Auszug 2 - Susannah Haberfeld

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Die Kirchenoper
2. Musikhistorischer Hintergrund
Was ist eine Kirchenoper? In Zürichs grösstem Musikgeschäft schüttelt der Verkäufer den
Kopf: Nein, zu diesem Thema falle ihm nichts ein, da könne er nicht weiterhelfen. Auch
andere Musikkenner sind ratlos. Kirchenoper? – Die Frage provoziert erstaunte Blicke.
«Vielleicht Oratorien?» «Nein, Kirchenoper.» «Sorry!»
Der Begriff Kirchenoper ist kaum bekannt. In wichtigen musikwissenschaftlichen
Nachschlagewerken 1 sucht man den Begriff vergebens. Im «New Grove Dictionary of
Opera»2 gibt es einen Eintrag zu «Sarcred Opera». Der Begriff werde sehr unterschiedlich
benutzt, schreiben hier Graham Dixon und Richard Taruskin. Der Themenbereich, sehr weit
definiert, umfasst sowohl [musik]dramatische Werke, die für einen religiösen Kontext
geschrieben wurden als auch «Opern mit sakralen oder religiösen Konnotationen» oder auch
nur mit «moralischen oder spirituellen Aussagen». Als Beispiele für das 17. Jahrhundert
werden etwa Emilio de Cavalieri oder Giulio Rospigliosi aufgeführt, Künstler, deren Werke
andernorts als Oratorien oder Melodramen beschrieben werden. Spätere Beispiele sind
Mozarts «Zauberflöte», Rossinis «Mosè in Egitto», Donizettis «Maria Stuarda», Verdis
«Nabucco», oder von Wagner «Tannhäuser», «Lohengrin», «Parsifal» und selbst «Die
Meistersinger», weil es darin eine Szene gibt, die in der Kirche spielt.
Kein Musikkenner wird übersehen, dass biblische Themen und Motive in zahlreichen Opern
vorkommen. «Salome» (1905) von Richard Strauss wäre in diesem Zusammenhang zu
nennen, «Samson et Dalila» (1877) von Camille Saint-Saëns, «Dialogues des Carmélites«
(1957) von Francis Poulenc oder «Saint François d’Assise» (1983) von Olivier Messiaen. Die
Geschichte der Judith wurde – von Alessandro Scarlatti (1695) bis Arthur Honegger (1925)
oder Katarina Livljanic (2010)– von vielen Komponisten vertont, Carlisle Floyd beschäftigte
sich mit der Figur der «Susannah» (1955), von Hindemith gibt es das Werk «Sancta Susanna»
(1921). All diese Werke sind religiös inspiriert, man wird sie aber trotzdem nicht der
Kirchenmusik zurechnen wollen, denn sie wurden nicht für religiöse Anlässe, nicht spezifisch
für die Aufführung in der Kirche komponiert. Als Beispiele für «Sacred operas» im 20.
Jahrhundert nennen die Autoren des «New Grove» aber etwa auch «The Rape of Lucretia»
(1946) von Benjamin Britten, von Gustav Holst «Savitri» (1908) oder von Arnold Schönberg
«Moses und Aaron» (1932).
Was ist eine Kirchenoper? Die wohl einfachste Definition beschreibt Kirchenoper als
Musiktheaterstück, das auf einen biblischen Stoff beruht und bereits bei der Komposition als
1
Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart – Allgemeine Enzyklopädie der
Musik. 2. neubearb. Auflage, Kassel 1994ff. 29 Bände.
2
Sadie, Stanley (Ed.): The New Grove Dictionary of Opera. London 1992. 4 Bde.
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Die Kirchenoper
Aufführungsort eine Kirche ins Auge fasst. So eingegrenzt erscheinen einem die «Church
Parables» von Benjamin Britten als Prototypen des Genres, die Kirchenoper zeigt sich hier als
etwas genuin modernes.
Einer gängigen Ansicht zufolge, ist der Ursprung der Kunst im religiösen Kult zu suchen.
«Zahlreiche Autoren», seien der Ansicht, dass alle Bereiche der Kultur in der Religion
wurzeln, schreibt Volkhart Krech und verweist etwa auf den Historiker Jacob Burkhart oder
auf die Soziologen Emile Durkheim und Max Weber. Die Beziehung zwischen Kunst und
Religion sei die «denkbar intimste», wird Weber zitiert3.
