Schönbergs Begriff der „Klangfarbenmelodie“

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Symposiumsreferat 15. September 2006, Auditorium KKL Luzern
Schönbergs Begriff der „Klangfarbenmelodie“
Schönbergs am Schluss seiner Harmonielehre skizzierte Idee einer „Klangfarbenmelodie“ wird in der
Sekundärliteratur häufig zitiert und ist heute allgemein gebräuchlich für bestimmte kompositionstechnische
Phänomene der neueren Musik. Eine kritische Auseinandersetzung mit den ästhetischen und terminologischen
Wurzeln des Begriffspaars „Klangfarben-Melodie“ steht jedoch noch weitgehend aus, insbesondere auch eine
Untersuchung der von Schönberg intendierten semantischen Tragweite seiner Sprachschöpfung. Dabei rücken
Schönbergs eigene Reflexionen über musikalische Wahrnehmungsvorgänge in den Vordergrund, verbunden mit
der Frage, inwieweit diese Reflexionen, obwohl häufig spekulativ und nur inadäquat sprachlich fassbar,
inspirierende Ausgangspunkte einer kompositorischen Ästhetik sein können.
Arnold Schönbergs Harmonielehre von 1911 endet mit dem oft zitierten Satz „Wer wagt
hier Theorie zu fordern!“ Vorausgegangen sind 500 Seiten eigenwilliger, jedoch durchaus
noch konventioneller Abhandlung der tonalen Harmonielehre, ihrer Erweiterung etwa bis zum
Stand der Kammersymponie op. 9 und eine abschliessende Reflexion über die „Ästhetische
Bewertung sechs- und mehrtöniger Klänge“.
Der letzte Abschnitt des Buches beginnt mit einer Parametrisierung des Klangs, an dem
Schönberg drei Eigenschaften wahrnimmt: „seine Höhe, Farbe und Stärke“. Er erwähnt,
dass bis jetzt in der Musiktheorie vor allem die Dimension der Tonhöhe systematisiert worden
sei, beispielsweise in Form von Harmonielehren. Dagegen befinde sich „die Bewertung der
Klangfarbe, der zweiten Dimension des Tons, […] in einem noch viel unbebauteren,
ungeordneteren Zustand“. Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, die Klangfarbe zu
systematisieren?
Schönbergs Antwort in der Harmonielehre ist allgemein bekannt. Er schreibt: F „Ich kann
den Unterschied zwischen Klangfarbe und Klanghöhe, wie er gewöhnlich ausgedrückt
wird, nicht so unbedingt zugeben. Ich finde, der Ton macht sich bemerkbar durch die
Klangfarbe, deren eine Dimension die Klanghöhe ist. Die Klangfarbe ist also das grosse
Gebiet, ein Bezirk davon die Klanghöhe. Die Klanghöhe ist nichts anderes als
Klangfarbe, gemessen in einer Richtung. Ist es nun möglich, aus Klangfarben, die sich
der Höhe nach unterscheiden, Gebilde entstehen zu lassen, die wir Melodien nennen, [...]
dann muss es auch möglich sein, aus den Klangfarben der anderen Dimension, aus dem,
was wir schlechtweg Klangfarbe nennen, solche Folgen herzustellen, deren Beziehung
untereinander mit einer Art Logik wirkt, ganz äquivalent jener Logik, die uns bei der
Melodie der Klanghöhen genügt.“ 1
Der Begriff „Klangfarbenmelodie“ hat bis heute unzählige Deutungen erfahren – mehrheitlich
im Sinne eines instrumentatorischen Phänomens, also der Emanzipation der instrumentalen
Klangfarbe gegenüber der Tonhöhe – aus dem bisherigen Akzidens wird so ein substanzielles
Gestaltungselement.
Schnell wurde rückgeschlossen, dass Schönbergs 1909 entstandenes Orchesterstück op. 16,
No. 3, mit dem Titel „Farben“ die künstlerische Umsetzung dieser Vision sei. Tatsächlich
scheinen in diesem Stück vertraute Gestalten wie Melodien oder rhythmisch einprägsame
Motive weitgehend getilgt, was laut Theodor W. Adornos Darmstädter Vorlesung von 1966
eine wesentliche Voraussetzung für die Emanzipation der Klangfarbe sei, denn erst die
Ausschaltung gewohnter Gestaltungselemente, also Thematik, Melodik, Harmonik und gar
1
Arnold Schönberg: Harmonielehre, Wien 1997, S. 503f.
