Der Musik dienen ‒ Pierre-Laurent Aimard Ein Essay von Ulrich Mosch Als der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard 1976, damals gerade mal neunzehn Jahre alt, von Pierre Boulez in den Kreis der Musiker des neugegründeten Ensemble intercontemporain aufgenommen wurde, war noch nicht abzusehen, dass er einmal jene außergewöhnliche Karriere machen würde, die ihn heute als Solist und Kammermusiker mit einem breitgefächerten Repertoire in die bedeutenden Konzertsäle und zu allen wichtigen Festivals der Welt führt. Achtzehn Jahre war der Pianist in dem schnell zu einem Referenzensemble für neue und neueste Musik gewordenen Klangkörper an zahlreichen Uraufführungen, Konzerten und Produktionen mit Musik des 20. Jahrhunderts beteiligt, nicht selten auch mit Soloauftritten. Das Ensemble mit seinen vielfältigen Aufgaben bot ihm damals den idealen Rahmen, um sein schon früh gewecktes und während der Ausbildung weiter gewachsenes Interesse an zeitgenössischer Musik zu befriedigen. Künstlerisch gereift in diesem Umfeld ging er gleichwohl 1995 das Risiko ein, das Ensemble zu verlassen, um eine Solokarriere zu verfolgen und sich eigenen Projekten widmen zu können. In seinem Konzertrepertoire gesellten sich seither zur zeitgenössische Musik nach und nach auch Werke der Romantik und Klassik bis zurück zu Johann Sebastian Bachs Musik für Klavierinstrumente. Dieser ganz ungewöhnliche Weg von der Musik der Gegenwart zu jener der Vergangenheit spiegelt sich auch in Aimards zahlreichen Einspielungen auf CD. Seit der Veröffentlichung des Mitschnitts seines Debütkonzertes in der New Yorker Carnegie Hall vom Dezember 2001 treten zunehmend Aufnahmen mit Musik aus dem 19. und 18. Jahrhundert an die Seite der Werke der Zeitgenossen, darunter Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge und der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers ebenso wie sämtliche Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens mit dem Chamber Orchestra of Europe unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt oder Robert Schumanns Carnaval und Symphonische Etüden. Dass die zeitgenössische Musik gleichwohl zentraler Bestandteil seines Repertoires blieb, versteht sich von selbst. In Aimards Werdegang ‒ der Ausbildung bei Yvonne Loriod und den Jahren beim Ensemble intercontemporain ‒ wurzeln einige Charakteristika, die seine Haltung als Interpret kennzeichnen: zunächst die Selbstverständlichkeit seines Umgangs mit Musik der jüngeren und jüngsten Zeit, die für ihn ‒ bei aller Andersartigkeit und Neuheit, welche ihr den Namen „Neue Musik“ einbrachten ‒ keineswegs durch einen Bruch oder Riss von jener der Vergangenheit getrennt ist; des weiteren ein Interpreten-“Ethos“, das an jede Aufführung von Musik, ganz gleich ob von George Benjamin, Marco Stroppa, Elliott Cater, Charles Ives, Claude Debussy, Robert Schumann oder Johann Sebastian Bach, dieselben, und das heißt: die höchsten Ansprüche stellt, eine Haltung, welche der 1 Arbeit des Ensemble intercontemporain zugrundeliegt und eines der Motive seiner Gründung gewesen war, um endlich Aufführungen zu ermöglichen, die den Werken der Gegenwart tatsächlich gerecht werden; und schließlich ein Interpretationsansatz, der ‒ wiederum völlig unabhängig von der Art der Musik ‒ ganz auf die geistige Durchdringung des Notentextes setzt im Hinblick auf die pianistische Darstellung, was Form, Struktur und Klang betrifft. Pierre-Laurent Aimard verkörpert einen Interpretentypus, für den es nur die Musik im Singular gibt, in Zeiten wachsender Spezialisierung und Fragmentierung