitäten (vor allem Fußball und Boxen) eine Anzahl kultureller Betätigungen zu, die man heute in Städten gleicher Größenordnung mit bis zu 30.000 Einwohnern meist vergeblich sucht. Es standen unter anderem zur Verfügung (mit den Begriffen der Nazis ausgedrückt): „Künstlerwerkstätten“, „Zeichenstuben“, eine Theatertruppe mit Konzertund Theatersaal und einer eigenen Musikkapelle. Freilich handelte es sich dabei nicht um ein „Kurorchester“, sondern die Kapelle hatte die Aufgabe, zunächst einmal frühmorgens auf dem Appellplatz aufzuspielen, wenn die Häftlinge zur Arbeit ausrückten, und abends, wenn sie ins Lager zurückkehrten. Aber sie hatte auch die Pflicht aufzutreten, wenn offizielle Gäste zu Besuch kamen oder die Lagerleitung und die Funktionshäftlinge es wünschten. Dabei konnten sie auch auf Chöre, Jazz-Ensembles, Kammerorchester, Liederabende, auf Tanz, Kabarett, Folklore zurückgreifen. Als eine Bauchtyphus-Epidemie den Häftlingen im Frühjahr 1943 ungewöhnlich viel Freizeit verschaffte, bauten sie in der Nähe der Desinfektionsbaracke eine Freilichtbühne, die mit einem Stück des Österreichers Rudolf Kalmar eingeweiht wurde: „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Wahre Liebe ist das nicht“ – mit dem Schauspieler Erwin Geschonneck in der Hauptrolle der Rittergroteske, in der er die Mimik und Gestik des „Führers“ so erfolgreich imitierte, dass selbst die SS-Leute sich vor Freude auf die Schenkel schlugen. 12 einflussreicher Förderer der Volksbildung in Frankreich, Deutschland und Österreich. Michelet hielt seine Erinnerungen an Dachau fest unter dem Titel »Die Freiheitsstraße«, erschienen in Stuttgart 1960. 11 vgl. dazu neben den schon zitierten Autoren u. a. Eugen Kogon, Der SS-Staat, 1946; H.G. Adler, Theresienstadt 1941-1945, 1955; Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz, 1972; Primo Levi, Ist das ein Mensch?, 1988; Esther Bejarano, Man nannte mich Krümel, 1991; René Coudy/Simon Laks, Musique d`un autre monde, Paris 1948; Ruth Elias, Die Hoffnung hielt mich am Leben¸ Fania Fenelon, Das Mädchenorchester von Auschwitz, 1980; Anselm J. Gram, Turm A ohne Neuigkeit. Erleben und Bekenntnis eines Österreichers. Ein Komponist, Maler und Schriftsteller schildert das KZ, Wien/Leipzig 1946; Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten, Zürich 1935; Herbert Mandl, Musik aus der Finsternis. Ein Lebensbericht aus Auschwitz und Dachau, 1983; Eberhard Schmidt, Ein Lied – ein Atemzug, 1987. 12 Rudolf Kalmar, Zeit ohne Gnade, Wien 1946, S. 183 ff. zitiert nach: Jürgen Zarusky, Widerstand von Häftlingen im KZ Dachau. In: Johannes Tuchel (Hrsg.), Zur Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur, Göttingen 2005, S. 78 f. Erwin Geschonneck, der spätere Defa-Filmschauspieler und Mitglied des Berliner Ensembles unter Brecht, hat diese Ereignisse dokumentiert in seinen Erinnerungen über »Meine unruhigen Jahre«, Berlin 1984. 6 Seite: 7/31 Musik und Theater im Konzentrationslager „Musik an der Grenze des Lebens“ nennt der tschechische Wissenschaftler Milan Kuna seine umfangreiche Darstellung über das Leben der Musiker-Häftlinge in den Konzentrationslagern und Ghettos von Dachau, Theresienstadt, Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück, Mauthausen, Auschwitz und Lodz, die 1993 in erster Auflage im Frankfurter Verlag 2001 eine weite Verbreitung und Beachtung fand (2. Auflage1998). Eine eindrucksvolle Dokumentation über die Bedeutung der musikalischen Aktivitäten, deren Anlässe ebenso unterschiedlich waren wie die Musik, die gemacht wurde. „Es gab Gesang und Instrumentalmusik, es wurde klassische Musik gespielt, aber auch Bar-Musik, Jazz und Zwölftonmusik. Gassenhauer wurden gesungen, Opern wurden aufgeführt, und in einer Zuchthauszelle ist sogar eine Oper komponiert worden. Dass sich so viele Häftlinge mit Musik beschäftigt haben, überrascht und wurde bisher kaum zur Kenntnis genommen“, resümiert Kuna seine Forschungsergebnisse. 13 In der Tat haben die Komponisten in Theresienstadt wie Viktor Ullmann, Hans Krasa, Gideon Klein, Rudolf Karel oder Karel Reiner erst in den letzten Jahren posthum Uraufführungen ihrer Werke erlebt. Jüngst hat die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter eine CD bei der Deutschen Grammophon eingespielt:„Terzin/Theresienstadt“ mit Stücken u.a. des Pianisten der „Ghetto-Swingers“, Martin Roman, mit Adolf Stauss Tango über die Sehnsucht nach einer fernen Geliebten, Ilse Webers „Wanderung durch Theresienstadt“ und mit den von Ulrike Migdal kommentierten Sonett-Vertonungen von Viktor Ullmann. „Ullmann bekannte in seinem Aufsatz ‚Goethe und Ghetto’, dass wir keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war“ 14 . (Dazu Folie 3: Chor der Gefangenen in Theresienstadt, Kleine Festung, und Viktor Ullmann, Sonnett VIII (Je vis, je meurs“, 1,22 Min.), gesungen von Anne Sofie von Otter). 13 Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt/M. 1998,(2. Auflage bei Zweitausendeins), S. 351. 14 Ulrike Migdal (Hrsg.), Und die Musik spielt dazu. Chansons und Satiren aus dem KZ Theresienstadt. Mit einem Essay über Kunst im Konzentrationslager. Zur Musik und den Musikschaffenden im „Dritten Reich“ siehe neben Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt/M. 1982, die Trilogie von Michael H. Kater: Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus, 1992, Die missbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, 1997, Komponisten im Nationalsozialismus. Acht Porträts, 2004. 7 Seite: 8/31 Auch wenn wir inzwischen über Musik, Tanz und Gesang in Frauenlagern gut informiert sind, besonders über Auschwitz II mit Alma Rose und Fania Fenelon 15 , so gibt es immer wieder neue Entdeckungen. Mich persönlich fasziniert seit einigen Jahren die wenig bekannte Lagerkapelle von Auschwitz III (BUNA-MONOWITZ) im Nebenlager Fürstengrube mit prominenten jüdischen Musikern aus Österreich, Deutschland, Frankreich und der Tschechoslowakei, die den Todesmarsch von Auschwitz bis in mein Heimatdorf (Ahrensbök/OH) überlebten und nach 1945 eine neue Karriere beginnen konnten. Darunter der Leiter der Kapelle, Harry Herrmann Spitz, 1899 in Brünn geboren, vor 1933 ein berühmter Bratschist und Kapellmeister der Wiener Staatsoper. Nach 1945 wurde er der erste Leiter der Musikabteilung des NWDR und machte sich einen Namen durch Veranstaltungsreihen zu „Das Alte Werk“ und „Das Neue Werk“ mit Uraufführungen u.a. von Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“. Einige der Anwesenden haben vielleicht auch noch den „Harry-Hermann-Klang“ im Ohr oder seine Auftritte im Fernsehen in Erinnerung mit „Musik für Millionen“ und „Melodien der Welt“. Ein anderer, hier kaum noch bekannter Musiker war Jan Kurt Behr, 1911 in dem damals noch zu Österreich gehörenden Jägerndorf geboren, 1996 in New York verstorben. Der studierte Jurist und renommierte Pianist leitete ab 1937 als Nachfolger von George Szell die Deutsche Oper in Prag. Nach 1945 lehnte er es ab, Chefdirigent an der Hamburger Staatsoper zu werden und ging in die USA, wo er an der MET als fester Dirigent arbeitete. Behr prägte mit Harry Hermann Spitz das Orchester von Auschwitz-Fürstengrube. Mit Benjamin Jacobs, dem polnischen Häftlingsdentisten, gehörte er zu den „Ostjuden“, die Ende April 1945 von der Rettungsaktion des Internationalen Roten Kreuzes (Bernadotte-Aktion) in Ostholstein ausgeklammert blieben, obwohl sie auf der Liste des Lagerführers von Fürstengrube, Max Schmidt, standen. Graf Bernadotte erlaubte lediglich den 50 Lagerinsassen westlicher Herkunft aus Fürstengrube und Dora die Ausreise nach Schweden. Behr berichtete später, er habe sich nicht zu den Franzosen, Belgiern oder Niederländern gemeldet, obwohl er gut Französisch spreche, sondern sich wahrheitsgemäß als Tschechoslowaken vorgestellt. „Ehrlichkeit und Dummheit bis zum letzten Moment!“ meinte er selbstironisch. Als „Pianist von Auschwitz“ blieb Jan Kurt Behr in der Erinnerung der Häftlinge und ihrer Bewacher lebendig, weil er am Abend des Auflösung des Lagers (18. Januar 1945) und des Beginns der Evakuierung angesichts der vorrückenden sowjetischen Truppen im überfüllten Saal unter großer Anteilnahme der Anwesenden die Sonate „Les Adieux“ von 15 Fania Fenelon, Das Mädchenorchester von Auschwitz, Frankfurt/M. 1980. 