1
der Rhythmik, vermag die Wahrnehmung des Hörers auf die bis anhin als akzidentiell
empfundene Klangfarbe zu lenken.
Das Stück wirkt insbesondere harmonisch statisch, es erinnert ein wenig an das prismenhaft
farbliche Fluktuieren einer spiegelnden Oberfläche, was dem Stück in den Zwanzigerjahren
auch den impressionistischen Titel Sommermorgen am See eintrug.
Verschärft führte Adornos Reduktions-These zur bis heute allgemein verbreiteten Definition,
eine „Klangfarbenmelodie“ sei die instrumentatorische Umfärbung eines ausgehaltenen Tons
oder Akkords. Es wurde in diesem Zusammenhang sogar diskutiert, dass es sich bei op. 16,
No. 3 gerade nicht um eine „Klangfarbenmelodie“ handeln könne, denn bei genauerer
Betrachtung finden im Stück durchaus melodische und harmonische Bewegungen statt. Es
oblag schliesslich Carl Dahlhaus, diese einseitige Sichtweise mit dem Hinweis zu korrigieren:
F „Instrumentation wird nicht dadurch zur Klangfarbenmelodie, dass die
Tonhöhenmelodie zur Monotonie einschrumpft, sondern durch ein Gleichgewicht
zwischen Instrumentation und Tonhöhenmelodie statt der gewohnten Vorherrschaft der
2
Tonhöhenmelodie. Und das Gleichgewicht erreicht Schönberg in op. 16, No. 3 durch
Reduktion der Melodik, nicht durch deren Aufhebung.“2
Dieses subtil ausgestaltete Gleichgewicht betont auch Schönberg selbst in einer
Musizieranweisung. Er schreibt: F „Es ist nicht Aufgabe des Dirigenten, einzelne ihm
(thematisch) wichtig scheinende Stimmen in diesem Stück zum Hervortreten
aufzufordern, oder scheinbar unausgeglichen klingende Mischungen abzutönen. Wo
eine Stimme mehr hervortreten soll, als die anderen, ist sie entsprechend instrumentiert
und die Klänge wollen nicht abgetönt werden.“ Und schliesslich: Der Wechsel der
Akkorde hat so sacht zu geschehen, dass gar keine Betonung der einsetzenden
Instrumente sich bemerkbar macht, so dass er lediglich durch die andere Farbe
auffällt.“3
Diese Anweisung führt auf interessante Weise wieder zurück zur Parametrisierung der
Toneigenschaften, denn in unserer Wahrnehmung können sich die einzelnen Ebenen durchaus
vermischen oder beeinflussen. In diesem Fall werden die Dynamik und die rhythmische
Bewegung wesentlich mitgestaltet durch die Klangfarbe, oder allgemein gesagt: Die
Klangfarbe kann eine Funktion der Dynamik und des Rhythmus sein.
1912 wird Schönberg durch den Peters Verlag gebeten, seinen 5 Orchesterstücken Titeln zu
geben. Widerwillig gibt er dem dritten Stück den, wie er sagt, „technischen“ Titel:
Akkordfärbungen.4 Technisch gesehen ist dieser Titel präziser als die später verwendete
neutralere Bezeichnung „Farben“, denn es handelt sich tatsächlich um eine ständig
fluktuierende instrumentatorische Umfärbung eines Akkords.
•
•
•
•
Schematisch dargestellt.
Lesen wie eine Partitur
Farben nach Klangfarbenfamilien
Immer neue klangfarbliche Kombinationen
2
Carl Dahlhaus: „Schönbergs Orchesterstück op. 16, Nr. 3 und der Begriff der „Klangfarbenmelodie“, in:
Gesammelte Schriften, Bd. 8, Laaber 2005, S. 674.
3
Arnold Schönberg: „Farben“, aus: Fünf Orchesterstücke op. 16, Anmerkung in der Partitur, London etc. 1950,
S. 31.
4
Vgl. Josef Rufer: Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel etc. 1959, S. 13f.
3
Eine genauere Analyse des Stücks zeigt aber, dass hier nicht nur ein Akkord raffiniert
uminstrumentiert wird, sondern Schönberg diesen Akkord auch durch kleinste melodische
Bewegungen subtil harmonisch umfärbt, stellenweise den ganzen Akkord im Tonraum
mixturhaft verschiebt und dabei einem Prinzip von intervallischer Reduktion folgt, welches in
seiner Durchdringung des harmonischen und melodischen Satzes grundlegend werden sollte
für die spätere Entwicklung der Zwölftontechnik.
