KASPAR HAUSER MEER von Felicia Zeller Produktion Théâtre d’Esch Spielzeit 2011-2012 "Sämtliches Gepäck verbleibt im Basis-Camp.“ Was ich bei der Dramatikerin Felicia Zeller so faszinierend finde, ist, dass sie ein absolutes Gespür hat, was in der Gesellschaft gerade läuft, was uns jetzt gerade umtreibt. Sie hat ein exzellentes Ohr für Alltagsdialoge, montiert sie aber so kunstvoll und so spannend, dass daraus eine sehr artistische Partitur wird. Die Sprache von Kaspar Häuser Meer ist sehr aufregend und ich empfinde eine grosse Musikalität in der Struktur des Textes, der tatsächlich wie eine Partitur wirkt, in der sich die verschiedenen Sätze miteinander verbinden, übereinander gleiten, wiederholen, variiert werden. Ich muss dabei immer an Bachs Goldberg-Variationen denken, in denen es auch um diese Polyphonie geht: Es hat schon irgendetwas angefangen, dann lagert sich etwas anderes darüber, dann kommt eine dritte Sache dazu, dann hört die zweite auf , die erste kommt nochmal hoch... Das ist für mich das Spezifische der Autorin. Das Auge, sagt man ja immer, ist ein Täuschungsorgan ( wir können mit dem Auge sehr schnell in viele Fallen tappen ), während das Ohr das verlässlichere Wahrnehmungsorgan ist. Deshalb ist es mir auch wichtig auf der Bühne keine großen visuellen Reize zu inszenieren oder allzu sehr auf imposante schauspielerische Aktionen zu setzen. Es gibt Sprache und es gibt Worte. Unser Ohr wird in diesem Fall mal im besten Sinne mit Worten bombardiert. Dadurch entsteht bei den Schauspielern ein hohes Sprechtempo, so dass man als Zuschauer dem Gesagten fast hinterher rennt und sich nicht gemütlich zurücklehnen und den Text an sich vorbeiplätschern lassen kann. Das Stück ähnelt auch einem vielstimmigen Oratorium. Es gibt nicht nur diese drei Sozialarbeiterinnen, die reden, sondern in ihr Sprechen dringen auch Sätze von aussen herein, von ihren Klienten oder der Gesellschaft, die sie angreifen und kritisieren und gegen die sie sich permanent zur Wehr setzen müssen. Man hat als Zuschauer — und das hat auch mit unserer Bühnenlösung zu tun — das Gefühl, dass man in diesem Kreis, dass man in dieser Mischmaschine, die alle durcheinanderwirbelt, mitten drin ist. Das Stück hat eine enorme Wucht und entwickelt im Verlauf seines Fortgangs eine sehr starke Energie, der man sich nicht entziehen kann wenn man intensiv zuhört. Marion Poppenborg, 21. Januar 2012 Aufgezeichnet von Olivier Ortolani "Ich wollte doch nicht nicht helfen!" Scheitern beschreibt hier nicht einen Skandal, sondern ist auszuhaltender Teil der Arbeit. Helfen mit Risiko. Felicia Zeller Sprachmusik aus der Wirklichkeit von Hartmut Krug (…) Nie besser scheitern Womit wir auch bei „Kaspar Häuser Meer“ sind. Weil dessen Thema laut Autorin „der Eindruck von Bewegungslosigkeit und scheinbarer Untätigkeit bei gleichzeitig ständig anstehender, inflationärer Tätigkeit“ ist, also ein allgemeines gesellschaftliches Gefühl und das Klima der meisten Stücke von Felicia Zeller beschreibt. Scheitern, immer wieder scheitern, aber nie besser scheitern, das ist das Thema. Helfen sollen und auch wollen, aber immer zu spät kommen, oder manchmal auch nicht so handeln wollen, wie es die Klienten wünschen — das dringt in die Sprechakte ein und lässt die Sätze unvollendet. (…) Ausgehend vom ‚Fall Kevin‘, einem zweijährigen Jungen, der trotz Beobachtung durch das Jugendamt tot im Kühlschrank seines Ziehvaters landete, sollte ein Stück um Kindesmisshandlung und Probleme von Sozialarbeit entstehen. Das hätte gruselig und pathetisch werden können, wenn Felicia Zeller Kindesleid und das Handeln der Täter gezeigt und angeprangert hätte. Man wäre unheimlich folgenlos betroffen und emotional aufgerührt und angeregt gewesen. Ein Geniestreich der Autorin aber war es, nicht die Opfer und nicht die Gewalttäter zu zeigen, sondern ihre Begleiter und Betreuer, — also die Gesellschaft und ihr Klima. Handeln im „Björnout“-Zustand