8 Seite: 9/31 Ludwig van Beethoven spielte, also jene Es-Dur-Klaviersonate op. 81a, mit der Beethoven 1809 Abschied und Flucht der kaiserlichen Familie vor den einrückenden Franzosen aus Wien musikalisch eindrucksvoll thematisiert. „Da blieb kein Auge trocken“, erinnerte sich noch 50 Jahre danach der anwesende Lagerführer Schmidt. Unmittelbar nach der Befreiung trat Behr in Belgien als Pianist auf und leitete am 27. Oktober 1945 in Brüssel das Solidaritätskonzert zugunsten der Opfer von Lidice . 16 .(Folie 4) Noch während des I.G. Farben-Prozesses vor dem US-Militärtribunal in Nürnberg glaubten die Verantwortlichen, dieses Orchester als Beleg ihrer Unschuld einbringen zu können. Die Angeklagten wiesen in einem der spektakulärsten Prozesse gegen die Eliten des NSSystems darauf hin, dass sie an der Besichtigung des Lagers Auschwitz-Fürstengrube im Herbst 1944 teilgenommen hatten. Dieses zum I.G. Farbenkonzern gehörende Lager - mit der Ausbeutung von Hilfskräften aus Auschwitz im Dienst des Konzerns - , war ausgestattet mit einer alten und neuen Schachtanlage, mit Wohnbaracken, der Krankenund Zahnarztstation, den Werkstätten, Gartenanlagen, Küchen- und Essenräumen und einer „Feierabendbaracke“ für die rund 1200 Auschwitz-Häftlinge. Aus der Sicht der I.G. Farbenchefs machten die Häftlinge „insgesamt einen wenn auch nicht gerade blühenden, so doch normal gesunden und kräftigen Eindruck, jedenfalls besser und kräftiger als heute die große Masse der Berliner Bevölkerung einschließlich meines eigenen Zustandes.“ So die zynische eidesstattliche Erklärung des Rechtsanwalts Friedrich Silcher am 30. Juni 1947 vor dem Nürnberger Tribunal. 17 „Insgesamt herrschte“, so Silcher, „das Prinzip, 16 17 Wollenberg, Ahrensbök. Eine Kleinstadt im Nationalsozialismus, Bremen 2001, S. 173-177, 189-192. NI, KV-Prozesse 6, F 14, Dokument Dr. Bütefisch, Nr. 306 9 Seite: 10/31 Häftlinge…in der Entfaltung und Betätigung eigener Initiativen in dieser Richtung unbeschadet der notwendigen Arbeit am Schacht und im Rahmen der Lagerdisziplin möglichste Freiheit und Förderung zu gewähren“. Die I.G. Farben-Chefs besichtigten den Garten mit Bänken, „auf denen Häftlinge in der Sonne saßen“, und fanden auch die Ernährungslage vorzüglich: „Als Essen zubereitet wurde gerade Fleisch, Kartoffeln und Mohrrüben, was alles einen guten Eindruck machte“. Der ehemalige Häftling Jan Lawnicki berichtete später über die unzureichende Ernährung in Fürstengrube. Aber er fügte hinzu: „Nur ein einziges Mal erhielten wir an einem Sonntag ein Mittagessen aus zwei Gängen: Suppe und Grütze sowie gebratene Koteletts und Kartoffeln. An diesem Tag spielte das Häftlingsstreichorchester, und das Lager wurde von zwei Zivilisten in Begleitung des Lagerführers besucht. Wer diese Zivilisten waren, wussten wir nicht“ 18 . Auch über das 40-köpfige Orchester geriet der „passionierte Musiker“ Silcher in Entzücken: „Unvergleichlich ist mir folgender Eindruck geblieben: Zum Abschluss unseres Besuches war in die freie Abendbaracke (vielleicht wurde sie auch anders genannt) die Lagerkapelle bestellt. Es war ein ziemlich großer Raum mit Bänken und Tischen und einem erhöhten Podium als Bühne; die Häftlinge konnten dort nach Mitteilung des Kommandanten nach Arbeitsschluss spielen. Die Kapelle bildete ein richtiges ganz gut besetztes Orchester. Der Dirigent war nach Aussage des Kommandanten ein früherer Kapellmeister der Wiener Staatsoper, Ehemann von Erna Sack, der als Jude im Lager war, Primgeiger war der frühere Primgeiger der Pariser Oper. Die Instrumente waren nach Mitteilung des Kommandanten von der Lagerverwaltung beschafft, es war von den Geigen, Bratschen, Celli, Contrabässen über Holzblasinstrumente bis zum Blech alles vorhanden und besetzt. Das Orchester spielte den mir gut bekannten Marsch ‚Hoch Heidecksburg’, den ich früher in meinem Schulorchester selbst mitgespielt und seitdem oft gehört habe, und ich muss sagen, dass ich ihn noch nie in meinem Leben so ausgezeichnet gespielt gehört habe, mich überhaupt kaum erinnere, jemals einen Marsch so schlechthin vollkommen gespielt gehört zu haben. Die Musiker waren offensichtlich mit voller Hingabe bei ihrer Sache und müssen, um so spielen zu können, lange und viel und gründlich geprobt haben; es war ein typisches ausgezeichnet erzogenes und geschultes Orchester. Die Häftlinge in ihrer musikalischen Entrückung und Hingabe wirkten irgendwie befreit, wegen des Kontrastes ihres hingegebenen ganz musikerfüllten Musizierens zu ihrer Häftlingskleidung und ihren geschorenen Köpfen aber doch 18 Tadeusz Iwaszko, Das Nebenlager Fürstengrube, 1978, S.38 10 Seite: 11/31 beklemmend. Als sie geendet hatten und ich Beifall klatschen wollte, wurde mir bedeutet, dass es nicht gehe; so begnügte ich mich damit, dem Kapellmeister, der sich umgedreht hatte und auf uns sah, und den übrigen Musikern herzlich zuzunicken, was vom Kommandanten wohl gesehen, aber nicht weiter zur Notiz genommen wurde.“ 19 Fürstengrube hatte nicht nur ein Orchester, sondern auch einen zur Badeanstalt umgewandelten Löschteich mitten im Lager für 1200 Häftlinge. Auf dem Foto die SS-Wachmannschaft. In der Mitte, auf dem Beckenrand sitzend, der Lagerführer Max Schmidt. (Folie 5) So viel zum Versuch der Hauptverantwortlichen, die Existenz von Kultur und Bildung in den Konzentrationslagern als Beweis ihrer Unschuld zu bemühen. Für unseren Zusammenhang darf aber auch nicht übersehen werden, dass es wegen der privilegierten Position der in der Regel von der körperlichen Arbeit befreiten Künstler und Musiker nicht nur in Fürstengrube, sondern auch in den anderen Lagern immer wieder zu Rangeleien kam. Wie sehr unter den Künstlern im KZ Eifersüchteleien um die privilegierten Positionen gelegentlich die Atmosphäre vergifteten, sei kurz am Beispiel des renommierten Künstlers und Theatergründers Emil F. Burian aus Prag dargestellt. Als dieser sich vom 27. Juni 1941 bis zum 7. August 1942 von Theresienstadt kommend in Dachau aufhielt, gelang es ihm nicht, in den Kreisen der relativ abgesicherten Musiker-Prominenz Fuß zu fassen. Kapellmeister Kozlik sah in ihm einen unerwünschten Konkurrenten. Er setzte ihn lediglich als Sänger in der Jazzkapelle ein und ließ ihn zum Geburtstag des Lagerältesten Karl Kapp deutsche Schlager vom Blatt singen, darunter „Lili Marleen“. 20 Dennoch nutzte Burian immer wieder Besuche der Nazigrößen in Dachau zu geschickten musikalischen 19 20 KV-Prozesse, Nr.6, Dokument Bütefisch, Nr. 306, S.4f. Milan Kuna, 1998, S. 306 ff. 11 Seite: 12/31 Provokationen, die ihn in Gefahr brachten. So sahen sich der Wiener Viktor Matejka und der Nürnberger Karl Röder gezwungen, Burian zusammen mit dem Blockältesten Erwin Geschonneck im Auftrag der illegalen Häftlingsorganisation auf eine Transportliste für ein anderes Lager setzen zu lassen, um deren Leben zu retten. Beide Künstler landeten – wie später auch Kurt Schumacher und Hermann Langbein – im KZ Neuengamme und erfreuten dort die „Häftlingsgesellschaft“ unter anderem mit der gemeinsamen Darbietung von Auszügen aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht und Kurt Weill. Beide gehörten zu den wenigen der 7500 Menschen, die das angelsächsische Bombardement auf das schwimmende KZ, den einstigen Luxusliner Cap Arcona, am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht zusammen mit Jan Kurt Behr und dem Pädagogen Robert Alt überlebten. 21 Überleben durch Kunst hinter Stacheldraht Zu den Theaterinszenierungen und musikalischen Veranstaltungen wurden häufig bildende Künstler herangezogen, um Bühnenbilder herzustellen. So berichten der Lagerälteste Hermann Joseph und Leo Klüger, Mitglied der Schauspieler- und Musikergruppe in Auschwitz-Fürstengrube, vom Bau einer versenkbaren Bühne „mit beweglichen Kulissen, Vorhang, Beleuchtung und Scheinwerfern (…) Die Kulissen malte Claude, ein französischer Künstler. Die Arbeit wurde von vorn bis hinten mit Kreativität und großem handwerklichen Können durchgeführt.