Noch im Mittelalter war Musik zu einem grossen Teil Kirchenmusik. Biblische Themen,
kirchliche Würdenträger als Auftraggeber und Sakralbauten als Aufführungsort prägten das
Musikschaffen. Vor dem Hintergrund dieser Tradition hebt sich die Oper ab; mit der
Entwicklung dieser musikalischen Gattung geschieht zu Beginn der Neuzeit ein Bruch. Jetzt
erfreuen weltliche, gerne auch heidnische Themen ein Publikum, das an Fürstenhöfen und
bald auch in städtischen Theatern zusammenkommt, um unterhalten zu werden. Die älteste
Oper, deren Partitur erhalten geblieben ist – «L’Orfeo» von Claudio Monteverdi –. wurde
1607 am Palast des Herzogs von Mantua aufgeführt und behandelt ein Thema aus der
griechischen Mythologie.
Die künstlerischen Ausdrucksmittel der Oper werden anfänglich auch von kirchlichen
Kreisen geschätzt. Die Jesuiten beispielsweise sehen in der neuen Form eine Möglichkeit, im
Rahmen der Gegenreformation für die Positionen der katholischen Kirche zu werben. Bei
diesen Vorführungen soll es immer wieder zu Spontanbekehrungen gekommen sein. Bis zur
Aufhebung dieses Ordens 1773 sollen für das sogenannte «Jesuiten-Theater» mehrere
Tausend Werke geschrieben worden sein. Auch mehrere Päpste des 17. Jahrhunderts, allen
voran Clemens IX. – unter seinem bürgerlichen Giulio Rospigliosi auch als Opern-Librettist
bekannt – wussten die Oper zu schätzen. Doch bald begannen Kirchenvertreter die
Opernaufführung zu bekämpfen. In Paris, so berichtet der «New Grove» hätte sich der
Erzbischof die Aufführung einer biblischen Oper von Michel Pignolet de Montéclair verboten,
man habe darin eine «Zweckentfremdung» von religiösen Themen für die Unterhaltung
erblickt. Im selben Jahr bekam in London Georg Friedrich Händel Schwierigkeiten mit den
Autoritäten der Kirche. Er hatte die Geschichte der «Esther» als «religiöse Oper» umgesetzt
3
Volkhard Krech: Die Geburt der Kunst aus dem Geist der Religion. In: Ders. und Richard Faber
(Hrsg.): Kunst und Religion. Studien zur Kultursoziologie und Kulturgeschichte. Würzburg 1999. S.
24ff.
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Die Kirchenoper
und sie in privaten Rahmen aufgeführt. Doch der Bischof von London beanstandete den
Auftritt von biblischen Personen auf der Bühne. So sah sich Händel gezwungen, die Oper in
ein Oratorium umzuarbeiten und auf szenische Elemente zu verzichten4.
Als Händel 1710 nach London kam, musste er zur Kenntnis nehmen, dass sich der
Publikumsgeschmack zunehmend den leichteren, politisch-satirischen englischsprachigen
Werken zuwandte und der Opera Italiana überdrüssig geworden war. Der rauschende Erfolg
von John Gays und Johann Christoph Pepuschs «The Beggar's Opera» (1728) bestätigte
diesen Trend, deshalb wurde nach der Saison 1727/28 die Opernakademie, die Händel
gegründet hatte, aufgelöst. Auch aus ökomischen Gründen begann sich Händel nun für das
Oratorium zu interessieren. 1732 wurden seine beiden englischsprachigen Maskenspiele
«Esther» und «Acis and Galatea» mit Erfolg aufgeführt. Die Saison 1732/33 bestritt er
weitgehend mit der Aufführung von Oratorien. Der Erfolg seiner «Athalia» in Oxford
veranlasste Händel zwar nicht, die italienische Oper aufzugeben, aber er schrieb doch
vermehrt Oratorien. So glaubte er dem breiten Publikum besser gefallen zu können.
Diese Hinwendung zu einem Publikum, das grösser war als der kleine Kreis der Gebildeten
und Adeligen, ist etwas Neues. Dieses Bemühen, der Kunst eine Breitenwirkung zu
verschaffen, prägt englische Komponisten noch heute. Künstler wie Sir Peter Maxwell Davies
oder Jonathan Dove sind stets darauf bedacht Musik zu schreiben, die wenn auch nicht
populär so doch für ein breites Publikum zugänglich ist. Händel zog später in das neu erbaute
Covent Garden Theatre um und führte dieses Opernunternehmen (also die «dritte
Opernakademie») in eigener finanzieller Verantwortung. Wenngleich Händel bis zu seiner
letzten Oper «Deidamia» (1741) noch zahlreiche Versuche unternahm, die Oper
weiterzuentwickeln, so trat doch zunehmend das Oratorium in den Vordergrund seines
Schaffens. In diesem Zusammenhang sind «Saul und Israel in Egypt» (1739) und
«Alexander's Feast or The Power of Music» (1736) zu erwähnen.
