Technische Universität Dortmund, Sommersemester 2008 Institut für Philosophie, C. Beisbart Kant, Kritik der reinen Vernunft Antworten auf die Vorbereitungsfragen zum 6.5.2008 Textgrundlage: Transzendentale Ästhetik, Zweiter Abschnitt, B46 – B73 (MeinerAusgabe: 106–127). Hervorhebungen in Zitaten geben nicht die Unterschiede zwischen A- und B-Auflage wieder, sondern Hervorhebungen von Kant. Im Zweifel folgen wir der B-Auflage. 1. Welche synthetische Erkenntnis a priori wird nach Kant durch die Anschauungsform der Zeit möglich? Kant behandelt die Möglichkeit von synthetischer Erkenntnis a priori durch die Anschauungsform der Zeit an mehreren Stellen. In der metaphysischen Erörterung der Zeit findet sich ein Punkt (3, A31/B47), der sachlich eigentlich einer transzendentalen Erörterung zugehört (so Kant selber auf S. B48). Kant nennt dort folgende Erkenntnisse, die allein durch die apriorische Anschauungsform der Zeit möglich seien: 1. Die Zeit hat nur Eine Dimension“ (A31/B47). ” 2. Unterschiedliche Zeiten (Zeitpunkte) folgen aufeinander und sind niemals zugleich. Außerdem sagt Kant in der metaphysischen Erörterung, dass die Zeit unendlich ist. Auch dies ist vielleicht im Sinne eines synthetischen Urteils a priori zu verstehen, das durch die Anschauungsform der Zeit möglich wird. In der transzendentalen Erörterung der Zeit in der B-Auflage sagt Kant zusätzlich, synthetische Erkenntnis a priori in der Bewegungslehre sei nur durch die Anschauungsform der Zeit möglich (B48–49). Denn nur mithilfe des Begriffs der Zeit ließe sich Veränderung denken. Veränderung heiße nämlich im Beispiel, dass ein Apfel nicht rot und – später – rot sei. Wenn wir in dem Satz das später“ streichen, dann entsteht ” ein Widerspruch – ein Apfel kann nicht rot und nicht rot zugleich sein. Nur die zeitliche Bestimmung später“ erlaubt es uns, an dieser Stelle einen Widerspruch zu ver” meiden. Weil der Begriff der Zeit dem Begriff der Veränderung zugrundeliegt und der Veränderungsbegriff zu den Grundbegriffen der Bewegungslehre gehört – Bewegung ist eine Form von Veränderung – ist der Zeitbegriff für die Bewegungslehre fundamental. Allerdings erklärt uns Kant nicht im Detail, welche synthetische Erkenntnis a priori in der Bewegungslehre überhaupt gewonnen wird. An anderen Stellen verbindet Kant die Zeit mit der Arithmetik. 2. Seine Position zur Zeit kennzeichnet Kant, indem er der Zeit empirische Rea” lität“ und transzendentale Idealität“ zuspricht (A35–36/B52; Ähnliches gilt für ” den Raum, A28/B44). Was meint Kant damit? Dass die Zeit empirische Realität hat, bedeutet nach Kant, dass die Zeit objektiv gültig in Bezug auf alle Gegenstände unserer Sinneswahrnehmung ist (A35/B52). Das wiederum bedeutet nun wohl – so viel lässt sich aus dem Kontext erschließen –, dass folgende Aussage objektiv wahr ist: alle Dinge, als Erscheinungen [...], sind in der Zeit“ (ib.). ” Die transzendentale Idealität der Zeit bezeichnet hingegen folgenden Zusammenhang: Wenn man von allen subjektiven Beiträgen, den unsere Erkenntnisfähigkeiten, insbesondere die Sinnlichkeit, zur Erkenntnis liefern, absieht, dann bleibt nichts von der Zeit. Den Dingen an sich (s.u.) können wir nach Kant keine zeitlichen Relationen zuschreiben – wir können nicht annehmen, dass sie in der Zeit sind oder dass zeitliche Relationen 1 zwischen ihnen bestehen. Die Bezeichnung Idealismus“ soll dabei andeuten, dass nach ” Kant der Zeitbegriff von unseren Vorstellungen (lat. idea=Vorstellung) oder allgemeiner vom Subjekt, das Vorstellungen hat, abhängig ist. 3. Nach Kant