“ 22 Die Überlebensperspektiven der Häftlinge verbesserten sich besonders nach 1943 beträchtlich, wenn sie künstlerische Zwangsarbeit für die SS in den sogenannten Zeichenstuben und Künstlerwerkstätten verrichten durften. In den Tischlereien, Glasereien, Druckereien und Schlossereien der KZ entstanden kunsthandwerkliche „Meisterleistungen“, die nicht nur der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse von SS-Angehörigen dienten, sondern die auch die Weltöffentlichkeit erreichen sollten. So produzierten z.B. im KZ Theresienstadt jüdische Häftlinge wie Kurt Gerron und Frantisek Zelanka im Auftrag der SS im Sommer 1944 den Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Nachdem dieses Mitte September 1944 beendete „Werk des Wahnsinns“ (H.G. Adler) der Öffentlichkeit präsentiert worden war, erhielten die Mitarbeiter von der SS Geschenke und großzügige Vergünstigungen, um 21 Vgl. Erwin Geschonneck, Meine unruhigen Jahre, Berlin 1984; E. F. Burian, Die Schiffbrüchigen der Cap Arcona, Prag 1945 (in tschechisch), zitiert nach Kuna, Musik, a. a. O., S. 309 f.; dazu auch Jörg Wollenberg, Ahrensbök. Eine Kleinstadt im Nationalsozialismus. Konzentrationslager-Zwangsarbeit-Todesmarsch, Bremen 2000, S. 178-188. 22 Leo Klüger, Lache, denn morgen bist du tot. Eine Geschichte vom Überleben, München 1998, S. 307 12 Seite: 13/31 „einige Wochen darauf mit Ausnahme von Spier, in die Gaskammer geschickt“ zu werden. 23 Folie 6: Der Führer schenkt den Juden eine Stadt. Standfoto mit Jazzkapelle, 1944; Folie 7: Kindertag in Theresienstadt Mit solchen„Verschönerungsaktionen“ zur „Freizeitgestaltung“ mit Kaffeehäusern, Konzert- und Theatersälen, Büchereien oder Kinderspielplätzen gelang es der SS, das Internationale Rote Kreuz , das immer wieder Visiten in den Konzentrationslagern ankündigte, zu täuschen und das „Ghetto“ Theresienstadt öffentlich ab Februar 1944 zum „jüdischen Siedlungsgebiet“ zu erklären. In den Veröffentlichungen von Schneider, Stütz, Seidel und jüngst von Georges DidiHubermann 24 finden wir zahlreiche Beispiele für künstlerische Zwangsarbeit von Bildhauern, Malern, Graphikern, Fotographen und Kunsthandwerkern in Buchenwald und Auschwitz, u.a. auch das Beispiel des Überlebenskampfes von Bruno Apitz (Nackt unter Wölfen, 1974), der den mörderischen Bedingungen der Arbeit im Schachtkommando 23 . H.G. Adler, Theresienstadt 1941-1945, 1955, S.180 Wolfgang Schneider, Kunst hinter Stacheldraht, Leipzig 1976; Marina Stütz (Hg.), überleben und widerstehen. Zeichnungen von Häftlingen des Konzentrationslager Auschwitz 1940-46, Fulda 1979; Sonja Seidel, Kultur und Kunst im antifaschistischen Widerstand im Konzentrationslager Buchenwald, NMG Buchenwald1983; Georges Didi Hubermann, Bilder trotz alledem, München 2007.. 24 13 Seite: 14/31 ausgesetzt war und auf Anregung seiner Freunde in seiner spärlichen Freizeit aus einem Stück Holz eine Arbeiterfigur schnitzte, die ihm für vier Jahre einen Arbeitsplatz im Block 12 in der Bildhauerwerkstatt der „Künstlerwerkstätte“ Buchenwald einbrachte. Allein 140 Künstler überlebten in den Fälscherkommandos von Sachsenhausen und Mauthausen, wo sie gezwungen wurden, für die Gestapo ausländische Währungen, falsche Pässe und wichtige Dokumente anzufertigen. Oft waren es „unvorhergesehene Überlebenschancen“ und „Glücksfälle des Überlebens in der Hölle“, wie Hans Landauer berichtet, wenn ihm und anderen Dachau-Häftlingen ein Arbeitsplatz in der SS-Porzellanmanufaktur Allach bei München angeboten wurden, wo sie ab 1941 für die „Aufrechterhaltung des Betriebes“ sorgten. 25 Und dennoch litten viele der inhaftierten Maler, Musiker und Schauspieler, die ihre Aufgabe zur „Manipulation der Gefangenen und der Erbauung der Mörder(innen“) 26 ausüben mussten, unter den Schuldgefühlen und dem psychischen Druck, den ihre privilegierte Tätigkeit gegenüber den Häftlingen erzeugte. Denn es war nicht zu übersehen, dass die SS die Künstler nicht nur zur Verschleierung der Grausamkeiten vor der Öffentlichkeit nutzte, sondern gleichzeitig zur Demütigung der Häftlinge. H.G. Adler registrierte außerdem das zunehmende Leugnen der Realität im KZ durch die Wahrnehmung künstlerischer Aktivitäten im Rahmen der „Verschönerungspolitik der SS“ in Theresienstadt, die „unfreiwillig die Opfer weitgehend an die Verfolger anglich“: „Viele der jungen, menschlich unreifen Musiker und Theaterleute büßten jeden Halt ein, nahmen Starallüren an und vergaßen beinahe das Lager und die SS. Ein begabter Dirigent führte gedankenlos das Prominentenleben eines vom Publikum umjubelten Lieblings der Musen. Man betäubte sich, verleugnete die Gegenwart und, was am bedenklichsten ist, man erfüllte ahnungslos willig die Wünsche der SS.“ 27 Die wesentlich härteren Bedingungen der Vernichtungslager verunmöglichten solche Selbsttäuschungen. Der begrenzte Spielraum des Handelns erschwerte dort künstlerische Aktivitäten und verengte den Blick auf die eigene Identität. Der Künstler Peter Edel zeichnete sich zum Beispiel in Auschwitz gleich zweifach auf einem Blatt: Im Vordergrund steht der ausgezehrte und gealterte Häftling Peter Edel. Sein früheres Ich, in ziviler Kleidung, schaut ihm über die Schulter. Dahinter 25 Hans Landauer, Nazi Porzellan als Glücksfall für Häftlinge, in: Jan Tabor (Hg.), Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922-1956, Band 2, Baden 1994, S. 600 ff. 26 Martina Kliner-Fruck, „Es ging ja ums Überleben“. Jüdische Frauen zwischen Nazi-Deutschland, Emigration nach Palästina und ihrer Rückkehr; Frankfurt/M. 1995, S.101; Cordula Kagemann, Überleben durch Kunst? Zum Stellenwert der Kunst in den Konzentrationslagern, Diplomarbeit im Studiengang Weiterbildung der Universität Bremen 2000, S.36ff. 27 H.G. Adler, 1955, S. 588, 176. 14 Seite: 15/31 wird der Schriftzug „Arbeit macht frei“ angedeutet, der symbolisch für Auschwitz steht. Dazu der Kommentar von Edel: „Wer ist das? Du! Ich? Ja!“ 28 (Folie 8) Wie wenig dagegen den Tätern das Lachen in Auschwitz verging, dokumentiert das jüngst vom Holocaust Museum in Washington veröffentlichte private Fotoalbum des SS-Offiziers Karl Höcker. Als Adjutant des Lagerkommandanten von Auschwitz hielt er ab Juni 1944 in 116 Aufnahmen den Alltag in Auschwitz fest. „Es sind Schnappschüsse aus einem Urlaubsidyll, das eine heile Welt beschwört, auch wenn die Männer Uniform tragen“ und sich vom Massenmord entspannen. 29 Solche Zufallsfunde machen deutlich, dass die Forschung zur Geschichte der Konzentrationslager in Zukunft nicht darauf wird verzichten können, die Debatten über den Alltag der Täter ebenso ernst zu nehmen wie die kulturwissenschaftlichen Beiträge zur Kunst des Überlebens im KZ. 30 Die KZ-Lagerbüchereien als Zentren des inneren Widerstands 28 Brebeck und Lutz sprechen mit Recht am Beispiel des Selbstportraits von Edel von einer „Selbstbefragung und Selbstvergewisserung“, vgl. Lutz/Brebeck/Hepp (Hg.), ÜBER-LEBENS-MITTEL. Kunst aus Konzentrationslagern und Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus, Marburg 1992, S. 73 29 Vgl. FAZ, 21.9.2007, Nr.220, S. 38; 24.10. 2007, Nr.247, S.44 30 Vgl. dazu u.a. Wojciech Lenarcyk, Veronika Springmann u.a. (Hrsg.), KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Berlin 2007. 15 Seite: 16/31 Das von der SS mit Stolz auswärtigen Gästen präsentierte kulturpolitische Aushängeschild des Konzentrationslagers Dachau war von Anfang an die im Herbst 1933 eingerichtete Häftlingsbibliothek mit eigenen Räumlichkeiten in der Baracke 10, in der auch Kranke und Invalide untergebracht waren und in der sich ebenfalls die Kantine befand. Ursprünglich – wie in vielen der frühen KZ in Anlehnung an alte Schutzhaftordnungen – zur Umerziehung der Häftlinge und zur nazistischen Indoktrination benutzt, 31 gelang es inhaftierten Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern bald, die Lesemöglichkeiten wenigstens einem Teil der Gefangenen zugänglich zu machen. „Es ist wurscht“, urteilte Viktor Matejka, „ob die Lagerbücherei von der SS nur eine Alibifunktion für Besucher hatte. Wesentlich ist, was die Häftlinge, besonders die Bücherei-Leiter aus der Bücherei machten“. 