Im Spannungsfeld von Ökonomie und Ethik

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Im Spannungsfeld von Ökonomie und Ethik
Anregungen zur wirtschaftsethischen Perspektive des Protestantismus
Von: Ernst-Otto Meinhardt, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 7 / 2009
Die Auffassung von einer Gesetzmäßigkeit der Ökonomie jenseits des Raumes menschlicher Planung und Entscheidung
erweist sich als Verschleierungstaktik wirtschaftlicher und politischer Entscheidungsträger. Am Beispiel von John
Rawls’ "Theorie der Gerechtigkeit" sowie Peter Ulrichs "Theorem einer lebensdienlichen Ökonomie" zeigt Ernst-Otto
Meinhardt, wie allgemeine ethische Beteiligungs- und Gestaltungsrechte aller gesichert werden können.
Die entfesselte Freiheit auf wirtschaftlichem Gebiet endet mit einem catch-as-catch-can. Das wirft die Frage auf, ob der
technische und ökonomische Fortschritt mit der Vorstellung von der Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen verbunden
werden kann, d.h. inwiefern das wirtschaftliche Handeln darauf zielt, der Entfaltung des Menschen Raum zu geben. In dieser
Hinsicht rücken im Unterschied zu früheren Epochen der Industrialisierung des 19. und 20. Jh. die Förderung der
Mitarbeiterschaft sowie die Vereinbarkeit von Beruf und persönlicher oder familiärer Lebensgestaltung in den Vordergrund.
Zudem wird nach der Gestaltung des wirtschaftlichen Handelns zugunsten des Gemeinwohls und der Erhaltung natürlicher
Lebensgrundlagen wie der Überlebenschancen zukünftiger Generationen gefragt. Diese Gesichtspunkte konvergieren in der
Frage nach der Verantwortung und damit nach der Rolle des Menschen im Wirtschaftssystem.
Die Transformation der Gesellschaft durch die Industrialisierung seit Ende des 18. und Anfang des 19. Jh. wird durch den
hohen Grad der Differenzierung der Lebensbereiche beschrieben. In Denkformen der "Systemtheorie" ist diese
Transformation durch den Terminus Eigengesetzlichkeit der Lebensbereiche erklärt worden. Damit war die ethische Reflexion
in Bezug auf den Bereich der Wirtschaft herausgefordert. Nach Niklas Luhmann kann der Mensch als "psychisches System" in
differenzierten Systemen sowohl als Komponente gesellschaftlicher Prozesse als auch als ihr Promotor beobachtet werden.
Trutz Rendtorff fragt daher nach der Möglichkeit, die Verantwortung im "System der Moderne" zu bestimmen und das
"Person-sein" des Menschen zu beschreiben.(1)
Die sich aus dieser Problemskizze ergebende Frage nach der Stellung des Menschen in der als ein komplexes System
aufgefassten Industriegesellschaft soll in folgenden Darstellungsschritten erörtert werden:
•
Die gerechte Verteilung der erwirtschafteten Güter wird von John Rawls in "A Theory of Justice" (1971) thematisiert. In
diesem Zusammenhang stellt Rawls die Interdependenz von Institution und Person dar, um Entfaltungsmöglichkeiten des
Menschen aufzuzeigen.
•
In seiner Arbeit "Die integrative Wirtschafts-ethik" (1998) zeigt Peter Ulrich, dass der Wirtschaft keine
"naturgesetzähnlichen" Determinanten zugrunde liegen. Die Wirtschaft ist vielmehr als Bereich menschlicher Entscheidungen
zu beschreiben.
