Die Tradition der Logik und das Konzept einer transklassischen

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Gotthard Günther [ 1 ]
Die Tradition der Logik
und das
Konzept einer transklassischen Rationalität
Niemand kann ernstlich bezweifeln, daß die Entwicklung der Logik während des letzten Jahrhunderts ungeheure Schritte vorwärts gemacht hat. Das ist größtenteils zurückzuführen auf die enge
Verbindung, die in dieser Zeit stattgefunden hat zwischen der reinen Philosophie und modernen
mathematischen Methoden. Beide Seiten haben von dieser Verbindung profitiert. Besonders die
Logik! Sie hat seitdem einen ungeheuren Aufschwung genommen. Es wird sich jedoch auszahlen,
einen kritischen Blick auf diesen Weg, den sie genommen hat, zu werfen, um herauszufinden, was
erreicht worden ist und in welcher Hinsicht überhaupt kein Fortschritt erzielt wurde. Denn es gibt,
wie wir zeigen werden, einen Bereich, in dem die Logik nach wie vor stagniert, wie zu Zeiten
Kants, als er seine berühmt gewordene Klage im Vorwort der zweiten Auflage zur Kritik der reinen
Vernunft formulierte.
Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf das Erreichte werfen und festhalten, worin sein allgemeines Charakteristikum besteht. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum Mathematiker begannen, einen genaueren Blick auf die Logik zu werfen, wurden sie konfrontiert mit einem gut etablierten formalen "System" (mit einem Minimum an Symbolismen), welches zurückging auf das Organon des Aristoteles und einige grundlegende Ideen, wie sie zuerst in den Dialogen des Platon dargelegt worden waren. Eine intensivere Nachforschung während der folgenden Jahrzehnte offenbarte,
daß diese logische Tradition alles andere als ein vollendetes und zufriedenstellendes System darstellte. Es konnte bestenfalls als Fragment einer formalen Logik bezeichnet werden. Es war unvollkommen sogar innerhalb seiner eigenen engen Grenzen. Es mangelte ihm an ausreichender Formalisierung, und seine operationalen Regeln waren nicht präzise genug definiert. Überdies waren viele
Verfahrensregeln, welche in der modernen Logik eine zentrale Rolle spielen, noch gar nicht entwickelt. Unter diesen Umständen ist man eher geneigt zu sagen, ohne allzu sehr zu übertreiben, daß
das, was die Tradition überliefert hatte, allenfalls der Entwurf oder die Idee einer formalen Logik
war, aber noch nicht diese Logik selbst. Es ist offensichtlich, daß seit den einleitenden Forschungen
von De Morgan, Boole und anderen die Zeit bis in unsere Tage erfüllt war mit der Durchführung
dieses Entwurfs, den die Denker des klassischen Griechenland und die mittelalterliche Tradition uns
zurückgelassen haben. Die Fortschritte, die erzielt wurden, seit die Logik wirklich entwickelt war
innerhalb des neuen Mediums der abstrakten Kalküle, sind so überwältigend, daß es eines eigenen
Buches bedürfte, um sie im Detail wiederzugeben. Das ist jedoch nicht nötig. Der Fachlogiker
kennt sie gut genug. Es gibt jedoch ein allgemeines Charakteristikum, das all diese neuen Entdeckungen miteinander teilen, ein Sachverhalt, welcher selten im Bewußtsein des Fachlogikers aufscheint: Was auch immer mit der modernen "Revolution" der Logik erreicht wurde, es ist nichts
anderes als die gewissenhafte Ausführung des Planes bzw. des Entwurfes, der auf dem Höhepunkt
der klassischen griechischen Philosophie skizziert und formuliert worden war. Zu jener Zeit wurde
er größtenteils mit Hilfe mythologischer bzw. metaphysischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht. Heute versuchen wir genau dasselbe Vorhaben durchzuführen in rein formalen und mathe1
Veröffentlicht in: Allgemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte en Psychologie Bd. 54, 1962, 194-200 / Originaltitel: The
Tradition of Logic and the Concept of a Trans-Classical Rationality
Deutsche Übersetzung: Arno Bammé, Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion (Arno Bammé, Peter Baumgartner, Wilhelm
Berger & Ernbst Kotzmann, hrsg.) Heft 34, 1990 — http://ubdocs.uni-klu.ac.at/open/voll/tewi/AC00472123.pdf
matischen Begriffen. Mit anderen Worten: Ganz gleich wie entwickelt und vielfältig unsere modernen logischen Verfahren auch sein mögen, sie entstammen nach wie vor denselben alten metaphysischen Wurzeln.