des Musiklebens eine absolute Ausnahmeerscheinung. Bachs Kunst der Fuge ist aus dieser Perspektive im selben Sinne Musik wie Elliott Carters Night Fantasies, Franz Schuberts GDur-Sonate D 894 genauso wie Karlheinz Stockhausens Klavierstücke, Pierre Boulez‘ Troisième sonate oder George Benjamins Shadowlines. Auf die Frage, ob er als Interpret zeitgenössischer Musik einen ,anderen‘ Blick auf das klassische Repertoire habe, antwortete Aimard 2012 im Gespräch mit Cyrill Stoletzky: „Reflektieren, oder besser gesagt interpretieren bedeutet für mich, sowohl der Musik von gestern als auch der von heute zu dienen […].“ Jede Musik fordert demnach letztlich dieselbe Haltung des Interpreten. Dass die Musik der jüngsten Zeit aus seiner Interpretenperspektive nicht grundsätzlich anders ist als jene aus früheren Jahrhunderten, heißt aber nicht, dass es keine Unterschiede gäbe. Dazu, der Musik zu dienen, gehört etwa die Suche nach dem ihr jeweils entsprechenden Klang. Es kann dabei aber nicht einfach um Perfektion gehen. Vielmehr sei es, so Aimard, der Klang, der sich einem Stil, einem Werk annähern müsse: „Zum Beispiel sehr klar und artikuliert bei Bach, singend und intim bei Schubert, farbenreich bei Debussy, explosiv bei Boulez. Wenn das Instrument, seine Stimmung, das Spiel des Pianisten und die Akustik konvergieren und zusammenpassen, gibt es eine Chance, sich seinem Ideal anzunähern.“ Dort allerdings, wo Klangvorstellung und pianistische Darstellungsform erst gefunden werden müssen, wo es ‒ wie insbesondere bei der Musik der jüngsten Zeit ‒ keine oder noch keine Tradition der klanglichen Realisierung gibt, drängt sich für ihn die Zusammenarbeit mit den Komponisten auf, eine Gewohnheit, die ihm aus der Zeit im Ensemble intercontemporain bis heute geblieben ist. Auf diese Weise lasse sich besser erfassen, wo die Schwerpunkte der Interpretation liegen sollten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zwei Komponisten zu nennen, die für Aimard besondere Bedeutung erlangt haben: zum einen Olivier Messiaen, mit dem er seit seiner Studienzeit bei Yvonne Loriod in engem Kontakt stand und für dessen Musik er derzeit als einer der besten Interpreten gilt; und zum anderen György Ligeti, der von seinen pianistischen Fähigkeiten höchst angetan war. In einem Gespräch mit dem Chefkritiker der New York Times, Anthony Tommasini, sagte Ligeti über den Pianisten einmal: „Ich war beeindruckt von seiner guten Technik, dem extrem hohen Niveau seiner Künstlerschaft und unserem gegenseitigen Einverständnis. Ich beschloss, er wäre für mich der beste Pianist, und ich hörte ihn Vorträge halten und Kurse geben über meine Musik, die belegen, dass er sie besser kennt als ich.“ Zwei Stücke aus dem 1988–94 entstandenen zweiten Buch der Klavieretüden sind ihm denn auch gewidmet. Wenn Aimard in seiner Antwort auf die Frage, ob er als Interpret zeitgenössischer Musik einen ,anderen‘ Blick auf das klassische Repertoire habe, darauf beharrt, er sehe nicht, „wie ein gutes Verständnis von Stockhausen dabei helfen könnte, Schumann oder 2 Schubert gut zu spielen“, so heißt das nicht, dass für ihn das eine mit dem anderen nichts zu tun hätte. Seine Antwort ist vielmehr ein weiterer Beleg dafür, dass es von seinem Interpretenstandpunkt aus nur eine Musik gibt. Seine Antwort bedeutet nicht, dass er Wechselwirkungen der verschiedenen historischen musikalischen Welten in Abrede stellen würde, im Gegenteil; sie liegen nur woanders. In dem bereits zitierten Gespräch mit Cyrill Stoletzky kam er an einer Stelle auf den Wandel der eigenen Auffassung im Laufe der Zeit zu sprechen: „Die Werke enthüllen sich im Laufe unserer künstlerischen Entwicklung immer auf andere Art. Wir hinterfragen sie wieder und wieder, und wir entdecken sie immer wieder neu. In dieser Hinsicht enthüllen sie auch uns selbst.