John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit
Das durch die Industrialisierung geprägte Gesellschaftssystem ist nicht als unveränderliche Ordnung, sondern als
Handlungsmuster zu interpretieren. Es nimmt auf Rechte und Pflichten des Menschen Bezug, die sich aus seinen durch die
Institutionen vorgegebenen Positionen ergeben. Es beschreibt zudem die Rollen des als gesellschaftliches Subjekt
begriffenen Menschen, einerseits hinsichtlich der Teilhabe an Menschen- und Bürgerrechten, andererseits seine Stellung in
der Einkommens- und Vermögensverteilung.(2) Ferner ist wahrzunehmen, dass die ökonomischen Beziehungen in der
"Weltwirtschaft" die Interdependenz des wirtschaftlichen Handelns bezeichnen. Ungerechtigkeit entsteht, wenn die in den
ökonomischen Prozessen bestehenden gegenseitigen Abhängigkeiten nicht anerkannt werden. Die Gerechtigkeit thematisiert
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die Aufgabe, die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit nicht nur zu beschreiben, sondern sie anzuerkennen und
sozialpolitisch zu gestalten. Gerechtigkeit ist nach Rawls als mögliche Chancengleichheit der Menschen in der Gesellschaft zu
bestimmen.(3)
Auf der Ebene der "ethischen Reflexivität", die in Rawls’ "Theorie der Gerechtigkeit" vorgelegt wird, sind Institutionen
als Formen der "Vergesellschaftung" des Menschen interpretiert, in denen sich seine Handlungsmöglichkeiten wie sein
Geschick darstellen. Daraus folgert Rawls, dass die als "Sachzwänge" dargestellte Verfestigung von Institutionen partikulare
Interessen verschleiert; deshalb sind Institutionen durch den gesellschaftlichen Konsens aufzubauen. Die kritische Prüfung
des Begriffs der Institution führt dazu, den Terminus "Eigengesetzlichkeit" so zu fassen, dass mit diesem die Gesetzmäßigkeit
ökonomischer Prozesse und ihre Auswirkung auf die Gesellschaftsstrukturen bezeichnet, aber nicht, dass die ethische
Reflexion aus den institutionstheoretischen Ansätzen ausgeschlossen wird.(4)
Rawls definiert Gerechtigkeit als "Fairness", die aus den Elementen "geordnete Gesellschaft" und "moralische Person"
zusammengesetzt ist und durch das Konzept des Gesellschaftsvertrages gestützt wird. Er argumentiert:
1.
Zwischen Personen in sozialen Räumen sollen "Gerechtigkeitsverhältnisse" geschaffen werden. Es ist eine ursprüngliche
Entscheidungssituation anzunehmen, in der rational handelnde Personen ein vertragliches Regelverfahren einleiten. Dieser
"Urzustand" ist die Wahlsituation, die nicht durch externe Faktoren, sondern durch im Entscheidungsverfahren selbst
gefundene Kriterien bestimmt wird.
2.
Die ursprüngliche Entscheidungssituation (original position) gilt als "Grundstruktur der Gesellschaft" gemäß der
Vorstellung eines "idealen Beobachters", der unabhängig von psychischen wie sozialen Faktoren über eine Totalanschauung
der Situation verfügt und unparteiisch zu urteilen vermag. Original position setzt den institutionellen Rahmen der Rechte und
Pflichten der Personen fest, welcher in sozialen Räumen die Möglichkeiten zur Entfaltung des Menschen bietet.
3.
Die Stellung des Einzelnen in den sozialen Räumen, d.h. der Bildungsstand, die Einkommens - und
Vermögensverhältnisse, die physische und psychische wie die intellektuelle Disposition werden ausge­blendet. Die
ursprüngliche Entscheidungssituation, definiert durch die Gleichheits- und Gegenseitigkeitsvorstellung, wird also durch ein
Reduktionsverfahren gegenüber der Komplexität der sozialen Räume gewonnen. Diese abstrahierte Ebene wird in die
Metapher vom "Schleier des Nichtwissens" gefasst. Sie besagt, dass bei der Bestimmung der "ursprünglichen
Entscheidungssituation" jene individuellen Faktoren der Stellung des Einzelnen zunächst nicht beachtet werden. Die
"Entscheidungssituation" gilt nicht als geschichtlicher Null-Zustand, sie bezeichnet das rational entwickelte
Gedankenexperiment, um prinzipiell die Chancengleichheit der Menschen in gesellschaftlichen Räumen zu beschreiben.(5)
Rawls strebt durch dieses Verfahren an, von denkbaren individuellen Komponenten der gesellschaftlichen Situationen zu
abstrahieren und so die Entscheidungssituationen von Kontingenzen zu lösen, um möglichst einwandfrei die Egalität der
Entscheidungssituation zu treffen. In Ausrichtung auf Kants Interpretation der Gerechtigkeit als Fairness fasst Rawls die
Gerechtigkeitsgrundsätze wie kategorische Imperative und hat nach diesem Ansatz den Begriff der Person zu bestimmen.