Das bedeutet, daß die allerletzten philosophischen Grundlagen unserer logischen Tradition weder
ernsthaft diskutiert noch radikal in Frage gestellt worden sind. Man setzt sie einfach als selbstverständlich voraus.
Der Autor dieser Reflexionen gesteht, daß er einigen Mut aufbringen mußte, um diese Feststellung
zu treffen. Aller Augenschein scheint ihn zu widerlegen. Beweisen nicht alle Schulen des Logizismus, des Formalismus und des Intuitionismus durch ihre bloße Existenz, wie intensiv die philosophischen Grundlagen der modernen Logik diskutiert werden? Ist nicht der tiefe Riß zwischen
logischem Platonismus und Konstruktivismus Beweis genug dafür, daß die grundlegendsten Aussagen zur Disposition stehen? Natürlich, niemand kann leugnen, daß die Entwicklung moderner
Kalküle philosophische Kontroversen beinhaltet. Aber, und das ist für uns das Wesentliche, sie
finden statt ausschließlich innerhalb der Grenzen der klassischen Rationalität. Und wenn die Argumentationen manchmal so aggressiv werden, daß ein hervorragender Logiker neulich den Mangel
an Toleranz beklagen mußte[ 2 ], so bleibt doch auf die unbestreitbare Tatsache hinzuweisen, daß all
diese intensiven Debatten und scharfen Kontroversen lediglich bestätigen, wie fanatisch alle, die
sich daran beteiligen, in das Problem verfangen sind, das zu lösen sie beanspruchen.
Zwischen allen modernen Logikschulen existiert eine starke anhaltende Übereinstimmung und ein
fast fanatischer Konsens darin, daß das, was die Tradition uns als "das" Problem der Logik überliefert hat, in der Tat das einzige Problem sei.
Es wird nützlich sein, diese sakrosankte Tradition einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Sie
läßt sich in die drei folgenden "Dogmen" zusammenfassen:
1.
2.
3.
Die Dichotomie von Form und Inhalt ist relevant für jedes System einer reinen Logik.
Der Begriff "Objekt" ist widerspruchsfrei.
Die semantische Relation zwischen Wahrheit ... Falschheit (einschließlich einer Skala von
Zwischengliedern) und logischen Werten ist eindeutig.
Die wechselseitige Abhängigkeit dieser drei Grundsätze ist offensichtlich, und gleichfalls ist klar,
daß nur eine zweiwertige Logik ihnen allen gerecht werden kann. Das erklärt die schwankende
Haltung, die Logiker gegenüber dem Problem einer mehrwertigen Logik eingenommen haben. Der
anfängliche Enthusiasmus, mit dem mehrwertige Systeme aufgegriffen wurden, als sie 1920 zum
ersten Mal aufkamen, hat allmählich wieder abgenommen[ 3 ]. In der philosophischen Logik ist die
Ablehnung dieser Systeme fast einmütig. Sie stützt sich auf das unwiderlegbare Argument, daß das
Prinzip der Mehrwertigkeit den klassischen Wahrheitsbegriff verletze[ 4 ]. Und es ist interessant zu
bemerken, daß bereits 1932 ein Gelehrter, der gleichermaßen in philosophischer und in symbolischer Logik zu Hause ist, hinsichtlich mehrwertiger Theorien erklärte: "Der Versuch, alle Klassifikationsmodi und die daraus sich ergebenden Prinzipien einzubeziehen, würde keinen Kanon, sondern Chaos produzieren."[ 5 ]
Das wurde vor 30 Jahren geschrieben und es kann nicht gesagt werden, daß sich die Situation
seitdem gebessert hat. Wir werden lediglich einen weiteren Zeugen aus der jüngsten Vergangenheit
anführen mit der Aussage: Bei "Einführung von mehr als zwei Wahrheitswerten ... gelangt man,
2
3
4
5
Cf. Heinrich Scholz und Gisbert Hasenjaeger, Grundzüge der mathematischen Logik, 1961, p. 11f.