32 Die Häftlingsbibliothek in Dachau wurde dank des Engagements Matejkas und seines späteren Intimfeindes Kurt Schumacher mit ihrem Bestand von 18.000 Bänden von den KZ-Insassen als Zentrum der Information, Konspiration und des Widerstands genutzt, aber auch als Ort der Ruhe und Reflexion, der Entspannung und Ablenkung, als Stätte zur Bewältigung des qualvollen Häftlingsalltags. (Folie 9: Bücherei Dachau). Und wie in 31 Die Nationalsozialisten folgten in den frühen KZ mit den Umerziehungsbemühungen durch Schutzhaft scheinbar dem Vorbild der alten deutschen Strafvollzugspraxis, die keine Zwangsarbeit zuließ, jedoch den Gefangenen den Zugang zu Büchern durch die Einrichtung von Häftlingsbibliotheken ermöglichte; vgl. u.a. Dienst- und Vollzugsordnung für die Gefangenenanstalten der Preußischen Justizverwaltung vom 1. August 1933. In: Reichsarchiv, 41, 1934, 196 f. Auch der Freistaat Bayern erließ noch am 29. Juli 1933 eine ähnliche Verordnung, vgl. Torsten Seela, Die Lagerbücherei im KZ Dachau. In: Dachauer Hefte, 7, 1991: Solidarität und Widerstand, S. 35, Fußnote 6. Über die Buchbenutzung im zentralen Zuchthaus für die Hansestädte, in BremenOslebshausen, berichtet Harry Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936-1942, Köln 1987, S. 45ff. Dazu auch der zu zwei Jahren Einzelhaft in Oslebshausen verurteilte 19-jährige Henry (Heinrich) Oliver: „Nachdem ich ungefähr 14 Tage im Zuchthaus gewesen war, gab es einen großen Durchbruch in der täglichen Routine, der mein stetiges auf und ab gehen verminderte. Es war die vierzehntägige Ausgabe von Bibliotheksbüchern. Ein Wärter öffnete die Zellentür und mit ihm war ein Zuchthäusler mit einem Karren voll von Büchern. Man konnte sich klassische Werke, wenn man sie bevorzugte, auswählen und sogar, in gewissen Grenzen, Autoren anfordern. Man durfte nur ein Buch für 14 Tage haben. Die Zuchthausbibliotheksbücher enthielten im Durchschnitt 250 Seiten, ohne Rücksicht auf die Länge der normalen Bücherausgabe. Das bedeutete, dass man fast alles, was man las, auswendig lernte. Goethe, Schiller, Nietzsche, Tacitus (Germanien), Charles Dickens (auf Deutsch), die Bibel. Ich muß ungefähr 30 Bücher während meiner Zeit in Oslebshausen von der Bibliothek bekommen haben. Obgleich es verboten war, las ich immer während des Essens, denn es war eine Ablenkung von der scheußlichen und unzulänglichen Kost. Natürlich las ich meistens am Abend bis zum Ausschalten des Lichtes um 20 Uhr. Nichtsdestoweniger gab es Stunden in meiner Zelle, in denen ich glaubte, vollständig wahnsinnig zu werden. Ich dachte, etwas würde mir den Kopf platzen lassen. Ich verzerrte mein Gesicht vor dem kleinen Spiegel in der Zelle. Irgendwie riss ich mich aus diesen Augenblicken der Verzweiflung. Ich sagte mir, wie gut es sei, dass ich noch reagieren konnte, selbst bis zum Umfang das Gesicht zu verzerren. Mein Verstand konnte nicht vollständig gebrochen sein. Ich hatte mich entschlossen, nicht unterzugehen. Einzelhaft schafft doch eine einzigartige Gelegenheit zur Selbstuntersuchung, zum Analysieren der Gedanken und Gefühle und Motivierungen. Es ist erstaunlich zu erleben, was für ein scharfsinniges Instrument das Gehirn sein kann, selbst wenn es von irgendwelchen Stimuli des Lebens getrennt ist. Ich war imstande, Einzelheiten von Ereignissen, selbst aus der früheste Kindheit, mit Kristallklarheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich hatte natürlich genug Zeit zum Nachdenken“. (verfasst 1983, als MS im Besitz von J.W.) 32 Antwort von Viktor Matejka am 20. Februar 1987 auf die Fragebogenaktion von Herbert Exenberger. Neben Matejka hatte der Bibliothekar des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes noch weitere 23 Häftlinge über die Lagerbücherei und das Leseverhalten im KZ Dachau befragt, darunter auch Karl Röder. Auf diese Ergebnisse griff schon Seela in seiner Pionierstudie zurück. Exenberger selbst fasste seine Fragebogenaktion noch einmal systematisch zusammen unter dem Titel »Bibliothekar im KZ Dachau« in: Franz Richard Reiter, Wer war Viktor Matejka? Wien 1994, S. 34-47, hier 37. 16 Seite: 17/31 anderen Lagern nutzten diese Häftlingsbibliothekare ihre begünstigte Stellung dazu, die für die SS schwer durchschaubare Kette von Kämpfern gegen den Lagerterror der SS abzusichern. Viktor Matejka versuchte dabei, über alle Parteigrenzen hinweg ein breites Bündnis aufzubauen, während Kurt Schumacher maßgeblich den sozialdemokratischen Widerstand prägte und sich der Kooperationen mit Kommunisten verweigerte. 33 Während der täglichen Öffnungszeiten von 12 bis 14 Uhr bestand die Gelegenheit zu unauffälligen Gesprächen. Und durch die räumlich enge Verbindung zu anderen Kommandos, wie dem von österreichischen Häftlingen um Franz Olah und Hermann Langbein geprägten Krankenrevier, der Arbeitsstatistik, der Buchbinderei und den Schreibstuben, entwickelte sich die Bücherei über den Kontakt zu anderen Kapos zum Umschlagsplatz für Nachrichten. Dazu gehörten der Lagerläufer Josef Mörtel aus Weiden und Otto Skritek (1909-1998), der Schreiber im Krankenrevier und spätere einflussreiche Gewerkschaftsfunktionär, der für die SPÖ im National- bzw. Bundesrat saß, oder der Nürnberger Heini Stöhr, Oberpfleger der Station für „septische Chirurgie“ im Krankenbau, nach 1945 SPD-Landtagsabgeordneter in Bayern, dem Nico Rost neben dem Österreicher Eugen Pfeiffer aus Wien seinen „Goethe in Dachau“ widmete. Allerdings erreichten sie in der Regel nur den begrenzten Kreis von Gefangenen, die als „privilegierte Funktionshäftlinge“ (Kapos, Block- und Lagerälteste) Zugang zu der Lagerbibliothek hatten. 34 So mussten zum Beispiel Häftlinge auf diese Möglichkeit geistiger Zuflucht dann verzichten, wenn sie Juden waren und, wie Jean Améry in Auschwitz oder Erich Mühsam in Oranienburg, keine bevorzugte Kapo-Position wahrnehmen konnten oder wollten. 35 Und dennoch gelang es den politischen Häftlingen, auch in den anderen größeren Konzentrationslagern diese für das Überleben so wichtigen Funktionen im Kultur- und Bildungsbereich zu besetzen. 33 Vgl. dazu neben Matejka die Aussagen von Karl Röder, Otto Skritek, Josef Mörtel, Friedrich Heine, Anton Großmann, Karl Adolph Gross, Alfred Pohl, Bruno Furch, Hermann Peters, Otto Pies u.a, die Seela, Die Lagerbücherei, a.a.O., S. 45 f. zitiert und die teilweise unveröffentlicht im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau liegen. 34 Seela, Die Lagerbücherei, a.a.O., S. 34-46; vgl. dazu auch die ungedruckte Dissertation A von Torsten Seela, Lesen und Literaturbenutzung in den Konzentrationslagern. Das gedruckte Wort im antifaschistischen Widerstand der Häftlinge, Berlin (Ost) 1990. Seela stützt sich, was Dachau betrifft, auf Befragungen von Herbert Exenberger vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, die dieser 1987 unter DachauHäftlingen, u.a. mit Viktor Matejka, Karl Röder, Hans Landauer und Karl Horak, vornahm. In Dachau und Flossenbürg waren vor Schumacher und Matejka als Bücher-Kapo tätig: Heinrich Bergmann, Vitus Heller, Konrad Kübler, Karl Leonhard Graf Du Moulin (persönlicher Adjudant des ermordeten SA-Chefs Röhm), Julius Zerfaß (Walter Hornung) und Franz Ludwig Neher, der an Stelle des Monarchisten Erwein von Aretin zum Bücher-Kapo ernannt wurde. Nachfolger Schumachers wurde der Österreicher Franz Sperk (Seela, Die Lagerbücherei, a.a.O., 27; Seela, Lesen und Literaturbenutzung, a.a.O., 36 f. u. 45). 35 Vgl. u.a. den Bericht von Jean Amery, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, 24; zu Dachau die Befragung von Alfred Maleta am 6. Februar 1987 durch Herbert Exenberger, zitiert nach Seela, Die Lagerbücherei, a.a.O., S. 39, Fußnote 33. 17 Seite: 18/31 In Buchenwald wurden z.B. als Häftlingsbibliothekare eingesetzt: Walter Husemann, Mitglied der „Roten Kapelle“, Anton Gebler, Ernst Haberland und Gottlieb Branz, ehemaliger Bibliothekar des Münchener Gewerkschaftshauses, nicht aber der dort inhaftierte Direktor der Bibliothèque Nationale de Paris, Julian Cain. In Sachsenhausen waren es die Kommunisten Wilhelm Guddorf, Karl Schirdewan, Wilhelm Girnus, Edgar Bennert und Karl Block; in Börgermoor der „Weltreporter“ Armin T. Wegner; in Lichtenburg der Strafverteidiger der Linken, Hans Litten, und Carlo Mierendorff (MdR, SPD); in Esterwegen der Schauspieler und Theaterleiter Wolfgang Langhoff; in Neuengamme Jakob Feetz und Kurt Schumacher (ab Oktober 1944 bis zu seiner Entlassung im Februar 1945); in Auschwitz die Polen Bronislaw Pedzinski und Boleslaw Nowicki. 36 Auch in den Konzentrationslagern für Frauen kam es zu Gründungen von Lagerbüchereien. In Lichtenburg arbeiteten als Häftlingsbibliothekare u.a. Katja Großmann und Grete Rische, die mit dafür sorgten, dass die Bestände nach der Auflösung den Grundstock für die neue Bücherei in Ravensbrück bildeten, geleitet von Marga Langensiepen aus Düsseldorf. 