Dazu führt er aus: In Kants Ethik sei deutlich, dass der Mensch in einen Determinismus gerate, wenn er seine Entscheidungen
von zufälligen Faktoren der geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation abhängig mache. Das "intelligible Ich" aber könne
die Entscheidung nach widerspruchsfreien Grundsätzen anstreben. Bei Kant bleibe offen, ob das Handeln nach moralischen
Grundsätzen notwendig die menschliche Person kennzeichne. Das im Begriff "Urzustand" gefasste Verfahren abstrahiere die
Entscheidungssituation von Faktoren des menschlichen Lebens und so werde Kants Begriff der Autonomie im Rahmen einer
empirischen Theorie der Gerechtigkeit interpretiert.(6)
Rawls fragt nach der Reichweite des Begriffs der Person in einer Systemtheorie: Der Mensch findet in sozialen Räumen
immer Bedingungen vor, unter denen er sein Leben als Persönlichkeit führen muss. Sein "Lebensplan" ist vernünftig, wenn er
diesen in "abwägender Vernunft" entsprechend seinem "Gerechtigkeitssinn" zu verwirklichen sucht. Mit "Gerechtigkeitssinn"
geht Rawls auf die alltäglichen Erfahrungen des Menschen ein. Das Spannungsverhältnis zwischen den Perspektiven,
Motiven und Zielen des Menschen einerseits und den Normen der Gesellschaft andererseits wird erkennbar. Die
Gerechtigkeitstheorie untermauert die Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich in der sozialen Wirklichkeit des Menschen
herausgebildet haben, indem sie diese rational profiliert und daher überindividuell vermittelbar macht.(7)
Rawls wendet seine Gerechtigkeitstheorie auf die Wirtschaft als "Theorie des allgemeinen Gleichgewichts" an, d.h. die im
Bereich der Wirtschaft tätigen Personen haben sich entsprechend ihrer gegenseitigen Interdependenz zu verhalten. Das
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System des Marktes öffnet Handlungsmöglichkeiten für alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten. Über deren individuelle
Interessen und die von ihnen genutzten Institutionen hinaus ist nach Rawls auf die Konsistenz der Gesellschaft zu achten,
daher muss die Gesellschaft Kriterien der Verteilung der erwirtschafteten Güter definieren. In dieser Hinsicht kommt den
politischen Entscheidungsträgern die Aufgabe der Steuerung wirtschaftlicher Prozesse zu, indem sie ein positives "Klima" für
das ökonomische Handeln schaffen und im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit durch Steuer- und Zinspolitik den
institutionellen Rahmen erstellen.(8)
In die Überlegungen, dass individuelle Entscheidungen im Horizont gleichgerichteter und / oder entgegengesetzter Interessen
die Ausrichtung auf die "Sozialräume" benötigen, trägt Rawls den Begriff "Institution" ein: Die Institutionen der Gesellschaft
setzen die Rahmenbedingungen für die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger, auch für solche im Bereich der
Kultur mit dem Ziel, das Gemeinwohl anzustreben. Nach Rawls’ Gerechtigkeitstheorie sind durch die Institutionen die
in der Gesellschaft vorhandenen Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürger zu stabilisieren. Auf diese Weise werde dem
Einzelnen seine Entfaltung ermöglicht, indem er wenigstens einen Teil seiner Fähigkeiten gesellschaftlich verwirklichen könne.