•
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Particell des Stücks
Zwar einige Instrumentationsangaben
Jedoch weitgehend die Niederschrift des harmonischen Satzes
Weitgehend kleinste melodische Schritte: Durch diese Miniaturisierung der Harmonik
entsteht ein durchaus ähnliches Fluktuieren wie in der Instrumentation, indem diese
linearen Veränderungen nicht als Motive oder Gestalten wahrnehmbar werden,
sondern vielmehr als harmonische Umfärbungen des Anfangsakkords.
Durch diese Analogie verfliessen Harmonik und Klangfarbe zu einem unauflöslichen
Komplex: Die Harmonik scheint hier zu einer Funktion der Klangfarbe geworden zu sein und
umgekehrt. Dabei werden verschiedene Formen des Zusammenwirkens zwischen diesen zwei
Parametern systematisch ausgelotet.
T. 246 mit T. 248
•
Zuerst harmonisch statisch, Klangfarben-Accelerando
4
•
•
•
Dann ein Klangfarben-Accelerando gekoppelt mit einer Verdichtung des
harmonischen Rhythmus
Dabei Permutation der verwendeten Klangfarben
Am Punkt der höchsten Verdichtung der harmonischen und instrumentatorischen
Farben eine „harmonische Trübung“: Chromatische Linie im Cello (Chroma →griech.
Farbe)
Diese innere Beziehung von Instrumentation und Harmonik scheint mir kein Einzelfall zu
sein, sondern geradezu ein Charakteristikum der freien Atonalität, insbesondere in
Schönbergs Erwartung oder Der glücklichen Hand und ebenso in zahlreichen Werken Anton
Weberns und Alban Bergs. Adorno bringt es in seiner Vorlesung von 1966 auf den Punkt: F
„Wie in den vieltönigen Akkorden der neuen Musik diese nicht zu einer homogenen, in
sich ununterschiedenen Einheit verschmolzen werden, sondern jeweils selbständig,
gewissermassen als Stimmen erhalten bleiben und doch ein Ganzes bilden, so ist auch
instrumentiert.“5
Die Definition der „Klangfarbenmelodie“ als ein rein instrumentatorisches Phänomen greift
also zu kurz. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher
Gestaltungsebenen, die gesamthaft als Farbwirkungen wahrgenommen werden können.
Man darf nicht vergessen, dass Schönberg den Begriff an den Schluss einer Harmonielehre
setzt, es ist also unwahrscheinlich, dass nun plötzlich die Harmonik keine Rolle mehr spielen
sollte. Wenn man Schönbergs Ausführungen genau liest, wird die Harmonielehre nicht
einfach „aufgehoben“, oder höchstens im Hegelschen Sinn, nämlich „hinaufgehoben“, in
5
Theodor W. Adorno: „Die Funktion der Farbe in der Musik“, in: Heinz-Klaus Metzger e.a. (Hrsg.): DarmstadtDokumente 1, Musik-Konzepte Sonderband 1/99, München 1999, S. 295.
5
einen grösseren Verbund eines Klangfarbendenkens. Wenn das Primäre des Tons seine Farbe
ist und die Tonhöhe eine seiner Farbeigenschaften, dann ist die Klangfarbe als Erweiterung
des Harmoniebegriffs zu verstehen.
