Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 Dietrich Böhler Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 Metaphysik oder Seinsschau, Kritik oder Rückgang auf das Erkenntnissubjekt, »Kommunikation« oder Rückgang auf die Sinnbasis des Denkens. Diskursbezogene Einleitung in die Philosophie und ihre Entwicklung (2 SWS) Do 14.00-16.00 – Rost-/Silberlaube Habelschwerdterallee 45, HS 2 (Hörsaal) 1 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 2 Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, Ich beginne mit einem Geständnis. Es gibt zwei kleine Schwierigkeiten am Anfang dieser Vorlesung. 1) Terminschwierigkeit: Wer kann absolut nicht Do 14-16 Uhr? Wir müssen uns auf 14 Uhr oder 16 Uhr verständigen, weil es eine Doppelankündigung gegeben hat, die ich sehr bedauere. 2) Hör-Schwierigkeit, weil ich 26. Oktober und 2. November aus gesundheitlichen Gründen nicht werde lesen können. Doch ist diese Situation für Sie als Studenten sehr nutzbringend, weil sie ein Stimulans zum Selbststudium und damit zur Annäherung an Ihr vornehmstes Studienziel ist: Erwerb von Urteilsautonomie und der Kompetenz des autonomen Philosophierens = des Selbstdenkens. Ad 1) Nächste Vorlesung, die ich persönlich halten kann: Do, 9. November vermutlich (siehe Aushang und im Internet: www.hans-jonas-zentrum.de) um 14 Uhr in Hörsaal 2. Ad 2) Was nun Ihren Weg zur philosophischen Denk- und Urteilsautonomie anlangt, soweit sie ihn gleich zu Anfang dieser Vorlesung – man darf sagen glücklicherweise – beschreiten können, so ist folgendes nötig und sehr leicht möglich: Erstens: Sie laden sich den Text für diese sowie für die nächste und übernächste VL von der Website des Hans-Jonas-Zentrums herunter, lesen ihn sorgsam und – ganz wesentlich – notieren grob Ihre Fragen dazu. Zweitens: Sie kommen donnerstags hier in die Vorlesung und verfahren wie folgt: 1) A liest 4-5 Seiten Tilman Lücke. 2) Alle formulieren nach der Lektüre gemeinsam und mit Blick auf Ihre Grobnotizen Fragen an mich. 3) B hält diese Fragen schriftlich als Aide-mémoire (an Böhler) fest. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 4) Dann liest A wieder 5 Seiten etc. 5) Nach der 1. Vorlesung dieses Ihres selbstorganisierten Studienteils - suchen A und B die wichtigsten Fragen (die sich nicht durch einfaches Weiterlesen oder Nachschlagen von selbst beantworten) heraus, - bringen sie in eine sinnvolle Abfolge, - kopieren sie auf eine Overhead-Folie, - und senden sie mir per Fax (030-85961309) nicht vor dem 8. November. 6) Nun nur noch die Frage: Wer macht die/den vorlesenden A und wer die/den protokollierenden B: - am 26. Oktober? - am 2. November? 3 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 4 Vorlesungsbegleiter Die Vorlesung gibt eine Einleitung, d. h. systematische Grundlegung und problem- bzw. begriffserschließende Einführung, in Grundzüge der abendländischen und europäischen Philosophie. Diese hat sich bis weit in die Neuzeit wesentlich als Metaphysik bzw. als metaphysische, spekulative Ontologie verstanden - mit der Folge, daß sie auch dann, wenn sie, wie bei (und z. T. im Gefolge des) Aristoteles, ein Eigenrecht der Ethik und Politik als „Pragmatie“ der sich wandelnden Handlungswelt geltend machte, zumeist in dem Rahmen eines spekulativen, (latent) theologischen Seinsdenkens geblieben ist. Wie ist das von uns zu beurteilen, wenn wir berücksichtigen, daß (erstens) seit Sokrates auch die Möglichkeit eines dialogischen Philosophierens unabhängig von Glaubensannahmen und unüberprüfbaren Seinsspekulationen aufscheint, daß (zweitens) wir selbst als philosophierende Argumentationspartner diesseits solcher Spekulationen im und aus dem Dialog denken müssen, daß (drittens) die Philosophiegeschichte quasi eine Entwicklungslogik zeigt: eine Tendenz zur dialektischen ‚Aufhebung’ der (traditionellen) Metaphysik. So will Kants kopernikanische Wende zu einer Kritik der Vernunft die metaphysische Seinsspekulation in eine „Transzendentalphilosophie“ aufheben. Seit der linguistischen, sprachpragmatischen Wende soll nun diese Denkweise kritisiert und aufgehoben werden: Auf der Agenda steht die 'Aufhebung' dieser und jeder Art der Bewußtseinsphilosophie in Sprachanalyse und Sprachpragmatik, Hermeneutik und Kommunikationsreflexion. Kann und sollte also die Sprach-, Kommunikations- und Dialogphilosophie eben das werden, was die theoria des Seins, die ursprüngliche Metaphysik, hatte darstellen wollen, nämlich eine erste oder fundamentale Philosophie? Und könnte dadurch das Philosophieren den sokratischen Anspruch, aus dem und im Dialog zu denken, am Ende einlösen? In unserem Zeitalter der Verwissenschaftlichung und zugleich der Selbstbesinnung oder Selbstbehauptung sich pluralisierender Kulturen wäre das zudem eine Aufgabe von weltpolitischer und weltethischer Bedeutung, die wir bedenken sollten. Einführende und begleitende Literatur: [●: Für die Themen der Vorlesung zentral] - - ● Jonas, Hans: Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Reclam 2004. ● Kamlah, Wilhelm, und Lorenzen, Paul: Logische Propädeutik. B1 Hochschultaschenbücher 1967. §§ Einführung und IV. Kapitel. ● Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, 2. Bde. Suhrkamp 1973 und 1984 (3. Aufl.). Einleitung (Bd. 1) und aus Bd. 2: S. 330f. Ders., Böhler, Dietrich u. a. (Hrsg.): Funkkolleg Praktische Philosophie / Ethik: Studientexte, 3 Bde. Beltz 1984. Aus Bd. 1: Studieneinheiten (STE) 2, 4, 10; aus Bd. 3: STE 22, 26, Lösung der Aufgaben und Glossar (!). ● Böhler, Dietrich: Vorlesung SoSe 2006. §§ 1-2.6 und 5-6.6 (zu kopieren aus dem Handapparat im Philosophischen Institut). Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt. Klett-Cotta 1972. Tugendhat, Ernst und Wolf, Erika: Logisch-semantische Propädeutik. Reclam 1983. Böhler, Dietrich: Rekonstruktive Pragmatik. Suhrkamp 1985. Bes. S. 17-81 und S. 335-374. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung. Suhrkamp 1999. Bes. S. 65-101. ● Lücke, Tilman: „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“. In: Burckhart, Holger und Gronke, Horst (Hrsg.): Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Königshausen & Neumann 2002. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 Für die ersten Sitzungen - Oktober/November – insbesondere: - Basistext: T. Lücke, s. o. Begleittexte: E. Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Suhrkamp 1976. Bes. S. 24-91. D. Böhler: Vorlesung SoSe 2006, s. o., §§ 1-2,6. K.-O. Apel: Transformation, s. o., Bd. 2, S. 330ff. 5 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 6 Inhalt I Einleitung: Metaphysik als Schau des Ganzen. Oder: Spekulation über Gott und die Welt. 1 Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik. 1.1 Wie Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende noch möglich ist: Hans Jonas’ „rationaler Mythos“. 1.2 Der verdinglichende, subjekt- und kommunikationsvergessene Weltbezug der (traditionellen) Metaphysik, dessen Fortwirkung der Erkenntniskritik als SubjektObjekt-Struktur und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber reflexionsvergessene Metakritik. 1.2.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme: Heidegger. II Instruktiver Seitenblick auf den paradigmatischen Gang und wichtige Inhalte der Vorlesung. III Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und philosophiegeschichtlich erörtert. 3.1 Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie? Die drei philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik. 3.2 Die Wie-, Was- und Warum-Frage der Moral: Aufstufung zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als Entwicklungslogik der lebensweltlichen praktischen Diskurse. 3.3 Der argumentative Dialog – ein Diskurs unter vielen? 3.4 Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik. Die 3.4.1 Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. 3.4.2 Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen. 3.4.3 Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik. seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 7 IV „Diskurs“ und Diskurse im geschichtlichen Spannungsfeld von Seinsschau, Selbst-Bewußtsein und Kommunikationsreflexion. 4.1 4.2 Theoria-Metaphysik versus Diskurs. 4.1.1 Platon: Philosophie als theoria-Ontologie. Oder: Vom Diskurs zur einsamen Ideenschau, vom argumentativen und reflexiven Dialog zum totalitären Kosmos-Polis-Mythos. 4.1.2 Aristoteles und das Aufblitzen der Dialogreflexion inmitten der theoriaOntologie. Vorgriff auf die Verbindlichkeit aus dem argumentativen Dialog? 4.1.3 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie – Türöffnung für den methodischen Solipsismus. Rhetorik versus Metaphysik oder Metaphysik in der Rhetorik? 4.2.1 Von Isokrates zu Cicero. Die unbefriedigte Kommunikation (I). Rhetorik als konsensbezogene Alternative zur theoria-Ontologie oder als relativistischer Diskursersatz mit naturalistischem Sicherheitstitel? 4.2.2 Rhetorik und Ideologie. Von Cicero bis Rorty – kulturrelativistische Anfälligkeit der Rhetorik. 4.3 4.4 Diskurs im metaphysisch-theologischen Rahmen einer christianisierten theoria. 4.3.1 Wirkmächtiger Augustinus. Verfestigung der akommunikativen Erkenntnisund instrumentellen Sprachauffassung. 4.3.2 Thomas von Aquin. Der unbiblische Seins- bzw. Kontemplationsgott und das akommunikative Erkenntnisschema ‚diskursiver Verstand versus intuitive Vernunft’. Die unbefriedigte Kommunikation (II): Emanzipation von der christianisierten theoria – zwischen italienischem Humanismus, Lutherscher Reformation, Montaignes Lebenskunst und Vicos geistigem Wörterbuch der Menschheit. 4.4.1 Reformation versus Humanismus: Verdeutschung der Bibel, Behauptung und Verlust der Gewissensfreiheit – Idee der Menschenwürde. 4.4.2 Südlich der Alpen: uomo universale im Spielfeld der discorsi. 4.4.3 Machiavelli und Galilei: Vom rhetorisch humanistischen zum machtanalytischen und zum konstruktiv theoretischen discorso. 4.4.4 Diskurs zwischen moderner Didaktisierung und althergebrachtem „hohen Geistergespräch“. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 4.4.5 Montaignes Diskursessays: Schwebende Selbst- und Weltbetrachtung zwischen Autonomie und stoischer Skepsis. 4.4.6 Vicos geschichtsphilosophisch hermeneutischer Diskursrahmen: sprachlichinstitutioneller Gemeinsinn der Völker. 8 V Diskurs im subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophischen Paradigma des Selbst-Bewußtseins und der Kritik 5.1 Descartes versus Pascal. 5.2 Zweckrationalität als Rahmen der Vertragstheorie. Hobbes und die Moderne. 5.3 Etablierung der Kritik durch Kants Revolution der Denkart. Solipsistische Vernunft und verallgemeinerbare Gegenseitigkeit. VI Auf dem Wege zu einem dritten Paradigma. Oder: Die pragmatischhermeneutische Entdeckung der Kommunikation als Sinnbasis des Etwas-Denkens. 6.1 Weichenstellungen zur Pragmatik: W. von Humboldt und Ch. S. Peirce. 6.2 Sprechakttheorie und empirische Diskursanalyse. 6.3 Diskurs zwischen konservativ pragmatischer Hermeneutik (Gadamer, Marquard), relativistischem Neopragmatismus (Rorty) und antiuniversalistischem Poststrukturalismus (Foucault, Lyotard, Derrida). 6.4 Nouvelle Rhétorique (Perelman) und konstruktivistische Dialogik (Lorenzen). 6.5 Diskurstheorie (Habermas) versus Transzendentalpragmatik (Apel) versus sokratische Diskurspragmatik. VII Zum Beschluß: Wo bist du? Was hast du, etwas als etwas denkend, schon in Anspruch genommen? Oder: Der Begleitdiskurs, meine Geltungsansprüche und Dialogversprechen. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 1 9 Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik. ‚Was heißt Metaphysik?’ Anders gefragt: Gibt es gemeinsame Leitthemen, Gegenstände und Fragen dessen, was wir im Rückblick auf das Denken seit der vorsokratischen und nachsokratischen Antike „Metaphysik“ nennen? Zweifellos. Es gibt spekulative ‚Gegenstände’, die als solche weder empirisch durch Theorien, Beobachtungen und Experimente i. S. kausaler Gesetzeserklärungen objektivierbar sind, noch durch erkenntnis- und sinnkritische Reflexion auf interne und unvermeidbare, weil erkenntnistragende und eine Erkenntnis oder sinnvolle Erörterung erst ermöglichende, Voraussetzungen (Kant: „Bedingungen der Möglichkeit“ von Erkenntnis) aufweisbar sind, aber doch von denkenden Menschen nach den mythischen Kulturepochen immer wieder umrissen und thematisiert werden. Dazu gehören in erster Linie: 1) Das Ganze als Inbegriff dessen, vom dem sich – vermutlich – Existenzaussagen (der Form: ‚p existiert’, ‚p existiert wirklich’) behaupten lassen. 2) Das Ganze a) als Inbegriff eines (vermeintlich) objektiven, unvordenklich vorgegebenen und (vermeintlich nur) teleologisch1 verstehbaren, von einem Schöpfer gegebenen Sinnzusammenhangs (→ objektiv teleologisch angesetzte Seins- bzw. Schöpfungstheologie), b) als Inbegriff eines möglichen Sinnzusammenhangs, d. h.: Wir Menschen können unser Verhältnis zum All so verstehen, daß wir ihm Sinn abgewinnen (→ Sinnentwurf einer hypothetischen Metaphysik als „rationaler Mythos“ i. S. von Hans Jonas). 3) Der Begriff eines Zentrums und ursächlichen Grundes eines solchen Ganzen: in zahlreichen (mythisch-)metaphysischen Traditionen – Sonderfall Buddhismus? – ist das »Gott«, z. B. als ‚Demiurg’ oder ‚Schöpfer’, und in den biblischen Traditionen (AT und rabbinische, NT und christliche Lehren) auch als personales Gegenüber, als Inbegriff der Gerechtigkeit und barmherzigen Liebe. Durchaus verwandt ist der Gottesbegriff der dritten abrahamitischen Religion, des Islams. 1 Wenn man einen Zusammenhang, der einem selbst geordnet erscheint, objektiv teleologisch versteht, deutet man ihn als zweckvoll angelegt. Dabei unterstellt man häufig ein Subjekt, welches diese zweckvolle Anlage verursacht oder geschaffen hat – einen schöpferischen Geist. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 10 4) Zeitlich bzw. denkepochal erstreckt sich Metaphysik in verschiedensten Ausprägungen vom mythischen Denken über die griechische theoria bis in die gegenwärtige Philosophie – zum Teil auch innerhalb der, seit Kant, weithin metaphysikkritisch gewordenen Philosophie. Als Überblick bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich das exemplarische Werk von Karl Jaspers: „Die großen Philosophen. Erster Band: Die maßgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Die fortzeugenden Gründer des Philosophierens: Plato, Augustinus, Kant. Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker: Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin, Anselm, Spinoza, Laotse, Nagarjuna“ (München: Piper 1957, Neuauflage 1981). Mit Ausnahme Kants thematisiert Jaspers in diesem bedeutenden Werk ausnahmslos spekulative Metaphysiker, die also weder erkenntniskritisch im Sinne der Kantischen transzendentalen Rückfrage nach Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, noch gar sinnkritisch denken, also nicht gemäß der Frage nach den Sinnbedingungen und Sinngrenzen metaphysischer Theorien: ‚Wann wird eine metaphysische Position ein sinnloser Argumentationsbeitrag?’ Nicht mit dem weiten, explizit nachkantischen Horizont von Jaspers, sondern zumal metaphysik-immanent, ja eher dogmengeschichtlich, angelegt, ist das 2001 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Buch Jörg Disses, „Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis Hegel“. Was den Geltungsstatus metaphysischer Theorien anbelangt, so plädiert jedoch auch Disse dafür, diesen „nur einen grundsätzlich hypothetischen Charakter“ zuzubilligen. Er schreibt aber der Metaphysik die Kraft zu, das auf naturwissenschaftlichen Theorien gründende Wissen „zu einem einheitlichen Verständnis von Welt zusammenzudenken bzw. von einem spekulativen Einheitspunkt aus rückwärts schreitend“ dieses Wissen in seinen wichtigsten Grundzügen einzuholen (!). Befremdlicherweise referiert Disse die Positionen der traditionellen Metaphysik von Platon bis Hegel bloß und hat überhaupt kein Verständnis für die Notwendigkeit einer Sinnkritik der traditionellen Metaphysik. Den Sinnlosigkeitsverdacht, der mit der linguistischen und der pragmatischhermeneutischen Wende des Philosophierens begründeterweise aufgekommen ist, scheint er für eine abwegige Zumutung zu halten und unterstellt einfach, Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 11 daß die Aussagen der traditionellen Metaphysiker sinnvoll sind und daher auch aktuell sein können. Karl Jaspers’ Darstellung ist in diesem Betracht durchaus differenzierter, wiewohl er selbst die linguistische und pragmatisch-hermeneutische Wende nicht nachvollzogen hat und nicht auf deren Niveau philosophiert. Aber er ist konsequent durch Kant hindurchgegangen. Überdies hat er ein Gespür für das Unzureichende der Subjekt-Objekt-Beziehung und des Subjekt-WeltDualismus, aus dem heraus die neuzeitliche Metaphysik denkt. Da er zudem selbst die Kommunikation mehr und mehr in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt hat, ist er auch des methodischen Solipsismus unverdächtig, der die metaphysische Tradition durchzieht. Freilich vermißt man eine sinnkritische Aufarbeitung der metaphysischen Positionen unter der Frage, was von ihnen noch gelten bzw. aufgehoben werden kann, wenn die drei Strukturfehler der Metaphysik, jedenfalls der traditionellen – nicht durch Kants Vernunftkritik noch durch eine (transzendental-)pragmatische Sinnkritik hindurchgegangenen – Metaphysik, beseitigt würden, nämlich das Denken aus einem uneinholbar theoretischen Gesichtspunkt heraus, gleichsam von einem Gottesstandpunkt außerhalb der Welt, die Unterstellung, daß einer alleine, jeder Metaphysiker für sich, Sinn und Bedeutung sowie Wahrheit und Gewißheit der Wahrheit erlangen; d. h. ohne Vermittlung seiner Thesen durch die reale Kommunikationsgemeinschaft (z. B. Tradition) berücksichtigen zu müssen, und ohne als letzten Geltungsmaßstab die sinnvolle Vertretbarkeit und die argumentative Zustimmungswürdigkeit seiner These im Rahmen einer (als regulative Idee vorauszusetzenden) unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft zum Kriterium zu machen, die damit verwobene Erkenntnishaltung einer Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. eines Dualismus zwischen Erkenntnissubjekt und Welt als Inbegriff möglicher Erkenntnisobjekte, welche nach dem Muster dinglicher Gegenstände verstanden, also verdinglicht werden. Diese drei Strukturprobleme sollten wir bei jeder Auseinandersetzung mit der Metaphysik genau im Auge behalten. Ohne den Blick darauf läuft die Beschäftigung mit Metaphysik ins Naive und Dogmatische. Das gilt aber auch für die Diskussion aller anderen philosophischen Positionen, die sich nicht als Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 12 Metaphysik verstehen. Auch sie genau können diese Strukturfehler haben, schließlich liegen diese nicht offen zutage, sondern werden gleichsam ‚im Rücken’ mitgeschleppt. 