37 Generell konnten sich die großen Konzentrationslager auf Buchbestände stützen, die aus aufgelösten Lagern stammten, ergänzt um „Geschenke“ aus geplünderten Vereins- und Pfarrbibliotheken, nach 1938 vermehrt aus den Besitzständen der deportierten oder ins Exil getriebenen Juden, gelegentlich auch durch Kauf mit Hilfe von Geldspenden der Häftlinge oder durch die von den Häftlingen aus den Effektenkammern eingeschmuggelten Werke. 38 Wahrscheinlich blieb das KZ Mauthausen – neben Stutthof, Auschwitz III (Monowitz-Buna) und Lublin-Majdanek - das einzige der großen Lager, von dem nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, dass den Häftlingen eine Lagerbücherei zur Verfügung stand. Von Himmler als Straflager konzipiert, erlaubte es zumindestens in den ersten Jahren nach der Gründung keine „humanitären“ Hilfs- und Umerziehungsangebote. 39 Viele der Häftlingsbibliothekare hatten vor 1933 Erfahrungen im Bereich von Kultur und Bildung, auch in der Weiterbildung, gesammelt. Der Schauspieler und Theaterintendant Edgar Bennert (1890-1960), vor 1933 Chefredakteur der Bremer „Arbeiter-Zeitung“, prägte z. B. die „Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur“ und war in Bremen 1931 an der Gründung der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) beteiligt. Er initiierte in der Endphase Weimars die „Soziologische Studiengemeinschaft“ als Modell der Kooperation 36 37 38 39 Seela, Lesen und Literaturbenutzung, a.a.O.,S. 27 Seela, S. 54 Seela, S. 55ff. Seela, S. 93ff. 18 Seite: 19/31 mit Bürgerlichen, um die antifaschistische Bildungsarbeit auszuweiten und Erich Mühsam, Erich Weinert oder Alfons Goldschmidt in Bremen zu Wort kommen zu lassen. 40 Ab April 1933 hatte er mehrere Konzentrationslager durchlaufen (Bremen-Mißler, Esterwegen und Sachsenhausen). Über die von ihm, Karl Bock, Hans Seigewasser, Herbert Bender, Werner Jacobi und Bernhard Bästlein geleiteten „Schallerabende“ und Dichterlesungen wie auch über die Darbietungen eines tschechischen Streichorchesters in Sachsenhausen berichtet der Lagerälteste Harry Naujoks und hebt dabei die Zusammenarbeit mit den Gruppen der Jugendbewegung (Neuroter mit Robert Oelbermanns) hervor. 41 Bennert übernahm nach seiner zweiten Einweisung 1941 im Kommando Häftlingsschreibstube die Lagerbibliothek mit der Häftlingsnummer 11602. Als Blockältester im Block 52 initiierte Bennert kulturelle Veranstaltungen, die den Lebenswillen der Häftlinge stärkten und über die u. a. tschechische Studenten und Schriftsteller wie Bohdan Rossa und Jiri Hajek nach 1945 Rechenschaft ablegten. 42 Besonders beeindruckten die Versuche von Bennert und Fritz Hirsch (Reinhardt-Bühnen), das klassische Erbe unter den Bedingungen der KZ-Haft zu pflegen - mit Rezitationen, Liederabenden und Theaterinszenierungen (u. a. Goethes Faust mit Bennert als Faust, Hellmut Bock als Mephisto und Gustav Voß als Wagner). Über diese Aktivitäten - als Ausdruck des inneren Widerstandes gegen den Faschismus mit den Mitteln der Kunst - liegen für Sachsenhausen zahlreiche authentische Belege vor. Zitieren wir dazu exemplarisch die „Aufzeichnungen aus fünf Jahren Schutzhaft“, die Arnold WeißRüthel 1949 unter dem Titel „Nacht und Nebel. Ein Sachsenhausenbuch“ vorlegte (74f.): 40 Wollenberg u. a., Von der Krise zum Faschismus. Bremer Arbeiterbewegung 1929-33, Frankfurt/M 1983, S. 50-56. 41 Harry Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936-1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten, Köln 1987, S. 152ff., 287-300; Barbara Kühle/Heinz Neumann, Edgar Bennert, Künstler, Kämpfer, Kommunist, Schwerin 1985, S.6-9 42 Ebenda, S.10f.; Jiri Hajek, Unser Harry, in: Literarische Monatshefte, Prag, August 1984 19 Seite: 20/31 Die völlige Ahnungslosigkeit der SS-Leute in Fragen der Literatur erlaubten den Häftlingsbibliothekaren, auf Bücher zurückzugreifen, die auf dem Index der Reichskulturkammer standen. So gelang es 1940 in Sachsenhausen, über tschechische Studenten und Wissenschaftler eine Geldsammlung zu organisieren, um für die Häftlingsbibliothek, die bis dahin aus rund 800 Büchern bestand, die aus dem KZ Esterwegen und aus Zuchthäusern stammten, um 1000 Buchtitel zu erweitern - mit nicht faschistischer Literatur und wissenschaftlichen Werken. 43 Und Karl Röder berichtet: „Ich habe z.B. in Dachau folgende Bücher gelesen: von Karl Kraus ›Die letzten Tage der Menschheit‹, ›Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie‹ 43 Naujoks, 1987, S. 175 20 Seite: 21/31 von Friedrich Engels, ›Das Feuer‹ von Henry Barbusse, ›Die eiserne Ferse‹ von Jack London und viele andere. Ich lernte erst dort Peter Altenberg, Egon Friedell, Musil und Kafka kennen. Wir besaßen Bücher von Thomas und Heinrich Mann, Thomas Wolfe, Theodore Dreiser, Emile Zola, Andersen Nexö usw. Es ist unmöglich, sie alle aufzuzählen.“ 44 Wie war es möglich, in Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen nicht nur auf die nationalsozialistischen Klassiker wie Hitlers »Mein Kampf«, Alfred Rosenbergs »Mythus des XX. Jahrhunderts« oder Hans Grimms »Volk ohne Raum« zurückzugreifen, sondern trotz aller Kontrollmaßnahmen auch auf verbotene und verbrannte Bücher? Und wie kamen diese in das KZ? Zeitzeugen wie Karl Röder, Viktor Matejka, Edgar Bennert, Karl Schirdewan oder Harry Naujoks informieren darüber im Detail und Wissenschaftler wie Herbert Exenberger und Torsten Seela haben das vorliegende Material systematisch ausgewertet. 45 Folie 10: Kurt Schumachers Arbeitsplatz in Dachau Die Dachauer Lagerbibliothek entstand 1933 auf Anregung des inhaftierten Rosenheimer Verlegers Heinrich Bergmann und geistlicher KZ-Insassen, die auf Spenden der katholischen Volksbibliothek in Dachau zurückgreifen konnten. Da die Häftlinge alle Zivilsachen in der Effektenkammer abgeben mussten, also auch Bücher, griffen Röder und Matejka auf diese Bestände zurück, bevor die SS diese zur Heizung der Öfen verwenden konnte. Vor allem durch den Zugang beschlagnahmter jüdischer Literatur aus Wiener Magazinen und Privatbibliotheken gelangten nach 1938 Tausende von Bänden nach Dachau, welche die Häftlinge zum Teil in den Baracken versteckten oder, was sich nach Röder als ungefährlicher herausstellte, in die Bibliothek einreihten. Das war nur mit Tricks möglich. Unter dem Vorwand, die neuen Bände müssten erst repariert werden, trugen die von der SS eingesetzten „Buchsachverständigen“ unter Anleitung des Archivars Franz Sperk die Bücher in die Buchbinderei und tauschten sie dort gegen nicht gelesene NaziLiteratur aus. So kamen Werke von Karl Kraus und Hefte der Fackel in die Hände der Häftlinge. „Die Tatsache, dass wir Karl Kraus ins Lager gebracht hatten, war ein kleiner Sieg über die SS“, hält Matejka fest. 46 44 Röder, Nachtwache, a.a.O., S. 286. Röder, Nachtwache, a.a.O., 286-294, Seela, Lesen und Literaturbenutzung, a.a.O., 85 ff. u. 112 ff., Exenberger, Bibliothekar im KZ Dachau, a.a.O.; siehe auch Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher, Stuttgart 1995, S. 189 ff. 34 Viktor Matejka, Widerstand ist alles. Notizen eines Unorthodoxen, Wien 1984, S. 90 f. 45 21 Seite: 22/31 Dazu kam die erlaubte Möglichkeit – nicht nur in Dachau - ,sich Bücher ins KZ senden zu lassen oder durch Geldsammlungen im KZ auswärtige Fachbuchkäufe an Hand von Verlagsprospekten zu organisieren. Beachtliche Schmuggelkünste, vor allem aber die Unbelesenheit und Dummheit der SS-Wachen trugen wesentlich dazu bei, dass regimefeindliche Literatur nicht nur das Lager erreichte, sondern in die Häftlingsbücherei eingereiht werden konnte. Krimis und Unterhaltungsromane von Ganghofer und Karl May gehörten zur bevorzugten Lektüre der Häftlinge, es sei denn, dass sie von Matejka, Röder oder Schumacher auf besondere Bücher aufmerksam gemacht wurden. Auf jeden Fall gewann Viktor Matejka bei der Vergrößerung der Buchbestände eine herausragende Rolle. Das „Organisieren“, der humanistische Diebstahl, war seine Stärke. „Die Not verführt, und die List zur geistigen und körperlichen Selbsterhaltung macht auch vor dem Organisieren nicht halt“, berichtet Matejka. 47 Er konnte diese Tätigkeit gegen den Willen Kurt Schumachers auch ab Oktober 1939 im KZ Flossenbürg fortsetzen und dort eine Lagerbibliothek aus den Geldspenden der österreichischen und deutschen Häftlinge aufbauen. 