Betrachtet man Schönbergs Äusserungen im Umfeld seiner Harmonielehre, so wird die
semantische Weitung des Klangfarbebegriffs augenfällig. Er diskutiert mit Busoni über den
Klang seiner Klavierstücke op. 11, spricht über „deren düstere, gepresste Klangfarbe“6, er
vergleicht ihr Klangbild mit dem seiner Orchesterstücke, die sich auch deutlich abwenden
vom „’Götter- und Übermenschen-Klang’“ des Wagnerschen Orchesters“, sondern
„alles zarter dünner wird“, und er „gebrochene Farbtöne“7 bevorzugt und meint
schliesslich über Pierrot lunaire, dass hier „die Farbe alles, Noten fast nichts bedeuten.“8
Als Busoni in die Satzstruktur von Schönbergs Klavierstücks op. 11, No. 2 korrigierend
eingreift und eine Bearbeitung des Stücks anfertigt, empfindet dies Schönberg als eine
wesentliche Veränderung der Farbwirkung und benutzt sogar eine eindeutig
instrumentatorische Terminologie, um dies Busoni zu verdeutlichen.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, einen Blick auf Schönbergs Entwurf eines
grösseren theoretischen Werks zu werfen, welches ca. 6 Jahre nach der Harmonielehre
begonnen wurde und den Arbeitstitel trägt Zusammenhang – Kontrapunkt – Instrumentation –
Formenlehre. Darin widmet er sich ausgiebig verschiedenen Instrumentationsfragen und
kommt zu Schluss, dass die wahre Grundlage für alle Instrumentation der Satz sei. Vorerst
müsse also der Schüler wissen, wie ein Satz beschaffen sein muss, der sich für diese oder jene
Instrumentenzusammenstellung eignet. So rücken „Satzkunst“ (Tonsatz, Kontrapunkt) und
„Setzkunst“ (Instrumentation) folgerichtig zusammen und werden auch im
Kompositionsprozess enger verbunden, was in Schönbergs Forderung kulminiert, man solle
direkt „für’s Orchester erfinden.“
Eine Erweiterung des Klangfarbenbegriffs als Zusammenwirken von harmonischen und
instrumentatorischen Phänomenen ergibt sich auch stringent aus der Argumentationslinie von
Schönbergs Harmonielehre. In den Kapiteln vor der „Klangfarbenmelodie“ widmet er sich
der Frage der „Emanzipation der Dissonanz“. Da sich aufgrund der naturgegebenen
Teiltonreihe, die grob gesehen alle Intervalle enthält, ein wesentlicher Unterschied zwischen
Konsonanz und Dissonanz nicht mehr aufrechterhalten lässt, sondern höchstens eine graduelle
Abstufung, wird aus der Dissonanz eine „fernere Konsonanz“. Natürlich war Schönberg kein
Spektralist und seine Argumentationsweise hat eher apologetischen Charakter, doch bedeutet
dies in logischer Konsequenz, dass jeder Akkord gewissermassen als künstlich nachgebildeter
Ausschnitt eines Teiltonspektrums betrachtet werden kann. Schönbergs Äusserung der
Klangfarbe als das grosse Gebiet und der Tonhöhe als eine Dimension davon steht in völliger
Übereinstimmung mit der von Helmholtz ausgehenden und bis heute gültigen These, dass die
Teiltöne unsere Klangfarbenwahrnehmung und einer davon, der Grundton, die
Tonhöhenwahrnehmung bestimmen. Diese neuen entfernteren Tonbeziehungen als „Farben“
zu bezeichnen, liegt terminologisch also sehr nahe.
Ernst Kurth, der bedeutende Berner Musikwissenschafter und Schönberg-Zeitgenosse
unterscheidet in seiner Musikpsychologie denn auch zwei Arten der Farbigkeit, „die
instrumentalen wie die harmonischen Farben“, wobei in der Harmonik insbesondere die
Klangbewegung als Farbveränderungen wahrgenommen werden könne. Analog betont
6
Schönberg in einem Brief an Busoni vom 26.7.1909.
Schönberg in einem Brief an Busoni vom 25.8.1909
8
Vgl. Stuckenschmitt
7
6
Adorno in seiner Darmstädter Vorlesung die Wichtigkeit der Klangfarbenrelationen auf dem
Gebiet der Instrumentation.
Dadurch wird sowohl die instrumentale als auch harmonische Klangfarbe zu einem Faktor der
Formbildung. Auch Schönberg scheint dies bewusst zu sein, wenn er Richard Strauss über
seine Orchesterstücke op. 16 schreibt: F „Ich verspreche mir allerdings kolossal viel
davon, insbesondere Klang und Stimmung. Nur um das handelt es sich--absolut nicht
symphonisch, direkt das Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß ein
bunter, ununterbrochener Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen.“9
Impliziert also die „Klangfarbenmelodie“ auch einen Formbegriff?