Nach 1742 komponierte Händel keine Opern mehr. Stattdessen gab es von 1743 bis 1752 eine
durchgehende Reihe von ein bis zwei neuen Oratorien pro Saison, die meisten davon zu
Themen aus dem Alten Testament. Händel habe, so schreibt die deutschsprachige Wikipedia
in dem Beitrag über den deutsch-britischen Komponisten, aus Elementen der englischen Plays,
des klassischen französischen Dramas, der deutschen Kirchenkantate und der italienischen
Oper «eine neue Form des musikalischen Dramas» geschaffen: Das englische Oratorium.
Dabei sei der Bezug zur Bühne gelockert worden. Hier sollen zwar theatralische Geschichten
4
Sadie, Stanley (Ed.): The New Grove Dictionary of Opera. London 1992. Bd. 4, S. 118f.
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musikalisch vorgetragen werden, jedoch ohne dramatisches Spiel, ohne Masken, Kostüme,
Bühnenbild. D.h. der Zuschauer wird gezwungen, seine Phantasie nur durch die Musik
anregen zu lassen. Dies soll den sinnlichen und ideellen Gehalt des Werkes intensivieren.
Auch übernimmt der Chor eine viel dominantere Rolle als in der Oper, vor allem, da er
meistens die ganze Zeit auf der Bühne präsent ist. Dadurch bekommt er eine ähnliche Rolle
wie im Griechischen Theater, wo der Chor zwei Rollen übernimmt: die des Betrachters und
des Kommentierenden. Händel hatte damals damit einem neuen Publikum die Türe zu dieser
Art von Musik geöffnet. Ursprünglich waren Oratorien für Aufführungen im Theater gedacht,
aber oft wurden sie auch, wegen der Akustik in Kirchen gespielt. Heute ist eine Bewegung
zurück zur Opernbühne zu beobachten. Anstelle eines Kinderchors wie damals, wird hier
meist ein professioneller Opernchor beschäftigt. Natürlich kommt dann erschwerend dazu,
dass der Chor auf der Opernbühne das Werk auswendig singen muss, und nicht wie im
Oratorium üblich, die Noten benützen kann.
Die Beziehung zwischen Kunst und Religion sei «intimst», schrieb Max Weber. Aus dieser
Nähe ergeben sich aber auch Spannungen. Wegen der «unzweifelhaften psychologischen
Verwandtschaft der künstlerischen mit der religiösen Erschütterung» wird aus der Sicht der
Theologen die Kunst «als Kreaturvergötterung, konkurrierende Macht und täuschendes
Blendwerk» verteufelt 5 . In diesem Spannungsfeld wird bald das religiöse Empfinden
ästhetisiert, die Religion als «Kunst ohne Kunstwerk» begriffen, dann bald der Kunstgenuss
sakralisiert, Kunst zur Kunstreligion erhöht. «Ich vergleiche den Genuss der edleren
Kunstwerke dem Gebet», schreibt Wilhelm Heinrich Wackenroder Ende des 18. Jahrhunderts
in den «Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders». Anton Reiser der
Protagonist im gleichnamigen Roman von Karl Philipp Moritz (1785) schwankt hin und her
zwischen Kanzel und Bühne, Predigt und Schauspiel.
«Die Säkularisierung der Religion im Medium der Kunst und die gleichzeitige Sakralisierung
der Kunst» lasse sich in «paradigmatischer Weise» in Robert Musils «Vereinigungsnovellen»
(1911) nachzeichnen, schreibt Marja Rauch 6 . Man könnte Musil aber auch als Zeugen
nehmen für die Aussage, dass sich der Zusammenhang zwischen Religion und Kunst vor dem
Ersten Weltkrieg schon fast verloren hat, den Menschen nur noch als ferne Erinnerung
geblieben ist. Im «Mann ohne Eigenschaften» (1930) wird ein Beamter, der «kleine
Sektionschef» beim Gedanken an seine Frau an Tafelmusik erinnert, «etwas, das er ungemein
liebte». «Aber freilich war [er] auch ganz der Meinung, dass die Loslösung der Musik vom
Essen (oder vom Kirchgang) und das Bestreben, sie für sich zu betreiben, schon eine
5
Max Weber: Zwischenbetrachtung. In: Gesammelt Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, S. 556.