48 Das Gelände des KZ Dachau wurde zwischenzeitlich von der ersten SSTotenkopf-Frontdivision als Ausbildungsstätte benötigt. Erst im Februar 1940 kehrte ein Teil der nach Buchenwald, Mauthausen und Flossenbürg ausgelagerten Häftlinge nach Dachau zurück, darunter Schumacher und Matejka. In Dachau verlängerte Matejka die Öffnungszeiten der Häftlingsbücherei durch die von ihm eingeführte „Blockausleihe“. Er ging abends mit Bücherpaketen in die Baracken, um diejenigen mit Büchern zu versorgen, die wegen der langen Arbeitszeiten oder durch Krankheit nicht in der Lage waren, die Bücherei zu den Öffnungszeiten zwischen 12 und 14 Uhr aufzusuchen. 49 Eine weitere herausragende Bedeutung gewann Matejka durch den mit seinen Freunden heimlich zusammengestellten Zeitungsausschnittdienst. Dabei bediente er sich vielfach des Mittels der Collage. Ausschnitte aus Zeitungen, aus Reden Hitlers, aus Naziliteratur und Artikeln von Wissenschaftern und Literaten trugen in seinen „Pickbüchern“ dazu bei, kritische antifaschistische Positionen zu festigen. „Bildung aus dem Widerspruch“ nannte er diese von Kurt Schumacher mit Misstrauen verfolgte Methode der Gegeninformation. So trat Matejka auch dafür ein, Hitlers »Mein Kampf« zum „Schulungsbuch im richtigen Sinn“ 47 Zitiert nach Seela, Lesen und Literaturbenutzung, a.a.O.,S. 60. Vgl. Brief Matejkas an Rudolf Augstein vom 14. August 1967, 2-3 (Archiv Wolfgang Benz, Zentrum für Antisemitismusforschung Berlin) und Matejka, Widerstand, a.a.O., S. 124 ff. 49 Seela, Lesen und Literaturbenutzung, a.a.O., 76. Wie in den alten Gefängnisbüchereien durfte der Häftling lediglich jeweils ein Buch – ohne Leihgebühr – für eine Woche bis 14 Tage ausleihen. Vor jeder neuen Entleihung musste erst das ausgeliehene Buch „schonend und in sauberen Zustande wieder abgeliefert“ werden. So der von der Kommandantur herausgegebene „Lagerbefehl für die Bücherei des Konzentrationslagers Dachau“ (vgl. Anlage 2.1 der Dissertation von Seela). 48 22 Seite: 23/31 umzufunktionieren, weil es, so Matejka, „wie kaum ein anderes Buch relativ frühzeitig gründlichen Einblick in ein heranwachsendes Großverbrechen gewährte“ 50 . Seine vorherigen redaktionellen Erfahrungen in den Berichten zur Kultur- und Zeitgeschichte dürften bei dieser Tätigkeit Pate gestanden haben. Und mit den von ihm, Karl Röder oder Nico Rost und Edmund Michelet „privat“ organisierten Lesegruppen und kleinen literarischen Zirkeln stärkten die Funktionshäftlinge in den Arbeitskommandos die Kunst des Überlebens im KZ. 51 Matejkas Doppelfunktion als Kapo in der Lagerbibliothek und als Schreiber des SS-Schulungsleiters im SS-Übungslager begünstigte diese subversive Tätigkeit. 52 Karl Schirdewan, vor 1933 Mitglied des ZK im KJVD, fasst seine Erfahrungen als Häftlingsbibliothekar in Sachsenhausen so zusammen: „Wenn man den Buchbestand mit der Zahl der vielen tausend Häftlinge im Verhältnis sieht, dann erkennt man, dass nur ein paar hundert – und nur in Abständen – Nutzen davon hatten. Man denke auch an die Leiden, Misshandlungen, an die schwere körperliche Arbeit, Müdigkeit und Erschöpfung, da hatten nur wenige noch Kraft, zu einem Buch zu greifen. Doch die Bedeutung der Bücherei lag darin, dass sie ein Zentrum des antifaschistischen Widerstands, der Solidarität, der Information und Konspiration war. Ein ‚Schaufenster’ der SS für ‚Besucher aus dem In- und Ausland nutzten wir für die Interessen der Häftlinge.“ 53 Aber nutzten nicht auch die Funktionshäftlinge in den Schreibbüros ihre Tätigkeiten im Kultur- und Bildungsbereich zu Privilegien, um sich das Überleben im KZ auf Kosten der Mithäftlinge zu erleichterten? Folie 11. Medizinische Untersuchung, 1944 Die „roten Kapos“ – auch im Kulturbereich „rotlackierte Nazis“ und „ willige Vollstrecker“ der SS? Nach 1989/90 setzte eine Politisierung und Instrumentalisierung der Geschichte ein, die mit den Bericht der Enquetekommission des Bundestages zur Überwindung der Folgen der 50 Zitiert nach Sela, Lesen und Literaturbenutzung, a.a.O., 84 f. u. 122 ff; Exenberger, Bibliothekar im KZ Dachau, a.a.O., 42 ff. 51 Vgl. Röder, Nachtwache, a.a.O., S. 290 ff.; Rost, Goethe in Dachau, a,a,O.,S. 71; Rovan, Geschichten aus Dachau, a.a.O., S. 152, u. 260 ff., Michelet, Die Freiheitsstraße, a.a.O., S. 98 f. 52 Zu Matejka siehe besonders das Heft 1-4, 16. Jg. der Spurensuche. Zeitschrift für Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, Wien 2005, auf die ich hier zurückgreife: „Volksbildung mach ich wo immer…“ Viktor Matejka, 1901-1993. 53 Zitiert nach Naujoks, 1987, S.121 23 Seite: 24/31 SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit vom 10. Juni 1998 den Konsens über das antifaschistische Erbe infrage stellte und zur Totalitarismusthese der 1950er Jahre zurückkehrte Dieser Kurswechsel ist jüngst erneut in der „Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption“ bestätigt worden, die vom Kulturstaatsminister Bernd Neumann vorgelegt wurde und die der Kulturausschuss des Bundestages am 7. November 2007 ohne großen Widerspruch akzeptierte. Der Streit um die Gleichsetzung der ‘beiden deutschen Diktaturen’ erlebte nach 1990 in der Aufarbeitung der ‘doppelten Geschichte Buchenwalds’ seinen Höhepunkt. Das Speziallager 2, die Nutzung des NaziKonzentrationslagers durch die Sowjets zur Internierung von Kriegsverbrechern nach 1945, später auch von Gegnern der SED, führte zur Analogisierung und Relativierung von NSVerbrechen gegenüber denen des Stalinismus und der Stasi. Auch der prominente Schriftsteller und einstige Buchenwald-‚Funktions’-Häftling Jorge Semprun forderte in seiner Buchenwald-Rede vom 9. April 1995 dazu auf, „eine kritische Neubewertung der Vergangenheit“ vorzunehmen und konstatierte, Buchenwald symbolisiere die „beiden totalitären Erfahrungen des 20 Jahrhunderts“ – „den Nazismus und den Stalinismus“. 54 Dass Konzentrationslager wie Dachau oder Neuengamme von den westlichen Siegermächten nach 1945 als Internierungslager für Kriegsverbrecher und Displaced Persons benutzt wurden, blieb weitgehend unbemerkt. Diese Gedenkstätten haben ebenfalls eine ‘doppelte Vergangenheit’, ohne dass eine Gleichsetzung der westlichen Internierungslager mit den KZ des ‘Dritten Reiches’ erlaubt ist. 55 Der Protest der Lagergemeinschaft Buchenwald - Dora verpuffte. Die von Lutz Niethammer 1994 herausgegebene Dokumentation über „Die SED und die roten Kapos von Buchenwald“ 56 verschärfte den Konflikt, der vornehmlich eine Auseinandersetzung um die Wertung der Rolle der politischen ‘Funktionshäftlinge’ ist. Der langjährige (Ehren-)Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Mitglied der illegalen Lagerleitung, Pierre Durand, sah gar die ‘roten Kapos’ als ‘rot lackierte Faschisten’ diffamiert, indem er auf ein 54 Jorge Semprun, Die Übermittlung des historischen Gedächtnisses. Weimar-Buchenwald: 9. April 1945 bis 9. April 1995. Eine Rede, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 89, Ostern 1995, Seite ZB 2 55 Peter Reif-Spirek/Bodo Ritscher (Hrsg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „Doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999. Darin u.a. Lutz Niethammer, Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945: Ein Vergleich und offene Fragen, S. 100-123; Sergej Mironenko u.a., Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 1 und Band 2, Berlin 1998 56 Lutz Niethammer (Hrsg.), Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die kommunistischen Kapos von Buchenwald; Dokumente, Berlin 1994. 24 Seite: 25/31 viel zitiertes Wort von Kurt Schumacher über die Kommunisten als „rotlackierte Nazis“ zurückgriff. 57 Ohne hier auf die Hintergründe der erbittert geführten Kontroverse einzugehen, 58 benennen wir im Folgenden lediglich die für unseren Zusammenhang wichtigen Tatbestände. Gerade in den von großen deutschen Konzernen bestimmten Lagern hing die Überlebensperspektive der Häftlinge von den Leistungen der ‘Funktionshäftlinge’ ab. Und hier gewannen ‘rote Kapos’ eine herausragende Rolle. Es sei exemplarisch an die positive Rolle erinnert, die der Kommunist und ‘Mischling’ mit dem roten Winkel und dem Vermerk „RSp“ (Rotspanienkämpfer), Hermann Langbein, als Schreiber des SSStandortarztes in Auschwitz-Buna spielte. 