Bis anhin kaum Beachtung fand eine der ersten musikwissenschaftlichen Rezeptionen des
Begriffs „Klangfarbenmelodie“ durch Ernst Kurth. In seinem Buch Romantische Harmonik
und ihre Krise in Wagners Tristan bringt er den Begriff in Zusammenhang mit Wagners
unendlicher Melodie und schreibt: F „Der Ausdruck „Klangfarbenmelodien“ von
Schönberg trifft den Kern der Erscheinung, braucht aber nicht auf die modernste
impressionistische Richtung beschränkt zu bleiben. Fluss der Linien und Fluss der
Farben sind von den Tiefen her gleichen Ursprungs. Auch bleibt vor allem zu beachten,
dass hier nicht die einzelnen harmonischen Klangfarben, sondern vornehmlich die
Fortschreitungswirkungen zwischen ihnen das Wesentliche sind […].“10
Schönberg selbst hat sich zum Begriff erst wieder im Todesjahr 1951 geäussert und zwar
unter Umständen, die eine vorsichtige Bewertung seiner Aussagen erfordern. Nichtsdestotrotz
deckt sich seine Auslegung des Begriffs verblüffend mit derjenigen Kurths:
F „Aber insbesondere müsste es jedem klar sein, dass ich an Folgen von Klangfarben
gedacht habe, die der innern Logik von Harmoniefolgen gleichkommen. Melodien habe
ich sie genannt, weil sie im selben Maße geformt sein müssten, wie Melodien, jedoch
nach eigenen, ihrer Natur entsprechenden Gesetzen. […] Denn sicherlich würden Folgen
von Klangfarben andere Konstruktionen erfordern, als Tonfolgen, oder als
Harmoniefolgen. Denn sie wären all das und noch dazu spezifische Klänge.
Klangfarbenmelodien würden eine besondere Organisation erfordern, die vielleicht eine
gewisse Ähnlichkeit mit anderen musikalischen Formen aufwiese, aber doch aus dem
Umstand, dass die Erfordernisse eines neuen Faktors: den Klängen Konsequenzen
ziehen müssten. […]“11
Noch deutlicher wird er in einem Brief an Dallapiccola aus dem selben Jahr:
F „Denn ich meinte etwas anderes unter Klänge, un[d] vor allem aber, unter Melodie.
An Klängen, wie ich sie hier meinte, würden solche Einzel-Erschienungen in meinen
früheren Kompositionen in Betracht kommen, wie etwa die Gruftszene aus Pelleas und
Melisande, oder vieles aus der Einleitung zum vierten Satz meines zweiten
Streichquartetts, oder die Figur aus dem zweiten Klavierstück, die Busoni in seiner
Bearbeitung so oft wiederholt hat und vieles andere. Das sind niemals bloss einzelne
Töne verschiedener Instrumente zu verschiedenen Zeiten, sondern Kombinationen
bewegter Stimmen. Aber das sind noch keine Melodien, sondern Einzelerscheinungen
innerhalb einer Form der sie untergeordnet sind. Melodien werden es wenn man
9
Schönberg an Strauss, 14.7.1909.
Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Hildesheim 1998, S. 565f.
11
Arnold Schönberg, Anton Webern: Klangfarbenmelodie, 1951
10
7
Gesichtspunkte fände, sie so anzuordnen, dass sie eine konstruktive Einheit bilden, von
unbedingter Selbstständigkeit, eine Organisation, die sie nach ihren Eigenwerten
verbindet.“12
Genau diese „Kombinationen bewegter Stimmen“ sind offenbar auch Wassily Kandinsky
aufgefallen, der 1911 in einem Konzert in München die von Schönberg oben zitierten Werke,
nämlich das Zweite Streichquartett op. 10 und die Drei Klavierstücke op. 11 gehört hatte. In
seinem ersten Brief an Schönberg schreibt er: F „Sie haben in ihren Werken das
verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form in der Musik so eine grosse
Sehnsucht hatte. […] das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Kompositionen,
ist gerade das, was auch ich in malerischer Form zu finden versuche.“13
Der amerikanische Musikwissenschafter Alfred Cramer14 hat versucht, die in Schönbergs
Brief an Dallapiccola erwähnten Werkpassagen genauer zu identifizieren. Auffällig ist
erstens, dass Schönberg auch Beispiele von monochromen Klangkörpern wie Streichquartett
oder gar Klavier als „Klangfarbenmelodien“ bezeichnet. Zweitens weist Cramer darauf hin,
dass die vermutlich gemeinten Passagen alle polyphon seien. Polyphon ist vielleicht etwas zu
viel gesagt, sicher ist, dass es sich bei all diesen neuen Klängen um instrumentatorisch
unauffällige, ja klanglich relativ durchsichtige, um nicht zu sagen dünne Komplexe bewegter
Stimmen handelt.