1.1 Wie Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Ende möglich ist: Hans Jonas’ „rationaler Mythos“. Für die Gegenwart möchte ich Ihnen ein besonders reiches und reflektiertes Beispiel eines eigenständigen metaphysischen Ansatzes vorstellen, nämlich den „rationalen Mythos“ von Hans Jonas. Dazu sei zweierlei bemerkt. Einmal steht dieser Versuch nicht im Zentrum seines Denkens, welches sich nämlich von einer kritischen, nämlich entmythologisierenden Hermeneutik, ausgeübt vor allem an dem Gnostizismus und der Metaphysik von Augustinus, über eine leibphänomenologisch orientierte Evolutionstheorie des Lebens bzw. einer philosophischen Biologie hin zur Ethik der Zukunftsverantwortung in der technologischen Gefahrenzivilisation erstreckt. Zum anderen, und das geht uns jetzt vor allem an, stellt Jonas’ rationaler Mythos einen bemerkenswert metaphysikkritischen metaphysischen Versuch dar. Denn er nimmt – erstens – die erkenntniskritische Wende zum transzendentalphilosophischen Paradigma einer Erkenntnistheorie auf, die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt und von daher die Grenzen, innerhalb derer ein metaphysischer Versuch gelten kann, eng zieht: Hier sei keine Gewißheit der Wahrheit möglich, so daß es sich nur um eine metaphysische Vermutung handeln könne, welche keinen höheren Geltungsstatus als den der Plausibilität zu erreichen vermöge. Jonas berücksichtigt Kants Kopernikanische Wende von der naiven Seinsschau zur Rückbesinnung auf die Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts gleich in seinem metaphysischen Versuch. Zweitens gibt er eine logische Kohärenzkritik und eine Sinnkritik an Grundgehalten der jüdischen und christlichen Theologie als dem spekulativen Zentrum europäischer Metaphysik. Zunächst prüft er die Kohärenz der drei Gottesattribute der absoluten Güte, der absoluten Macht oder Allmacht und der Verstehbarkeit. Von diesen Attributen sagt Jonas, sie stünden „in einem solchen Verhältnis, daß jede Verbindung von zweien von ihnen das dritte ausschließt“. Und er fährt fort: „Die Frage ist dann, welche von ihnen sind wahrhaft integral für unseren Begriff von Gott und daher unveräußerlich, und welches dritte muß als weniger kräftig dem überlegenen Anspruch der anderen weichen? Gewiß nun ist Güte, d. h. das Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 13 Wollen des Guten, untrennbar von unserem Gottesbegriff und kann keiner Einschränkung unterliegen. Verstehbarkeit oder Erkennbarkeit, die zweifach bedingt ist: vom Wesen Gottes und von den Grenzen des Menschen, ist in letzterer Hinsicht allerdings der Einschränkung unterworfen, aber unter keinen Umständen duldet sie totale Verneinung. Der deus absconditus, der verborgene Gott (nicht zu reden vom absurden Gott), ist eine zutiefst unjüdische Vorstellung.“ Schließlich beruhe die Thora darauf, daß wir Gott verstehen können, wir besäßen sein Gebot und sein Gesetz, und Gott habe durch seine Propheten, wenn auch in dem beschränkenden Medium der Sprache einer Zeit, mit den Menschen gesprochen. Daher sei die Annahme eines gänzlich verborgenen, unverständlichen Gottes ein unannehmbarer Begriff. Unannehmbar aber müßte der Gottesbegriff sein, wenn Gott zusammen mit der Allgüte auch Allmacht zugeschrieben würde: „nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht allmächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“.2 An diese immanente Kritik einer Kohärenzprüfung schließt Jonas die eigentliche Sinnkritik an dem Begriff „Allmacht“ an: Die Rede von Allmacht sei sinnlos, weil wir bei jeder Verwendung des Begriffs „Macht“ – als dessen Sinnbedingung – voraussetzen müssen und umgangssprachlich bzw. lebensweltlich auch tatsächlich voraussetzen, daß sich eine Macht auf die Existenz von etwas anderem bezieht, das als solches schon eine Begrenzung der Macht ist. Macht sei kein einsames und von daher gänzlich autarkes, sondern ein sozial bezogenes Phänomen, welches Andere als Gegenüber oder Gegenstand voraussetze, worauf die Macht wirken könne. Eine absolute Alleinmacht wäre leere Macht. Das aber wäre, so analysiert Jonas, eine „machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. ‚All’ ist hier gleich Null [...]. Kurz, Macht ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges Verhältnis [...]. Macht kommt zur Ausübung nur in Beziehung zu etwas, was selber Macht hat. Macht, wenn sie nicht müßig sein soll, besteht in der Fähigkeit, etwas zu überwinden; und Koexistenz ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen. Denn Dasein heißt 2 Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“. In: Ders.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Insel 1992, S. 203f. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 14 Widerstand und somit gegenwirkende Kraft.“ Daher könne es nicht sein, „daß alle Macht auf Seiten eines Wirksubjekts allein sei. Macht muß geteilt sein, damit es überhaupt Macht gibt“.3 Allein aus diesem, wie Jonas sagt, zugleich logischen und ontologischen Grund, daß die Rede von Allmacht sinnlos und das Phänomen einer Allmacht in der Wirklichkeit nicht denkbar sei, müsse auf das Attribut der absoluten Macht Gottes verzichtet werden. Wir bemerken also, daß Jonas’ rationaler Mythos eine metaphysikkritische Metaphysik darstellt, weil sie sowohl Kants Beschränkung des Gültigkeitsstatus aller Spekulationen hinsichtlich möglicher Erfahrung aufnimmt, übrigens gleich zu Anfang des Vortrags „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, als auch den grundlegenden Geltungsanspruch der Verstehbarkeit der Rede, also des Anspruchs auf sinnvolle Rede, ins Spiel bringt, in dem er den metaphysisch-theologischen Begriff der Allmacht an diesem Anspruch mißt und daher das Konzept verwirft. Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’ „unverhüllt spekulativer Theologie“4 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rück. So aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und die Überreichung der Ehrendoktorurkunde. Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’ „unverhüllt spekulativer Theologie“5 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rücke. So aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und die Überreichung der Ehrendoktorurkunde. 3 Ebd., S. 201f. Ebd., S. 190. 5 Ebd., S. 190. 4 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 15 Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der Zukunftsverantwortung6 Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler Verehrter Herr Professor Jonas, meine Laudatio spielt sich nach einem hermeneutischen Auftakt in zwei Teilen ab: »Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus« zunächst, »Metaphysisch ontologische Wertlehre und 'Prinzip Verantwortung'« sodann. I. Entmythologisierende Hermeneutik Aus ihrer frühen Forschung kann ich nur auf ein wertvolles Instrument hinweisen: auf Ihre, in Rudolf Bullmanns theologischem Seminar entwickelte Methode, Dogmen und Mythen rational zu erschließen, Ihre Hermeneutik der Entmythologisierung. Von Heidegger und auch von Hegel belehrt, zeigen Sie in Ihrer Frühschrift "Augustin und das paulinische Freiheitsproblem", Göttingen 1930, daß der Geist nur über den Umweg des Symbols "zu sich kommen könne"; genauer gesagt, über eine Veranschaulichung und Verdinglichung seiner wesentlichen Daseinsprobleme und Daseinserfahrungen. Diese liegen eigentlich in seinem Verhältnis zu sich selbst. Aber in seiner Kindheit, einer unreflektierten Entwicklungsphase, neigt der Geist dazu, sich innere Daseinsprobleme und -erfahrungen zu erklären, indem er sie projiziert auf angeblich objektive Ereignisse oder Mächte außer sich. So erklärt Augustinus - wirkungsträchtig am Anfang des abendländischen Verständnisses von Freiheit und Moralität - das Dilemma des menschlichen Willens, einerseits moralisch sein zu wollen, andererseits aber unmoralischen Willensrichtungen zu folgen, etwa der Selbstliebe, dem Hochmut und dem bösen Begehren bzw. Haben-Wollen, mit dem (m.E. unbiblischen) Mythos der Erbsünde: Augustinus führt also ein Dilemma des Willens zurück auf die vermeintlich schicksalhafte Kausalität von Adams Sündenfall. Indem Sie, Professor Jonas, diesen Mythos als veranschaulichende Objektivierung eines inneren, existentialen Dilemmas enthüllen, wird exemplarisch zweierlei geleistet: rationale Kritik an einem Mythos, die diesen als Verzerrung eines Existentialphänomens bestimmt, und Rettung des zugrunde liegenden Dilemmas als eines Phänomens unseres moralischen Selbstverhältnisses. Auf diese Weise bewahrt Ihre Methode den Gehalt von Dogmen und 6 Aus: Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, hrsg. von D. Böhler und R. Neuberth, Münster: LIT, 2. Aufl. 1993, S. 27-36. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 16 Mythen vor einem rationalistischen Verdikt und macht sie uns als Beiträge menschlicher Selbstverständigung zugänglich. II. Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus Ihre Methode einer nicht-mythologischen Rekonstruktion von Mythen war also nicht dekonstruktiv sondern sinnerschließend: Rekonstruktion von Erfahrungen und Problemen des Daseins. Daher schuf sie einen Spielraum, den der Geist braucht, um die letzten Fragen, die spekulativen Fragen, stellen und gehaltvoll erörtern zu können; jene Fragen, die uns existentiell und gleichsam gattungsexistentiell angehen, als Personen und als menschliche Wesen in einem materiellen All. Da ist zunächst das Ur-Rätsel: Wie können wir uns verständlich machen, daß aus "den stummen Wirbeln" von Materie Subjektivität hervorgegangen ist? Das ist wohl die erste jener Fragen, deren Antworten stets hinausgehen über die Grenzen unserer möglichen Erfahrung. Für solche Antworten können wir nicht mehr legitim den Anspruch des Wissens und einer rationalen Gewißheit erheben. Immanuel Kant hat uns gezeigt, daß es hier kein Wissen der Wahrheit, keinen Nachweis intersubjektiver Gültigkeit geben kann, obwohl uns diese Fragen umtreiben. Die Vernunft, sagt Kant, wird "durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben" zu metaphysischen Fragen, "die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können" (KdrV, B 21). Sofern der Mensch homo metaphysicus ist, muß es möglich sein, metaphysische Fragen zu erörtern und sinnvolle Antworten darauf zu versuchen. Erst, wenn wir das tun, verhalten wir homines metaphysici uns dialogisch verantwortlich, weil wir unseren Dialogpartnern nur dann in Orientierungsfragen Rede und Antwort stehen können, wenn wir uns auch metaphysisch oder theologisch befragen lassen: Woher kommen wir? Wie können wir Menschen uns im Ganzen des Seins und dieses im Blick auf uns verstehen? Was hat es mit Gott auf sich? Und wenn es damit etwas auf sich haben mag, was kann es für unser Leben bedeuten? Wer bei solchen Fragen von vornherein auf das Ziel rationaler Gewißheit verzichtet, der darf, so Hans Jonas, im Blick auf "Sinn und Bedeutung sehr wohl über solche Dinge nachdenken".7 Der kann sich im Dialog auch metaphysisch verantworten, indem er sinnvolle Antworten sucht: 7 Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1987. S. 9 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 - 17 Reflektierte Antworten, die auf den Anspruch ausweisbarer Wahrheit, erweisbarer Gültigkeit, von vornherein verzichten, - sinnvoll diskutierbare Antworten, die uns eine Orientierung anbieten, welche logisch stimmig ist und zu unserem Erfahrungswissen nicht etwa in ausschließendem Widerspruch steht, sondern sich daran anschließen läßt. Eine solche hypothetische Antwort nennt Hans Jonas 'rationalen Mythos'. Dreimal, wenn ich richtig sehe, Herr Jonas, haben Sie einen rationalen Mythos entworfen bzw. modifiziert und entfaltet: 1961 in dem Harvard-Vortrag "Unsterblichkeit und heutige Existenz", deutsch in dem 1963 erschienenen Band "Zwischen Nichts und Ewigkeit", 1984 in dem Vortrag bei Entgegennahme des Rabbi Leopold Lucas-Preises, "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", und 1988 in der Schrift "Materie, Geist und Schöpfung". Ihr erster Entwurf wie auch die späteren gehen von Grundlagen moderner Welterfahrung aus: von deren bedingungsloser Immanenz und von dem methodischen Atheismus der Wissenschaften. Der moderne Geist bestehe darauf, "unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen: die Welt als sich selbst überlassen zu sehen".8 Dasselbe fordert Ihr Mythos für "Gottes In-derWelt-Sein": Ein sinnvoller Gottesbegriff könne Gott zwar als den schöpferischen Grund des Seins charakterisieren, aber doch nur als den absolut machtlosen, dem Abenteuer der Evolution und damit der Menschheit ausgeliefert: "Im Anfang ... entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück ... Vielmehr, damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; cr entkleidete sich seiner Gottheit... Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, daß es ... nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, daß es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der 'sechsunddreißig Gerechten' sein, die nach jüdischer Lehre der Welt niemals mangeln sollen."9 In dem Vortrag "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", der ausdrücklich die Brücke zur kabbalistischen Lehre vom Zimzum schlägt und in Analogie zu Schellings Spekulation von der Zusammenziehung, der Kontraktion Gottes auf einen bloßen Punkt, gelesen werden kann, geben Sie mit diesem Mythos eine Antwort auf die, durch Auschwitz wahrhaft abgründig 8 Hans Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen: Vandenoeck & Ruprecht 1963. S. 56 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 18 gewordene, Hiobsfrage, die der Antwort des Buches Hiob entgegengesetzt ist: Diese, sagen Sie, "beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung. Und doch seltsam zu sagen - sind beide zum Lobe: Denn der Verzicht geschah, daß wir sein könnten. Auch das, so scheint mir, ist eine Antwort an Hiob: daß in ihm Gott selbst leidet. Oh sie wahr ist, können wir von keiner Antwort wissen."10 Ihre Schrift "Materie, Geist und Schöpfung" stellt den Mythos in den Rahmen einer "Teleologie, einer aristotelischen Theorie vom zweckvollen und zweckgerichteten Sein, mit der Sie auf die Kehrseite der großen Errungenschaft des abendländischen Denkens im Sinne eines "Einerseits ... andererseits" reagieren. Einerseits rühmen Sie z.B. an Platon und Paulus, Augustinus, Descartes und Kant, Pascal und Kierkegaard, die Entdeckung der Seele, die Herausarbeitung der Subjektivität und Reflexivität des Menschen als Hiatus zur Natur. Es gehe darum, "genug von der dualistischen Einsicht" zu bewahren, "damit die Menschlichkeit des Menschen (...) erhalten"11 werde. Daraus folgt eine Zurückweisung jeder Einheits- oder Ganzheitsanschauung; sei es ein materialistischer Monismus, der selbstwidersprüchlich das Geistes- und Seelenleben auf materielle Determinanten zurückführen will, sei es auch ein ökologischer Holismus, der den Menschen als bloßen Teil der Natur ansieht, als bloßes Moment einer kosmischen Lebensgemeinschaft oder eines Superökosystems. Eine solche Ganzheits- und Einheitsanschauung wäre nicht minder selbstwidersprüchlich, weil jede Theorie, auch eine holistische, sich der Freiheit des Geistes verdankt, die alles bloß Natürliche gerade überschreitet und distanziert; überdies, weil die praktisch normativen Sätze, die Verhaltensforderungen ökologischer Einheitsdenker nur Sinn machen, wenn eben das unterschieden wird, was sie zusammenwerfen: Sein und Sollen, beschreibende Sätze über das Seiende und vorschreibende Sätze über richtiges Verhalten. So entschieden Hans Jonas mit dem abendländischen Denken die "transzendierende Freiheit des Geistes"12 und damit die Sonderstellung des intelligenten und moralisch freien Menschen im Kosmos betont, so scharf kritisiert er andererseits die dualistische Metaphysik, die vielfach der Preis für deren Herausarbeitung gewesen ist. Von der Gnosis bis zum Existentialismus, von Augustin bis Heidegger findet Jonas einen, in dieser Form nicht haltbaren, Dualismus von Mensch und Natur, Seele und Leib, Geist und Materie oder dessen direktes Fortwirken. Auch bei Heidegger hörte man "nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens: 9 Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 55, 56 u. 60. Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48f. 11 Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 25. 12 Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1988. S. 25ff. 10 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 19 unserer Leiblichkeit, durch die wir ... bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind, zuunterst durch den Stoffwechsel".13 Ihre Dualismus-Kritik - genährt vom hebräisch biblischen Denken, bestärkt von dem griechischen Arztsohn Aristoteles - und Ihre Kriegserfahrung der verletzlichen Leiblichkeit brachte Sie in Opposition zu dem Hauptstrom der Metaphysik, wie auch zum szientistischen Naturverständnis. In der Seinsweise, die wir mit allem Lebendigen teilen, dem Organismus, sahen Sie den metaphysischen Dualismus widerlegt; daher erschien "das Ziel einer Philosophie des Organischen oder einer philosophischen Biologie" vor Ihren Augen. "Dafür bedurfte es aber einer Kenntnis der wissenschaftlichen Biologie in ihrem Ertrag und ihrer Methode. Daran wurde ich noch einmal zum Schüler"14 - so beschreiben Sie die Vorbereitung Ihrer philosophischen Biologie "Organismus und Freiheit", die ohne Ihr Studium bei amerikanischen Biologen und Ihren Dialog mit ihnen nicht möglich gewesen wäre. III. Metaphysisch ontologische Wertlehre und "Prinzip Verantwortung" Das Resultat Ihrer philosophischen Biologie ist eine ontologische Wertlehre, die besagt: "Die Materie ist schlafender Geist", alles organische Leben ist wertvoll und daher prinzipiell schutzwürdig, weil sich in ihm Freiheit aufstufe und weil derart sich entwickele, was höchsten Wert habe: das "wirkliche Menschentum“15. In dessen moralischer Freiheit liegt die Fähigkeit zur Verpflichtung und Verantwortung, also das Überschreitenkönnen alles Gegebenen zum Idealen, alles Endlichen zum Unendlichen16, und damit das Überschreitenkönnen vom bloß Faktischen zum Normativen, vom Gegebenen zum Gerechtfertigten und Richtigen, wie ich hinzufügen möchte. Nun haben Sie nie verhehlt, daß Ihre metaphysisch ontologische Wertlehre auf Kriegsfuß oder gar auf Siegesfuß steht zur metaethischen Trennung von Sein und Sollen, Fakten und Normen, beschreibenden Sätzen und vorschreibenden Sätzen. Gleichwohl hege ich hier Konsenshoffnung. Zeichnet sich nicht Konsens ab, wenn man in Rechnung stellt, daß eine Ontologie des Organischen und eine Teleologie der Freiheit notwendigerweise geleitet ist von Ideen, die, wie Sie sagen, "über alles je Gehbare und seine Dimension als solche hinaus“17 sind? Dazu gehören: die Idee der moralischen Freiheit und die Idee einer "Selbstunterstellung 13 Hans Jonas: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987. S. 19. Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 21. 15 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 89. 16 Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 25f. 17 Ibid., S. 25. 14 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 20 unter die transzendenten Maßstäbe" des Gewissens und der Verantwortung für das schutzbedürftige Wertvolle.18 Wenn dieser ideale Vorgriff auf moralische Freiheit und auf moralisches Sollen notwendige Bedingung dafür ist, daß wir die Evolution als Entwicklung der Freiheit verstehen können, wie auch dafür, daß wir das organische Leben als prinzipiell wertvoll und schützenswert auszeichnen können, dann ist die Begründung von Ideen, von Maßstäben des Sollens, logisch das Erste. Dann aber wäre - ich weiß nicht, ob Sie mir darin zustimmen - methodisch gesehen, das "Sollen" vom "Sein" zu unterscheiden.19 Darin sehe ich die Bedingung für eine Rechenschaftslegung der Philosophie; zumal einer ontologischen Wertlehre und einer spekulativen Philosophie, die auch zum rationalen Mythos übergehen kann, ohne überschwenglich oder objektivistisch zu werden. Aber wie dem auch sei. Es ist ein leuchtendes Zeichen für die Größe Ihres Denkens, daß es, in mindestens viererlei Hinsicht, über den Dissens innerhalb der Philosophie hinaus hochbedeutsam und fruchtbar, stimulierend und konsensfähig bleiben dürfte: Erstens bedarf es offenbar einer genau zu umreißenden Verhältnisbestimmung und Kooperation von naturästhetischer und naturethischer Heuristik als methodischem Sensus für Wert in der außermenschlichen Natur einerseits und einer Ethik der verbindlichen Normenbegründung, der rationalen Maßstabe für intersubjektive Verbindlichkeit und Pflicht andererseits. Daß eine teleologische Deutung des Seins, eine ontologische Wertlehre keine letztgültigen Aussagen machen kann, sondern eher den Stellenwert einer Wertheuristik behält, haben Sie selbst zu verstehen gegeben: "Letztlich kann mein (metaphysisch teleologisches) Argument nicht mehr tun als vernünftig eine Option begründen, die es mit ihrer inneren Überredungskraft dem Nachdenklichen zur Wahl stellt.20 Gerade als Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive Zusammenspiel mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für Verantwortung empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander anzusetzen, um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivations- Prius zu, während die 18 Ibid., S. 28, 29. Vgl. dazu die Erwiderung von Hans Jonas, in diesem Band, S. 123-125. 