I. M. Bochenski, "Die Fachlogistiker, die einst diese Systeme mit Enthusiasmus begrüßt haben, stehen ihnen heute zum größten
Teil sehr skeptisch gegenüber". Der sowjet-russische dialektische Materialismus, 1956, p.132.
Cf. Paul F. Linke, Die mehrwertigen Logiken und das Wahrheitsproblem. Ztschr. f. Philos. III (1948) p. 378 ff. and p. 530ff.
Ebenfalls: B. v. Freytag-Löringhoff, Logik, 1955, p. 177ff.
C.O. Lewis, Alternative Systems of Logic. The Monist XLII, 4 (1932), p. 507.
sofern man sie wirklich als Wahrheitsmodi auffassen will, zu offenbaren Aporien der Interpretation,
die sich auf keine zwanglose Weise überbrücken lassen."[ 6 ]
Das ist der Punkt, wo trotz der rapiden Fortschritte während des letzten Jahrhunderts auf dem
Gebiet der Logik nach wie vor ein Bereich der Stagnation auszumachen ist. Das starre Festhalten an
den drei philosophischen "Dogmen" der klassischen Tradition und das konsequente Beharren darauf, daß jeder logische Wert eines jeden Systems interpretiert werden muß als ein Wahrheitswert,
all das hat die Fachleute auf dem Gebiet der Logik blind gemacht dafür, daß die Akzeptanz mehrwertiger Prozeduren eine tatsächliche Abwendung von der klassischen Basis wissenschaftlichen
Denkens bedeutet. In Anbetracht der Tatsache, daß die Quantenmechanik diese Grundlagen verlassen hat[ 7 ], scheint es nur natürlich, daß die Logik weder die Zeit zurückdrehen noch sich davor
scheuen sollte, weiter in die trügerischen Gewässer der Mehrwertigkeit vorzudringen. Aber falls
dieses Wagnis tatsächlich unternommen wird, dann muß dieser letzte Hort der Stagnation in der
Logik endgültig zur Disposition gestellt werden durch eine gründliche Erforschung der Grenzen der
Allgemeingültigkeit unserer drei klassischen "Dogmen". Seit 1953 hat der Autor dieser Zeilen
versucht, mit einer Reihe von Publikationen[ 8 ] erste Schritte in diese Richtung zu unternehmen, von
denen alle sich damit zu befassen suchen, daß die bislang unumstrittene klassische Definition der
Logik zugunsten einer umfassenderen aufgegeben werden sollte. Als philosophische Leitsätze
dieser neuen transklassischen Logik formulieren wir:
1a.
2a.
3a.
Die Dichotomie von Form und Inhalt gilt nicht in n-wertigen Systemen, in denen n > 2.
Der Begriff "Objekt" ist amphibolisch[ 9 ], wenn n > 2.
Die Disjunktion Wahrheit/Falschheit tritt als Wertdesignation auf, falls und nur falls n = 2.
Im ersten Band seines Werkes "Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik" (1959) hat der
Autor dieser Zeilen sich bemüht, die historischen Grundlagen zu umreißen und die systematische
Idee einer genuin transklassischen Rationalität auf rein philosophischer Basis zu entwickeln. Es gibt
eine Fülle historischer Vorgaben bei Kant (seine Transzendentale Dialektik), bei Fichte, Hegel und
Schelling; und da sie ja alle auf jenes geheimnisvolle Produkt hinauslaufen, das Hegel "Logik"
nennt, schien es ratsam, sich auf ihn zu konzentrieren. Jedoch sollte das nicht als ein Versuch
gedeutet werden, die "spekulative Logik" in den Augen der modernen symbolischen Logik zu
rechtfertigen oder gar beide miteinander zu verschmelzen. Das ist gänzlich unmöglich. Andererseits
kann es keinen Zweifel daran geben, daß der Deutsche Idealismus der Logik ein neues systematisches Problem erschlossen hat. Es ist das Phänomen der Selbst-Reflexion. Kant, Fichte, Hegel und
Schelling haben steif und fest behauptet, daß sich dieses Phänomen, obgleich "logisch", einer
Formalisierung entziehe.