Rawls erläutert: "Aus der Stabilität einer Gerechtigkeitsvorstellung folgt nicht, dass sich die Institutionen und Verfahrensweisen
der wohlgeordneten Gesellschaft nicht ändern würden. Vielmehr wird eine solche Gesellschaft eine große Vielfalt aufweisen,
und die Verhältnisse werden sich von Zeit zu Zeit ändern. In diesem Zusammenhang bedeutet Stabilität folgendes: Wie auch
immer sich In­stitutionen ändern, sie bleiben gerecht oder annähernd gerecht, wenn sie sich neuen gesellschaftlichen
Verhältnissen anpassen. Die unvermeidlichen Ungerechtigkeiten werden durch systemeigene Kräfte beseitigt oder in
tragbaren Grenzen gehalten."(9)
Peter Ulrich: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie
Peter Ulrich legt in seinem Werk "Integrative Wirtschaftsethik"(10) dar, dass die Beschränkung auf ökonomische Rationalität,
die die Normativität der ökonomischen Sachlogik behauptet, die Lebensdienlichkeit des wirtschaftlichen Handelns ausblendet.
Jene Sachlogik ist zu hinterfragen, um den "moral point of view", d.h. den Standort des Menschen im Wirtschaftssystem zu
finden. Ulrich will zeigen, wie die These von den "Sachzwängen" durch die Frage nach der Legimitation des wirtschaftlichen
Handelns als eine Position aufgedeckt werden kann, die das Interesse der wirtschaftlich erfolgreichen Akteure widerspiegelt.
Jene Position unterstellt, dass solches Handeln wirtschaftlich vernünftig ist, das den Nutzen maximiert und die Kosten
minimiert. Diese Art der Rationalität bezeichnet Ulrich als "Determinismus", der als Konstruktion die Reflexion hinsichtlich der
Legitimation wirtschaftlichen Handelns abbricht, um die eigene Interessenlage zu stabilisieren.(11)
Ulrich legt für seine Kritik des "ökonomischen Determinismus" die Grundlage, indem er die geschichtlichen Hintergründe
dieses Determinismus aufzeigt: Nach der Analyse Max Webers wurde die Modernisierung der Gesellschaft als Radikalisierung
der calvinistischen Berufsauffassung verstanden. Als die persönliche Erfolgsorientierung in ihrer ursprünglich religiösen
Konnotation aufgelöst war, entstand jener ökonomische Rationalismus, der die egoistischen Interessen sich verselbständigen
ließ. Was als selbstdisziplinierende, im Respekt vor dem göttlichen Gebot gestaltete Lebensform angelegt war, wurde im
Modernisierungsprozess des 19. Jh. zur Vorstellung vom ökonomischen Sachzwang. Sie besagt, dass die Wirtschaft
spezifischen Gesetzen folge, die sich für den in der Wirtschaft Handelnden als Zwang zum Erfolg auswirke.(12)
Nach Ulrich ist diese Aussage, also der Horizont für Max Webers Analyse der Industriegesellschaft Europas und
Nordamerikas, heute noch aktuell wie im 19. Jh.: "Die heutige kapitalistische Gesellschaftsordnung ist ein ungeheurer
Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches
Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes
verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen entgegenhandelt,
wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser
auf die Straße gesetzt wird."(13)
Ulrich führt weiter aus, dass die so genannte freie Marktwirtschaft durch folgende Faktoren bestimmt ist:
•
Die Produkte sind ständig innovativ zu verbessern, um Marktsektoren zu behaupten oder neue zu gewinnen und trotz
Preisdruck die Gewinne zu vergrößern.
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•
Die abhängig beschäftigten Menschen müssen durch ständige Weiterbildung ihre berufliche Qualifikation verbessern.
•
Die Effizienzsteigerung durch Wettbewerb schafft die Regeln, die der "Funktionslogik" des Marktes folgen.