20 Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Leipzig: Insel Verlag 1992. S. 140. 19 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 21 Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen könnten. Zweitens: Sinn und Geltung der Ethik hat Hans Jonas durch das "Prinzip Verantwortung" tiefgreifend revidiert, indem er die moralischen Fragen nicht auf die personale Moralität beschränkt, sondern die persönliche Moralität erweitert um die zugleich kollektive und personale Verantwortung für die Zukunftsfolgen unserer hochtechnischen Lebensform und Gesellschaft. Sein kategorischer Imperativ, "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“21, überschreitet nicht nur die traditionelle Begrenzung der Ethik auf den zwischenmenschlichen Nahbereich sondern hebt auch die Ethik als Gesinnungsethik auf. Das Moralprinzip von Jonas läßt jede Ethik hinter sich, die entweder die Moral auf Pflichten gegen die Mitmenschen einschränkt, statt Pflichten gegen die Menschheit einzubeziehen, oder die Moral tendenziell auf die Reinheit und Prinzipienrichtigkeit des Willens beschränkt - so, als ginge es darum, im Einklang mit moralischen Prinzipien "recht zu handeln", als dürfe man aber die ungewollten Nebenfolgen seines Handelns de facto "Gott anheimstellen"22 Durch das "Prinzip Verantwortung" wird die normative Ethik schwerpunktmäßig eine Ethik der einsehbaren Pflicht zur Zukunftsverantwortung. Drittens, verehrter Herr Jonas, haben Sie auch den Übergang zur Anwendung der normativen Ethik erheblich verändert und neu bestimmt. Dazu mögen zwei Hinweise genügen. Gegenüber den traditionellen Ethiken, sei es der aristotelischen, sei es der kantischen Tradition, betonen Sie, daß keineswegs ethischer Gemeinsinn, moralisches Gefühl und gesunder Menschenverstand ausreichen, um das moralisch Richtige zu treffen. Denn dieses bemesse sich heute und künftig an der Verantwortbarkeit von Handlungsfolgen, Lebensfolgen, Forschungsfolgen. Diese Folgen aber, und das heißt diesen ganz neuartigen Gegenstandsbereich moralischer Beurteilung, können wir uns weder mit unserem gesunden Menschenverstand noch mit unserem moralischen Gefühl vorstellen; haben wir es hier doch zu tun mit sehr komplizierten Kumulativwirkungen und äußersten Fernwirkungen unserer hochtechnischen Lebensgewohnheiten und Lebensformen, Produktionen und Produktionsweisen, unseres Konsumverhaltens aber auch unserer Risikoforschungen und riskanten Technologien. Daraus ergibt sich eine neue Rolle des Wissens in der Moral und die Pflicht, sich Wissen zu beschaffen. Freilich stößt diese Wissensbeschaffung an schmerzliche Grenzen. Denn die 21 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36. Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. 551. 22 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 22 Kumulativwirkungen, die ökologischen Fernwirkungen etwa, entziehen sich der exakten bedingten Prognose, wie sie in einem geschlossenen System möglich ist. Die Kluft zwischen unserem Prognosewissen und der Wirkungsmacht unserer hochtechnologischen Projekte, Praktiken aber auch Lebensgewohnheiten erzeugt "ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik".23 Aus diesem Grunde plädieren Sie für eine "Heuristik der Furcht", für "eine Furcht geistiger Art", die uns fähig machen solle, das nichterfahrbare "Unheil kommender Geschlechter" vorauszudenken und uns davon betreffen zu lassen.24 Daraus haben Sie für unsere öffentlichen Dialoge über das, was zu tun sei, und damit für unsere Forschungsplanung, für wirtschaftliche Produktions- und Marktstrategien wie für politische Entscheidungen die Vorschrift abgeleitet, "der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ... als der Heilsprophezeiung"25, also der schlechten Prognose einen Vorrang vor der guten einzuräumen. Sie legen damit eine Dialogregel nahe, die den Befürwortern eines Projekts und den Anwendern einer Technik die Beweislast für die Unschädlichkeit und die Verantwortbarkeit auferlegt. In dubio pro humanitate, und damit: in dubio contra projectum, in dubio contra quaestum würde das regulative Prinzip für unsere öffentlichen Diskurse lauten müssen.26 Viertens: Das "Prinzip Verantwortung" enthält also ein zukunftsethisches Prinzip Vorsicht. Mit diesem gehen das Werk und die politisch-ethischen Stellungnahmen des Verantwortungsethikers vorsichtig um: Sie lassen keinen Zweifel daran, daß ein solches Prinzip jeweils in interdisziplinären öffentlichen Diskursen zu prüfen und nur nach Maßgabe einer solchen Prüfung anzuwenden ist. Gegenüber einer globalen Technikkritik, gegenüber einer modischen Totalkritik an der technologischen Zivilisation, die er als alternativenlos aber entwicklungsfähig ansieht, sagt uns der Weise: "Nur im Bunde mit Wissenschaft und Technik, die zur Menschheitssache gehören, kann die sittliche Vernunft dieser Sache dienen. Dafür gibt es kein einmaliges Rezept, nur viele Wege des Vergleichs, die von Fall zu Fall, jetzt und künftig, in steter Wachsamkeit immer neu zu suchen sind. Bestenfalls kann sich, immer wiederholt, eine Übung dafür einstellen. Darauf ist zu hoffen. Doch zu jener Wachsamkeit anzuhalten ist des Denkens Pflicht.“27 23 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 28. Ibid., S. 64, 65. 25 Ibid., S. 70. 26 Dietrich Böhler, Mensch und Natur: Verstehen, Konstruieren, Verantworten - in dubio contra projectum. In Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, Heft 9, S. 999-1019, hier bes. S. 1013 ff. 27 Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 30. 24 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 23 Abschließend zitiere ich aus der Ehrendoktorurkunde: "... In dem hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen ehrt der Fachbereich zugleich den Menschen Hans Jonas, dessen Gründlichkeit und Güte, dessen moralische Unbeugsamkeit und Würde ihn zu einem Vorbild künftiger Wissenschaftler und Weltbürger macht. Qui Berolini, qua in urbe Mose Mendelssohn auctore cultura et ludaica et Germano-Iudaica effloruerat, universitatem et per biennium academiam scientiae rerum ludaicarum promovendae adiit, opuscula prima publicavit; Berolini, qua ex urbe dignitatis et legum destructio, civium Iudaicorum numero carentium expulsio atque excisio initium sumpserunt; Berolini, quae urbs libertate, iure, hominis dignitate donata est ex occidente cuiusque libera universitas libertatem, iura, dignitatem hominis colit coletque studiose. Quibus de causis hac in urbe viro doctissimo totiusque orbis terrarum civi honoris quam maximi debentur. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Hermeneutiker, der mit seiner Methode einer entmythologisierenden existentialen Interpretation die Aporien der christlich abendländischen Freiheits- und Erbsündenlehre aufwies und uns den spätantiken Geist der Gnosis als Verfremdung der Moderne erschloß. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Sucher eines Gottesbegriffs nach Auschwitz und dem eindringlichen Denker der Zukunftsverantwortung. Hans Jonas verdanken wir die Ausweisung und Konkretion des Prinzips einer Ethik für die technologische Zivilisation, von der er zeigt, daß ihr in dem Maße Verantwortung für das Ganze zuwächst, als ihre Fernwirkungen die Zukunft der Menschengattung gefährden. Maxima cum reverentia Hans Jonas homo ludaeus colendus est nobis, qui cum universitates Germaniae adulescenti doctissimo intercluderent aditum pro libertate et iure, pro Iudaeorum incolumitate atque dignitate contendere constituit. Qui miles legionis Iudaicae bello pugnavit, ut in Germania res tandem publica foret, in qua et tertii quod dicitur imperii et inhumanitatis et interfectorum memores, ut condiciones vitae vere humanae in mundo permanerent, curare possemus sequentes iussum illud categoricum, quo homines continuo ad officiorum conscientiam vocat Hans Jonas philosophus. Als Soldat der jüdischen Brigade kämpfte er mit für die Gewinnung eines politischen Raumes in Deutschland, der uns die Erinnerung an die nationalistische Unmenschlichkeit und ihre Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 24 Opfer ebenso möglich macht wie eine Verantwortungsübernahme für 'die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden' - im Sinne des kategorischen Imperativs von Hans Jonas." Sehr verehrter Herr Professor Jonas, ich überreiche Ihnen nun die Ehrenurkunde. Uno actu verleihe ich Ihnen den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem großen Werk. v. l.: H. Jonas, D. Böhler 1.2 Der verdinglichende, voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der Metaphysik, dessen Fortwirkung im subjektphilosophischen Paradigma der Kritik als Subjekt-Objekt-Struktur und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber reflexionsvergessene Metakritik. Die antike Metaphysik begreift die Erkenntnis der Welt, genauer: die des Ganzen, was da ist, nach dem Muster des Etwas Sehens im Sinne der theoria. Darunter versteht sie ein geistiges Sehen, eine begreifende Schau – was immer das sein mag. Nach Parmenides ist Platon der Urheber und Klassiker dieser Auffassung. Lesen Sie etwa im naturphilosophischen Dialog Timaios den kosmologisch-theoretischen Passus 47a bis c (in der Stephanus-Numerierung); Tilman Lücke zitiert ihn einleitend in seinem Essay. Oder lesen Sie, wie Platon in der Politeia, nämlich im Liniengleichnis (511c), von der „dialektischen Wissenschaft“ sagen kann, sie „schaue“ das Seiende und Denkbare. Schaut aber eine Wissenschaft, oder erkennt sie etwas durch Analyse, durch Begreifen etc.? Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 25 Lesen Sie auch, wie Platon das Erkenntnisziel darstellt, auf das hin er das Höhlengleichnis entwirft: „Was ich sehe [...], das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich anerkannt wird als die Ursache alles Richtigen und Schönen – im Bereich des Sichtbaren erzeugt sie gleichsam die Sonne und damit das Licht (welches Erkenntnis ermöglicht); in der Sphäre des Erkennbaren bringt sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervor. Daher muß, wer vernünftig handeln will, diese [Idee des Guten] sehen.“ Die metaphysische Tendenz, ‚das Ganze’ nach dem Muster des Sehens von Dingen, mithin unreflektiert direkt, anzugehen, war der Grund für einen erkenntniskritischen Rückgang auf die Rolle des Erkenntnissubjekts in der Philosophie der Neuzeit (z. B. Descartes, Kant). Indirekt war sie – in der Moderne – auch der Grund für einen pragmatisch hermeneutischen Neuansatz bei dem verstehenden „In der Welt sein“ des Menschen (Heidegger). Anstatt die dialog- und denkkonstitutive Klasse der Behauptungsakte als Sprachhandlungen mit Geltungsansprüchen zu thematisieren, betrachten die meisten Metaphysiker seit Platon und Aristoteles (im Wortsinne der theoretischen bzw. kontemplativen Einstellung des Etwas Vernehmenden – phänomenologisch und verstehend – oder des Etwas Beobachtenden – empirisch analytisch und objektivierend) das Thema ihrer Behauptungen, als sei es ein dinglicher Gegenstand: „das Seiende“ und dessen Ganzheit, „das Sein“. Das ist eine folgenschwere Vorentscheidung: die Frage nach dem Ganzen wird nämlich sogleich von dem Vorverständnis, dieses sei nach dem Muster eines dinglichen Gegenstandes zu verstehen, bestimmt, d. h. aber in einer sprach- und kommunikationsverzerrenden Verdinglichung. Noch das folgende Paradigma, das der subjektphilosophischen Kritik, behält diese Perspektive bei: die Erkenntnistheorie fragt nach dem Verhältnis von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand: Ernst Cassirer, „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit“, IV Bände. Ebenfalls der Subjekt-Objekt-Beziehung verpflichtet ist Heinrich Rickerts neukantianischer Klassiker „Der Gegenstand der Erkenntnis“, 1892, wiewohl Rickert darin den Primat der praktischen Vernunft begründen will, indem er eine „andere Welt“, die Welt der nichtseienden, aber absoluten „Werte“ nachzuweisen sucht. Doch bezieht er sich darauf als ein Objekt. So setzt auch die neukantianische „Erkenntnistheorie“ nach dem Vorbild Descartes’ und Kants voraus, daß das Ganze der realen Erkenntnisgegenstände dem Erkenntnissubjekt wie ein Gegenstand Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 26 im Großen, abgetrennt vom Erkenntnissubjekt, gegenüberstehe: als „Außenwelt“. In dem modernen, insonderheit neukantianischen Erkenntnisproblem steckt eine sprachwidrige Verdinglichung der Weltbeziehung des – nach seinen Erkenntnismöglichkeiten fragenden – Menschen. Seit Kant führt sie in Probleme, die zu einem Gutteil Scheinprobleme sind: Wie ist die Außenwelt, wenn doch ihr Wesen – Kant: das „Ding an sich“ unerkannt ist, für das Erkenntnissubjekt erkennbar? Ist sie erkennbar? Ontologisch gewendet: Ist sie etwas Reales? Oder können ‚wir’ Erkenntnissubjekte nur – oder gar allenfalls – die Realität unserer selbst annehmen? 1.2.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme: Heidegger Von Kant geprägt, entsubstanzialisiert die moderne Erkenntnistheorie zwar die Metaphysik als Weltanschauung, indem sie die Geltung ihrer Aussagen zu Vermutungen herabsetzt; aber ihre Erkenntnisschemata perpetuieren, ja radikalisieren die metaphysische Verdinglichung des erkennbaren Ganzen durch zwei Grundannahmen und zwei Ausblendungen: (1) Verabsolutierung der Subjekt-Objekt- oder Innen-Außenbzw. Ich – Nicht-Ich-Differenz in Folge von Descartes’ dualistischer Erkenntnismetaphysik res cogitans – res extensa.28 (2) Die Unterstellung einer Weltlosigkeit des Erkenntnissubjekts.29 (3) Das Überspringen der Leiblichkeit des Erkenntnissubjekts und seiner Situiertheit in einem organismischen Austauschzusammenhang 30 lebendiger und anorganischer Umwelt. (4) Das von (3) mitgesetzte Überspringen der Leib- und Kommunikati onsapriori der Erkenntnis Sprachlichkeit des Menschen und der Dialogizität 28 Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), S. 60-62. Diese kritisiert eigentlich schon Husserl, insofern er bei der Intentionalität des Bewußtseins ansetzt: E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, §§ 40, 42f., 62 und 64. Vgl. H. Gronke, Das Denken der Anderen, Würzburg 1999, S. 62f., S. 78-82, vgl. 174ff. 30 Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Göttingen 1973. 29 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 27 bzw. der Geltungsansprüche des menschlichen Denkens als Miteinander-Sprechens.31 Die Wende zum dritten Paradigma der Philosophie wurde m. E. zunächst von den ersten beiden Problemen ausgelöst. Zumal von der subjektphilosophischen Suggestion, als befinde sich der etwas als etwas Bestimmtes erkennende Mensch, subjektphilosophisch genauer: der es allererst erkennen wollende Mensch, gegenüber einem Ensemble stummer Gegenstände bzw. unverständlicher Objekte, draußen in einer strikt von ihm abgetrennten Außenwelt ‚vorhanden’ seien – fremd und allererst zu entdecken, d. h. durch eine Erkenntnisprozedur mit der Innenwelt des Erkenntnissubjekts zu vermitteln. Einige dieser Vorannahmen der nachcartesischen Kritik und Erkenntnistheorie seit Kant deckte Heidegger metakritisch 1937 in „Sein und Zeit“ auf, jedenfalls die Annahmen (a) und (b). Dort lesen wir: „Je eindeutiger man nun festhält, daß das Erkennen zunächst und eigentlich ‚drinnen’ ist, ja aber überhaupt nichts von der Seinsart eines physischen und psychischen Seienden hat [ergänzt: sondern die Seinsart eines puren Betrachtens], umso voraussetzungsloser glaubt man in der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis und der Aufklärung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt vorzugehen.“ In Wahrheit entstünde aber erst durch diese Vorannahmen das sogenannte Erkenntnisproblem, „die Frage nämlich: Wie kommt dieses erkennende Subjekt aus seiner inneren ‚Sphäre’ hinaus in eine ‚andere und äußere’, wie kann das Erkennen überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der Gegenstand selbst gedacht werden, damit am Ende das Subjekt ihn erkennt [...]?“ Heideggers Kritik als Sinnkritik erläuternd, könnten wir sagen: Der neuzeitliche Ansatz bei der Subjekt-Objekt-Spaltung, in gewisser Weise aber schon die antik-griechische Auffassung des Erkennens als eines geistigen Sehens im Sinne von theoria und noein mache sich blind gegenüber der Sinnbedingung jeder Rede von Etwas Erkennen und über Erkenntnis. Denn es ignoriere, daß Erkennen „ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein“ ist. Jedes Erkennen 31 W. v. Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, Band 3. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. Main 1973, Bd. 1: Einleitung und Teil II, Bd. 2: Teil II „Transformation der Transzendentalphilosophie“. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 28 gründe „vorgängig in einem Schon-sein-bei-der-Welt“, weil es auf Lebensinteressen, „auf dem Besorgen“ des Leibes und der ganzen „Existenz“ des Menschen aufruhe.32 Insofern sei in der Lebenswelt immer schon eine Vermittlung des Menschen mit seiner Welt geleistet, der Mensch existiere verstehend, Welt verstehend. In diesem Sinne stellt Heidegger gegen den dualistischen Ansatz von Subjekt und Objekt oder Ich und Welt einen Ansatz in der Vermittlung beider Seiten – einen Ansatz beim pragmatischen, handlungsbezogenen In-der-Welt-Sein. Damit radikalisiert er den Ansatz seines Lehrers Edmund Husserl bei der Intentionalität des Bewußtseins von den Dingen im Rahmen seiner Lebenswelt. Er geht von dem alltäglichen bzw. lebensweltlichen Erkennen aus, welches der Mensch immer schon im Sinne eines „apriorischen Perfekts“ besitze: Der alltägliche Mensch habe immer schon den Kontext seiner Lebenswelt erkannt. Denn er befinde sich „immer schon“ in einer Lebenswelt aus sinnhaften Dingen und Einrichtungen, wie „Zeug“33, Kultur, Institutionen, welche nicht etwa bloß „vorhanden“, sondern dem Alltagsmenschen mehr oder weniger schon „zuhanden“ sind – und daher apriori verstanden34 als Gebrauchsdinge seiner Alltags- und Lebenswelt. Eben deshalb lasse sich die menschliche Lebensform als „verstehendes“ und „besorgendes Inder-Welt-sein“ und der Mensch selbst als „Dasein“ bestimmen und nicht als betrachtendes „Subjekt“ gegenüber stummen, fremden Objekten.35 Das ist eine grundlegende Einsicht der pragmatisch-hermeneutischen Wende hin zu einem dritten Paradigma der Philosophie. Das Pragmatische daran ist die Aufdeckung des interessierten Lebens- und Handlungsbezugs, der auch das Welterkennen des Menschen trägt. Heidegger drückt das plastisch mit den Begriffen der Sorge und des Besorgens aus. Das Hermeneutische an dieser Wende ist der Ansatz bei dem alltäglichen Verstehen bzw. Schon-Verstanden-haben als elementarer Form des Interpretierens von etwas Sinnhaftem – das griechische „hermeneuein“ bedeutet „auslegen“ und „verdolmetschen“ – daher auch der Name „Hermes“ als Götterbote, der den Willen der Götter den Menschen übermittelt und insofern auslegt. 32 Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 60 und 61. SuZ, § 23, §§ 15-18. 34 SuZ, S. 85ff, S. 109f.s 35 §§ 12-14. 33 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 29 Traditionskritisch pointiert Heidegger am Schluß des polemischen Paragraphen 13 von Sein und Zeit das verstehende Welterkennen folgendermaßen: „Im Sichrichten-auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ‚draußen’ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt.“36 Diese Einsicht ist in der Tat ein notwendiges Element des dritten Paradigmas, der Philosophie als Kommunikationsreflexion. Aber es ist keine zureichende Einsicht, weil sie die pragmatische Geltungsdimension des Etwas-als-etwas-Verstehens links liegen läßt. Das Etwas-als-etwas-Bestimmtes-Verstehen ist nämlich ein impliziter Sprach- und Kommunikationsvorgang. Dieser enthält Geltungsansprüche von Verstehern/Sprechern als Subjekten dieser Ansprüche und als Teilnehmern einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Ja, er setzt solche Geltungsansprüche, logisch gesehen, geradezu voraus –so wie jemand, der/die etwas versteht, bereits in Anspruch nimmt, daß er/sie das Gehörte oder Erfahrene – normalerweise – richtig verstanden hat, oder daß er/sie es doch – in Zweifelsfällen – richtig verstehen kann. In diesem vorausgesetzten Bezug auf Richtigkeit, diesem Geltungsanspruch, kommt bereits etwas von dem zum Vorschein, was seit Descartes und zumal von Kant unter den Begriffen Subjekt, Urteilsautonomie und Kritik gedacht worden ist: das Verhältnis von Geltungsanspruch und kritischer Prüfung desselben vor dem Forum der Vernunft. Den Rückbezug auf das, was im zweiten Paradigma als „Subjekt“ gedacht worden ist, und damit eine ‚Aufhebung’ seines Kernbestandes überspringt Heidegger. Er denkt subjektvergessen und sprachgeltungsvergessen, insofern logosvergessen und diskursvergessen. Radikal, besser: abstrakt negiert er den Kern des zweiten Paradigmas. Er sucht keine Aufhebungsperspektive, so daß er dessen wertvolle Errungenschaften ernst nähme und sich mit ihm als Argumentationspartner in das Wahrheitsgespräch eines philosophischen Diskurses begäbe. Über seiner hermeneutisch pragmatischen Entdeckung des Elementarphänomens, daß Menschen, auch die Welt distanzierenden Philosophen, von vornherein in der Welt sind und diese apriori als ihre Lebenswelt verstanden haben, vergißt er, daß er selbst diese Entdeckung als Argumentationssubjekt behauptet, indem er dafür Wahrheit beansprucht. 36 Ebd., S. 62. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 30 Die Selbstvergessenheit Heideggers als Diskursteilnehmer, d. h. als eines Subjekts mit Geltungsansprüchen, das sich gegenüber anderen Diskurs-Subjekten für seine Behauptungen zu rechtfertigen hat, führt letztlich zur Selbstimmunisierung seines Denkens und zur Preisgabe des Zentralbegriffs der Philosophie überhaupt, des Begriffs der Vernunft. Darauf müssen wir zurückkommen, weil Heideggers Preisgabe der Vernunft zugunsten eines ‚Andenkens an das Sein’, das sich selbst als das Ohr und die Stimme des Seins wähnt, seine Philosophie um die Distanz und die Verantwortung der Kritik gebracht hat. So sehr, daß er die Philosophie nicht nur blamiert sondern geradezu in den „Bankrott“ getrieben hat, wie Hans Jonas pointiert, indem er sie zur Magd des Nationalsozialismus erniedrigte. Denn er erhob den Hitler, den „Führer“, zur Manifestierung des Seinsgeschicks, statt dessen Ansprüche vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ (Kant) zu prüfen, indem er ihnen als autonomes Diskurssubjekt gegenübergetreten wäre – die Nazimythen entlarvt und sich von deren Menschenverachtung zumindest distanziert hätte. Mit dieser kritischen Bemerkung lasse ich es jetzt bewenden. Für den weiteren Fortgang dieser Vorlesung und Ihres Selbststudiums empfehle ich Ihnen: Studieren Sie den Essay, den mein früherer Tutor Tilman Lücke im Nachgang zu meinem kühnen, für alle Beteiligten so anstrengenden wie erkenntnisreichen Proseminar „Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation“ im Wintersemester 2000/2001 verfaßt hat. Vor allem, was die Inhalte anbetrifft, bietet dieser Text eine vorzügliche Einleitung in die Sache dieser Vorlesung. 2 Grundzüge der Vorlesung zum Selbststudium Text aus: H. Burckhart, H. Gronke (Hg.): Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 45 ff. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 31 Tilman Lücke Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte Bei einer Tischgesellschaft saß neben Kant ein Mann, der ununterbrochen gleichermaßen dumme wie hochmütige Reden führte und dabei auch noch herauskehrte, welch großer Skeptiker er sei. Schließlich sagte Kant zu ihm: „Sind sie so skeptisch, daß Sie an nichts mehr glauben können?“ – „Das nicht, ich glaube nur an das, was ich mit meinem Verstand begreifen kann.“ – „Das“, sagte Kant, „bedeutet im Ergebnis dann ja wohl dasselbe.“37 Einleitung „Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der Philosophiegeschichte“38 – unter diesem Titel kündigte Dietrich Böhler im Wintersemester 2000/2001 am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin ein Seminar an, welches sich auch und besonders an Studienanfänger richtete. Schon im Titel ist auf jene „drei großen Konzeptionen von Philosophie, die sich in unserer Tradition unterscheiden lassen“, verwiesen, nämlich – wie sie Herbert Schnädelbach in seinem ‚Grundkurs Philosophie‘ benennt – „ein ontologisches, ein mentalistisches (...) und ein linguistisches Paradigma“39, die man auch auf die Begriffe „Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie“ bringen kann.40 Wenn zugleich ein „Grundkurs klassische[r] Texte und Probleme der Philosophiegeschichte“ angekündigt wird, dann könnte man meinen, hier gehe es um eine bloße historische Rekonstruktion. Doch eine solche Rekonstruktion wäre noch nicht Philosophie. Philosophisch wird das Denken frühestens, wenn es sich auch des (philosophischen) Standpunktes klar wird, von dem aus diese Rekonstruktion unternommen wird. Denn man kann „unabhängig von bestimmten Philosophiekonzeptionen nicht definieren (...) was Philosophie sei. Man kann deswegen auch nicht in ‚die‘ Philosophie einführen, ohne zumindest implizit das Philosophieverständnis ins Spiel zu bringen, das man als Einführender selbst besitzt. Man kann somit auch nicht kontextfrei in ‚das‘ Philosophieren einführen; denn auch das Methodenverständnis wandelt sich mit dem allgemeinen Bild von Philosophie.“41 Wenn keine kontextfreie Einführung in die Philosophie denkbar ist, so stellt sich nicht nur die Frage, aus welchen Kontexten heraus sie vermittelt wird, sondern auch, anhand welcher Argumentationsmodelle die in Philosophie Eingeführten sich ihrer eigenen Kontexte klarzuwerden vermögen. Für diese Aufklärung scheinen Fragemodelle skeptischer Art besonders geeignet zu sein, sind sie doch Ausdrucksmittel der „Neigung zum Zweifel am allgemein 37 Abgedruckt (im Kapitel der vermutlich erfundenen Anekdoten) bei Peter Kauder (2000): Hegel beim Billard. München, S. 140; mit Verweis auf Information Philosophie 24 (1996), Heft 5, S. 93. 38 Böhler 2001 c, S. 1. Hervorhebungen in Zitaten sind vom Verf. durchgängig getilgt. 39 Schnädelbach 1986, S. 39. Die an Thomas Kuhn [1962/1967] anknüpfende Rede vom „Paradigma“ beinhaltet Schnädelbach zufolge „immer Vorstellungen vom Gegenstandsgebiet, von einschlägigen Problemstellungen und vorbildlichen Problemlösungen einer Disziplin, d.h. sowohl eine Ontologie (griech. ,tó òn‘ – das Seiende) wie eine Methodologie der Wissenschaft insgesamt“. 40 So z.B. Richard Rorty, zit. n. Habermas 1999, S. 240; ähnlich Karl-Otto Apel und Tugendhat. 41 Schnädelbach 1986, S. 38. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 32 Anerkannten, ungeprüft Übernommenen oder neu Auftretenden“ – so formuliert es jedenfalls ein angesehenes philosophisches Wörterbuch.42 So gelten die ersten Fragen nicht nur dem Kontext, aus dem heraus heute immer noch Studierende mit Philosophie beginnen43, sondern auch dem Zusammenhang, in dem uns Philosophiegeschichte entgegentritt. Begegnet sie uns in Gestalt „einer kontingenten Folge inkommensurabler Paradigmen“44, wie Richard Rorty45 behauptet? Oder handelt es sich eher um einen dialektischen Zusammenhang, in dem das jeweils „folgende Paradigma (...) die Antwort auf ein Problem, das die Entwertung des vorangehenden Paradigmas hinterlassen hat“, bereithält, wie Jürgen Habermas46 meint? Der hier unternommene kursorische Gang durch die Philosophiegeschichte soll – um diesen Kontext gleich klarzustellen – die letztere Auffassung stützen. Die Zusammenhänge verschiedener philosophischer Paradigmen sollen untersucht und herausgestellt werden, analog zum pädagogischen Ansatz im erwähnten Seminar: Da ging es stets auch darum, Studienanfängern der Philosophie Kompetenz darin zu vermitteln, ihnen begegnende Argumentationsweisen und Positionen in Denkmodelle der Philosophie einordnen und interne Bezüge und solche zu ihrem eigenen Kontext verstehen zu können. Nur so läßt sich – wenn überhaupt – ein Überblick über die unübersehbare Vielfalt philosophischer Schulen gewinnen. So wie es ein gewisses Wagnis ist, einen verstehenden Durchgang durch diese drei Paradigmen innerhalb eines Seminars in einem Semester absolvieren zu wollen (ein Wagnis, das viel Disziplin und konzentrierte Mitarbeit erfordert), erscheint es auch hier vermessen, auf wenigen Seiten dieses Wagnis nachzuvollziehen und kritisch zu rekonstruieren. So gilt für beide Anliegen: Gelingen können sie höchstens unter der Maßgabe, zum einen bloß schlaglichtartig Details der paradigmatisch umrissenen Hauptströmungen zu beleuchten und zum anderen den Schwerpunkt auf den Zusammenhang der Paradigmen, auf die logischen Abhängigkeiten und die ideengeschichtlichen Ablösungsprozesse zu richten. I. Paradigma: Sein Schöne alte Welt – die klassisch-griechische Kosmosfrömmigkeit Exemplarisch für die klassisch-griechische Weltauffassung, die am Anfang unseres Durchgangs durch die Philosophiegeschichte steht, wird ein Auszug aus Platons Dialog ‚Timaios‘ herangezogen. Den Hauptteil des Dialoges macht Timaios’ Rede über das Entstehen der Welt aus. Darin wird die „klassisch griechische Ontologie als ewigkeits- und strukturbezogene Kosmostheologie“47 unter anderem so entfaltet: „Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick auf das Unvergängliche gerichtet (...), denn sie ist das Schönste alles Gewordenen, er der Beste aller Urheber. So also entstanden, ist sie nach dem durch Nachdenken und Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibendem auferbaut (...). Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nicht schlecht sei, brachte 42 Johannes Hoffmeister (Hg.) (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg2, S. 562. 43 Der Frage „Wozu Philosophie (studieren)?“ soll und kann hier nicht nachgegangen werden. Vgl. hierzu das Unterkapitel ‚Wozu brauchen wir heute noch den philosophischen Diskurs?‘ in Gronke 2001. 44 Habermas 1999, S. 242. 45 Polemisch und anregend (wenn auch mit – im Vergleich zum hiesigen Verfahren – quasi umgekehrter Intention) beispielsweise Rortys Versuch, auf wenigen Seiten die „Geschichte (...) wie die Philosophie qua Erkenntnistheorie sich in der modernen Periode ihrer selbst versichert“ zu erzählen (Rorty 1981, S. 155 ff.). 46 Habermas 1999, ebd. 47 Böhler 2001 c, S. 3. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 33 er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm diese durchaus besser schien als jene. (...) [So] verlieh er der Seele Vernunft und dem Körper die Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.“48 Die Welt ist hier als Kosmos geordnete Schönheit49 und Abglanz des göttlich-planvollen Ewigen dargestellt. Was ist nun die Rolle des Denkenden in dieser Welt? Ihm ist es aufgegeben, mit seiner Seele, die sich als Teil der wohlgestalteten Ordnung verstehen läßt, in diese Einblick zu nehmen. Die ewigen Ideen, die allem Seienden zugrunde liegen, sind demzufolge Thema und Erkenntnisgebiet der Philosophie; das bloß wandelbar-geschichtliche Auftreten der Dinge, mithin die Praxis gilt es zu überwinden, um so zur reinen Theorie zu kommen. Dann wird der „Philosoph, der mit dem Göttlichen, dem Kosmos und Logosgemäßen umgeht, (...) selber kosmosgemäß und göttlich“50. Für die dem Menschen angeborene Erkenntnisfähigkeit gibt es eine dominante Metapher: das Sehvermögen. Dahinter steht die vorgestellte Analogie, daß wir so, wie wir mit unseren Augen unmittelbar aufnehmen könnten, was ist, in gleicher Weise durch Anschauung von Sachverhalten unmittelbar zu Erkenntnis kämen. Verbunden ist damit die Überzeugung, Philosophie überhaupt sei aus Anschauung der kosmischen Kreisläufe entstanden – so rekonstruiert jedenfalls Timaios „das Wesen Philosophie, als welches ein größeres Gut weder kam noch jemals kommen wird dem sterblichen Geschlecht als Geschenk von den Göttern“51. Die optische Erkenntnisfähigkeit sei uns Menschen gegeben, heißt es weiter, „damit wir beim Erschauen der Kreisläufe der Vernunft am Himmel sie für die Umschwünge unserer eigenen Denkkraft benutzten, welche jenen, die regellosen den geregelten, verwandt sind, und, nachdem wir sie begriffen und zur naturgemäßen Richtigkeit unseres Nachdenkens gelangten, durch Nachahmung der durchaus von allem Abschweifen freien Bahnen Gottes unsere eigenen, dem Abschweifen unterworfenen, danach ordnen möchten.“52 Wie sich wesentliche Elemente dieser Auffassung bis in die römische Stoa erhalten haben, zeigt Hans Jonas, wenn er Ciceros „De natura deorum“ wie folgt zusammenfaßt: Die Welt sei als All „beseelt, verständig und weise, und etwas von diesen Eigenschaften wird auch in manchen seiner Teile sichtbar; (...) der Mensch hat aber zusätzlich zu dem natürlichen Anteil, der ihm als einem Teil der Vollkommenheit des göttlichen Universums zukommt, auch die Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen, indem er sein Sein dem des Ganzen durch Betrachtung mittels seines Verstandes und Nachahmung in seiner Lebensführung angleicht“53. Die Annäherung an die ewige Vernunft der Kosmos-Gesamtheit soll also als Orientierung der aktuellen Lebenswelt diese selbst transzendieren. 48 Platon, Timaios 28c f. (S. 154 f.). 49 Als pädagogisch fruchtbar erwies sich in diesem Zusammenhang der Hinweis eines referierenden Studenten auf das in die deutsche Sprache eingegangene Wort ‚Kosmetik‘, denn es knüpft (vermittelt durch französische Übernahme) an die griechische ‚kosmetiké techné‘ – ‚Kunst des Schmückens‘ – an. (Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin. München 1995, S. 721.) 50 So faßt Dietrich Böhler Politeia VI, 500c f. zusammen: Böhler 2001 c, S. 3. 51 Platon, Timaios 47 b f. (S. 169). 52 Ebd. 53 Jonas 1999, S. 292. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 34 Erschütterungen: Sophistik und Gnosis – und klassische Antworten Für Erfahrungswelt und Intuitionen derjenigen, die heute mit Philosophie beginnen, ist zunächst nur schwer eine Anknüpfungsmöglichkeit an dieses Weltverständnis abzusehen. Wir empfinden heute die Welt, auf die sich unsere Praxis bezieht, als krisengeschüttelt und unbeständig. Doch lenkt man den Blick zurück auf Platon, kann deutlich gemacht werden, daß diese Krisenerfahrung keine Erscheinung der Moderne ist – Platons Philosophie selbst ist nämlich in gewisser Weise schon eine Antwort auf zwei geschichtliche Krisenerfahrungen54, „die die philosophische Reflexion herausforderten: Einmal die bedrängende Erfahrung eines permanenten geschichtlichen Wandels, der alles erschüttert, verändert und in Frage stellt. Zweitens die nicht minder bedrängende Erfahrung einer in dieser Zeit um sich greifenden Aufklärungs- und Bildungsbewegung der Sophisten.“55 Der ‚Angriff‘ dieser sophistischen Bewegung erschütterte die unhinterfragte Vertrautheit mit dem ontotheologischen Hintergrund der platonischen Philosophie; auch wenn die Sophistik von Weisheitslehre über Rhetorik mehr und mehr zu einem Skeptizismus wurde, der – wie es in der philosophischen Einführung von Wilhelm Windelband und Heinz Heimsoeth dramatisch heißt56 – nur „anfangs eine ernste wissenschaftliche Theorie war, jedoch bald in ein frivoles Spiel überging. Mit der selbstgefälligen Rabulistik ihres Advokatentums machten sich die späteren Sophisten zu Sprechern aller zügellosen Tendenzen, welche die Ordnung des öffentlichen Lebens untergruben.“ Fruchtbar machen lassen sich indessen die Antworten Platons und Aristoteles’ auf diese Erschütterungen. Im Hinblick auf die im Rahmen einer Einführung in die Philosophie entscheidende Einsicht über den Zusammenhang philosophischer Paradigmen erweisen sich insbesondere zwei Grundsätze als wesentlich, die Teil dieser Antworten an die skeptische Herausforderung sind: Logosgrundsatz und Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. 1. Wenn man den Logosgrundsatz rekonstruiert, läßt sich dort ein „fast sinnkritisch dialogpragmatischer Vorgriff aus sokratischem Geist“57 festhalten, den Platon durch Sokrates im Dialog ‚Kriton‘ anführen läßt: „Schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem Logos [lógos]58, der sich bei der Untersuchung mir als der beste zeigt.“59 Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung einer Rede als wahr oder richtig ist also ihre Überzeugungskraft in argumentativen Diskursen. Nur was sich anhand wohlbegründeter Argumente erweisen läßt, kann als verbindlich gelten.60 Die überzeugendsten Argumente stehen miteinander im Widerstreit; und damit ist vom platonischen Sokrates zugleich notwendigerweise „die Diskursgemeinschaft der sinnvoll Argumentierenden als die einzige Instanz für die Prüfung und für das In-Geltung-Setzen von Normen akzeptiert. Damit hat er sich gegenüber dem Ethos einer realen Normen-Gemeinschaft auf die Ethik einer idealen Normenbegründungsgemeinschaft berufen.“61 Gleichwohl ist ein wichtiges Defizit festzuhalten: Konsequent gedacht wäre mit dieser Vorstellung der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft nicht mehr jene traditionelle Auffassung zu vereinbaren, welche den inneren seelischen Dialog des Einzelnen (mit sich selbst 54 Zum faktisch-historischen Kontext der griechischen Polis-Krise detaillierter vgl. Apel/Böhler/ Kadelbach 1984, Bd. I, S. 306 ff. 55 Apel/Böhler/Kadelbach 1984, Bd. I, S. 309. 56 Windelband/Heimsoeth 1957, S. 58. 57 Böhler 2001 c, S. 5. 58 Schleiermacher übersetzt etwas verengend lógos mit „Satz“, obwohl sich mindestens die Bedeutungen „das Sagen, Sprechen, (...) Rede = Darstellung, (...) Rechenschaft, (...) Begründung, Beweis, (...) Denkkraft, Vernunft“ anbieten (Menge 1953, cf. logos, 274). Vgl. Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II, S. 340 f.; vgl. den Abschnitt ‚Dritte Reflexion der unterstellten sokratischen Bildungsidee: Logos‘ (S. 254-257) in Jürgen Sikora: Bildung als Dialogpraxis. Einige Anmerkungen zu Sokrates, die Grenzen und Möglichkeiten ‚Mitverantwortung‘ zu lehren und zu lernen betreffend. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 247-270. 59 Platon, Kriton 46 b (S. 38). 60 Vgl. Böhler 2001 a, S. 47. 61 Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 339. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 35 oder als Schau göttlicher Ideen) als Fundament für Erkenntnis ansieht und den Logos bloß als „Ausfluß von jenem“62. Doch an dieser Vorstellung wird unreflektiert festgehalten; Denken gilt weiterhin als Tätigkeit, „die man prinzipiell einsam, unabhängig von Kommunikation und Sprache, vollziehen“63 könnte. „Erst heute, wo die Philosophie sprachbewußt wird“,64 kommt ans Licht,65 daß mit der Einsicht in die Rationalität der unbegrenzten Gemeinschaft der Argumentierenden gerade die Kommunikation mit diesen Anderen als das unhintergehbare Erkenntnismodell schlechthin immer schon anerkannt werden muß. 2. Damit zu einer anderen klassischen Antwort auf die skeptische Herausforderung: Aristoteles’ Aufweis der Unbestreitbarkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch – Es kann nicht zugleich und in der selben Hinsicht66 gelten: A und non-A. „Mangel an Bildung“67 wirft Aristoteles den Skeptikern vor, die einen Beweis in klassischer (d.h. deduktiver) Form für diesen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch fordern. Aristoteles meint damit eigentlich – so könnte man es modern und weniger autoritär sagen – mangelnde Selbstreflexion. Dies geht aus seiner Erläuterung hervor: Einerseits sei es unsinnig, für alles einen Beweis nach dem Muster der deduktiven Ableitung zu verlangen, dies würde nämlich heillosen „Fortschritt ins Unendliche“68, also infiniten Regreß, nach sich ziehen – denn jeder deduktive Beweis ist von Prämissen abhängig, die selbst wieder in Frage gestellt werden müßten, wenn für alles Beweise dieser Art eingefordert würden. Zum anderen kann ein unbezweifelbarer indirekter Beweis geführt werden, indem gezeigt wird, daß die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch nicht mit einer sinnvollen Äußerung bestritten werden kann. Denn wenn eine Äußerung A (zum Beispiel die Äußerung: „Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gilt für mich nicht!