59 Oder an Karl Demerer, den jüdischen Lagerältesten von Auschwitz III - Blechhammer mit rund 5000 vornehmlich jüdischen Häftlingen. Er verhinderte immer wieder Übergriffe der SS und der ‘Kapos’ und musste zur gleichen Zeit seinen eigenen fünf Jahre alten Sohn im Lager vor der Vergasung zu retten 60 . Heribert Kreuzmann, republikanischer Spanienkämpfer und ‘Blockältester’ im Häftlingskrankenbau des Stammlagers Auschwitz, gelang es mehrfach, sich gegen den Antisemitismus der polnischen ‘Funktionshäftlinge’ durchzusetzen, die sich gemeinsam mit den SS-Ärzten weigerten, „Arier und Juden auf dieselben Krankenstuben zu verlegen“ 61 .Und auf die aufopferungsvolle Tätigkeit des Oberpflegers im Krankenbau von Dachau, den Sozialdemokraten Heini Stör aus Nürnberg, ist schon hingewiesen worden.. Die Moraldilemmata der politischen ‘Funktionshäftlinge’ zeigen sich immer am deutlichsten, wenn es um die Behandlung der von der SS auf der untersten Stufe der 57 Pierre Durand am 14.10.1994 aus Anlass der Gleichsetzung des KZ Buchenwald mit den Internierungslagern in der SBZ durch die Bundestags-Enquettekommission und im April 2001 in der Rede zum 56. Jahrestag der Selbstbefreiung Buchenwalds. Die von Helmut Kohl im Bundestagswahlkampf 1995 mit Hinweis auf Schumacher zitierte Diffamierung der Kommunisten als „rotlackierte Nazis“ geht auf mündliche Aussagen Schumachers zurück, die u.a. der letzte Leiter des Ostbüros der SPD, Helmut Bärwald, bestätigt. Schumacher habe bei Besprechungen in Parteigremien und Reden auf diese Charakterisierung zurückgegriffen. Bereits in einer Rede auf der Gaukonferenz des Reichsbanners Württemberg in Eßlingen am 30. März 1930 äußerte Schumacher, die Kommunisten seien „ in Wirklichkeit nur die rotlackierten Doppelausgaben der Nationalsozialisten“ (Schwäbische Tageswacht, Nr.76 vom1.4.1930, zitiert nach Willy Albrecht (Hg.), Kurt Schumacher, Berlin 1985, S. 63f.). Aus Anlass einer Sitzung des Komitees der Internationalen Sozialisten in Zürich, die damals die Wiederaufnahme der SPD ablehnten, hob er dann 1947 gegenüber einem norwegischen Journalisten (Willy Brandt?) hervor, „dass die Kommunisten die Tyrannei nur von braun auf rot umfärben wollen. Er nennt sie rotlackierte Nazis“ (Arbeiterbladet, Oslo, vom 12. Juni 1947). 58 Vgl. dazu u.a. Wollenberg, Die roten Kapos – rotlackierte Nazis und willige Vollstrecker der SS? Zum Versuch, den Gebrauchswert des Antifaschismus am Beispiel der KZ-Funktionshäftlinge neu zu bemessen, in: Matthias Brosch u.a. (Hg.), Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland, Berlin 2007, S. 115-139. 59 Adler, Selbstverwaltung, S.233; Langbein, Menschen 60 Langbein, Menschen, S. 264; Arno Lustiger, Wir werden nicht untergehen. Zur jüdischen Geschichte, München 2002, S. 9; Ernst Koenig, Auschwitz III – Blechhammer, in: Dachauer Hefte 15 (1999), S. 134-152 61 Vgl. Hans Landauer, Österreichische Spanienkämpfer in deutschen Konzentrationslagern, in: Dachauer Hefte 8 (1992), S. 8; zur Rolle der jüdischen Funktionshäftlinge: Revital Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah, Gießen 2001 25 Seite: 26/31 Hierarchie angesiedelten Juden ging,, die noch hinter den russischen Kriegsgefangenen eingeordnet wurden. Generell gilt es dabei festzuhalten: Herrschte auch in den Konzentrationslagern ein breiter Bodensatz antijüdischer Stereotypen, so gewann in der Zwangsgesellschaft des KZ der Rassenantisemitismus unter den Häftlingen selten die verhängnisvolle Bedeutung, die er in der deutschen Bevölkerung erlangte. Während es in den Lagern immer wieder gelang, Juden zu schützen oder gar in wichtige Positionen zu bringen, verweigerte die deutsche Zivilbevölkerung in der Regel jede Form der Solidarität, wenn sie in Kontakt mit jüdischen Häftlingen geriet. KZ-Häftlingen zu helfen und Mitgefühl zu zeigen, machte verdächtig und konnte zu Strafen bis zu Todesurteilen führen. Innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager benahmen sich dabei die Frauen kaum besser als die Männer. 62 Und was die skandalöse Behandlung der russischen Kriegsgefangenen betrifft, so führte die Unterlassung von Hilfeleistungen durch die kommunistischen Funktionshäftlinge in Buchenwald nach 1945 zunächst zur Untersuchung durch die US-Militärregierung (1945) und die SED (!946/47), dann zur Verhaftung kommunistischer Führungskader durch Organe des Ministeriums für Staatssicherheit der SU und zur Verurteilung durch das Sowjetische Militärtribunal. Zu lebenslänglicher Haft wurden u.a. der Lagerälteste Erich Reschke und der Kapo im Krankenbau, Ernst Busse, verurteilt. Auch der Vorsitzende des Internationalen Lagerkomitees von Buchenwald und persönlicher Referent von Wilhelm Pieck,, Walter Bartel, musste wegen seines unzulänglichen Verhaltens als Funktionshäftling in Buchenwald 1953 alle politischen Funktionen aufgeben und lange auf seine Rehabilitation warten. 63 Folie 12: Hermann Joseph in Ansbach 1947 War es überhaupt zu rechtfertigen und moralisch zu begründen, wenn ein Häftling Funktionen im Lager übernahm? Oder waren es lediglich egoistische Motive, weil ein ‘Funktionshäftling’ unbestritten sein Leben zumindest eine Zeitlang länger retten konnte? Der schon zum ‘Blockältesten’ aufgestiegene Hermann Joseph beschreibt seine Wahl zum 62 Hermann Kaienburg, Das Konzentrationslager Neuengamme 1938 – 1945, Bonn 1997; Eike Hemmer/Robert Milbradt, Bunker "Hornisse". KZ-Häftlinge in Bremen und die U-Boot-Werft der "AG Weser" 1944/45, Bremen 2005, S. 85ff.; Iwaszko, Nebenlager, S. 60ff.; Gudrun Schwarz, „... möchte ich nochmals um meine Einberufung als SS-Aufseherin bitten.“ Wärterinnen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in: Barbara Distel (Hrsg.), Frauen im Holocaust, Gerlingen 2001, S. 339ff.; dies., Frauen in Konzentrationslagern: Täterinnen und Zuschauerinnen, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, S. 800-882; Dieter Pfliegensdörfer, Vom Handelszentrum zur Rüstungsschmiede : Wirtschaft, Staat u. Arbeiterklasse in Bremen 1929 – 1945, Bremen 1987, 340ff. 63 Lutz Niethammer (Hg.); Der „gesäuberte“ Antifaschismus, 1994, S. 68-94. 26 Seite: 27/31 wichtigsten ‘Funktionshäftling’ in Auschwitz-Fürstengrube nachträglich folgendermaßen: „Meine Sehnsucht war, Häftling ohne Rang und Verantwortung bleiben zu dürfen, und meine Berufskenntnisse, mein Gitarrespiel, meine besonderen Tricks auszuspielen, um nicht unterzugehen. Ich hatte gelernt, mich soldatisch zu geben, kam mit den kärglichen Essenrationen aus und wehrte mich gegen den psychischen Kräfteverschleiß, die Nervosität. Dauernd Wachmannschaftsführer spürte Max ich den Schmidt Tod durchs avancierte zum Lager schleichen. Der SS-Oberscharführer und Lagerführer, packte die Zügel und begann, am Anfang noch sachte, die Peitsche zu schwingen. Er ernannte mich zum Lagerältesten. Im Alter von 35 Jahren begann für mich nun der gefährlichste Abschnitt meiner Häftlingszeit. [...]. In den Nächten grübelte ich, wie ich den Häftlingskameraden helfen und mein eigenes Leben retten konnte, wie ich mit meinen Widersachern, vor allem unter den Grünen, fertig werden und vom Vernichtungsfanatismus der SSler ablenken sollte.“ 64 In welche Widersprüche er sich dabei verwickelte, dokumentiert der Prozess vor dem Ansbacher Landgericht von 1948 bis 1952: Hermann Joseph wurde von über 50 Mithäftlingen in Auschwitz angeklagt, dass „durch seine Brutalitäten…viele Menschen“ gelitten hätten. 65 Der Prozess blieb bislang weitgehend unbeachtet. Dagegen gewannen neben dem Buchenwald- und DachauProzessen das mehrfach wieder aufgelegte Verfahren gegen den Funktionshäftling Emil Carlebach und gegen den Lagerältesten von Dachau, Karl Kapp, eine besondere Beachtung. Folie 13: Karl Kapp (rechts) als Lagerältester von Dachau Aufsehen hatte der Kapp-Prozess vor allem deshalb erregt, weil Viktor Matejka, der in Dachau vom Austrofaschismus zum Kommunismus bekehrte Wiener Stadtrat für Kultur und Volksbildung, Kurt Schumacher nach 1946 mehrfach beschuldigt hatte, dem „Verbrecher Kapp“ und seine kriminelle Tätigkeit dadurch gestützt zu haben, dass er ihm seine „moralische Rückendeckung“ verschaffte. Auf dem Umweg über Kapp habe Schumacher sich in Dachau der Kollaboration mit der SS schuldig gemacht. 