Zeller hat sich umgehört und hat recherchiert in der Sozialarbeiterszene und dann ein Szenarium allgemeiner Überforderung entworfen. Zeller zeigt das Nichthandeln und das Handeln im (nach einem krankgeschriebenen Kollegen bezeichneten) sogenannten „Björnout“-Zustand. Es ist eine abgeschlossene, eigene Arbeitswelt, in die die Sprache ihrer als prollig abqualifizierten Klienten, dieser „paranoiden Querulanten“, wie aus Feindesland und wie aus einer rotierenden Parallelwelt herüber klingt. Zellers drei Sozialarbeiterinnen besitzen durchaus individuelle Eigenschaften, Biographien und Haltungen, doch ihr der Wirklichkeit abgelauschter, zugleich fiktiv überhöhter Sound dröhnt wie von einer fertigen Schallplatte des Lebens. Er wirkt weder authentisch noch dokumentarisch, und von den sogenannten „Experten des Alltags“, die die Casting-Theatergruppe Rimini Protokoll gern auf die Bühne holt, trennt diese Sozialarbeiterinnen ihre „realistische Künstlichkeit“ — um zu versuchen, einen eigenen Begriff zu setzen gegen die oft zitierte Formulierung der Autorin, ihre Stücke seien „an der fiesen Kante zum Realismus, aber nicht realistisch“. Wer mit „Kaspar Häuser Meer“ Probleme hat, weil er nicht entscheiden mag, ob er es realistisch nennen kann, hat dem Stück nicht zugehört. Authentisch ist Theater nie, und selbst die Wirklichkeit ist es nur selten. Felicia Zeller untersucht und beschreibt Wirklichkeit in ihrer Spracherscheinung und Sprechform, sie ist eine Sammlerin und Monteurin von zu Sprache geronnenen Realitätspartikeln in Amtssprache, Therapiesprache, Klientensprache usw. usf. (…) Wortschwalltexte auf Highspeed Zellers Stücke sind immer anstrengend, manchmal sogar eine Zumutung, aber sie bieten dem Lesepublikum Arbeit, Unterhaltung und grotesken Witz. In dieser Reihenfolge, — für das Zuschau-Publikum ist die Reihenfolge im Idealfall umgekehrt. Immer aber gibt die Autorin dem Hörer und Zuschauer die Möglichkeit, durch die Sprachoberfläche hinein ins Innere der Stückfiguren, aber auch in sein eigenes Innere zu schauen. Es geht auch um uns, das muss nicht extra betont werden in den Zellerschen Stücken. Deren Sprache stets selbst etwas preisgibt, von sich, von den Sprechenden, vom Besprochenen, von Denkstrukturen, und die zur Sprachmusik wird, ohne dass die Autorin Position bezieht, zu beziehen wagt oder beziehen müsste. In ihren Wortschwalltexten stoßen abgebrochene gegen unfertige neue Sätze, sie verhaken sich, hakeln miteinander, und unentwegt stellen sich Zitate aufrecht in den Weg. „Die Damen rotieren von Anfang an. Die Sprechgeschwindigkeit ist schneller als normal“, befiehlt die Autorin in ihren als Anmerkungen getarnten Regieanweisungen und untertreibt mit diesem Satz mächtig. Denn ihre Texte sind immer voll auf Highspeed. Ob die drei wirklich miteinander und zueinander sprechen, weiß ich nicht genau. Dass sie Einzelkämpfer sind, die einen körperlichen Abstand voneinander einhalten müssen, hätte die Autorin nicht extra in ihre Regieanweisungen aufzunehmen brauchen. Denn diese Menschen sind sich so nah, dass sie sich nicht berühren dürfen und können. Auszug aus der Laudatio von Hartmut Krug, gehalten am 8. Juni 2008 in Mühlheim an der Ruhr. "Ich hab das Kind schon lang nicht mehr im Ganzen gesehen..." "Man muss versuchen, seine Wut mit Worten zu besetzen und für das Unaussprechliche eine Sprache zu finden." BIOGRAPHIE FELICIA ZELLER Felicia Zeller wurde 1970 in Stuttgart geboren. Nach Aufenthalten in London, Giessen und Australien, lebt sie zur Zeit in Berlin-Neukölln. 1990 entsteht ihr erstes Theaterstück Meine Mutter war einundsiebzig und die Spätzle waren im Feuer in Haft. 1993 Baden-Württembergischer Jugendtheaterpreis für immer einen hund gehabt/plane crazy. 1996 schreibt sie ein Libretto für ihren Bruder, den Komponisten Fedrik Zeller Vom Heinrich Hödel und seiner nassen Hand, das im Theaterhaus Stuttgart uraufgeführt wird. 1999/2000 Hausautorin am teater rampe, Stuttgart. Beginn der Recherchenarbeiten zu Bier für Frauen. 