Rauch, Marja: Robert Musil zwischen Säkularisierung der Religion und Sakralisierung der Kunst. In:
Volkhard Krech und Richard Faber (Hrsg.): a.a.O. S. 216.
6
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bürgerliche Aufgeblasenheit sei, wenngleich er wusste, dass man es nicht laut sagen
dürfe ...»7.
Mit den «Church Parables» von Benjamin Britten nähert sich die Oper wieder der Kirche an.
Vielleicht im Bemühen, die Traumata des Zweiten Weltkriegs zu verarbeiten, komponierte
Britten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert verschiedene geistliche Werke. Sein
Beispiel hat viele zeitgenössische Komponisten inspiriert. Es fällt auf, dass insbesondere
englische Komponisten sich für kirchliche Themen stark interessieren und immer neue Wege
suchen, diese musikalisch, lebendig umzusetzen. Neben Britten haben sich hier Peter
Maxwell Davies, Johnathen Harvie, Jonathan Dove und John Tavener hervorgetan.
Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die Kirchenmusik in England auf eine alte
Tradition zurückblickt. Allerdings scheint die Kirche auch hier Mühe zu haben, ihre
Mitglieder an sich zu binden; oft wurden in England in jüngster Vergangenheit Kirchen ihrem
Zweck entfremdet und wurden in Schulen oder Wohnkomplexe umgewandelt.
Was Britten in seinen «Church Parables» zusammen zu bringen versucht, Religion und Musik,
bildete einst ganz selbstverständlich eine Einheit. Ein Prozess der Säkularisierung, der zu
Beginn der Neuzeit, mit der Aufklärung einsetzte, zerstörte diese Einheit. Die Erfindung einer
Kunstreligion konnte die Lücke, die so entstanden ist, nur notdürftig füllen.
Diese Lücke lässt den Menschen auch heute noch keine Ruhe. Kunst ohne Religion, Religion
ohne Kunst scheint zu wenig zu sein. Es häufen sich neuerdings musikalische
Veranstaltungen, die sich um das Spirituelle bemühen. Erstmals begannen 2012 die
Salzburger Festspiele mit einer «Ouverture spirituelle». Auf dem Spielplan stand, neben
Meisterwerken europäischer Sakralmusik z.B. von Hayden oder Mozart, auch jüdische Musik
mit osteuropäischen und altorientalischen Anklängen. «Die neu eingeführte Konzertreihe
‹Ouverture spirituelle› stiess im vergangenen Jahr auf begeistertes Echo», schreiben die
Veranstalter im Programm zu den Salzburger Festspielen 2013. Die Reihe werde deshalb
fortgesetzt. Neben Werken aus der Feder katholischer und protestantischer Komponisten
bildet heuer buddhistische Musik aus Japan einen Schwerpunkt. Das Lucerne Festival stellte
die Sommerfestspiele 2012 unter den Titel «Glaube». Auch hier war die Hinwendung zu
religiösen Themen erfolgreich. Weiter wurde das jährlich wiederkehrende «White Light
Festival» im Lincoln Center in New York, 2009 von Jane Moss gegründet, mit dem
Gedanken, dem Publikum in unserer hektischen Zeit ein Ort der Ruhe, der Einkehr zu
7
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Adolf Frisé (Hrsg.) Robert Musil Gesammelte
Werke, Band I. Reinbeck b. Hamburg 1978. S. 333.
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ermöglichen. Die verschiedensten Musikstile werden dort gepflegt, gemeinsam haben alle,
dass sie zum Hauptthema Spiritualität haben8.
Laut dem Musikkritiker der «New York Times» hat das Salzburger Beispiel in der Welt der
klassischen Musik eine «Welle der Spiritualität» ausgelöst. «Da liegt etwas in der Luft», sagte
im Gespräch der Intendant der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira. Die Musikliebhaber
suchten etwas «jenseits des Rationalismus»9.