“ Ein wichtiges Movens dieses Wandels, dieser Entwicklung der Lesart und der Auffassung, ist zweifellos die wachsende Erfahrung des Interpreten, auch die mit anderer Musik. Das Eine befruchtet das Andere, aber weniger bewusst als vielmehr unbewusst. In seinem Fragment gebliebenen, nachgelassenen Entwurf einer Theorie der musikalischen Reproduktion bemerkt Theodor W. Adorno an einer Stelle zur Frage der Geschichtlichkeit der Lesarten: „Der Gestaltzusammenhang […] zwischen den Noten ist nicht bloß dem Wechsel unterworfen, sondern die Bilder der Noten entspringen überhaupt in der Geschichte. […] Im strengsten Sinn hat ein Beethovenscher Satz vor 100 Jahren anders ausgesehen als heute und eben darum auch anders geklungen. Denn was Bild und Zeichen ist am Text, unterliegt selber der historischen Dynamik. […] Immer mehr Bilder werden zu Zeichen, und diese wiederum treten zu immer neuen Bildern zusammen.“ Die Auffassung der Notentexte, ihre Lesart wandelt sich durch neue Erfahrungen, und dabei spielt die zeitgenössische Musik eine eminente Rolle. Aus diesem Grunde ist es auch letztlich unmöglich, so zu spielen wie zu Bachs oder Schumanns Zeiten: Der Interpret bleibt immer ein Interpret seiner Zeit, das heißt von heute, da es ihm unmöglich ist, aus seinem Körper mit all seiner sedimentierten Hörund Bewegungserfahrung auszubrechen; diese lässt sich nicht löschen. Auch wenn er versucht, sich an ein historisches Ideal der Interpretation anzunähern, so bleibt es doch immer sein heutiges Bild von dem, was einmal war. So wird natürlich ein Pianist mit großer Erfahrung in Sachen zeitgenössischer Musik eine Fuge von Bach, ein Klavierkonzert von Mozart oder eine Sonate von Schubert auf einem ganz anderen Hintergrund lesen und umsetzen als ohne diese Erfahrungen. Und dasselbe gilt auch umgekehrt für das Spiel der Werke von Zeitgenossen. Ein aufschlussreicher Beleg für diese gegenseitige Befruchtung ist Aimards Aufnahme der Sonate op. 1 von Alban Berg, welche bei aller strukturellen Luzidität, die sie mit Beethoven und der großen Sonatentradition verbindet, den Farbenreichtum der Musik Debussys anklingen lässt. Versucht man Aimards pianistischen Zugriff zu charakterisieren, so drängt sich insbesondere ein Begriff auf: jener der Geste. Aufbauend auf einer stupenden Virtuosität rückt sein Spiel das Gestische ganz in den Vordergrund. Es ist diese musikalische Geste, die aus einer bloßen Abfolge von Klängen eine unmittelbar auffassbare Einheit macht. Und hier dürfte ein Aspekt dessen liegen, was Ligeti in dem zitierten Gespräch mit Tommasini an der Künstlerschaft Aimards hervorgehoben hat. Er besitzt eine außerordentlich Fähigkeit, einerseits Musik hinsichtlich dessen, was gleichzeitig sich vollzieht, als eine Art geschichteten Raum darzustellen. Andererseits vermag er, uns ein Stück als ein Ganzes vor Ohren zu führen wie ein Objekt, das er uns zeigt, bei dem zu Beginn schon das Ende ‒ das heißt, wohin es geht ‒ präsent zu sein scheint und selbst ganz am Schluss noch der Anfang. In beiden Fällen ist das Einzelne konzeptuell in einem Ganzen aufgehoben und wird in seiner Rolle, die es in diesem 3 spielt, unmittelbar verständlich. Beispiele dafür wären etwa, um nur wenige zu nennen: Aimards Live-Aufnahme der Appassionata op. 57 von Ludwig van Beethoven, in der ‒ ganz im Sinne der oben