Es ist die Hauptthese von "Idee und Grundriß ...", daß die Tatsache der Selbst-Reflexion (Bewußtsein) einer Formalisierung völlig zugänglich ist. Der sich ergebende Kalkül wäre das Rückgrat der
Neuen Logik. Seine Basis würde gebildet werden von den transklassischen Regeln la, 2a, 3a, die
wiederum die klassischen Grundsätze 1, 2, 3 als ontologisches Subsystem enthalten. Der Autor
dieser Zeilen ist davon überzeugt, daß viele Lehrsätze der Hegelschen Logik für eine Behandlung in
6
7
8
9
H. Arnold Schmidt, Mathematische Gesetze der Logik 1, (1960), p. 125, ebenfalls p. 370ff.
Der halbherzige Versuch von Hans Reichenbach (Philosophic Foundation of Quantum Mechanics, 1946), um diese Abkehr
logisch zu demonstrieren, konnte keinen wirklichen Erfolg haben, weil er nicht imstande war, sich selbst frei zu machen vom
klassischen Vorurteil, daß "logischer Wert" und "Wahrheitswert" gleichbedeutend seien.
Die philosophische Theorie einer nicht-aristotelischen Logik. XI. Int. Congr. Philos., Brüssel (1953), V; p. 44-50. {*}
Dreiwertige Logik und die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation. Int. Congr. Philos. of Science, Zürich (1954), 11, .
53-59.{*}
Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion. Arch. PhiPos. (1957), VII, 1/2; p. 1-44. {*}
Die Aristotelische Logikdes Seins und die nicht-Aristotelische Logik der Reflexion. Ztschr. f. Philos. Forsch. (1958), XII, 3; p.
360-407. {*}
Ein Vorbericht über die generalisierte Stellenwerttheorie der Logik, Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft
(1960, I, 4; p. 99-104.
Cf. I. Kant, Die Kritik der reinen Vernunft. B, 316ff. (Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe).
einem Kalkül[ 10 ] geradezu prädestiniert sind. Jedoch ist das angesichts seines Hauptanliegens
nebensächlich, und zudem fällt es in den Aufgabenbereich des Mathematikers und nicht in den des
Philosophen.
Das Phänomen der Reflexion hat in symbolischen Kalkülen natürlich immer eine Rolle gespielt.
Doch ist kein formales Kriterium für Selbst-Reflexion entdeckt worden. Am nächsten kommt dem
noch die Theorie des Intuitionismus. Die Betonung des konstruktiven Aspekts ist eine Art von
Selbst-Reflexion, wie sie die traditionelleren Ansätze vermissen lassen. Aber auch hier hat das zähe
Festhalten an der Idee, Wert und Wahrheitswert gleichzusetzen, die endgültige Befreiung von der
griechischen Tradition verhindert. Deshalb gehört der Intuitionismus noch zur klassischen Mathematik in dem grundsätzlichen philosophischen Sinn, in dem wir diesen Terminus gebrauchen. Es
folgt daraus, daß viele Feststellungen, die von Mathematikern über intuitionistische Verfahrensregeln getroffen werden, in ihrer Äußerlichkeit nicht akzeptiert werden können.