ist die Zeit Form des inneren Sinnes“ und nicht des äußeren Sinns ” (A33/B59). Kant folgert daraus, dass man sich die Zeit mit räumlichen Begriffen letztlich nicht verständlich machen kann. Wie versuchen wir nach Kant dennoch, die Zeit durch eine räumliche Darstellung zu begreifen, und woran scheitert diese Darstellung letztlich? Nach Kant stellt man die Zeit u.a. wegen ihrer Eindimensionalität (A33/B50) und ihrer Unendlichkeit (A32/B47 f.) gerne durch eine Gerade dar. Allerdings ist diese Darstellung insofern nicht vollkommen, als unterschiedliche Teile der Gerade zugleich sind, unterschiedliche Zeiten (Zeitpunkte) aber nicht (A33/B50). Der räumlichen Darstellung der Zeit sind damit Grenzen gesetzt. 4. Sachlich sind die Ausführungen von Kant zu Raum und Zeit fast vollkommen analog – Raum ist die Form des äußeren Sinns, Zeit die Form des inneren Sinns. Allerdings gibt es einen Punkt, an dem Kant eine Aussage zur Zeit trifft, die sich nicht auf den Raum übertragen läßt. Benennen Sie diesen Punkt und fassen Sie kurz zusammen, was Kant hier sagt. Eine Disanalogie zwischen Raum und Zeit spiegelt sich im Text insofern wider, als der Abschnitt Schlüsse aus diesen Begriffen [in Bezug auf die Zeit]“ (A32/B49) nicht ” ganz analog zu dem entsprechenden Abschnitt Schlüsse aus obigen Begriffen [in Bezug ” auf den Raum]“ (A26/B42) ist – Kant fügt bei der Zeit-Betrachtung eine dritte Folgerung hinzu, die bei der Raum-Betrachtung fehlt. Der Inhalt dieser Folgerung ist dieser: Während der Raum nach Kant nur als Form jener Art von Anschauung fungiert, die sich auf äußere Gegenstände bezieht, ist die Zeit nicht nur die Form der inneren Anschauung, sondern auch wenigstens indirekt die Form der äußeren Anschauung (A34/B50). Damit ist der Zeitbegriff nach Kant umfassender und grundlegender als der Raumbegriff. Kant begründet diese Auffassung wie folgt: Jede meiner Vorstellungen – unabhängig davon, von was sie eine Vorstellung ist – ist meine Vorstellung und daher Teil meines inneren Zustandes (ib.). Mein innerer Zustand ist mir nun aber nach Kant nur unter der Voraussetzung der Anschauungsform der Zeit zugänglich. Daher unterliege auch jede Vorstellung und damit indirekt ihr Gegenstand (jede Erscheinung) der Zeit. Kant folgert daraus, dass alle Erscheinungen in zeitlichen Relationen geordnet sind (A33/B51). 5. In § 7 stellt sich Kant einen Einwand. Wie lautet der Einwand und wie widerlegt Kant den Einwand? Dem Einwand zufolge ist die Zeit wirklich (A37/B53), während Kant die Zeit nur als Anschauungsform gelten lasse. Dass die Zeit wirklich ist, wird dabei wie folgt erschlossen: Prämisse 1: Veränderungen sind wirklich; Prämisse 2: Veränderungen können nur in der Zeit statthaben. Konklusion: Die Zeit ist wirklich (A36–37/B53). Dieser Einwand wird Kant zufolge auch von Leuten erhoben, die mit Kant der Überzeugung sind, der Raum bestehe nicht wirklich (A38/B54–55). Diesen Leuten zufolge besteht eine weitere Disanalogie zwischen Raum und Zeit. Kant erklärt, wie man zu der Überzeugung dieser Disanalogie kommen kann. Wir alle haben Vorstellungen. Einige dieser Vorstellungen sind Vorstellungen von äußeren Dingen – wir denken uns den Gegenstand der Vorstellungen als außer uns. Nun lässt sich aber schwer beweisen, dass die genannten Vorstellungen sich wirklich auf Gegenstände beziehen, die außerhalb unserer selbst sind. Außenweltskeptiker leugnen, dass wir wissen können, es gebe eine Außenwelt. Selbst Außenweltskeptiker können aber nicht leugnen, dass sich ihre eigenen 2 Vorstellungen ändern, und die Beobachtung, dass sich die Vorstellungen ändern, setzt die Zeit voraus. Kant erwidert den Einwand, indem er auf seine Unterscheidung (A37–38/B53–54) zwischen empirischer Realität und transzendentaler Idealität verweist. Die Zeit sei im Sinn der empirischen Realität wirklich – wir können keine Erfahrung machen, ohne die Zeit anzunehmen. Daraus folge allerdings nicht die transzendentale oder absolute Realität der Zeit (B37/A54). Um die Wirklichkeit der Zeit zu betonen, sagt Kant auch, die Zeit sei als Anschauungsform wirklich (A37/B54). 