12
Schönberg in einem Brief an Dallapiccola vom 19.1.1951.
Brief Kandinskys an Schönberg vom 18. 1. 1911, in: Jelena Hahl-Koch, Arnold Schönberg, Wassily
Kandinsky. Briefe, Bilder und Dokumente einer aussergewöhnlichen Begegnung. Mit einem Essay von Hartmut
Zelinsky, Salzburg und Wien 1983, S. 19.
14
Alfred Cramer: …….Music Theory Spectrum 24/1 (Spring 2002): 1-34
13
8
Entscheidend ist also nicht nur die Verbindung von Harmonik und Instrumentation im
übergeordneten Begriff der Klangfarbe, sondern durch die Verknüpfung mit dem Begriff der
Melodie auch die wie es Adorno genannt hat „Identität des Klangs und der Struktur.“
Klang ist nicht mehr isolierbares punktuelles Phänomen, sondern ein Komplex
unterschiedlicher Teile, ein Zusammenwirken verschiedener Parameter mit einer Eigenzeit,
einer Struktur und vielleicht am wichtigsten: Klang ist nicht etwas Gegebenes, sondern muss
vom Komponisten erst erschaffen werden. Klang ist Form – wer hier an Helmut
Lachenmanns „Strukturklang“ denkt, liegt vielleicht gar nicht so fern.
Leonid Sabanejew beschreibt in seinem Beitrag zu Kandinskys Almanach Der Blaue Reiter
eine analoge Wahrnehmung beim Hören von Skrjabins Prometheus: F „Der Zuhörer, der
sich in die Welt dieser Harmonien vertieft hat und ihre ‚konsonierende’ Natur fühlt,
fängt an, das ganze Gewebe des Prometheus als etwas in hohem Grade Durchsichtiges
zu sehen: es wird klar, dass Prometheus unendlich einfach ist und vollkommen
‚konsonierend’, so dass hier keine einzige Dissonanz zu finden ist. […] alle melodischen
Stimmen sind auf den Klängen der begleitenden Harmonie gebaut, alle Kontrapunkte
sind demselben Prinzip untergeordnet. Nur diese Tatsache gibt die Möglichkeit […], zur
selben Zeit fünf bis sechs verschiedene Themata und den thematischen Ursprung der
Figuren zu vereinigen. In der ganzen Weltliteratur ist Prometheus das komplizierteste
polyphone und zur selben Zeit in seinem Gewebe durchsichtigste Werk“.15
Hier verschmilzt tatsächlich eine komplexe Polyphonie zum Klang, verschmelzen Dissonanz
und Konsonanz zu höherer Einheit und lösen sich auf in ein faszinierendes Farbenspiel der
Klänge. Sabanejew beschreibt im Grunde genommen Schönbergs Ideal einer „Einheit des
musikalischen Raumes“, wo Melodie und Harmonie eine untrennbare Einheit bilden. In einem
Text über Polyphonie von 192816 schreibt Schönberg, dass zwar in der freien Atonalität die
Linearität der Stimmen primär sei, doch die dadurch entstehenden Zusammenklänge als
Färbungen wirksam würden. In der Zwölftontechnik würden sich schliesslich Klang und
Linearität einer einheitlichen Auffassung unterordnen.
Die Idee der „Klangfarbenmelodie“, die sowohl die Einzelfarbe wie auch deren formbildende
Funktion, der Klang und die Linie umfasst, kann also als eine frühe Ausformulierung der
einheitlichen Wahrnehmung des musikalischen Raumes angesehen werden. Das mag eine
Begründung sein, warum Schönberg nicht schon in der Harmonielehre konkrete Beispiele
von „Klangfarbenmelodien“ gegeben hat, sondern vielmehr wörtlich von einer
„Zukunftsphantasie“ sprach.
Es gibt dafür aber noch eine andere Erklärung, denn Schönbergs Begriff trägt auch eindeutig
kunstutopische und weltanschauliche Aspekte und verlässt den gewohnten Blickwinkel einer
Harmonielehre. Schon mit den Zitaten von Ernst Kurth und Leonid Sabanejew haben wir die
Ebene der Harmonielehre und des kompositorischen Handwerks verlassen – in Richtung einer
Reflexion über Wahrnehmungsphänomene. Vielmehr nähern wir uns wieder Kandinskys
Klangbegriff an, der ihn in dieser Zeit ungefähr gleichbedeutend mit „Wirkung“ verwendet
hat, also „Klang“ eine spezifische Wahrnehmungsqualität. Interessanterweise lässt
Schönbergs Zeitgenosse Josef Matthias Hauer den Begriff „Klangfarbenmelodie“
ausschliesslich so gelten und verneint eine konkrete kompositionstechnische Bedeutung.