«Das Publikum einer Kirchenoper erwartet ein hohes Mass an spiritueller Musik, ein religiös
motiviertes Thema, es bringt allerdings auch eine aussergewöhnliche Bereitschaft zur Stille,
Konzentration und Meditation mit» sagt im persönlichen Gespräch Mascha Pörzgen, die im
Rahmen des Carinthischen Sommer 2009 die Kirchenoper «Ich Hiob» inszeniert hat. So wäre
also das, was die Kirchenoper ausmacht, weniger in der Musik selbst, weniger in der
Komposition, als vielmehr in der Rezeption zu suchen. Johann Sebastian Bach scheute sich
bei der Arbeit an seiner berühmtesten geistlichen Komposition, dem Weihnachts-Oratorium,
nicht, viele Chöre und Arien aus weltlichen Werken zu übernehmen. Der Eingangschor
«Jauchzet, frohlocket» hatte sich auch schon als Glückwunschkantate beim Geburtstag der
Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen bewährt.
Von der «Welle der Spiritualität», die derzeit viele Opernbühnen und Konzertsäle
durchströmt, bleiben viele Kirchen unberührt. In Florenz, in der Kirche San Miniato al Monte
singen jeden Abend um 18 Uhr die vier dort noch lebenden Benediktiner-Mönche ihr
Abendgebet in Gregorianischen Gesängen. Sie werden dabei von professionellen Sängern
unterstützt. Meist bleiben die Sänger unter sich, nur selten verirren sich einige Touristen in
das wunderschön oberhalb der Stadt gelegene Gotteshaus. Andererseits stossen die im
Rahmen des Origen-Festivals organisierten gregorianischen Gesänge auf ein überaus grosses
Publikumsinteresse. Die Laudes um 5 Uhr 30 morgens in einer abgelegenen Bergkirche ist
immer ausverkauft.
Fast scheint es, also ob Mönchsgesang heute in jeder Form, nur nicht als Gesang von
Mönchen, mit dem Zuspruch der Massen rechnen können. 1990 dominierte eine Band namens
Enigma weltweit die Hitparaden mit einer Form von New-Age-Pop, die Gregorianik mit
Erotik, Chorgesang mit Synthesizerklängen kombinierte. In dem Nummer-1-Hit «Sadeness»
werden von Männern gesungene lateinische Gebete gemischt mit den von einer jungen Frau
hingehauchten Fragen an einen gewissen «Sade». Die Platte verkaufte sich weltweit mehr al
20 Millionen Mal. Dieses Geschäftsmodell funktioniert auch heute noch: Inspiriert von Erfolg
8
9
. Smith, Steve: Matters of Spirit In a World Of Hectic Clamor, In: «New York Times», 21.10.2010.
Oestreich, James: A New Faith in Classical music. In: «New York Times», 25.7.2012.)
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Enigmas bedient «Gregorian» seit rund 15 Jahren das Feld des Gregorianik-pop. Diese
«Masters of Chants», von einem deutschen Musikproduzenten gegründet mit Sängern vor
allem aus Grossbritannien, haben seit 1999 mehr als ein Dutzend Platten in Millionenauflagen
verkauft.
«Bibel für die Bühne – das interessiert derzeit die Regisseure» schrieb Katja Baigger am 25.
Februar 2013 in der «Neuen Züricher Zeitung» im Zusammenhang mit der die Uraufführung
des Musicals «Moses – die zehn Gebote», das als Rockoratorium im Auftrag der
Evangelischen Kirche in Deutschland vom Librettisten Michael Kunze und vom
Popkomponisten Dieter Falk geschrieben worden war. Am Theater St. Gallen wird daraus ein
Musical. Das Schauspielhaus Zürich zeigte am 14. September 2012 die Premiere von
«Genesis – Die Bibel, Teil 1». In dieser fünfstündigen Aufführung wurde das 1. Buch der
Bibel vom Theaterregisseur Stefan Bachmann ungekürzt auf die Bühne gebracht. Der Abend
war ein Erfolg und war immer ausverkauft.
Es kommt einem so vor, wenn man die vorstehende historische Skizze überblickt, als ob sich
Religion und Musik, seit sie sich zu Beginn der Neuzeit verloren haben, immer wieder
gesucht und immer wieder verfehlt haben. Einmal sperren Theologen eine Musik, die sie als
zu weltlich erachten, aus der Kirche aus, dann wiederum weigern sich die Musiker, ihre
Kunst in den Dienst der Kirche zu stellen. Dieser Konflikt wird auch in Opern thematisiert:
sowohl in «Palestrina» (1917) von Hans Pfitzner als auch in «Taverner» (1972) von Peter
Maxwell Davies wird ein Komponist portraitiert, der hin und her gerissen zwischen den
Ansprüchen von Kunst und Kirche seine Eigenständigkeit als schöpferischer Mensch zu
bewahren sucht.
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