Demgegenüber sucht Ulrich das Instrument seiner Kritik an diesem ökonomischem Konzept zu formulieren, dass er als
"Verständigungsbereitschaft" bezeichnet. Sie bedeutet, dass die Entscheidungsträger in der Wirtschaft und in der Politik bereit
sein werden, mit denen, die von ihren Entscheidungen betroffen sind, einen "Legitimitätsdiskurs" zu führen. Er ist als
politisch-ethischer Diskurs zu begreifen, der die Eindimensionalität herkömmlicher technokratischer Perspektiven und
entsprechender Ordnungsvorstellungen überwindet.(14) Ulrich zeigt ferner, dass die in den Strukturen der
Industriegesellschaft inhärenten Gewaltverhältnisse aufgedeckt werden müssen, um die gesellschaftlichen Konflikte offen
austragen zu können und ihre Regelung im Konsens zu ermöglichen. Das ist, wie Ulrich hervorhebt, die "politisch-ethische
Gestaltungsaufgabe", durch welche die Zukunft der modernen Industriegesellschaft gewonnen werden kann.(15)
In diesem Zusammenhang setzt sich Ulrich mit Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit auseinander, um die Kriterien der
"Lebensdienlichkeit" des wirtschaftlichen Handelns, d.h. der Human-, Sozial- und Umweltverträglichkeit der Wirtschaft zu
finden. Ulrich argumentiert: Die Überprüfung der Kosten-Nutzen- bzw. Zweck-Mittel-Kalkulation kann an Rawls’
Gerechtigkeitstheorem erläutert werden, weil es aus der Kritik an utilitaristischen Denkmustern hervorgegangen ist. Es wird
demnach jene Position zu kritisieren sein, wonach jedes Individuum seinen Nutzen verfolgt und die Rechte anderer nur
berücksichtigt, sofern sie dem eigenen Vorteil dienen. Am Beispiel des Weges, den Rawls vom abstrakten Sozialtheorem zur
republikanischen Konzeption zurückgelegt hat, verdeutlicht Ulrich sein Arbeitsziel, den Bereich der Politik und den der
Wirtschaft so aufeinander zu beziehen, dass gezeigt werden kann, der Mensch als politisches und ökonomisches Subjekt wird
der "Lebensdienlichkeit" verpflichtet sein, wenn er sich durch "Gemeinsinn"(16) auszeichnet. Das wirtschaftliche Handeln soll
gesellschaftlich legitimiert werden analog zu der Notwendigkeit, dass politische Entscheidungen vor der Bevölkerung, die
durch diese betroffen ist, begründet werden müssen. Von diesem Gedanken ausgehend formuliert Ulrich die Umrisse einer
"Unternehmer-Ethik":
•
Die Mitarbeiterschaft soll in die Entscheidungen des Unternehmens einbezogen werden. Die Kommunikation hat
Strategien der Täuschung auszuschließen.
•
Die Solidarität als Prinzip der Wirtschafts-ethik verweist darauf, dass Unternehmer und Arbeitgeber aufeinander
angewiesen sind. Der Unternehmer ist für die Mitarbeiterschaft verantwortlich. Die Mitarbeiter tragen ihrerseits Verantwortung
für das Unternehmen.
•
Die Entscheidungen in der Wirtschaft sind für die Lebensbedingungen zukünftiger Generation relevant.