“) verständlich sein soll, muß sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen und die Bedeutung A haben und nicht zugleich die Bedeutung non-A; eine Äußerung, in der A und non-A enthalten sein würden, wäre so allgemein, daß sie nichts Bestimmtes mehr bezeichnen würde und also unverständlich wäre.69 Ein Skeptiker, der die Gültigkeit des Prinzips in Zweifel ziehen will, verwickelt sich folglich in einen „Widerspruch immer dann, wenn er überhaupt redet und denkt. Das ist aber eine Bedingung, die alle nur denkbaren Fälle abdeckt, in denen sich auch nur das Problem erheben könnte (...). Das Prinzip ist also für jeden, gegen den überhaupt zu argumentieren sich lohnt (weil er es selbst tut), unvermeidlich Voraussetzung.“70 Hervorzuheben ist, daß Aristoteles bei der Begründung auf die Dialogpraxis reflektiert und „ganz ausdrücklich einen zentralen Teil seiner Philosophie mit Hilfe dieses Argumenttyps“71 begründet. Die Bedeutung dieser Argumentationsweise im Zusammenhang mit dem in diesem Seminar beabsichtigten Lernfortschritt soll hier betont werden. Denn die indirekte Skeptikerwiderlegung nach diesem Modell ist exemplarisch für die Art und Weise, wie Philosophen es vermögen, aus skeptischen Erschütterungen hergebrachter Vorstellungen Kapital zu schlagen. Die entscheidende Frage, die sie sich, da sie sich in einer Argumentation befinden, vorlegen, lautet: Was ist Voraussetzung eines sinnvollen Redebeitrags? Indes bleibt Aristoteles wegen seiner akommunikativen, gegenstandstheoretischen Sichtweise ein bedeutender unreflektierter Rest vorzuhalten. Er geht einerseits nicht weit genug mit dem 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 Platon, Sophistes 263 e (S. 239). Böhler 2001 c, S. 5. Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 342. Die selbstverständliche Formulierung „ans Licht kommen“ zeigt erneut, wie sehr bis in unseren heutigen Sprachgebrauch Erkenntnis mit optischer Metaphorik zusammenhängt. Der einschränkende Verweis auf gleiche, mitgedachte und explizierbare Verwendungsweise der Begrifflichkeit A um die es jeweils geht – hier durch die Wendung „in gleicher Hinsicht“ ausgedrückt –, hat sich im Seminar als wichtig erwiesen. Denn andernfalls bringen Seminarteilnehmer leicht Beispiele, in denen A und non-A gleichzeitig zu gelten scheinen, tatsächlich aber verschiedene Kategorien oder Verwendungsweisen zu Grunde liegen. Diese Beispiele sind aber wenig geeignet, weil ‚zu schwach‘, um sich wirklich mit der Stärke des aristotelischen Aufweises messen zu können. Aristoteles Metaphysik 1006 a (zit. n. Kuhlmann 1985, S. 271). Ebd. Ausführlicher vgl. Kuhlmann 1985, S. 273-276. Kuhlmann 1985, S. 275. Kuhlmann 1985, S. 268. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 36 reflexiven Ansatz, in dem er sich nicht selbst auf seine Rolle als Argumentierender besinnt: „im Ganzen wird das Argument durchaus aus der distanzierten Position des Theoretikers vorgetragen, der von außen ganz allgemein und unabhängig von seiner faktischen Argumentationssituation hier und jetzt überlegt“72. Andererseits geht er zu weit in der Abwehr sophistischer Rhetorik – dies ist ablesbar u.a. an der Aristoteles-Schule seit Theophrast, der „die pragmatische Dimension der Rede (Kommunikation zwischen Sprecher/Hörer und Hörer/Sprecher) (...) als erkenntnis- und daher philosophisch irrelevant zurückstuft, um die Philosophie von der nicht wahrheitsfähigen Rhetorik etc. zu emanzipieren“73. Der so interpretierte Aristoteles blendet die pragmatischen Bedingungen der Rede, d.h. die Verwendungsweise von Sprache in bestimmten Handlungskontexten, systematisch aus und konzentriert sich allein auf die logischen Voraussetzungen der Rede. Dabei läßt sich sein Modell der Skeptikerwiderlegung – der indirekte Aufweis, in dem die Sinnlosigkeit von Bestreitungsversuchen gezeigt wird –, wie zu sehen sein wird, insbesondere für praktische Kontexte fruchtbar machen. In historischer Perspektive könnte man sagen, daß zur Überwindung dieses gegenstandstheoretischen Rests die völlige Erschütterung der traditionellen Auffassung von Sprache und Welt noch ‚fehlte‘. Als eine der Vorbereitungen dieser Erschütterung kann das Phänomen der Gnosis74 gesehen werden, das sich in den ersten Jahrhunderten nach Beginn unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum in Gestalt zahlreicher Sekten und Glaubensrichtungen zeigte. In ihnen „fand die geistige Krise des Zeitalters ihren verwegensten Ausdruck und gleichsam ihre radikale Antwort“75: eine „jenseitsbezogene, die Welt als heillose Entfremdung verneinende Selbstsorge und Selbsterlösungsreligiosität“76. An Stelle der Auffassung von der einen Welt (in der sich die Zeichen göttlicher Vernunft wiederfinden lassen) predigen gnostische Lehrer nun radikalen Dualismus zwischen Gott und Welt: „Die Gottheit ist absolut außerweltlich, ihr Wesen ist dem des Universums fremd, das sie weder geschaffen hat noch regiert und zu dem sie die vollkommene Antithese bildet: dem in sich geschlossenen und fernen göttlichen Reich des Lichts steht der Kosmos als Reich der Finsternis gegenüber.“77 Im Zusammenhang mit der Erlösungslehre der Gnosis wird die Besinnung auf das Innere des Menschen zum entscheidenden Moment, denn Voraussetzung zur Erlösung ist „das ‚Wissen des Weges‘, nämlich des Weges der Seele aus der Welt hinaus (...). Die unmittelbare Erleuchtung macht das Individuum nicht nur souverän in der Sphäre des Wissens (daher die grenzenlose Vielfalt gnostischer Lehren), sondern bestimmt auch sein praktisches Verhalten.“78 In unserem Kontext der Betrachtung philosophischer Paradigmen ist die damit aufkommende individuelle Souveränität oder Autonomie relevant. Mit dem ‚Fluchtimpuls‘ aus der verkommenen Welt geht eine Herausforderung für die Erkenntnisleistung des Einzelnen einher. Im Dualismus der Gnosis liegt somit „praktisch eine Vorstufe zu einem autonomen Selbst- und Weltverhältnis, welches Normen und Sinn letztlich nicht in der Welt vorfinden kann, sondern begründen bzw. prüfen und selbst erkennen muß.“79 72 73 74 75 76 77 78 79 A.a.O., S. 275 f. Böhler 2001 c, S. 6. Vgl. den Artikel Carsten Colpes in RGG, Sp. 1648-1652. Jonas 1999, S. 55. Böhler 2001 c, S. 9. Jonas 1999, S. 69. Jonas 1999, S. 72 f. Böhler 1999, S. 2. Dieser Impuls bildet den Ansatzpunkt für Hans Jonas’ vergleichende Betrachtung von Gnosis und modernem Existentialismus, die von einer Parallelität von – wie Jonas selbst zugibt – historisch sehr unterschiedlichen Phänomenen ausgeht; aber eben dieser Fluchtimpuls evoziert deren Vergleichbarkeit – s. a. die Attraktivität ‚gnostischer‘ Bewegungen in jüngster Zeit (vgl. Hans Jonas: Epilog – Gnostizismus, Existentialismus und Nihilismus. In: Jonas 1999, S. 377-400). Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 37 II. Paradigma: Selbst Selbstbesinnung bei Augustinus und Descartes Voll in Besitz genommen wird diese Stufe der Autonomie durch Augustinus, der in seiner Jugend dem Manichäismus, einer der wirkmächtigsten gnostischen Bewegungen, anhing. Seine Aneignung und Weiterentwicklung der Vorstellung eines autonomen Ichs lassen Augustinus zu „einem Urheber des modernen Denkens“ werden80. Seine Suche nach einem sicheren Fundament für die Philosophie läßt ihn fündig werden im „Prinzip der selbstgewissen Innerlichkeit, das Augustin zuerst mit voller Klarheit ausgesprochen und als Ausgangspunkt der Philosophie formuliert und behandelt hat. Unter dem Einfluß der ethisch-religiösen Bedürfnisse hatte sich allmählich und fast unvermerkt das metaphysische Interesse aus der Sphäre der äußeren Wirklichkeit in diejenige des inneren Lebens verschoben. An die Stelle der physischen Begriffe waren die psychischen als Grundfaktoren getreten.“81 Damit wird zugleich eine neue Selbstbehauptung des Individuums in der Welt begründet. Seele bzw. Bewußtsein werden (neben Gott und Geschichte) zu zentralen Themen der Philosophie Augustins. „Die Wissenschaft von der Außenwelt, von der Natur, vom Kosmos ist dagegen ganz unwichtig. Die Wendung geht jetzt – das zeigt den Beginn eines neuen Paradigmas an – nach ‚innen‘.“82 Die in der Neuzeit aufkommende „Verinnerlichung des Denkens als Suche nach dem Selbst im Denken und Erfahren bzw. nach dem Selbst als Subjekt des Denkens und Erkennens“83 hat hier einen Ursprung. Die Bedeutung Augustins im Zusammenhang der Untersuchung und Einführung philosophischer Paradigmenwechsel wird noch gesteigert dadurch, daß er sein Interesse auch auf die menschliche Sprache richtet84, und durch seine selbst in Anspruch genommene Rolle als Vermittler platonischer Philosophie.85 Mit dem Vorigen ist schon der Übergang zum methodischen Subjektivismus René Descartes’ angedeutet. Als Wegbereiter wäre ergänzend noch die große mittelalterliche Auseinandersetzung um die Universalien, also um die „Frage nach der metaphysischen Bedeutung der Gattungsbegriffe“86 zu erwähnen, was hier – wenngleich die Folgen der Auseinandersetzung weitreichend sind – nur am Rande geschehen kann. Hier wären vor allem Spielarten des Nominalismus zu nennen, bei denen „das augustinische Gefühlsmoment, welches der individuellen Persönlichkeit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will“87, festzustellen ist. Zugleich macht sich aber auch „die antiplatonische Tendenz der erst jetzt bekannt werdenden aristotelischen Erkenntnistheorie geltend, die nur dem empirischen Einzelwesen den Wert der ‚ersten Substanz‘ zuerkennen will“88. Inwiefern der Subjektivismus an den Nominalismus anknüpft, läßt sich an Wilhelm von Occams spätem nominalistischem Modell ablesen (wie es in Windelbands Philosophiegeschichte beschrieben ist): „Die Einzeldinge (...) werden von uns intuitiv (ohne Vermittlung von species intelligibiles) vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die 80 81 82 83 84 85 86 87 88 Windelband/Heimsoeth 1957, S. 237. Ebd. Kuhlmann 1985, S. 284. Böhler 2001 c, S. 9. Andererseits bietet der Aufweis der augustinischen Defizite auf diesem Gebiet den Vorreitern des dritten Paradigmas Gelegenheit zur Weiterentwicklung eigener Ansätze, s.u. Vgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 775. Windelband/Heimsoeth 1957, S. 232. A.a.O., S. 292. Ebd. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 38 ‚natürlichen‘ Zeichen für jene Dinge und haben zu ihnen nur eine notwendige Beziehung, dagegen eine sachliche Ähnlichkeit mit ihnen so wenig, wie dies sonst für ein Zeichen in Hinsicht des bezeichneten Gegenstands nötig ist.“89 Der Zusammenhang mit dem hier schon angedeuteten – und spätestens mit Descartes vollzogenen – Übergang zum zweiten Paradigma, dem der Subjektphilosophie, läßt sich mit Jürgen Habermas so auf den Punkt bringen: „Der Nominalismus hatte die Dinge ihrer inneren Natur oder ihres Wesens beraubt und die Allgemeinbegriffe zu Konstruktionen des endlichen Geistes erklärt. Seitdem fehlte der gedanklichen Erfassung die Fundierung in der begrifflichen Verfassung des Seienden selber. Die Korrespondenz des Geistes mit der Natur konnte nicht mehr als Seinsrelation begriffen werden, die Regeln der Logik spiegelten nicht mehr die Gesetze der Wirklichkeit.“90 Es ist die (wenn auch nicht konsequente, s.u.) Anwendung skeptischer Fragestellungen, die es René Descartes möglich macht, die subjektivistische Wendung zu vollenden. Es gelingt ihm, Skepsis zu „durchdenken und als methodischen Zweifel für begründete Erkenntnis fruchtbar [zu] machen“91. Descartes’ gründlicher und allgemeinverständlich formulierter Neubeginn der ‚ersten‘ Philosophie bewegt Hegel dazu, in seiner ‚Vorlesung über die Geschichte der Philosophie‘ über ihn zu sagen, er sei „so ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von vorne angefangen und den Boden der Philosophie erst von neuem konstituiert hat“92. Voraussetzung für diesen Neuanfang ist dabei eine „Umkehrung der Erklärungsrichtung“.93 Da die Vorstellung einer untrüglichen Korrespondenz zwischen äußerer Wirklichkeit und Erkenntnis nicht mehr zur Verfügung stand, suchte Descartes nach einem alternativen Fundament für gesicherte Erkenntnis: „Wenn das erkennende Subjekt einer entqualifizierten Natur die Maßstäbe der Erkenntnis nicht mehr entnehmen kann, muß es diese aus der reflexiv erschlossenen Subjektivität selbst schöpfen.“94 Es ist wichtig festzuhalten, daß nicht gleich auf jegliche Maßstäbe gesicherter Erkenntnis95 verzichtet werden soll. Denn Descartes verfolgt mit seinem ‚De omnibus dubitandum est‘ nicht die Strategie des haltlosen Skeptizismus; „es hat vielmehr den Sinn, man müsse jedem Vorurteil entsagen – d.h. allen Voraussetzungen, die ebenso unmittelbar als wahr angenommen – und vom Denken anfangen, um erst vom Denken auf etwas Festes zu kommen, einen reinen Anfang zu gewinnen. Dies ist bei den Skeptikern nicht der Fall; da ist der Zweifel das Resultat.“96 Das Ergebnis der Cartesischen Suche nach unbezweifelbarem Grund, wenn sich doch an allen äußeren Erscheinungen zweifeln läßt, ist bekanntlich das cogito, mein ich denke: das Bewußtsein als Zweifelnder, das ich nicht sinnvoll bezweifeln kann, ohne mir selbst zu widersprechen. Skeptiker, die wirklich an allem zweifeln wollen, werden von Descartes – durchaus in augustinischer Tradition – auf ihr eigenes zweifelndes Bewußtsein verwiesen und auf die Gewißheit, die sie darin finden können, wenn sie sich bewußt machen: „Indem ich zweifle, weiß ich, daß ich, der Zweifelnde, bin; und so enthält gerade der Zweifel in sich die wertvolle Wahrheit von der Realität des bewußten Wesens: denn wenn ich in allem anderen irren sollte, so kann ich darin nicht irren; denn um zu irren, muß ich sein.“97 Oder, wie es dann bei Wittgenstein heißt: „Wer an allem 89 90 91 92 93 94 95 A.a.O., S. 293. Habermas 1999, S. 242. Böhler 2001 c, S. 12. Vgl. Gronke 1999, S. 30 ff. Hegel 1986, S. 123. Habermas 1999, S. 242. Ebd. Insofern geht die Polemik Rortys, wenn er mit Étienne Gilson davon spricht, daß „Descartes’ Hirngespinste“ deshalb so aufsehenerregend gewesen wären, „weil man Fragen ernst nimmt, die zu stellen die Scholastiker (...) zu vernünftig waren“, ins Leere (Rorty 1981, S. 246 f.). 96 Hegel 1986, S. 127. 97 Windelband/Heimsoeth 1957, S. 238 mit Verweis auf Augustinus, De beata vita 7; Solil., II, 1 ff.; De ver. Rel. 72 f.; sowie De trin. X, 14. Vgl. auch Kuhlmann 1985, S. 287 f. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 39 zweifeln wollte, der würde auch nicht zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.“98 Die Ähnlichkeit zur aristotelischen Zurückweisung desjenigen Skeptikers, der meint, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch nicht anerkennen zu müssen, ist unübersehbar: Die Zurückweisung des Skeptikers verwendet eine indirekte Argumentation, die ihm nachweist, mit seinem Bestreitungsversuch zugleich Voraussetzungen zu machen – und diese Voraussetzungen muß er reflektierend sofort einsehen, und damit ebenso die Sinnlosigkeit seines Bestreitungsversuchs. Die unhintergehbare Gewißheit des cogito erstreckt sich sogar – mindestens mit dieser Erwägung geht Descartes über Augustinus hinaus – auf die ketzerische (in gnostischen Lehren angespielte) Eventualität, wir würden in dieser Welt von einem bösen Dämon mit Absicht verführt, und alle unsere Wahrnehmungen seien von diesem Dämon eingepflanzte Täuschungen; denn selbst dann, so Descartes, sei ja gewiß, daß ich es bin, der da getäuscht wird. Diese so reflexiv aufweisbare Unhintergehbarkeit ist von Vertretern des dritten, kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophiegeschichte etwas mißverständlich als ‚Letztbegründung‘ bezeichnet worden – mißverständlich, weil Kritiker sie so verstehen konnten, als sei mit der einmaligen Begründung von Gewißheiten dieser Art die Reflexionsarbeit ein für alle Mal ‚erledigt‘ und deren Ergebnisse müßten fortan dogmatisch anerkannt werden (was Vertretern des Paradigmas den Vorwurf latenten Fundamentalismus’99 eingebracht hat); gemeint ist aber Unhintergehbarkeit im Sinne von jeweils in der aktuellen Auseinandersetzung als unbezweifelbar – d.h. nicht mit sinnvollen, widerspruchsfreien Argumenten bezweifelbar – anerkennungswürdiger Grundlage dieser Argumentation. In diesem Sinne ist Wolfgang Kuhlmann zu verstehen, wenn er schreibt, daß es sich bei der cartesischen Verwendungsweise der reflexiven Wendung „tatsächlich um ein Letztbegründungsargument handelt, ein Argument, mit dem selbst der äußerste Skeptizismus, derjenige, der sogar mit einer uns absichtlich täuschenden Instanz zu rechnen bereit ist, noch zu bezwingen ist.“100 Descartes erweitert dieses Modell jedoch noch in anderer Hinsicht entscheidend gegenüber Augustinus: Die in reflexiver Denkrichtung zu gewinnende Gewißheit steht im Mittelpunkt seiner Philosophie, ja im Mittelpunkt von Wissenschaft überhaupt. Descartes macht das reflexive Argument „zum Zentrum und zugleich zum Prinzip seiner ganzen Philosophie. Zum Zentrum und Angelpunkt insofern, als alle sachhaltigen Aussagen der cartesischen Philosophie in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit stehen zu diesem Argument. Zum Prinzip insofern, als mit diesem reflexiven Argument die cartesische Philosophie im engeren Sinne, die prima philosophia, ausdrücklich zur Philosophie in der intentio obliqua, zur Reflexion wird, und zwar vor allem zur Reflexion auf das erkennende Subjekt. Bei Descartes verliert das Argument vollkommen den Charakter eines sophistisch spielerisch zu verwendenden bloßen Versatzstückes aus dem Arsenal der nur halb ernst gemeinten Skeptikerdiskussionen.“101 Grenzen der Subjektphilosophie – ‚Metaphysischer Rest‘ bei Augustinus, Descartes, Kant Es bleibt jedoch – trotz all dieser Würdigungen – eine gewisse Ambivalenz festzuhalten, die aus der mangelnden ‚Sprachbewußtheit‘ von Augustinus und Descartes resultiert. Augustinus hatte 98 Wittgenstein, Über Gewißheit § 115, zit. n. Habermas 1999, S. 244. 99 Vgl. Karl-Otto Apels Einschätzung in: Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen Begründung der Diskursethik als Verantwortungsethik. Gespräch von Horst Gronke, Jens Peter Brune und Micha H. Werner mit Karl-Otto Apel. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 97-121, S. 118 mit dem Verweis auf Jürgen Habermas 1996; sowie dessen Abschnitt über den „Sinn von ‚Letztbegründungen‘ in der Moraltheorie“ in Habermas 1991, S. 185-199; vgl. Habermas 1999, S. 256 ff. 100Kuhlmann 1985, S. 290. 101A.a.O., S. 291. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 40 zwar noch den Erkenntnisprozeß als ‚Dialog‘ verstanden, allerdings als inneren Dialog der Seele mit Gott, also als „sprachfreie Erleuchtung“102. Der Bewußtseinsphilosoph Descartes übersieht hingegen vollends, „daß Sprache und Kommunikation zu den Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Zweifelns gehören“103. Die Folge sind interne Inkonsequenzen: Denn ohne Inanspruchnahme sprachlicher Zusammenhänge müßte die cartesische Gewißheit strenggenommen beschränkt bleiben auf „das mögliche apriorische Wissen, welches ein Erkenntnissubjekt von sich selbst – als real zweifelndem, also sprachfähigem, also auf Andere bezogenem und leibhaftem, also in der Welt befindlichem Kommunikations-Lebewesen etc. – muß haben und daher auch als sicher müßte voraussetzen können“104. Doch dies genügt Descartes eben nicht, er vermengt diese geltungslogische Funktion mit seinem „psychologischen und ontotheologischen Ziel, den Bestand einer individuellen Seele als eigentümlicher Substanz (res cogitans) zu erweisen.