Die Crux der Sache liegt natürlich in der Frage: Was ist Selbst-Reflexion und warum können ihre
Gesetze nicht innerhalb der zweiwertigen Logik entwickelt werden? Lassen Sie uns zunächst die
semantische Dimension der Frage angehen. Mit der Alternative "Ist das wahr oder falsch?" verfehlen wir den zentralen Punkt des Problems. Denn sobald wir über Selbst-Reflexion zu sprechen
beginnen, haben wir aufgehört, uns auf die ursprüngliche klassische Situation zu beziehen, in der
ein denkendes Subjekt naiv (das heißt, ohne Referenz auf sich selbst) einem Universum von (gedachten) Objekten gegenübersteht. Stattdessen wollen wir wissen: Welche Reflexionsgesetze
bestimmen den Gegensatz von Subjekt und Objekt? Es ist leicht einzusehen, worin der fundamentale Unterschied zwischen der klassischen und der transklassischen Theorie des Denkens besteht. Die
erste bedient sich, ohne auf das Subjekt der Reflexion zu verweisen, der Reflexionsstrukturen
ausschließlich für die Bezeichnung der Objekte im allgemeinsten Sinn des Wortes. Die zweite
verweist ausdrücklich auf das Phänomen der Subjektivität und untersucht die dreiseitige Verteilung
zwischen individuellem Subjekt, allgemeinem Subjekt und Objekt, ein Sachverhalt, der offensichtlich nach einem dreiwertigen Formalsystem verlangt. Sein Nutzen für eine Theorie der Reflexion
liegt auf der Hand. Es kann uns eine formalisierte Sprache zur Verfügung stellen, die es uns erlaubt,
einen Begriff in ein und demselben Kontext als Ausdruck subjektiver wie auch objektiver Reflexion
zu behandeln. Im klassischen System war es immer ein ausschließendes entweder-oder. Aber diese
Konjunktion von Objekt und Subjekt ist genau das, mit dem wir konfrontiert werden in der Welt,
die uns umgibt. Wie jedermann weiß, besteht sie nicht allein aus bona fide Objekten, das heißt, aus
Dingen, die der Reflexion nicht antworten können, sondern auch aus Subjekten, die, wie jedermanns eigenes Ich, Zentren der Reflexion sind und als solche behandelt zu werden beanspruchen.
Vom logischen Standpunkt aus erscheinen sie mir jedoch als theoretische Objekte des Denkens. Mit
anderen Worten: Subjektivität ist ein Phänomen, das in distribuierter wie auch in nicht-distribuierter
Form auftritt. In seiner nicht-distribuierten Form bezeichnen wir es als ein individuelles Subjekt. In
seiner distribuierten Form ist es für uns das intersubjektive Medium allgemeiner Subjektivität. Im
Gegensatz dazu: Die Objektivität eines Objekts ist niemals distribuiert. Das isolierte Objekt ist mit
sich selbst völlig identisch. Für ein Subjekt ist das ein unerreichbares Ideal. In seiner
nicht-distribuierten Form ist es bloß unser Denkobjekt und nicht Subjekt im eigenen Recht.
Daß die klassische, zweiwertige Logik unser System formaler Rationalität als ein undistribuiertes
Begriffsgebäude beschreibt, sollte nunmehr verständlich geworden sein. Das ist erreicht worden
durch rigorosen Ausschluß jeglicher Referenz auf das denkende Subjekt[ 11 ]. Oder, um denselben
Sachverhalt in syntaktischen Begriffen auszudrücken, indem nur ein Negationsoperator als Mittel
zugelassen wird, um eine symmetrische Umtauschrelation zwischen zwei Werten herzustellen. Das
führt, worauf Reinhold Baer hingewiesen hat, zur berühmten coincidentia oppositorum des Nicolas
10
11
Cf. A. Speiser, Elemente der Philosophie und der Mathematik, 1952, insbesondere von p. 83 an.
Das ist, was E. Schrödinger "das Prinzip der Objektivierung" nennt, welches erfordert, daß "wir das Subjekt der Erkenntnis aus
dem Bereich der Natur, die zu verstehen wir uns bemühen, ausschließen", Mind and Matter, 1958, p. 38.
Cusanus[ 12 ], das heißt, zur absoluten Identität von Denken und Sein. Abgesehen von früheren
philosophischen Versuchen, ist es bis jetzt vor allem L.E.J. Brouwers Kritik des Tertium non datur
gewesen, die als Anzeichen dafür gewertet werden kann, daß die Notwendigkeit eines distribuierten
Systems der Rationalität mehr oder weniger deutlich empfunden wurde. Jedoch scheint es, daß der
Intuitionismus nicht weit genug geht.