•
Die Ziele des Unternehmens beruhen auf dem Prinzip der Fairness, d.h. die Ziele binden aufgrund der antizipierten
Egalität die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer.(17)
Im Unterschied zu den problematischen Arbeitsbedingungen in den Produktionsbetrieben der ersten Phasen der
Industrialisierung sowie der Hochindustrialisierung des 19. und 20. Jh. sind gegenwärtig die Aspekte persönlicher Entfaltung
am Arbeitsplatz in den modernen Bereichen der Hochtechnologie und der Dienstleistungen zu beachten. Dem stehen aber
Überforderungssymptome infolge der Dynamik des technologischen Fortschritts und weit entwickelter Kundenansprüche
gegenüber. Im Prozess der Globalisierung müssen sich die Wirtschaftszweige in der weltweiten Konkurrenz durch
Innovationen und Marketing behaupten. Diese Realität beachtend formuliert Ulrich: Wirtschaft ist "Dienst" von Menschen für
Menschen. Durch Kapitaleinsatz sollen Güter produziert und Dienstleistungen angeboten sowie Arbeitsplätze geschaffen
werden, indem "moralische Grundsätze" Beachtung finden. Dazu gehören: Die persönliche und professionelle Förderung der
MitarbeiterInnen und die Zukunftssicherung des Unternehmens durch die Förderung der Forschung; ebenso können die
Gewinne in Stiftungen für soziale Projekte fließen. Vor allem sollen die Unternehmen darauf achten, dass im Rahmen ihrer
Möglichkeiten die Menschenrechte nicht verletzt werden.(18) Ulrichs Theorem der Wirtschaftsethik zielt darauf, dass sich die
Organisationsform der Wirtschaft der Verantwortung für die Erhaltung des Lebens integriert, so dass Menschenrechte
beachtet und die Lebensgrundlagen der gegenwärtigen und zukünftiger Generationen erhalten werden. Ulrich formuliert sein
Arbeitsziel: "Das Management darf die moralischen Rechte anderer im Rahmen seiner Maßnahmen zur Existenz- und
Erfolgssicherung der Unternehmen nicht verletzen."(19)
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Resümee
Die Komplexität der Industriegesellschaft ist durch systemtheoretische Ansätze seit Max Weber erklärt worden. Diese Ansätze
haben die Frage nach der Stellung des Menschen im industriellen und bürokratischen System aufgeworfen. Rawls’
"Theorie der Gerechtigkeit" wie Ulrichs "Theorem der lebensdienlichen Ökonomie" erweisen die Auffassung von der
Gesetzmäßigkeit der Ökonomie jenseits des Raumes menschlicher Planung und Entscheidung als Verschleierungstaktik
wirtschaftlicher und politischer Entscheidungsträger. Der Mensch im System der Gesellschaft wird nach Rawls und Ulrich im
Modus des Vertragspartners artikuliert, der soziale Räume der Planung und Entscheidung besetzen kann. Nur so ist von
Verantwortung des Menschen zu reden. Rawls und Ulrich heben zu Recht hervor, dass der Mensch sich auf Institutionen
stützen muss, um als Persönlichkeit im komplexen System der modernen Gesellschaft bestehen zu können.
Die Frage nach den Möglichkeiten des Menschen im System der Gesellschaft ist freilich schon im sozialethischen Diskurs des
Protestantismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. in Bezug auf Webers Analyse der ihm seinerzeit vorgegebenen
europäischen und nordamerikanischen Industriegesellschaft gestellt erläutert worden. Im Begriff "Wirtschaftsdemokratie" sind
die mit jener Intention verbundenen Gestaltungsvorstellungen der Gesellschaft erfasst. Der Begriff besagt, dass der
Wettbewerbs-, der Kosten- und Leistungsdruck am Grundsatz der "Lebensdienlichkeit" und dass die weltanschaulichen, auch
die machtpolitischen sowie die wirtschaftstheoretischen Blockaden am Prinzip der Menschenwürde zu überprüfen sind.(20)
Die Relevanz dieses kritischen Ansatzes muss in Betracht gezogen werden, wenn es zutrifft, dass die fortschreitende
technologische Innovation im globalen Bezugsraum eine Teilung der Menschheit herbeiführt: Der zahlenmäßig geringen
Gruppe hoch qualifizierter Arbeitnehmer, die ihre Funktion im System der Produktions- und Dienstleistungssektoren
wahrnehmen, steht die wachsende Zahl der Menschen gegenüber, die außerhalb dieses Systems stehen und denen nur die
Rolle der Konsumenten oder Klienten in der Gesellschaft zugestanden wird.(21)
Anmerkungen:
1
Niklas Luhmann: "Wirtschaft als soziales System", in: Soziologische Aufklärung Bd.1 (Aufsätze zur Theorie sozialer
Systeme), Köln-Opladen 1970, 204-231; ders.: "Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen", in: Der Mensch
- das Medium der Gesellschaft, hg. v. Peter Fuchs, Andreas Göbel, Frankfurt/M. 1994, 40-56.
Trutz Rendtorff: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. II, Stuttgart. Berlin.