zitierten Bemerkung Adornos ‒ das Werk und seine einzelnen Sätze in all ihrer Komplexität und Prozessualität sich als ein Ganzes, als ein scharf konturiertes ,Bild‘ abzeichnen. Oder: seine Aufnahme der Légende no. 2: „Saint François de Paule marchant sur les flots“ (vor 1863) von Franz Liszt, in der sich der Gang des Heiligen vor einem wildbewegten Klanghintergrund in all seiner Unbeirrbarkeit vollzieht. Oder: Claude Debussys Reflets dans l‘eau, das erste Stück aus der ersten Folge der Images (1905), wo sich auf unterschiedlich bewegter Klangoberfläche schnell wechselnd flüchtige Figuren deutlich abzeichnen. Oder: Aimards Interpretation des elften Blicks aus den Vingt regards sur l’enfant Jésus (1942‒43) von Olivier Messiaen, betitelt Première communion de la Vierge. Hier stellt sich beim Hören der Eindruck nicht eines Prozesses ein, sondern der einer tönenden Architektur, an der wir uns mit unseren Ohren entlangbewegen. So treten gleich zu Beginn die extrem kontrastierenden Sphären des akkordischen Gottes-Themas der linken Hand, die flirrenden Figuren der rechten Hand in höchster Lage und die an den letzten Akkord des Themas anschließenden Achtelketten in der Lage dazwischen als klar voneinander unterschiedene Ebenen in Erscheinung. Die Form des Ganzen stellt sich, dem Titel des Zyklus durchaus entsprechend, als Abfolge von ,Ansichten‘ dar. Oder schließlich: György Ligetis Entrelacs betiteltes zwölftes Stück aus dem zweiten Buch der Études (1988‒94). Aimard ‒ dem Widmungsträger des Stücks ‒ gelingt es hier, die nach und nach sich entfaltende rhythmische Vielschichtigkeit in unerhörter Klarheit uns vor Ohren zu führen wie die Schichtungen einer geologischen Formation. Aimards umfassende Perspektive auf die Musik, der das jüngst Entstandene ebenso selbstverständlich ist wie die Musik der vergangenen Jahrhunderte, zeigt sich auch in seiner Programmgestaltung, sei es als künstlerischer Direktor des Aldeborough Festival (2009‒16), sei es in den eigenen Konzertprogrammen. Sie konfrontieren nicht selten Werke aus weit auseinanderliegenden Epochen miteinander und bringen sie damit wechselseitig zum Sprechen. Ein Musterbeispiel dafür ist das auch auf CD dokumentierte Programm seines Debuts in der Carnegie-Hall in New York 2001. Dieses Programm war eine Antwort auf die Frage, wie sich ‒ so der Künstler selbst zu seinen Absichten ‒ „ein breites Spektrum des Repertoires, natürlich unter Einschluss der Musik von heute, und mit Schaffung von komponierten Beziehungen zwischen den Werken“ miteinander verbinden lasse ‒ man beachte die Hervorhebung der „Musik von heute“. Dies brachte ihn dazu Alban Bergs Sonate op. 1 mit Beethovens Appassionata zu konfrontieren und diese beiden Meilensteine der Klavierliteratur verschiedenen Stücken mit visuellen Bezügen aus unterschiedlichen Epochen gegenüberzustellen. Dabei ergeben sich verblüffende Entsprechungen auf struktureller ebenso wie auf klanglicher Ebene, etwa zwischen Debussy und Ligeti. Der weite Horizont, die stupende Virtuosität und vielleicht noch mehr seine gestalterische Kraft haben Pierre-Laurent Aimard auch zu einem gefragten Lehrer werden lassen, der sein Können und Wissen am Conservatoire national supérieur de musique in Paris und an der Musikhochschule Köln sowie auf zahlreichen Meisterkursen 4 gerne vermittelt. In diesen Zusammenhang reiht sich auch seine Begeisterung und sein Engagement für das interaktive Internetprojekt des Klavier-Festival Ruhr Explore the Score ein, das es gestattet, ihn als Interpret und Kommentator der Klavieretüden Ligetis zu erleben. 5