“105 Damit verstößt Descartes gegen seine eigene Programmatik, derzufolge er sich doch verpflichtet hatte, nichts anzuerkennen, was sich mit gutem Grund bezweifeln läßt. Statt sich durchgehend reflexiv auf die Voraussetzungen seiner Argumentation zu besinnen, nimmt er wieder eine theoretische Einstellung ein. Von strikter Reflexion läßt er sich nur bis zum Erweis des cogito leiten – wenn „dies feststeht: ‚sum, existo‘, sofort wechselt Descartes die Einstellung: die strikte Reflexion, die einzige Einstellung, in der der drohende Regreß gestoppt werden kann“, verläßt er und „analysiert in theoretischer Einstellung, was es ist, was er da gewonnen hat, und gelangt so zu der überaus problematischen Bestimmung: ‚sum res cogitans‘ und zu (...) ebenso problematischen Brückenprinzipien, die (...) sich offenbar sämtlich ohne Selbstwiderspruch bestreiten [lassen], und damit ist der Letztbegründungseffekt vertan“106. Die breite Inanspruchnahme dieser – von sinnvollen skeptischen Argumenten eben durchaus erschütterbaren – Brückenprinzipien bei Descartes sorgt dafür, daß er als „unfreiwilliger Kronzeuge für die These von der Unfruchtbarkeit reflexiver Argumente in Anspruch genommen werden“107 kann. Es ist aber eigentlich mangelnde Reflexivität, die für diese Defizite verantwortlich ist. Was als Leistung Descartes’ festzuhalten bleibt, ist der Anspruch, daß philosophische Erkenntnisse den Standards wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen haben, womit „Descartes die Grundform des Anfangs aller wahrhaft wissenschaftlichen Philosophie entdeckt“ hat – „wie sehr er den Sinn dieses Anfangs auch mißverstanden und damit den wirklichen Anfang verfehlt hat“.108 Einen wirklichen unbezweifelbaren Anfang in der Philosophie wollte in vergleichbarer Weise Immanuel Kant gewinnen. Er spielt natürlich in einem Seminar, das Paradigmen der Philosophiegeschichte und ihren Zusammenhang untersucht, eine Schlüsselrolle. Auch Kant verfolgte den Anspruch, daß die zu erreichende „Selbsterkenntnis der Vernunft durch Begrenzung ihrer Ansprüche“109 wissenschaftlichen Anforderungen genügen müsse: In seiner Vorrede zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gibt er zu, daß bei einem Vorhaben wie dem seinen unter anderem „Gewißheit und Deutlichkeit (...) als wesentliche Forderungen anzusehen [sind, T.L.], die man an den Verfasser, der sich eine so schlüpfriche Unternehmung wagt, mit Recht tun kann“110. Diese wissenschaftliche Sicherheit soll durch strikte Verfolgung der transzendentalen 102Böhler/Gronke 1994, S. 775. 103Böhler 2001 c, S. 13. 104A.a.O., S. 14. 105Ebd. 106Kuhlmann 1985, S. 297. 107A.a.O., S. 291. 108Edmund Husserl (1956): Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hg. v. Rudolf Boehm. Den Haag (Husserliana Bd. VIII), S. 5. Zit. n. Gronke 1999, S. 37. 109Böhler 2001 b, S. 16. 110Kant KrV A, S. XV, zit. n. Kant 1956, S. 9. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 41 Methode erreicht werden, die kritisch nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis fragt. Auch Kant bedient sich dabei einer indirekten Argumentationsstrategie – derjenigen, „daß die ‚objektive Gültigkeit‘ eines x (sei es eines ‚Prinzips der Sinnlichkeit‘, sei es einer Kategorie, sei es eines ‚Grundsatzes des Verstandes‘, sei es auch z.B. eines ‚teleologischen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur‘) auch dadurch erwiesen werden kann, daß gezeigt wird: Ohne dieses x, ohne die ‚objektive Gültigkeit‘ dieses x, kann es Erfahrung nicht geben.“111 Kant argumentiert dabei „ganz im Sinne des cartesischen Paradigmas“112. Denn er bemüht sich nicht etwa, den Skeptiker auf klassisch-metaphysische Weise zu überzeugen – also dadurch, daß er „neben sich und seine Erkenntnisbeziehungen zur objektiven Welt tritt und (...) nach dem Muster der ontologischen Wahrheitstheorie durch Vergleich des Subjektiven mit dem Objektiven von einer dritten Position aus die bezweifelte Übereinstimmung (adaequatio) in den fraglichen Punkten“113 zu zeigen versuchte – denn er weiß, daß sich eine solche Übereinstimmung niemals unbezweifelbar erweisen ließe. „Er versucht den Nachweis vielmehr aus der Position des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts“114: von der Frage ausgehend, was die Sinnbedingungen dafür sind, „daß ein Vernunftsubjekt objektive Erfahrung überhaupt haben kann.“115 Diese Methode ist auch als Antwort auf den empiristisch-objektivistischen Skeptizismus von Hume zu verstehen. Insofern macht die kantische Vernunftkritik im Hinblick auf das erkenntnissichernde Fundament „Schluß mit unkritischer Ontologie / Metaphysik im Sinne der theoria-Tradition“116. Doch dieser Bruch wird innerhalb der kantischen Philosophie nicht vollendet. Es ist nämlich ein „metaphysischer Rest“117 festzustellen unter dem Aspekt der Erkenntnisorientierung Immanuel Kants. Denn die Erkenntnis richtet sich seinem Modell zufolge jeweils auf das hinter dem Gegenstand der Erfahrung (der Erscheinung) liegende ‚Ding an sich‘ (also quasi außerhalb der Erfahrung) „auf die Dinge, ‚so wie sie an sich selbst sind‘ (reines Wesen)“118. In diesem reinen ‚An-sich-Sein‘ bleiben sie jedoch für uns – „im Unterschied zu dem göttlichen, alles direkt anschauenden Verstand“119 – letzten Endes unerkennbar. Denn wir sind auf Erkenntnis durch Erfahrungsvermittlung notwendigerweise angewiesen. Der Skeptiker kann Kant nun zeigen, daß diese Vorstellung inkonsistent ist. Denn dieses Argumentieren für ein Modell, das sich auf etwas letzten Endes Unerkennbares stützt, ist in sich widersprüchlich, „eine sinnlose Rede“120. Dies wird deutlich, wenn wir Kant selbst mit den Voraussetzungen konfrontieren, die er implizit benötigt, um uns gegenüber diese Theorie zu vertreten. Denn Kant führt die Rede vom für uns prinzipiell unerkennbaren ‚Ding-an-sich‘ im Mund und macht zugleich Aussagen über dieses: „daß es sich um ein ‚unerkennbares Reales‘ handele, behauptet man ja schon erkannt zu haben“;121 und dies, während er das Ziel verfolgt, eine Erkenntnistheorie zu begründen, „die nach ihrem eigenen Verständnis Vernunftkritik auf den Bereich des vom Bewußtsein Erfahrbaren beschränkt“122. Für diese Erkenntnistheorie ist eine solche „immanent widersprüchliche 111Kuhlmann 1985, S. 300. 112A.a.O., S. 303; vgl. KrV B, S. 817 ff. 113Ebd. 114Ebd. 115Gronke 1999, S. 39. 116Böhler 2001 c, S. 21. 117Ebd. 118Ebd. 119Ebd. 120Ebd. 121Ebd. „Eine Folge davon ist, daß sich der Philosoph unter der Hand Erkenntnismöglichkeiten zubilligt, die er als vernunftkritischer Denker, der nur das reflexiv Ausweisbare in Anspruch nimmt, nicht haben kann. Kant macht sich etwa nicht klar, daß er sich einen quasi-göttlichen Einblick in das Verhältnis von einer erkennbaren Erfahrungswelt und einer vermeintlich unerkennbaren Welt an sich zugesteht. Wenn man solcherart Einträge in den philosophischen Diskurs unausgewiesen einbringt, weil man nicht reflexiv genug philosophiert, tangiert dies auch den Geltungsstatus der möglichen Ergebnisse dieses Diskurses.“ (Gronke 2001, S. 216 f.) 122Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 42 Auffassung“ natürlich fatal;123 entgegen Kants Unterstellung läßt sich „der Begriff eines unerkennbaren Dinges an sich nicht einmal denken“124. So läßt sich dem kantischen Projekt entgegenhalten, daß der Skeptiker nicht ‚besiegt‘ sei, und zwar „solange er noch sinnvoll nach einer Rechtfertigung für das kantische Verfahren fragen könne“125. Wie kommt es zu diesem metaphysischen, unreflektierten Rest? Hauptursache ist, „daß Kant sich im Rahmen der Vernunftkritik statt der an sich für sein Projekt erforderlichen strikten Reflexion ausschließlich der theoretischen Reflexion bedient“126. Kant reflektiert zwar auf die Bedingungen der Erkenntnis, letztlich aber in „theoretisch selbstvergessener distanzierender Reflexion von außen“ 127 ; und statt von sich selbst – dem Philosophen – als Reflexionssubjekt auszugehen, thematisiert er eigentlich „den Physiker“128 als exemplarisches Reflexionsobjekt. Die skeptische Frage: „Welche Erkenntnisbedingungen kann / muß ich als Transzendentalphilosoph beachten?“129, mithin die quaestio iuris der Transzendentalphilosophie130, bleibt ungestellt. Trotz dieser Defizite soll hier noch einmal die Weiterentwicklung des Vernunftbegriffes Würdigung finden, die Kant gegenüber dem klassischen Modell vornimmt und die als ‚kopernikanische Wende‘ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist; Kant gibt mit seinen „Überlegungen zur Konstitution des Selbstbewußtseins einen überzeugenden Beleg dafür, daß sein transzendentaler Ansatz, in dem der vorneuzeitliche Vernunftbegriff eines vernehmenden Erfassens zugunsten der Vorstellung einer leistenden, geltungskonstitutiven Vernunft zurückgedrängt wird, gegenüber Descartes’ noch von scholastischen Einflüssen durchwirktem Denken einen wesentlichen Denkfortschritt markiert.“131 III. Paradigma: Sprache Radikaler Skeptizismus als widersprüchliche Konsequenz aus der Kant-Kritik Die skeptischen Anfragen, gegen die man sich innerhalb der kantischen Vernunftvorstellung schwerlich eine schlagende Argumentation denken kann, sind wohl deutlich geworden. Überblicksartig kann gesagt werden, daß diese Erschütterung erneut einen Paradigmenwechsel einleitet und insofern vergleichbar ist mit dem Paradigmenwechsel zwischen klassischer Ontologie und Subjektphilosophie: „Wie der Universalienstreit im ausgehenden Mittelalter zur Entwertung der objektiven Vernunft, so hat im ausgehenden 19. Jahrhundert die Kritik an Introspektion und Psychologismus zur Erschütterung der subjektiven Vernunft beigetragen.“132 Aus dem nun mehrfach angeführten sprachreflexiven Ansatz ergibt sich, in welcher Richtung die Suche nach unhintergehbaren Fundamenten philosophischer Argumentation – die Suche nach ‚Skepsis-resistenten‘ Ergebnissen also – fruchtbar sein kann: im Bereich der Sprache selbst. Ihre Thematisierung als gewißheitsermöglichende Voraussetzung an Stelle der subjektiven Vernunft markiert den Übergang vom zweiten zum dritten Paradigma. 123Kuhlmann spricht davon, „daß es überhaupt verheerend sei für ein Unternehmen, welches mit dem Dogmatismus endgültig abrechnen wolle, wenn es selbst des Dogmatismus bezichtigt werden könne.“ (Kuhlmann 1985, S. 306). 124Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103. 125Kuhlmann 1985, S. 306. 126A.a.O., S. 308. 127Ebd. 128Ebd. 129A.a.O., S. 42 f. 130Vgl. Böhler 2001 c, S. 18. 131Gronke 1999, S. 42 f. 132Habermas 1999, S. 243 f. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 43 „Mit der Verlagerung der Vernunft aus dem Bewußtsein in die Sprache als dem Medium, über das handelnde Subjekte miteinander kommunizieren, ändert sich die Erklärungsrichtung noch einmal. Die epistemische Autorität geht vom erkennenden Subjekt, das die Maßstäbe für die Objektivität der Erfahrung aus sich selber schöpft, auf die Rechtfertigungspraxis einer Sprachgemeinschaft über. Bis dahin ergab sich eine intersubjektive Geltung von Meinungen aus einer nachträglichen Konvergenz von Gedanken und Vorstellungen (...). Aber nach der linguistischen Wende gehen alle Erklärungen vom Primat einer gemeinsamen Sprache aus.“133 Dieser ‚linguistic turn‘ macht es möglich, so nun die These, das „Scheitern von Des-cartes’ und Kants transzendentalphilosophischen Ansätzen“134 zu überwinden. Könnte man nun auch ein anderes Modell vertreten, welches das Scheitern einfach hinnimmt? Also dem radikalen Skeptiker ‚nachgeben‘ und sich dessen Position des „skeptischen Relativisten, der die Möglichkeit einer absoluten Selbstrechtfertigung der Philosophie und einer rationalen Vernunftkritik bestreitet“135, zu eigen machen? Man würde also – von den bisherigen Erfolgen skeptischer Erschütterung ermuntert und im skeptischen Aufspüren ‚metaphysischer Reste‘ geübt – die These vertreten wollen, daß es unhintergehbare Wahrheit im Grunde genommen nicht gibt ebensowenig wie verläßliche Kriterien dafür. Zur Prüfung wollen wir kurz aus dem historischen Durchgang heraustreten und aufzeigen, daß diese Argumentationsweise sich nicht wirklich vertreten läßt, weil sie sich nicht widerspruchsfrei äußern, ja nicht einmal denken läßt. Dietrich Böhler legt – wie viele seiner Mitstreiter auch in diesem Band – überzeugend dar, warum es nicht möglich ist, diese Position in einem aktuellen Dialog mit sinnvollen Argumenten zu vertreten. Dies kann dem so auftretenden Skeptiker anhand seiner eigenen Praxis, in der er sich – diese Auffassung äußernd oder denkend – befindet, gezeigt werden. In Dietrich Böhlers Beitrag zum Sammelband ‚Zwischen Universalismus und Relativismus‘136 von 1998 heißt es: „Der Rückgang auf die notwendige, alles menschliche Tun und Lassen zumeist unausdrücklich begleitende, mithin für jeden erfahrbare und erkennbare Meta-Praxis des Etwas-Behauptens, welche einen argumentativen Dialog eröffnet oder antizipiert, erschließt uns einen universalen ‚Grund der Verbindlichkeit‘ (Kant) und damit zureichende Kriterien für die Suche nach dem Wahren und Richtigen.“137 Denn diese unhintergehbare Meta-Praxis begleitet eben auch das Tun und Lassen des Skeptikers – erst recht, wenn er versucht, irgendeine Position (zum Beispiel eine skeptische) zu vertreten. Und dies kann dem Skeptiker gezeigt werden, in dem er „in einen dialogreflexiven Test verwickelt“138 wird. Darin wird der Skeptiker erstens „auf die aktuelle Dialogsituation hingewiesen (...), in die er – sich selbst und uns gegenüber – bereits eingetreten ist (...)“; dann wird zweitens „diese Dialogsituation mit seiner Meinung, seinen Aussagen, konfrontiert“; und drittens wird „geprüft (...), ob diese Aussagen von uns, in der Rolle argumentativer Dialogpartner, jetzt als Dialogbeitrag ernst genommen und dementsprechend mit einer begründbaren Rede (einem sinnvollen Dialogbeitrag) beantwortet werden könnten.“ Daß Dietrich Böhler im Zusammenhang mit diesem Modell der Skeptikerwiderlegung139 auf Kant verweist, hat trotz der oben gemachten Kritik an Kants theoretischer Einstellung seine Berechtigung – denn sein Ansatz, der für die Frage nach Wahrheit ja Kriterien wie Allgemeinheit und vernunftgemäße 133Ebd. 134Gronke 1999, S. 52. 135A.a.O., S. 70. 136Böhler 1998. 137Böhler 1998, S. 136. 138Dies und die folgenden Zitate: Böhler 2001 a, S. 51. 139In welcher sprachlichen Gestalt dieser Dialog mit dem Skeptiker im einzelnen ablaufen könnte, dazu Beispiele bei Gronke 1999, S. 93-96 mit dem Verweis auf Wolfgang Kuhlmann (1993): Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Alexander Dorschel u.a. (Hg.): Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M., S. 233-327; und bei Brune 1995, S. 69-73. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 44 Prüfbarkeit heranzieht, läßt sich sprachlich transformieren. Wie dies möglich ist, zeigt in überzeugender Weise schon die Kant-Kritik des Charles Sanders Peirce. Dessen „Konzeption der Konsensbildung in der ‚Gemeinschaft der Wissenschaftler‘“140 ersetzt die kantische theoriaEinstellung und zugleich den Solipsismus der Subjektphilosophie. Die solipsistisch vorgestellte Gewißheit des Einzelsubjekts wird abgelöst durch die „Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft (...) als Konkretisierung des transzendentalen Subjekts bei Kant“141. Wahrheit ist das, worüber in dieser Instanz sich „Konsens in methodisch kontrollierbarer Form herstellen“142 ließe. An die Stelle der von Kant vorgestellten Einheit von Bewußtseinsinhalten tritt „semantische Konsistenz einer intersubjektiv gültigen ‚Repräsentation‘ der Objekte durch Zeichen, die nach Peirce freilich erst in der (...) Dimension der Interpretation der Zeichen entschieden wird.“143 Transformation Kants am Anfang der ‚Transformation der Philosophie‘ Wenn zunächst nur von einer ‚ersetzenden‘ Vorstellung oder ‚Ablösung‘ der kantischen Vernunftinstanz die Rede ist, dann wird damit der Erkenntnisfortschritt noch nicht deutlich genug. Er liegt darin, daß skeptische Kritik an diesem Modell der ‚indefinite community of investigators‘ keinen Ansatzpunkt mehr findet; denn der Kritiker muß, um Kritik an ihm vorzubringen, selbst diese Instanz in Anspruch nehmen – denn genau ihr gegenüber müßte die Kritik des Skeptikers verständlich sein, will er sich überhaupt nur theoretisch die Möglichkeit offen halten, gegebenenfalls bessere Argumente zu haben. Die unbegrenzte Gemeinschaft der Argumentierenden als ‚höchster Punkt‘ der Peirceschen Transformation Kants144 bedarf damit höchstens noch der Explikation, die Karl-Otto Apel so leistet: Darin „konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der Interpretation und das forschungslogische Postulat einer experimentellen Bewährung der Erfahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt dieser postulierten Einheit ist die unbegrenzte Experimentier-Gemeinschaft, die zugleich die unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft ist.“145 Im Rahmen dieser Konzeption läßt sich auch die problematische Unterscheidung von ‚Ding-ansich‘ und Erscheinungen verabschieden: An ihre Stelle „tritt in der sinnkritisch-realistischen Transzendentalpragmatik die Peircesche Unterscheidung zwischen dem Realen als dem prinzipiell – in the long run – Erkennbaren einerseits und dem hier und jetzt faktisch Erkannten andererseits“146. Für den Übergang zum dritten Paradigma, dem Paradigma der Kommunikation, ist damit etwas Wichtiges geleistet, denn Peirces Auffassung kann ergänzt werden von der „kommunikationsbezogenen Auffassung der Sprache und des Denkens, (...) einer (transzendental-pragmatischen) Rekonstruktion der Bedingungen sinnvoller Rede und wahrheitsfähigen Argumentierens“147. Diese Transformation der Philosophie verändert die Zielrichtung philosophischen Denkens weg „von jedweder Betrachtung (bloße Beobachterperspektive, also subjekt- und dialogvergessen) hin zu einer aktuell dialogbezogensinnkritischen Reflexion auf sich und Andere als Partner des jetzigen Dialogs“148. Vollendet werden kann diese Transformation als Reflexion auf die Dialogizität von Sprache überhaupt, 140Apel 1973 Bd. I, S. 12. 141Ebd. 142Ebd. 143Apel 1973 Bd. II, S. 169. 144Vgl. A.a.O., S. 173. 145Ebd. 146Kuhlmann 1985, S. 25. 147Böhler 2001 c, S. 25. 148Ebd. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 45 wobei sie im Rahmen deutschsprachiger Philosophie anknüpfen kann auch an „Wilhelm von Humboldts kaum rezipierte (mit Kant gegen Kant denkende) Einsicht: Sprechen als miteinander Sprechen und als Aktualisieren einer dualischen bzw. dialogförmigen Struktur der Sprache“149. Bedingung der Möglichkeit des Sprechens ist Humboldt zufolge „Anrede und Erwiderung“150; und dies „hat zur Folge, daß ein Sprecher die eigene Rede nur verstehen, mithin sie auch nur vorbringen kann, weil er immer schon in Erwartung und Erwartungserwartung des resp. der Anderen redet“151. Sprachanalyse als Thema der Philosophie nach dem ‚linguistic turn‘ Insgesamt läßt sich der ‚linguistic turn‘ als der „Durchbruch der sprachanalytischen Philosophie zum beherrschenden Paradigma der Philosophie im 20. Jahrhundert“152 beschreiben. Das Verhältnis von Erfahrungssubjekt auf der einen und Welt auf der anderen Seite wird abgelöst: Das von der Gnosis bis Kant als einsames Subjekt gedachte Selbst „stellt sich nun als gar nicht absolut und nicht als autonomer Grenzpunkt der Welt heraus, sondern zeigt sich als realkommunizierender Akteur, der in Welt als einen Sozial- und Sinnzusammenhang von vornherein einbezogen ist“153. Die Beschäftigung mit diesen Kommunikationsprozessen wird zum vorherrschenden Thema der Philosophie. Sprache als Ausdruck dieses Zusammenhanges rückt in den Mittelpunkt philosophischer Analyse, was dazu führt, „daß die Sprache, die lange Zeit nur als ein – freilich stets besonderer – Gegenstand der Erkenntnis figurierte, nun endlich in die ihr eher gemäße Stelle einer entscheidenden subjektiven Erkenntnisvoraussetzung rückt (...). Statt mit zunächst nur privat zugänglich scheinenden ‚Tatsachen des Bewußtseins‘ hat die Analyse es nun mit öffentlich zugänglichen Strukturen von Zeichen und Sprache zu tun, was sowohl die Analyse selbst, wie auch ihre kritische Diskussion, ganz wesentlich erleichtert.