15
Leonid Sabanejew, »Prometheus von Skrjabin«, in: Wassily Kandinsky und Franz Marc (Hrsg), Der Blaue
Reiter, München 1965, S. 117.
16
Linearer Kontrapunkt – lineare Polyphonie, ASC T.35.36.
9
Schönbergs Ausführungen am Schluss seiner Harmonielehre gehen spürbar über in eine
Reflexion über die Wahrnehmung von Klängen, sein Ohr wird dabei zur entscheidenden
Instanz bei der Beurteilung dieser neuen Klänge. Dabei folgt er eindeutig Helmholtz, der auch
davon überzeugt war, dass die im Harmonischen entwickelten Fähigkeiten des Gehörs sich in
Zukunft auch in die Klangfarbenwahrnehmung erweiterten, also immer fernere Teiltöne noch
als harmonische Werte verstanden werden können.
Schönberg schreibt dazu: F „Klangfarbenmelodien! Welche feinen Sinne, die hier
unterscheiden, welcher hochentwickelte Geist, der an so subtilen Dingen Vergnügen
finden mag! Wer wagt hier Theorie zu fordern!“17
Mit diesen die Harmonielehre abschliessenden Sätzen verlässt Schönberg unverkennbar den
sprachlichen Code einer Harmonielehre, ja er lässt sich seine Begriffsschöpfung
„Klangfarbenmelodien“ geradezu auf der Zunge zergehen. Angesichts der Tatsache, dass man
es hier mit dem seltenen Fall eines sowohl bedeutenden Komponisten als auch bedeutenden
Theoretikers zu tun hat, liesse sich doch fragen, inwiefern gerade solche Begriffe nicht
einfach auch einen äusserst inspirierenden Klang für einen Komponisten haben müssen?
Gottfried Michael Koenig und György Ligeti schufen einen Begriff, der mit der
„Klangarbenmelodie“ eng verwandt scheint: Die „Bewegungsfarbe“. Auch wenn dieser
Begriff anders als Schönbergs „Klangfarbenmelodie“ mit bestimmten Satztypen der Moderne
verknüpft ist und auf psycho-akustischen Grundlagen basiert – ist er nicht – unabhängig
davon – auch eine inspirierende metaphorische Sprachschöpfung zur Bezeichnung eines
kompositorischen Ideals?
Es wäre interessant zu untersuchen, wie sehr sich gerade bei theoretisch reflektierenden
Komponisten wie Schönberg oder Ligeti musikalische Gedanken bei Sprechen über Musik
verfertigten. In der neusten Ausgabe von MusikTexte kann man eine fast deckungsgleiche
Paraphrase von Schönbergs Ausführungen zur „Klangfarbenmelodie“ lesen. Dort erfährt man
über die finnische Komponistin Kaija Saariaho, dass sie die Richtung der Klangfarbe als
vertikal, die der Harmonik als horizontal empfindet. „In ihren Kompositionen sucht sie
nach Möglichkeiten, deren Rollen zu vertauschen. Ausserdem möchte sie musikalische
Formen mit Hilfe von Klangfarbenprozessen definieren. An Harmonik interessiert sie
deren Eigenschaft, als klangfarbliche Komponente wirken zu können.“
Diese Ausführungen sind für die Hörwahrnehmung des Stücks durchaus hilfreich, noch
vielmehr handelt es sich aber um eine persönlich inspirierende Wahrnehmungsweise der
Komponistin. Dabei setzt sich bei Komponisten immer wieder ein erstaunliches
sprachschöpferisches Potenzial frei. Bei aller definitorischer Unklarheit des Begriffs
„Klangfarbenmelodie“ erweitern doch gerade solche, aus genuin musikalischen Vorstellungen
entsprungene sprachliche Konstrukte rückwirkend unseren Begriff von Musik. Oder wie es
Schönberg ausgedrückt hat: Man kann auch „mit Begriffen musizieren“.
Michel Roth
© 2006
17
Arnold Schönberg: Harmonielehre, Wien 1997, S. 504..
10
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