Das Prinzip der Distribution sollte nicht nur das Tertium non datur, sondern ebenso den Satz vom
Widerspruch und der Identität tangieren. Das aber kann nur geschehen in einem genuin mehrwertigen System, und der Intuitionismus ist kein solches System.[ 13 ]
Es scheint nur einen Weg zu geben, eine in sich stimmige Distribution der Rationalität für die
Identität ebenso wie für den Widerspruch und das Tertium non datur in Kraft zu setzen, nämlich die
Einführung eines allgemeinen m-wertigen Systems, wo m > 2. Jedoch unterscheidet sich unsere
Absicht fundamental von allen früheren Versuchen. Statt ein mehrwertiges System als eine
wahr-falsch-Theorie mit dazwischen liegenden Sequenzen von Unbestimmtheiten oder Modalitäten
zu interpretieren, erklären wir jede m-wertige Logik als ein Stellenwertsystem aller Subsysteme der
Wertordnung m-1, m-2, m-3, ..., m-n, so daß m-n = 2. Es ist leicht einzusehen, daß eine dreiwertige
Logik drei Stellen für die klassische zweiwertige Logik vorsieht, weil letztere in der größeren
Ordnung repräsentiert wird durch die Subsysteme 1↔2, 2↔3 und 1↔3.[ 14 ] Ähnlich hält eine
vierwertige Logik sechs Stellen für zweiwertige und vier Stellen für dreiwertige Subsysteme bereit.
Verallgemeinernd läßt sich sagen, die Menge aller möglichen Subsysteme einer jeden m-wertigen
Struktur ist identisch mit den entsprechenden Zahlen in der Tafel der Binomialkoeffizienten.[ 15 ]
Es ist einleuchtend, daß keine m-wertige Struktur (m > 2), die als ein logisches Stellenwertsystem
interpretiert wird, im klassischen wahrheitsfunktionalen Sinn verwendet werden kann. Da ein und
dieselbe zweiwertige Logik in jeder Stellenanzahl auftauchen kann und da ehrlicherweise niemand
die "grauenhafte Monströsität" (Schrödinger) eines Weltgeistes billigen wird, der über eine unbeschränkte Anzahl von untergeordneten Ausprägungen des Geistes verfügt mit halbunabhängigen
Urteilsaussagen wie wahr oder falsch, besteht die einzig natürliche Lösung darin, diese größeren
Systeme als intersubjektive Reflexionsstrukturen zu verstehen, die unsere eindeutige, klassisch
zweiwertige Logik über den gesamten Bereich von Objekt und Subjekt distribuiert. Es ist absurd
anzunehmen, daß irgendein individuelles Bewußtsein sich jemals in etwas anderem als in einer
zweiwertigen Logik manifestieren könnte. In diesem Sinn ist das klassische Denksystem archetypisch und vorbildlich. Aber wenn irgendein denkendes Subjekt der Welt gegenübertritt, entdeckt es,
daß seine Umwelt genau dieselbe Logik in einem weiten (möglicherweise unendlichen) Distributionsbereich entfaltet. Seine Struktur besitzt eine primordiale, eine ursprüngliche Polarität: den
Gegensatz von Ich und Es. Aber weil das Universum für jedes gegebene Zentrum des Denkens, das
heißt, für jedes Subjekt, nicht nur bona fide Objekte enthält, sondern auch andere Zentren des
Denkens, das heißt, objektive Subjekte, ist die Reflexionsstruktur unserer archetypischen Logik
über all diese Zentren verteilt.
Die klassische Tradition hat diesen Tatbestand, soweit es die formale Logik betrifft, immer ignoriert. Sie hat das mit gutem Grund getan. Denn solange der reine und unverwässerte objektive
Charakter des Universums, der allen denkenden Subjekten in gleicher Weise gegenübertritt, das
einzige Thema des theoretischen Denkens zu sein scheint, solange gibt es kein Problem hinsichtlich
der intersubjektiven Allgemeingültigkeit unserer begrifflichen Termini. Es ist offensichtlich, daß,
12
13
14
15
Reinhold Baer, Hegel und die Mathematik, in: Verhandlungen des 2. Hegelkongresses vom 18.-21.X.1931. Ed. B. Wigersma.