“154 Zunächst gilt es, das Phänomen der Sprache zu differenzieren. Neben der semantischen und der syntaktischen Dimension der Sprache entdeckt die Analyse (z.B. bei Carnap und Morris155) die Bedeutung der dritten, der pragmatischen Dimension der Sprache. Hieraus resultiert die Rede von der pragmatischen Wende der (Sprach-)Philosophie; „Sprache ist jetzt etwas, das erst im Gebrauch durch Subjekte Bedeutung erhält; der Gebrauch (das kognitive Verhältnis des Sprechers zur Sprache) wird zentrales Thema unter Titeln wie ‚Was heißt es, einer Regel zu folgen‘ oder ‚How to do Things with Words‘.“156 Das Verständnis von Sprache als ‚Regelfolgen‘ hat am nachhaltigsten Ludwig Wittgenstein aufgebracht. Doch seine Bedeutung im Rahmen des ‚linguistic turn‘ ist insgesamt ambivalent. Denn in seinen frühen Schriften beschäftigte er sich zwar bereits mit Sprache, allerdings ganz und gar in theoretischer Einstellung – was ihn gegenüber skeptischer Kritik schwächt: „Der frühe Wittgenstein eröffnet die Bewegung mit der paradoxen Fassung einer Sprachkritik, welche ganz ausdrücklich für den Sprachkritiker selbst und seine kritischen Aktivitäten keinen legitimen Platz 149Ebd. 150Wilhelm von Humboldt (1960): Über den Dualis. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin (Akademie-Ausgabe). Bd. VI., S. 27. Zit. n. Böhler 2001 b, S. 168. 151Böhler 2001 b, S. 168. 152Kuhlmann 1985, S. 16. 153Böhler 1985, S. 65. 154Kuhlmann 1985, S. 16 f. Daher ist es vielleicht eher zu verschmerzen, wenn das Folgende tendenziell wie eine historische „Nacherzählung“ einiger Stationen des dritten Paradigmas wirkt und zuweilen weniger wie eine gründlich-kritische Würdigung. 155Vgl. Kuhlmann 1985, S. 17. 156A.a.O., S. 18. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 46 vorsieht.“157 Leitfaden des frühen Wittgenstein ist nämlich sein methodisch-solipsistisches Verständnis von Sprache158 – Wittgenstein ist dabei nicht klar geworden, daß er selbst ja als Kritiker und Argumentierender über Sprache als Regelfolgen zu uns, seinen Lesern spricht und somit bereits eine Meta-Ebene von Sprache in Anspruch genommen hat. Doch beim späten Wittgenstein wird dieser ‚logische Atomismus‘ (Apel) überwunden, indem der „neue Schlüsselbegriff des späten Wittgenstein: der Begriff des ‚Sprachspiels‘ oder besser gesagt: der ‚Sprachspiele‘“159aufkommt. Dieses Modell ist leistungsfähig zur Illustration der logischen Verbindung von „Handlungssinn und sozialem Handlungskontext“160: Der Sinn einer konkreten Handlung läßt sich nur dann verstehen, wenn auch die Lebenspraxis, auf die die Handlung bezogen ist, bereits – mindestens teilweise – mitverstanden wird. „Ein Akteur muß immer schon ein wie immer unvollständiges Wissen haben, so daß er sich im Totum eines Handlungszusammenhangs (...) in gewisser Weise auskennt, wenn er eine bestimmte Handlungsweise (...) als Handlungsweise einer sozialen Praxis soll richtig verstehen und anwenden können.“161 Wittgenstein überwindet aber niemals vollständig – dies muß als entscheidendes Defizit festgehalten werden – die Aporie seiner Frühschriften, die er sich einhandelt, weil „die Stelle des Zeicheninterpreten, die Stelle des zeichenverwendenden Subjekts, entweder ganz leer bleibt oder nur – halbherzig – im Sinne der empirischen Pragmatik besetzt wird.“162 Wittgensteins Kritik an der klassischen Sprachauffassung und Aufhebung dieser Kritik: Doppelte Dialogizität Zwar wird diese Leerstelle auch vom späten Wittgenstein nicht ausgefüllt; im Rahmen einer auf den Zusammenhang philosophischer Paradigmen konzentrierten Untersuchung ist Wittgenstein dennoch zu würdigen. Denn in Absetzung zu traditionellen Sprachvorstellungen lassen sich die von (oder zumindest mit) Wittgenstein errungenen Fortschritte erkennen: Mit seinen ‚Philosophischen Untersuchungen‘ vollendet er die Kritik des „seit Aristoteles die Sprachlogik beherrschenden Denkmodells“, welches naiv angenommen hatte, „daß die Wörter der Sprache ihre ‚Bedeutung‘ dadurch haben, daß sie ‚etwas bezeichnen‘, und (...) daß die Wörter ‚Namen‘ für ‚vorhandene Dinge‘ oder ‚Gegenstände‘ sind“163. Wittgenstein verabschiedet nun diese Vorstellung ebenso nachhaltig wie das augustinische Modell, Kinder würden sprechen lernen, indem sie die durch die Eltern vorgesagten Bezeichnungen für Gegenstände (auf die diese dabei hinweisen) nachahmen. Dieses Modell hatte nämlich übersehen, „daß ein Kind, das zum erstenmal die Sprache erlernt, hinweisende Erklärungen noch gar nicht verstehen kann, da es weder über eine strukturelle Artikulation der Welt schon verfügt, die ihm sagt, was jeweils durch einen Hinweis gemeint ist (ob z.B. die Farbe oder Form oder Art oder Zahl), noch die Funktion des zu erklärenden Wortes in der Sprache, seine Verwendung, schon kennt. Eine hinweisende Erklärung von Namen versteht nach W[ittgenstein] nur der, ‚der schon etwas mit ihr anzufangen weiß‘ (...).“164 Wittgenstein macht also auf bislang nicht berücksichtigte Voraussetzungen des eingeschränkten Sprachspiels Benennung von Gegenständen aufmerksam und weist es aus als „‚defizienten Modus‘ derjenigen Sprachspiele (...), in denen Kinder zugleich mit der Erlernung 157A.a.O., S. 17. 158Darin „war die Funktion der intentionalen Ausdrücke wie ‚meinen‘ als etwas aufgefaßt, das man nicht selbst wieder meinen, d. h. als etwas ‚bezeichnen‘ kann; ihre Funktion sollte identisch sein mit dem Meinen, d. h. der Bezeichnungsfunktion überhaupt.“ (Apel 1973 Bd. II, S. 71) 159Apel 1973 Bd. II, S. 71. 160Böhler 1985, S. 202. 161Ebd. 162Kuhlmann 1985, S. 25. 163Apel 1973 Bd. I, S. 253. 164A.a.O., S. 261 mit Verweis auf Wittgenstein, Phil. Unters. § 31. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 47 ihrer Muttersprache auch eine bestimmte Lebensform und ein bestimmtes strukturell artikuliertes Verständnis der Welt als Situation der Lebenspraxis sich aneignen“165. Und da ohne diese fundierenden Bezüge zu bestimmter Lebensform und -praxis kein Erlernen von Sprache denkbar ist, kommt so die Kritik an Augustins166 „apragmatischer, nämlich instrumentalistisch gegenstandstheoretischer und methodisch solipsistischer Sprachauffassung“167 zum vorläufigen Abschluß. Die Reichweite dieses Sprachverständnisses auch beim späten Wittgenstein erweist sich indessen, wie oben angedeutet, aufgrund der unaufgeklärten Irreflexivität als begrenzt. Dieses Defizit arbeitet Audun Øfsti auf, indem er zeigt, daß das Sprachspielmodell nicht geeignet ist, um das Ganze einer Sprache abzubilden. Øfsti ergänzt damit Erkenntnisse der sprachanalytischen Philosophie. Diese zeigt die „Doppelstruktur der Rede“168 aus performativem und propositionalem Teil als denknotwendig: Aussagen können nur verständlich sein, „weil sich die Sprecher immer schon und unvermeidlich in eine performative Distanz zu ihnen bringen, indem sie für sie Geltung beanspruchen. So hat jeder, der etwas [und damit propositionalen ‚Inhalt‘, T.L.] behauptet, weil seine Behauptungshandlung Geltung (mögliche Wahrheit bzw. Richtigkeit) für die Aussage unterstellt [und zwar den Anderen, den Adressaten seiner Behauptungshandlung gegenüber – hierdurch kommt die Performativität ins Spiel, T.L.], die Ebene des argumentativen Dialogs betreten und dadurch bereits die Rolle eines Dialogpartners auf sich genommen.“169 Øfstis Erweiterung zur doppelten Doppelstruktur weist nun darauf hin, daß mit dieser Doppelstruktur stets auch die Bezugsmöglichkeit auf diese einhergeht: Wir können auf diese Doppelstruktur noch einmal reflektieren und diese Reflexion explizieren. Also sei es doch richtiger, so Øfsti, von einer doppelten Doppelstruktur der Rede zu sprechen, um das Ganze einer Sprache ausdrücken zu können: „Notwendig für eine vollständige Sprache und Kommunikationskompetenz ist die doppelte Reflexivität der performativ-propositionalen Äußerung und des 170 Stellungnehmenkönnens zu solchen Äußerungen.“ Nun ist nach dieser Präzisierung noch einmal an die Geltungsansprüche, die wir mit dem Vorbringen einer Äußerung zugrunde legen, zu erinnern. Da „das Vorbringen und das Erläutern einer Äußerung wiederum die Form von Dialogbeiträgen hat, deren Geltungsansprüche mit der Anerkennung anderer als gleichberechtigter Argumentationspartner etc. verwoben sind“, schlägt Böhler vor, „diese doppelte dialogbezogene Doppelstruktur ‚doppelte Dialogizität der Kommunikation‘ oder ‚doppelte Dialogstruktur der Sprache‘ zu nennen“171. So ist das dritte Paradigma der Philosophiegeschichte vollständig entfaltet, indem die „betrachtende (theoretische bzw. analytische) Einstellung“ verlassen worden ist und statt dessen die Besinnung „auf den jeweiligen Dialog und die Dialogpartnerrolle“172 durchgeführt wird. Die zutage tretenden Bestimmungen der Sprache lassen sich dabei als Differenzierungen der Voraussetzungen verstehen, die mit sinnvollen Äußerungen einhergehen. Um zu prüfen, ob sie skeptischen Anfragen standhalten, können wir sie dem sinnkritischen Test unterziehen: Lassen sich sinnvolle Argumente finden – also Argumente, die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne daß er damit selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender anerkennen muß –, die die vorgebrachten Thesen bestreiten? Dann müssen diese Thesen verworfen werden. Zeigt sich dagegen, daß sich keine Argumente finden lassen, ja daß keine 165A.a.O., S. 262. 166Z.B. in Confessiones I, Kap. 8. 167Böhler 2001 c, S. 26. 168Böhler 2001 a, S. 29 mit Verweis auf Habermas 1991. 169Böhler 1998, S. 134 f. 170Böhler 2001 c, S. 26 a. 171Böhler 2001 a, S. 33 in Anknüpfung an Audun Øfsti (1994): Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. Würzburg, S. 139-147, 166-181. 172Böhler 2001 c, S. 27. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 48 sinnvoll gedacht werden können, die diesem Sinnkriterium standhalten, dann können die Thesen als bestätigt gelten.173 Dieser sinnkritische Test kann auch Anwendung beispielsweise für diesen Durchgang durch die Philosophiegeschichte finden – und dabei die Frage klären helfen, welche Erkenntnisse der einzelnen Argumentationsweisen und Konzeptionen jeweils als entscheidende (und zu bewahrende) Denkfortschritte gegenüber vorherigen Modellen Gültigkeit beanspruchen können. So kann eine kritisch-logische Einschätzung dieser paradigmatischen Entwicklungen erreicht werden, die mehr und anderes als ihre historische Rekonstruktion174 zu leisten vermag. Analog lassen sich Fehlentwicklungen – sozusagen Sackgassen im ‚Labyrinth der Ideen‘175 – aufdecken, wie Dietrich Böhler es formuliert: „Seit Augustin kommt ein philosophischer Individualismus auf, seit Kant ein transzendentaler Solipsismus, der voraussetzt oder behauptet, einer könne für sich allein (solus ipse) Sinn und Gültigkeit haben. Darin sehe ich das, erst dank Karl-Otto Apels gemeinschafts- und diskursbezogener ‚Transformation der Philosophie‘ überwundene, próton pseūdos der abendländischen Bildungstradition, ihren elementaren Denkfehler. Er ist der hohe Preis, den die abendländische Philosophie für ihre vielleicht größten Errungenschaften, die Begründung des kritischen, Vorgegebenes distanzierenden Denkens und der freien, selbständig urteilsfähigen Person, hat entrichten müssen.“176 Ob und inwieweit dieser Preis unvermeidlich ist, kann die dialogreflexive Sinnkritik aufweisen, deren kritische Prüfung und Aneignung philosophischer Paradigmen man in Dietrich Böhlers Seminarpraxis erlernen kann. Literatur Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie. Bd. I: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik; Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M. Ders.; Böhler, Dietrich; Kadelbach, Gerd (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik: Dialoge. 2 Bde. Frankfurt a. M. Ders.; Böhler, Dietrich; Rebel, Karl-Heinz (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik: Studientexte. 3 Bde. Weinheim. Ders.; Burckhart, Holger (Hg.) (2001): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg (zit.: Prinzip Mitverantwortung). Böhler, Dietrich (1985): Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion. Frankfurt a. M. Ders. (1998): Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung? In: Horst Steinmann, Andreas Georg Scherer (Hg.): Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements. Frankfurt a. M., S. 126-178. Ders. (1999): Gnosis. Existentialismus und Hermeneutik der Entmythologisierung. Interdisziplinäres Seminar zu Hans Jonas [Seminarprogramm Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin]. Typoskript. 173Ebd. Micha Werner zeigt beispielhaft, wie fruchtbar mit diesem Kriterium im Hinblick auf bestimmte Probleme gearbeitet werden kann und welche Beschränkungen zu berücksichtigen sind. (Micha Werner 2001: „Who counts“, in: Marcel Niquet u.a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg, S. 265-292. 174Die Tatsache, daß hier und im zugrundeliegenden Seminarprogramm Dietrich Böhlers Paradigmen und Philosophen grosso modo entsprechend der historischen Abfolge behandelt werden, hat dementsprechend primär einen pädagogischen Grund – so läßt sich eine (natürlich sehr schematische) Systematisierung wichtiger Strömungen der Philosophiegeschichte vermitteln, die spätere Einordnungen erleichtert. Dieser Erkenntnisfortschritt wurde von den Teilnehmern des Seminars in einer Evaluierung am Ende des Semesters als besonderer wertvoll gewürdigt. 175Vgl. Böhler 2001 c, S. 1. 176Böhler 2001 b, S. 154. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 49 Ders. (2001 a): Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mitverantwortung. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 15-67. Ders. (2001 b): Bildung zur dialogbezogenen Mitverantwortung. Zweckrationales und dialogethisches ‚Lernen des Lernens‘. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 147-176. Ders. (2001 c): Leitfaden zum Proseminar 16015 ‚Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der Philosophiegeschichte.‘ Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Typoskript. Ders.; Gronke, Horst (1994): Diskurs. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen. Bd. II, Sp. 1256-1298. Brune, Jens Peter (1995): Setzen ökonomische ‚Sachzwänge‘ der Anwendung moralischer Normen legitime Grenzen? In: Ders., Dietrich Böhler, Werner Steden (Hg.): Moral und Sachzwang in der Marktwirtschaft ( = Ethik und Wirtschaft im Dialog VIII). Münster, S. 1-114. Gronke, Horst: (1999): Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg. Ders. (2001): Was können wir im philosophischen Diskurs lernen? Elemente einer sokratischen Pädagogik. In: Prinzip Mitverantwortung. S. 203-226. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: Ders.: Werke in 20 Bänden, Bd. XX. Frankfurt. Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. Ders. (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Philosophie. Frankfurt a. M. Ders. (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende. In: Ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M., S. 230-270. Jonas, Hans (1999): Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Hg. von Christian Wiese. Frankfurt a. M./Leipzig. Kant, Immanuel (1959): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe, hg. v. Jens Timmermann. Hamburg. Kuhlmann, Wolfgang (1985): Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. Freiburg/München. Kuhn, Thomas (1962/1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Chicago/Frankfurt a. M. Menge, Hermann (221953): Langenscheidts Taschenwörterbuch der griechischen und der deutschen Sprache. Berlin. Platon: Kriton. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Platon. Sämtliche Werke Bd. I. Hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck. Hamburg 1959, S. 33-47. Ders.: Sophistes. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. IV., S. 183-244. Ders.: Timaios. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. V., S. 141-213. Religion in Geschichte und Gegenwart (=RGG). Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (31957). Hg. von Kurt Galling in Gem. mit Hans Frhr. v. Campenhausen; Erich Dinkler, Gerhard Gloege, Knut Løgstrup. Tübingen. Rorty, Richard (1981): Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a. M. Schnädelbach, Herbert (1985): Philosophie. In: Ekkehard Martens, Herbert Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Reinbek. Windelband, Wilhelm; Heimsoeth, Heinz (151957): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen. III Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und philosophiegeschichtlich erörtert. 3.1 Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie? Die drei philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik. Wir fragen nach den Sinnkriterien des philosophischen Diskurses. Im Blick auf diese Frage können wir die Etappen der Philosophiegeschichte teleologisch, vom Zielpunkt her, darstellen und kritisch prüfen. Als internes Entwicklungsziel nehmen wir eine zustimmungswürdige, Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 50 argumentativ konsensfähige Selbsteinholung der Philosophie an, der Philosophie als Sachwalterin des einsehbar Allgemeinen, des Logos. Die Philosophie soll das einholen können, was sie beim Philosophieren in Anspruch nehmen muß. In einer solchen Selbsteinholung liegt die Selbstverantwortung der Philosophierenden. Verantwortlich sind sie in erster Linie für die Klärung des Diskursphänomens, zu dem ihre Denkpraxis gehört, und die Sorge für eine Übereinstimmung ihrer Thesen mit den Grundlagen der kommunikativen Praxis des Diskurses. Die Klärung betrifft das Diskursphänomen in seinen verschiedenen Erscheinungen: elementar als Begleitphänomen aller Formen und Ausdrucksweisen menschlichen Lebens, kultiviert und differenziert sowohl als Medium und Geltungsinstanz der gesellschaftlichen bzw. politischen Kultur wie auch als Medium und Geltungsinstanz der Wissenschaften und der Philosophie selbst. Diese Klärung, hier nur im kursorischen Überblick zu leisten, ist zunächst eine Rekonstruktionsaufgabe und dann die Sache einer selbstkritischen Prüfung der Rekonstruktionsergebnisse, eine Geltungsreflexion. Letztere ist erforderlich, wenn die Philosophie diejenigen Voraussetzungen begründen (und dadurch verantworten) soll, die sie selbst in Anspruch nimmt, wofern sie sich – seit Sokrates, Platon und Aristoteles – als Sachwalterin des Logos und damit als die erste Wissenschaft versteht, als die Grundlegungswissenschaft. Kraft einer Reflexion in dem strittigen Diskurs, in dem sich ein Philosoph mit seinen Thesen gerade befindet, auf die Sinnvoraussetzungen bzw. Geltungsbedingungen jedes argumentativen Diskurses, müssen die Philosophierenden erweisen können, daß sie mit dem argumentativen Diskurs ein kommunikatives und moralisch bindendes Verhältnis mit allgemeingültigen Regeln und Grundnormen in Anspruch nehmen: das Argumentieren überhaupt, welches immer schon eine Sache des Erkennens und des gesollten Wollens ist, eine logische und moralische Verbindlichkeit. Die logische Verbindlichkeit des Argumentierens hängt an seinem Ziel, Wahrheitsansprüche einzulösen, indem auf konsistente Weise gute Gründe für eine These erarbeitet werden, so daß sich ein einsehbar Allgemeines ergibt. Damit verwoben ist eine mögliche moralische Verbindlichkeit für praktische Urteile und konkrete Normen: eine verallgemeinerbare Gegenseitigkeit, so daß auch alle Betroffenen, sofern sie den Diskurs konsequent als Argumentationspartner mitvollziehen, dem Urteil oder Normenvorschlag zustimmen würden. Insofern es den Philosophen gelingt, die internen normativen Grundlagen des argumentativen Diskurses als dialogischer, mithin logisch und moralisch verbindlicher Praxis zunächst Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 51 aufzudecken, nämlich zu rekonstruieren, und sie dann reflexiv zu erweisen, haben sie die Basis dessen eingeholt, was wir „Philosophieren“ nennen. Sie haben dann erkannt und demonstriert, worauf sich jeder, der sich und anderen etwas verständlich machen und uno actu zur Geltung bringen will, bereits eingelassen hat: die Rolle eines Partners im argumentativen Dialog, der auf das logisch Allgemeine und auf die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit als Ziel verpflichtet ist. So ergibt sich das interne Entwicklungsziel des Diskursbegriffs durch Reflexion auf die Diskurspraxis selbst. Es ist zuvörderst die Erkenntnis der konstitutiven Regeln und Normen des Dialogs der Argumente, sodann deren Berücksichtigung und Befolgung in der je besonderen Philosophie, Theorie oder auch Lebenskunst. Im Blick auf dieses Telos können wir die unterschiedlichen Beiträge zur Entfaltung dieses Grundbegriffs allen Denkens zwanglos interpretieren und kritisch beurteilen: als einen Fortschritt oder eine Regression, oder auch als beides in verschiedener Hinsicht. Darin sehe ich den kriteriologischen Kern einer philosophischen, reflexiv argumentierenden Begriffsgeschichte und einer Theorie des Diskurses, die auch die praktischen Diskurse einschließt, mithin die moralische Urteilsbildung. Eine solche entwicklungslogisch angelegte, kritische Begriffsgeschichte ist ein Spiegel des Geistes. Historisch zunächst ein Geistesspiegel Europas, kann sie logisch und ethisch ein Geistesspiegel aller Denkenden sein. Warum? Der Geistesspiegel Diskurs ist für alle möglichen Thesen und Fragen offen, über die sich mit Argumenten streiten läßt. Die Idee dieses friedlichen Streits, die Auseinandersetzung allein mit Argumenten, hat im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht bloß Schule gemacht, sondern eine neue Kultur des Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens ermöglicht. Deren Urbild ist der Sokratische Dialog als Institution des Gründe-Gebens, des λόγον διδόναι (logon didonai). Denn Sokrates sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen, nach Wahrheit und richtiger Definition, und führt diese Suche in Form eines dem Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος (elenchos) durch. Daraus entwickelte sich in Europa das Paradigma kritischer Vernunft, in dem die Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants „Kritik der reinen Vernunft“177 – eine ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines Scheinwissens, das unfähig ist, die naiv behaupteten Interessen und Meinungen als Geltungsansprüche einzulösen, und dank seiner Aufnahme juridischer Verfahrenselemente weist der Sokratische Dialog über sich hinaus auf ein kommunikatives Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen und „Gewißheit“ durch Rechtfertigung. 