Köln. Mainz 1981, 64-68 (Rendtorff verweist auf die noch heute andauernde Diskussion, ob Max Weber in "Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus", 1905, die Entfesselung der ökonomischen Kräfte Ende des 19. und
Anfang des 20. Jh. in der europäischen und nordamerikanischen Industriegesellschaft analysiert, also in historischer
Perspektive dargestellt, oder ob er grundsätzlich das Paradigma des Konflikts zwischen Wirtschaft und Politik wie zwischen
Wirtschaft und Ethik entworfen hat).
2
Rendtorff: Ethik II, 84, 110-113: Rendtorff bezeichnet Rawls’ "Theorie der Gerechtigkeit" als "ethische Reflexivität"
im wirtschaftlichen Handeln. In der marxistischen Interpretation gesellschaftlicher Antagonismen (Klassenkämpfe) seien
ungerechte Verhältnisse als durch den revolutionären Prozess aufgehoben vorgestellt. Rawls dagegen suche die "kritische
Funktion" der Gerechtigkeit zu bestimmen, indem er vom Aufbau der "Gerechtigkeitsvorstellung" ausgehend die hypothetische
Chancengleichheit der Menschen in der Gesellschaft expliziert.
3
John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit - übersetzt von Hermann Vetter (revidierter Text), 7. Aufl. Frankfurt/M. 1993,
Vorwort, 12f. Vgl. Dietz Lange: Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992, 319-321, 447f (Abgrenzung gegenüber N.
Luhmann, "Sozialsysteme als selbstreferenzielle Systeme": Der institutionstheoretische Ansatz ist zu hinterfragen, wenn der
Mensch als Komponente sozialer Systeme und vornehmlich in seiner Funktionalität bestimmt wird.) und Rendtorff: Ethik II, 84
(Die Entwicklung der durch Kapital, Arbeitsteilung und technischem Fortschritt bestimmten industriellen Wirtschaftsform öffnet
prinzipiell die Teilhabe an den erwirtschafteten Gütern für alle Menschen. Die intendierte Egalität der Gesellschaft benötigt die
entsprechende Gestaltung der Institutionen.).
4
Rawls: Gerechtigkeit, 23.
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5
Rawls: Gerechtigkeit, 27-39, 159-166 (Rawls definiert Gerechtigkeit in Bezug auf Locke, Hobbes, Rousseau, v.a. auf Kant
durch das Denkmodell des Gesellschaftsvertrages. Er expliziert ferner den Begriff "Urzustand" sowie die Metapher "Schleier
des Nichtwissens".); vgl. Dieter Sturma: "Gerechtigkeitsethik", in: Geschichte der neueren Ethik 2, hg. v. Annemarie Pieper,
Tübingen. Basel 1992, 283-287, und Otfried Höffe: "Strategien politischer Gerechtigkeit: Zur Ethik öffentlicher
Entscheidungsfindung", in: Gerechtigkeit. Themen der Sozialethik, hg. v. Armin Wildermuth, Alfred Jäger, Tübingen 1981,
107-140 (109, 116f!).
6
Rawls: Gerechtigkeit, 283-290; vgl. M.P. Masterson: "On Being Unfair to Rawls, Rouseau and Williams or John
Charvetand. The Incoherence of Unequality", in: British Journal of Political Science Vol. 1, Cambridge 1971, 209-222; dazu
Ernst Tugendhat: "Bemerkungen zu einigen methodischen Aspekten von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit", in: ders.:
Probleme der Ethik, Stuttgart 1984 (Masterson wendet sich gegen die Behauptung, dass "The Idea of Equality" absurd sei.
Rawls ziele auf die Reflexion der Institutionen und der dabei leitenden "Gerechtigkeitsvorstellung". Er diskutiere die
Notwendigkeit von Standards für das Zusammenleben der Menschen in dem Sinne, dass die Gleichheit hinreichend zum
Tragen komme und niemand den anderen dominiere. Tugendhat weist auf die abstrakte Fassung des Begriffs der Person in
Rawls’ Gerechtigkeitstheorie durch seine Orientierung an Kant hin. Nach Tugendhat ist dieser Formalismus für die
Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft nicht hinreichend.).