66 So dokumentiert der Fall Kapp die auch im KZ nur ansatzweise abgebaute Feindschaft 64 Hermann Joseph, Fall 104338, Beginn von Teil II seiner unveröffentlichten Aufzeichnungen, Oktober 1967, S. 109f. (Privatarchiv Wollenberg) 65 Bayerisches Hauptstaatsarchiv Nürnberg, 5 JS 314 und die dort lagernden Akten des LG Ansbach 1315/1952. Dazu Wollenberg; Den Blick schärfen – Gegen das Verdrängen und Entsorgen, Bremen 1998, S. 136159. 66 Zitiert nach Merseburger, Deutsche , S.187 Dazu auch Matejkas Aussage zu Schumacher am 1.07.1972 (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, Wien, Bestand Matejka) und Leserbrief Matejkas an den Spiegel vom 14.8.1967 (Archiv Wolfgang Benz, Zentrum für Antisemitismusforschung Berlin) 27 Seite: 28/31 zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Trotz aller Ansätze zu einer Einheitsfront blieb in den Lagern der Antikommunismus bestimmender als antijüdische Ressentiments. Und umgekehrt ließen die Kommunisten nicht ab von ihrer Überzeugung, dass die Sozialdemokraten die Nazis mit an die Macht verholfen hätten. Der nachweislich mit den Nazis kooperierende Sozialdemokrat Kapp wurde in den ersten Nachkriegsjahren nicht vor ein deutsches Gericht gestellt. Im Gegensatz zu den ‘roten Kapos’ aus Buchenwald um Emil Carlebach blieb Kapp vom Kreis um Kurt Schumacher geschützt. Im Klima des Kalten Krieges kam er 1960 besser davon als die belasteten ‘stalinistischen Funktionshäftlinge’, die beschuldigt wurden, noch im KZ Trotzkisten und Sozialdemokraten denunziert und dem Gegner in den Reihen der SS geopfert zu haben. Die Haltung der ’Prominenten’ wird von denen positiv beurteilt, die als Mitglieder der Häftlingsselbstverwaltung durch die Hölle des Konzentrationslagers gegangen sind und die dort versuchten, Mensch zu bleiben. „Wer dürfte es wagen, jene Kameraden zu verurteilen?“ fragte schon 1945 der Häftlingsschreiber im Krankenbau, Eugen Kogon, in seinem ersten Bericht über Buchenwald: „Niemals hätte das KL Buchenwald soviel Positives in dieser Hölle der SS erlebt, niemals wäre es am Ende zu einem beachtlichen Teil noch gerettet worden, wenn es der zähen Todesverachtenden Arbeit politisch führender Menschen unter den Lagerinsassen nicht gelungen wäre, sich im Laufe der Jahre doch durchzusetzen“. 67 Ähnlich urteilen H.G. Adler und Benedict Kautsky, die Auschwitz, Theresienstadt, Dachau und Buchenwald durchliefen 68 . Und Hermann Langbein, der sich als Jude in Dachau und Auschwitz zu den Kommunisten bekannte und später in Österreich seine Bindungen zu ihnen löste, stellt in der kurz vor dem Tode vorgelegten Neuauflage seiner Studie die Frage: „Sicher wäre es für den einzelnen einfacher gewesen, sich vor der Übernahme einer Funktion zu drücken und sein Gewissen frei von jeder Belastung zu halten; aber wie hätten dann die Verbesserungen, die in vielen Lagern durchgesetzt wurden, erreicht werden können? Wie hätte man Schläger und Betrüger aus Schlüsselstellungen entfernen können? Wie hätten die Lager ausgesehen, wenn alle, deren Moral nicht gebrochen war, die Übernahme einer Verantwortung gescheut hätten?“ 69 Wer als Häftling überleben wollte, musste eine Funktion im riesigen Lagerapparat wahrnehmen. Auch wer von der SS nicht zum ‘Funktionshäftling’ ernannt wurde, konnte nur überleben, wenn er seine Aufgabe ausfüllte, sei es, das er ‘nur’ aufräumte, Steine schleppte oder in dem Bergwerk arbeitete. Auch er war Teil des Lagersystems. Insofern 67 68 69 Zitiert nach Niethammer, Antifaschismus, S. 198 Vgl. Adler, Selbstverwaltung; Kautsky, Teufel Langbein, Menschen, S. 252 28 Seite: 29/31 erweist es sich als problematisch, die ‘Funktionshäftlinge’ strikt von denen zu trennen, die keine Funktion hatten. Denn über das Leben entschied auf jeden Fall nicht allein, ob man Häftling mit oder ohne Funktion war. Das hatte zunächst und vor allem mit der sozialen Rangordnung zu tun. Ein Jude hatte im Lager z.B. eine viel geringere Überlebenschance als ein Deutscher, auch als ein Franzose, Pole oder Ungar. Die Überlebenschance freilich wuchs, wenn man sich einer Gruppe zugehörig fühlte, die unter schwierigsten Bedingungen einen inneren Zusammenhalt aufzubauen verstand. Ist es nur Zufall, dass in den letzten dramatischen Monaten des Krieges eine solche Struktur fast ausschließlich nur von ‘roten Funktionshäftlingen’ geprägt werden konnte? Gewiss waren auch die ‘roten Kapos’ nicht frei von Korruption und Brutalität gegen Mithäftlinge. Und die SS versuchte bis zum Schluss, die ‘prominenten’ KZ-Gefangenen einzubinden und zu bestechen – sei es mit ausreichendem Essen und warmer Kleidung. Sie brauchten nicht zu arbeiten und trugen keine Glatze. Auch bei Krankheiten wurden sie bevorzugt behandelt. Selbst das KZBordell stand ihnen offen. Und für ihre Unterhaltung sorgten Sportkämpfe, Theatergruppen oder Musikkapellen. Privilegien, die das Überleben sichern halfen. Und gerade das macht die heutige Diskussion so problematisch. Denn viele der KZ-Häftlinge, die eine Chance hatten zu überleben, waren ‘Funktionshäftlinge’. Von ihnen gilt, was Eugen Kogon in seinem Gutachten zum Ansbacher Prozess gegen Hermann Joseph am 8. April 1949 ausführte: „Ich glaube, dass die Behauptung richtig ist, dass, wenn man von den Vergasungen, Abspritzungen und allgemeinen Liquidierungen durch die SS absieht, mindestens so viel Häftlinge, wenn nicht mehr, durch Häftlinge umgekommen sind, als durch die Gelegenheitsaktionen der SS.“ 70 Ein bitteres, hartes Urteil, das zum Nachdenken über die Kunst des Überlebens in den Konzentrationslagern Anlass gibt und dazu zwingt, die Arbeit der sogenannten Häftlingsselbstverwaltung einer genauen Überprüfung zu unterziehen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass durch ihre Tätigkeit die zunächst hohe Todesrate in den deutschen Konzentrationslagern stets zurück ging, wenn man von den Selektionen durch die SS und den Epidemien in den letzten Monaten absieht. Hatten die Häftlinge die Einlieferungsphase überstanden, so sank die Sterblichkeitsrate beträchtlich, laut einer Statistik aus Auschwitz zwischen April und Juli 1942 von 11,32 Prozent in der vierten Woche auf 3,3 Prozent in der zwölften Woche. Überlebenschancen im gesamten Lagerkomplex der Todesfabrik Auschwitz standen für Häftlinge, die nicht sofort nach der 70 Bayerisches Staatsarchiv Nürnberg, Akten des LG Ansbach, 5 JS, 314/48, (Blatt 251) 29 Seite: 30/31 Ankunft selektiert und ins Gas geschickt wurden, „etwa 2:3 zugunsten des Todes“ 71 Und zweifelsohne waren die Bedingungen zum Überleben in den Lagern auf deutschem Territorium günstiger, wenn man von Mauthausen bei Linz absieht, das Anfang 1941 von der SS der Stufe III zugeordnet wurde, also für die „schwer belasteten“ und „kaum noch erziehbaren“ Häftlinge gedacht war – mit einer Todesrate von 75 Prozent gegenüber Buchenwald mit 20 Prozent. 72 . Aber generell gilt: Die beschränkte Möglichkeit der Teilnahme von Häftlingen an Angeboten der Kultur und Bildung entlastete von emotionaler Qual und stärkte das nicht Abzutötende im Überlebenskampf als letzte Möglichkeit der Vergewisserung des Humanen. Und gerade deshalb stellten sich die Überlebenden von Jean Améry über Paul Celan bis zu Margarete Buber-Neumann und Primo Levi nach 1945 immer wieder die Frage, warum gerade sie überlebt hatten. Die besondere Verpflichtung und Verantwortung gegenüber den Toten verband sich mit dem quälenden Gefühl, die „eigen Existenz zu rechtfertigen“. Bruno Bettelheim spricht vom „Problem des Überlebthabens“, das einerseits in der traumatischen Erfahrung des Konzentrationslagers an sich und andererseits in den „lebenslangen Nachwirkungen“ dieses Traumas bestehe, das „ganz besondere Formen der Bewältigung“ erfordere. 73 Es ist sicher von nicht geringer Bedeutung, dass die von den Funktionen in der „KZ-Selbstverwaltung“ ausgeschlossenen Juden mit dem die Persönlichkeit zersetzenden Erlebnis der KZ-Haft nach der Befreiung weit weniger zurecht kamen als die ‚Funktionshäftlinge’. Nicht wenige von ihnen wählten den Freitod. 71 Gerhard Botz, Überleben im Holocaust, in : Margareta Glas-Larson, Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, herausgegeben und kommentiert von Gerhard Botz, Wien 1981, S. 22; Langbein, 1987, S.77. 72 Botz, 1981, S. 18. 73 Bruno Bettelheim, Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie in Extremsituationen, Stuttgart 1979, S.34ff. 30 Seite: 31/31 31