6. Kant unterscheidet in der betrachteten Passage zwischen Ding an sich (Ding überhaupt) und Ding als Erscheinung. Erklären Sie die Unterscheidung und erläutern Sie deren Relevanz für die Grenzen der Erkenntnis. Die Unterscheidung von Ding an sich und Ding als Erscheinung findet sich bei Kant etwa auf den Seiten A34–35/B51, wo er Dinge [...] als Gegenstände unserer Sinne“ ” (A34/B51) und Dinge[...] an sich“ (A35/B51) kontrastiert. Mit Dingen an sich oder ” auch Dingen überhaupt meint Kant die Dinge, sofern man von der Sinnlichkeit, mithin ” derjenigen Vorstellungsart, welche uns eigentmlich ist, abstrahiert“ (A35/B51). Erscheinungen sind hingegen die Gegenstände der sinnlichen Anschauung“ (A35/B52). Wenn ” immer wir also von Erscheinungen reden, dann meinen wir das, was uns in der Erfahrung gegenwärtig ist. Wenn wir von Dingen an sich sprechen, dann fassen wir einen Gegenstand nicht als Erfahrungsgegenstand auf. Erscheinungen und Dinge an sich sind wohl nicht als zwei Arten von Gegenständen aufzufassen. Vielmehr kann man nach Kant Gegenstände an sich oder eben nicht an sich betrachten. Es geht bei der Unterscheidung also vermutlich um zwei Betrachtungsweisen (vgl. A38/B55). Für Kant markiert das Ding an sich zunächst insofern eine Erkenntnisgrenze, als die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, die in der Geometrie und in der Bewegungslehre untersucht werden, nicht zwischen Dingen an sich bestehen. Die Geometrie hat es also letztlich mit Gegenständen als bloßen Erscheinungen und nicht als Dingen an sich zu tun (A39/B56). Kant scheint aber auch der Auffassung zu sein, dass das Ding an sich allgemeiner nicht Gegenstand unserer Erfahrung ist. So heißt es bei ihm: Wir haben also sagen wollen: daß alle unsere Anschauung nichts als die ” Vorstellung von Erscheinung sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen“ (A42/B59/116.17–21). Erfahrungswissen bezieht sich also nur auf die Erscheinungen. Über die Dinge an sich können wir nach Kant nichts wissen. Sie markieren damit eine prinzipielle Grenze unseres Wissens. 7. Wie versucht Kant zu zeigen, dass es neben Raum und Zeit nicht noch andere Formen der Anschauung gibt? Die Frage, ob die transzendentale Ästhetik vollständig ist und alle apriorischen Bedingungen von Erkenntnis erfasst, spricht Kant auf S. A41/B58 an (siehe aber auch A29–30/B44–45). Kant begründet seine Auffassung, die transzendentale Ästhetik habe kein apriorisches Element der Sinnlichkeit ausgelassen, indem er sagt, alle anderen Begriffe, die mit der Sinnlichkeit zusammenhingen, enthielten empirisches Material. Kant illustriert dies lediglich anhand zweier allerdings recht grundlegender Begriffe, nämlich des Bewegungs- und des Veränderungsbegriffes. Wir betrachten beispielhaft den Bewegungsbegriff. Bewegung heißt nach Kant, dass sich etwas bewegt. Dieses Etwas muss uns aber empirisch gegeben sein– weder Raum noch Zeit selber bewegen sich. Daher sei der Begriff der Bewegung nicht rein – nicht unabhängig von aller Erfahrung (A41/B58). 3