7
Rawls: Gerechtigkeit, 493ff; vgl. Sturma: Gerechtigkeitsethik, 297 (Rawls strebt an, den "moral sense" zu schärfen und die
gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse zu systematisieren, v.a. zu vereinfachen.).
8
Rawls: Gerechtigkeit, 305ff, 337-344.
9
Rawls: Gerechtigkeit, 489 (vgl. 407, 566f).
10
Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 2. Aufl. Bern. Stuttgart. Wien
1998, Vorwort zur 2. Auflage.
11
Ulrich: Wirtschaftsethik, 12-19, 152f.
12
Ulrich: Wirtschaftsethik, 135f.
13
Ulrich: Wirtschaftsethik, 139f.
14
Ulrich: Wirtschaftsethik, 91f, 140ff (Ulrich verweist darauf: Max Webers Analyse der Industriegesellschaft weiterführend
hat Jürgen Habermas eine Theorie der Modernisierung entworfen, die die technische Rationalisierung in eine
Gesellschaftstheorie einbringt, so dass die funktionale technische Rationalisierung der Kommunikation gesellschaftlicher
Gruppen integriert worden ist. Auf diese Weise sucht Habermas die Position des Menschen als Subjekt gesellschaftlicher
Prozesse zu bestimmen. Nach Ulrich leistet der Terminus "Lebenswelt" die angestrebte Integration technischer und
kommunikativer Strukturen.).
15
Ulrich: Wirtschaftsethik, 143-146.
16
Ulrich: Wirtschaftsethik, 179-187, 191f, 247-254 (Ulrich setzt sich 179ff mit dem Utilitarismus auseinander, indem er sich
u.a. auf Rawls’ Gerechtigkeitstheorie bezieht. Ferner erläutert Ulrich das " Pareto-Prinzip" (191f). Es besagt, dass der
Anspruch der Person A auf die vorhandene Gütermenge die Möglichkeit der Person B beeinflusst, ihren Anspruch auf jene
Gütermenge durchzusetzen. Optimal wird die Verteilung sein, wenn die Personen A und B annährend gleichen Anteil an der
Gütermenge beanspruchen können. Ulrich erörtert zudem 247-254 Rawls’ Gerechtigkeitstheorie im Sinne der
Chancengleichheit des Menschen als Subjekt in den Bereichen Politik und Wirtschaft.).
17
Ulrich: Wirtschaftsethik, 290f, 301f, 316!; vgl. auch 460f.
18
Ulrich: Wirtschaftsethik, 324ff (Der Wirtschaftsbürger); vgl. Dietz Lange: Ethik, 458-462: Die Theorie der Gerechtigkeit
und die Integrative Wirtschaftsethik ist in ihren Grenzen markiert, weil es in der Gesellschaft keine machtfreien Räume gibt.
Der christliche Standpunkt kann in der Korrelation von Gerechtigkeit und Agape erörtert werden. Der soziale Friede ist nicht
schon erreicht, wenn die Gruppeninteressen ausgeglichen sind. Es muss möglicherweise Macht zugunsten der
Benachteiligten eingesetzt werden. Die Freiheit und Gleichheit der Menschen kann verwirklicht werden, wenn es den
Menschen gelingt, ihre Identität als Person und ihr Leben für andere zu vermitteln. Dazu: Reinhold Niebuhr: Love and Justice.
Selection... ed. by D. B. Robertson, Philadelphia 1957, 52, 207, sowie Arthur Reich: Wirtschaftsethik, Bd. 1, Gütersloh 1984,
211ff.
19
Ulrich: Wirtschaftsethik, 452.
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20
Karl-Heinz Hillmann: "Wachstumskrise als Wertproblem", in: Gegenwartskunde (24) 1975, 19-31.
21
Joseph Huber: "Zwischen Supermarkt und Sozialstaat. Eine neue Abhängigkeit des Bürgers", in: Ivan Illich u.a.:
Entmündigung durch Experten, Reinbek 1979, 129ff, 136-152.
Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771
Herausgeber:
Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V
Langgasse 54
67105 Schifferstadt
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