Tübingen 1932. {*}
Das wurde erst kürzlich festgestellt von H. Arnold Schmidt, der anmerkte, "daß die intuitionistische Logik überhaupt keine
'mehrwertige' Logik ist!" Mathematische Gesetze der Logik 1(1960), p. 370
Weitere relevante Einzelheiten werden in den folgenden Veröffentlichungen des Autors dieser Zeilen gegeben: Die Aristotelische
Logik des Seins und die nicht-Aristotelische Logik der Reflexion, und ferner im "Vorbericht", cf. Fußnote 8. {*}
Ich bin Professor Heinz von Foerster (Universität von Illinois) zu Dank verpflichtet, der meine Aufmerksamkeit auf diesen
Sachverhalt gelenkt hat.
falls zwei beliebige Subjekte A und B hinsichtlich eines bestimmten Objekts O übereinstimmen, sie
ebenfalls miteinander übereinstimmen. Konsequenterweise können A, B und jedes andere Subjekt
C, das sich in derselben Position befindet, als ein einziges logisches Subjekt behandelt werden. Das
Resultat ist. die absolute Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt, der das zweiwertige System
genau entspricht. Es läuft alles hinaus auf das altehrwürdige Konzept des universalen, absoluten
(göttlichen?) Selbst, mit dem aller individuelle Geist verschmilzt, falls er in strikt logischen Kategorien denkt. Es ist offensichtlich, daß, falls Subjektivität qua Subjektivität überhaupt eine Rolle in
dieser Logik spielt, sie das nur in ihrer nicht-distributierten Form tut ... als einziges, einsames
Zentrum der Reflexion. Es sollte ebenfalls offensichtlich sein, daß, falls die Computertheorie darauf
abzielt, ein Bewußtsein in strengen objektiven Kategorien zu definieren, unsere klassische Tradition
prinzipiell unzureichend ist. Oder sollen wir annehmen, daß ein Automat, der uns in der Behandlung logischer Probleme einholt, auch einer mysteriösen Verschmelzung mit einem absoluten
Subjekt unterliegt? Das ist absurd, wenn nicht gar blasphemisch.
Also haben wir folglich keine andere Wahl, als anzunehmen, daß, falls auch das bona fide Objekt
formale Logik handhabt und theoretische Übereinkunft mit uns herstellt (oder wir mit ihm), intersubjektive Kommunikation, die die Schale des isolierten individuellen Selbst "transzendiert", auf
einem distribuierten System der Rationalität basiert, in dem ein und dieselbe Logik mit einem
Minimum von drei ontologischen "Stellen" als ein vollständiges System wirksam gemacht werden
kann:
(1)
(2)
(3)
im isolierten individuellen Subjekt als abseits von der Welt;
im isolierten Objekt;
in einem System, das die Differenz zwischen (1) und (2) beschreibt.
Eine dreiwertige Logik erfüllt diese Minimalbedingungen. Aber da es mehr als nur ein individuelles
Subjekt im Universum gibt, ist auch die nachfolgende Einführung höherwertiger Systeme erforderlich. Sie alle dienen demselben Zweck: unsere einzige klassische Ordnung zweiwertiger Rationalität über immer weitere Stellenwertsysteme zu distribuieren. Ihre infinite Ordnung findet ihre
Erfüllung im Konzept einer transklassischen, nicht-Aristotelischen Rationalität, einer Reflexionslogik, die die des Seins übersteigt. Um es zusammenzufassen: Eine nicht-Aristotelische oder
transklassische Logik ist ein System distribuierter Rationalität. Unsere traditionelle (zweiwertige)
Logik stellt menschliche Rationalität in einer nicht-distribuierten Form dar. Das bedeutet: Die
Tradition erkennt nur ein einziges universales Subjekt als Träger logischer Operationen an. Eine
nicht-Aristotelische Logik jedoch trägt der Tatsache Rechnung, daß Subjektivität ontologisch über
eine Vielzahl von Subjekt-Zentren distribuiert ist. Und da jedes von ihnen berechtigt ist, das Subjekt
von Logik zu sein, muß menschliche Vernunft auch in einer distribuierten Form dargestellt werden.
Der Weg, um das durchzuführen, besteht darin, mehrwertige Strukturen als Stellenwertsysteme
unserer zweiwertigen Logik zu deuten. In jeder beliebigen m-wenigen Logik ist unser klassisches
2
System über m 2− m Stellen distribuiert.
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