2001 Einladung zu den Autorentheatertagen am Thalia Theater Hamburg. Club der Enttäuschten, eine Arbeitsbeschaffungsmassnahme für das Stadttheater Konstanz. 2002 Auftragswerk für das Theaterhaus Jena: Triumph der Provinz. 2003 Zwei Videobriefe, ein Kurzfilm. 2004 Wir aus Baden-Württemberg, ein Kurzfilm mit Rigoletti M. 2005 Einfach nur Erfolg für das Theater Freiburg. 2006 entsteht Der Ordner, ein Dokumentar-Experimentalfilm und Papparazzi-Stipendiatin in der Lernwerkstatt des Maxim Gorki Theaters, Berlin. 2008 Publikumspreis der Mühlheimer Theatertage für Kaspar Häuser Meer. 2010 Auftragswerk für das Saarländische Staatstheater Der grosse Blöff/ Entfernte Kusinen und Uraufführung von Gespräche mit Astronauten am Nationaltheater Mannheim. 2011 wird Gespräche mit Astronauten für den Mühlheimer Dramatikerpreis nominiert und kommt als Schweizer Erstaufführung am Theater BielSolothurn heraus. "O manchmal hat die Arbeit in der Verwaltung einfach nichts mit dem wahren Leben!" Biographien der Schauspielerinnen Nora Koenig (Sylvia) arbeitet seit 2003 als freischaffende Schauspielerin an deutschen und luxemburgischen Theaterhäusern und Filmproduktionen. Diese Spielzeit ist sie am Escher Theater und am Kasemattentheater zu sehen. Im April wird der Film Symetrie vum Päperleck erscheinen. „Ich wollte doch nicht nicht helfen“, „... die Andern haben doch auch nichts bemerkt“ solche Sätze zeichnen meine Figur in diesem Stück aus. Silvia gibt uns in diesem Stück einen Einblick in die tiefsten Abgründe eines Menschen der zwar helfen wollte aber am Ende seiner Kräfte ist und man als Zuschauer sich die Frage stellen muss welchen Beitrag jeder Einzelne von uns in dieser Gesellschaft leisten sollte u. könne. Ilona Christina Schulz (Barbara) hat Gesang und Schauspiel an den Staatlichen Hochschulen Mannheim und Stuttgart studiert. Ihre Theaterengagements führten sie vor allem ans Nationaltheater Mannheim, Pfalztheater Kaiserslautern und die Staatstheater Karlsruhe und Braunschweig. Mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Konzertprogramm tritt sie auf vielen Bühnen Deutschlands auf. „Mit Kaspar Häuser Meer gastiere ich zum zweiten Mal im Escher Theater. Das Stück finde ich grossartig. Wenn nur der viele Text nicht wäre. Was mir besonders an der Rolle der Barbara gefällt, ist ihre Widersprüchlichkeit und ihr trockener Humor.“ Jeanne Werner (Anika) ist 1985 in Luxemburg geboren. Nach ihrem Abitur ist sie in die Schweiz gezogen, um dort ihre Schauspielausbildung an der Zürcher Hochschule der Künste zu machen. Seit ihrem Abschluss 2011 ist sie als Schauspielerin, sowohl in Luxemburg als auch in Zürich tätig. © Ulli Kremer „Ich finde das Stück alles andere als einfach und sprachlich sehr anspruchsvoll. Was mir jedoch gefällt, ist der Witz und die Komik, die trotz des ernsten Themas in manchen Passagen zu finden sind. Meine Figur ist die Unerfahrenste der Dreien und will alles unbedingt richtig machen. Dadurch gerät ihr alles aus dem Ruder. Das berührt mich am meisten an ihr.“ Von links nach rechts: Ilona Christina Schulz, Nora Koenig, Jeanne Werner Fotonachweis: Joe Rainaldi S.2, Hans Bellmer, S.3, Diane Arbus, S.6, Ulli Kremer, S.8 Impressum: Théâtre d‘Esch, 11 rue Pasteur, L- 4276 Esch-sur-Alzette Tél. + 352 54 73 83 481 Layout & Druck: Imprimerie REKA, Ehlerange KASPAR HAUSER MEER von Felicia Zeller Mit: Nora Koenig, Ilona Schulz, Jeanne Werner Regie - Marion Poppenborg, Bühne - Christoph Rasche, Kostüme - Ulli Kremer, Dramaturgie - Olivier Ortolani, Regieassistenz - Esther Fischer Technik: Hans-Josef Fusenig, Daniel Battibugli, Laurent Brandenburger, Mirko Soisson, Stefan Slotta, Romina Back, Marc Daman, Laurent Kohn, Claude Hermes, Daniel Quiring, Carlo Lerario. Aufführungsrechte: Henschel Verlag, Berlin Aufführungen am 10.02, 11.02, 14.02 um 20Uhr und am 12.02 um 17Uhr