177 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (zit.: KrV), A XI f; B 697, 767 f, 779f. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 52 Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes, solipsistisch ausgeklammert, blieben freilich der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und die dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide in Platons sokratischen Dialogen angelegt sind – schon und noch. Das „Noch“ verweist auf die ontologische und ideentheoretische Verdeckung, ja Überformung der freien Verständigung unter Gleichberechtigten und ihrer gemeinsamen moralischen Basis als Dialogpartner: Der Seinstheologe Platon verdrängte den argumentativen Dialog zunehmend durch eine kontemplativ spekulative Wesensschau, die theoria. Ineins damit überformte er den, in Dialogen wie „Apologie“, „Kriton“, „Gorgias“ und „Thrasymachos“ spürbaren, Ansatz einer sokratischen Moralbegründung, nämlich eine dialogische Besinnung auf normative Grundlagen des Denkens. Denn er zwängte den Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus dem Dialog in den undialogischen Rahmen einer Seinsschau – einer geistigen Schau des Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte er als das ewig in sich ruhende Gute und Eine. Den Dialogansatz des Sokrates, dessen konsequente Durch- und reflexive Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte Platon durch eine ungeschichtlich denkende, spekulative Kosmostheologie. Aus seiner Deutung des göttlichen Kosmos leitete er dann die höchsten Werte und deren normative Gehalte ab – naturalistischer Fehlschluß im Rahmen eines spekulativen Intellektualismus? Platon stellt eine erste Weggabelung unter mehreren dar, die uns vor die Alternativfrage stellen: Wie hätte sich das europäische Denken – hier: nach Sokrates – entwickeln können? Und wie würde es sich im Sinne einer Entwicklungslogik entwickelt haben, wenn Platon und auch sein eigenwilliger Schüler Aristoteles schon reflexiv dialogisch gedacht hätten? Das ist keine müßige rückwärtsgewandte Perspektive. Kraft einer Entwicklungslogik kann die Frage fruchtbare Gedankenexperimente eröffnen, die uns über unsere eigenen Traditionsabhängigkeiten aufklären und uns emanzipatorische Anstöße geben mögen. Eine aufregende Sache. Um sie zu betreiben, versuche ich in dieser Einleitung, die Darstellung stets mit der Auseinandersetzung, die Hermeneutik mit der Kritik zu verbinden. So nämlich, daß wir Zeitgenossen unser Denken wirkungsgeschichtlich in dem der Tradition spiegeln und das der Tradition kritisch mit den Geltungsansprüchen des argumentativen Diskurses konfrontieren. Jene Alternativfrage weist uns einerseits auf das Abenteuer der faktischen europäischen Ideengeschichte hin; andererseits eröffnet sie die Perspektive einer Entwicklungslogik, welche die unverzichtbaren Elemente einer Selbstaufklärung des Denkens als Stufen seiner Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 53 Selbsterkenntnis aufeinander aufbauen würde. Die Alternativfrage provoziert dazu, derart mit und gegen die tatsächliche Philosophiegeschichte zu denken, daß sich die faktische Genese der Diskursidee mit ihrer normativen Rekonstruktion verbindet: die Frage danach, wie es in der Geistesgeschichte wirklich vor sich gegangen ist, mit der Frage, wie sich die Diskursidee konsequenterweise entwickelt hätte. 3.2 Die Wie-, Was- und Warum-Frage der Moral: Aufstufung zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als Entwicklungslogik der lebensweltlichen praktischen Diskurse. Dort, wo es zu einer kommunikationsphilosophischen Bearbeitung der Impulse von Wilhelm von Humboldt einerseits, von Charles Sanders Peirce andererseits kommt, erscheint der argumentative Diskurs als die Existenzbasis und Realisierungsform der Vernunft. Das ist insbesondere bei der Transzendentalpragmatik K.-O. Apels und der Formalpragmatik bzw. Diskurstheorie von J. Habermas der Fall. Diese kommunikationsphilosophische Bearbeitung bedeutet eine Entmetaphysizierung – oder sollten wir sagen, eine Entmythisierung? – der Vernunft. Abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen der theoria-Tradition, entledigt sie sich ihrer metaphysischen Maskierung. Sie tritt nicht länger als nous (νούς) auf, als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu erschauen. Nunmehr zeigt sie sich als die dialogförmige Praxis, Geltungsansprüche zu erheben und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn eine dialogische Praxis bildet ein normativ verpflichtendes und kriterial bestimmendes Anerkennungsverhältnis. Als Diskursverhältnis von Gleichberechtigten, gehalten, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre, weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. So führt die Rekonstruktion der konstitutiven Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen Diskursethik.178 Traditionell gesagt, besteht eine Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft. Wenn Vernunft nichts anderes ist als das Verhältnis und die Praxis des argumentativen 178 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)); ders., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), S. 358-435. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985); J. Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußts. u. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 54 Dialogs, dann ist das Vernunftkriterium nicht bloß das logisch Allgemeine sondern auch etwas au fond Sittliches und Soziales: Gerechtigkeit als verallgemeinerbare Gegenseitigkeit. Dann ist es auch kein bloßes Kriterium der Gültigkeit, sondern ebenso eine moralische Grundnorm. Warum? Weil jeder, der nach Gültigkeit sucht, seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner verlöre und den möglichen Argumentationspartnern nicht die geschuldete Anerkennung gewähren könnte, wenn er die Verbindlichkeit des Diskursprinzips in Frage stellte, welches fordert: ›Suche einzig nach solchen Urteilen und Handlungsweisen, die selbst in einer idealen Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Beurteilung der realen Situation gleichermaßen gehört worden wären, begründete Zustimmung fänden.‹ In dieser Norm der moralischen Normen, dem zugleich kriteriologischen und deontologischen Diskursprinzip, sehe ich auch die eigentliche, weil allererst konsequente Schlußpointe einer „Entwicklungslogik des moralischen Urteils“ oder sagen wir genauer: der praktischen Alltagsdiskurse. Eine solche verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen Lawrence Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert Mead sowie John Dewey erarbeitet hat.179 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata, d.h. Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat. Den Rahmen jener Dilemmata bilden vor allem zwei „entwicklungsphilosophische“ Annahmen. Von G.H. Mead entlehnt er die sozialisationstheoretische Annahme, daß die Menschen lernen, sich zur Welt in der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über diese, symbolisch vermittelte, Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: „Wir besitzen ein Selbst gerade insoweit, als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen können.“180 Die Reziprozitätsrelation gilt auch als Strukturbedingung ‚meiner’ Beurteilung praktischer Fragen und Konflikte. Darüberhinaus enthält sie – und das ist die zweite, nunmehr normativ moralische, entwicklungsphilosophische Annahme – den Kern des Beurteilungskriteriums: die Orientierung an Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit, das sich von kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch kommunik. Handeln (1983), S. 53-125; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991; W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985). 179 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven Entwicklung (1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Kohlberg (1996)). K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 59-65, vgl. auch 66-153. 180 G. H. Mead, Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Hg. v. H. Kellner, Frankfurt a. M. 1969, S. 95, vgl. 84ff. Vgl. ders., Geist, Identität und Gesellschaft (1968), Kap. 9-11 und 19-25. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 55 universalistischen Formen entwickele. Die Pointe von Kohlbergs Entwicklungslogik ist die stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung der Reziprozität als Kriterium moralischer Urteile. Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf den hermeneutischen Zirkel zwischen philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen, also viel eher auf Abduktion im Peirceschen Sinne denn auf Induktion.181 Das Verhältnis von idealtypischer Rekonstruktion und empirischer Bestätigung hat Kohlberg als komplementäres Verhältnis beschrieben, das zu einer wechselseitigen Korrektur führt: „Die Wissenschaft kann überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde, phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen, was Moral sein sollte.“182 Diesen „hermeneutischen Rekonstruktionismus“ hat Habermas als „Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie) und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)“ gewürdigt.183 Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies: die genetische Entwicklungsfrage ‚Wie wird man moralisch?’, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ‚Was heißt moralisch bzw. moralisch zu sein?’ und die deontologische Begründungsfrage ‚Warum soll man moralisch sein bzw. sein wollen?’. Kohlberg teilt nämlich mit der Diskursphilosophie die – letztlich auf Sokrates zurückgehende – Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst verwoben sind. Genauer gesagt: derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit noch einmal zu diesem Urteil Stellung, indem er ein Verständnis dessen ins Spiel bringt, was es heißt, moralisch zu sein. Nun läßt sich die sokratische „Was-ist“-Frage nicht von der Entwicklungsfrage „Wie wird man etwas?“ abtrennen. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und Erläuterung dessen, was sich da entwickelt. Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys 181 Die strukturelle Verwandtschaft des ‚Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen’ und des abduktiven Schlusses bzw. der „Hypothesis“ bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders., Peirce, Schriften I, Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, S. 81ff, vgl. 139ff; und: Peirce, Schriften II, Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1970, S. 153ff und ebenda: „Vorlesung 7: Pragmatismus und Abduktion“, S. 365ff. 182 L. Kohlberg, From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S. 151-235 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 38). 183 J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg (1996), S. 37-42 und 49ff. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 56 Unterscheidung von Kompetenz und Performanz und auf dessen Idee der linguistischen Kompetenz zurück. „Wir behaupten, daß die empirische Untersuchung der moralischen Entwicklung sich nicht stark von der empirischen Untersuchung der grammatischen Entwicklung unterscheidet; diese geht aus einer linguistischen Theorie grammatischer Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und revidiert die formale linguistische Theorie. Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht Sokrates’, daß man keine psychologische Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.“184 Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn moralisch sei bzw. heiße, der Entwicklungsfrage in der Tat voraus. Und es ist jene Erläuterungsfrage, auf welche die Probanden, denen ein moralisches Dilemma aufgegeben ist, jeweils antworten, sei es auch nur implizit. Kohlbergs Entwicklungslogik ist letztlich die systematisierte Aufstufung von Antworten auf die Frage, was es heiße, moralisch zu sein. An Kant geschult, erkennt Kohlberg überdies, daß sich die Was-ist-Frage, wenn sie im Blick auf Moral gestellt wird, letztlich nur beantworten läßt, wenn man zugleich die Frage ‚Warum moralisch sein?’ beantworten kann. Als transzendental Fragender, die quaestio iuris stellender Philosoph hat Kant eine moralische Verhaltensweise als diejenige bestimmt, die „den Grund einer Verbindlichkeit“ bei sich führe.185 Eben in diesem Sinne versteht Kohlberg den Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als Selbsteinholung des moralischen Sollens als autonome Einsicht des praktisch Urteilenden in die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit, und zwar zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, zeichnet Kohlberg eine solche Begründung als rein moralische aus, die das Prinzipienniveau einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit erreicht haben würde. Darin sieht er das Telos einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils, wenngleich dieses Urteilsprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von den meisten Menschen offenbar nicht erreicht bzw. von den Begründungen ihrer moralischen Urteile verfehlt werde. Freilich verstand er es zunächst, wie Kant und Rawls, gewissermaßen im Sinne der methodisch akommunikativ denkenden Traditionslinie – als Gedankenexperiment und somit als methodisch einsame Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen herausgelöst wäre. Das bleibt zu diskutieren. Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem „Heinz-Dilemma“ – 184 Vgl. das Manuskript Kohlbergs: „General Preface”, in: Essays in moral development, 1978 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 44). 185 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (zit.: GMS), Akademie-Ausg., S. 389. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 57 angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen. Diese ließen sich nach „regelmäßigen Alterstrends der Entwicklung“ differenzieren und beruhten auf einer ebenfalls gestuften „kognitiven Basis“.186 In den gegebenen Urteilsbegründungen stufe sich das Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive auf: von der gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe 2), deren Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zu der abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die um ihrer selbst anerkannt wird („law and order“ – Stufe 4). Hier und sonst besteht die stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit „differenzierter und verallgemeinerter als die vorausgehende ist“.187 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich, wenn wir verschiedene Veröffentlichungen Kohlbergs zusammenführen, in dieses Stufenschema der moralischen Urteilsentwicklung fassen: 186 187 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59f. A.a.O., S. 100f. Übernahme guter und richtiger Rollen, Einhalten der konventionellen Ordnungen und Erwartungen anderer II Konventionelle Ebene III Postkonventionelle Ebene Quasi physische Geschehnisse/Handlungen und Bedürfnisse I Präkonventionelle Ebene 2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen 4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen. Rücksicht. 3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden meiner Gruppe. Konformität 1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko 2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller Gegenseitigkeit (do ut des) 1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung und Gehorsam Entwicklungsstufen Übereinstimmung des ‚Ich‘ mit faktisch 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des oder potentiell (→ Gedankenexperiment, Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl) Empathie) gemeinsamen Werten und 6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem Ansprüchen, Grund-Rechten und Respekt/Vertrauen und an der verallgemeinerbaren Pflichten Gegenseitigkeit: ideale wechselseitige Rollenübernahme (z. B. kategorischer Imperativ) (Übergangsstufe 4 ½) Basis der moralischen Wertung Ebene Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg 58 Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974, S. 60 f und: From Is to Ought, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1871, S. 151-235. Vgl. Kohlberg, Boyd u. Levine, Die Wiederkehr der sechsten Stufe: Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: W. Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S. 205-240, hier S. 223 f. Vgl. Kohlberg, Essays on Moral Development, Vol I. San Francisco 1981, S. 411. Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 mögliche Regressionstendenzen Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 59 Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3. Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle, bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die „Adoleszenzkrise“ das prinzipienbezogene, metakonventionelle Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen Urteilsbildung. Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist „die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.“ Wenngleich sich „die logische Ordnung“ der Stufen unter dem Gesichtspunkt der Differenzierung von „Reziprozität und Gleichheit“, zumal nach „Kategorien der Gerechtigkeit“ weiter fortsetzt,188 gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung, Infragestellung und kritischen Gewichtung der eingelebten Sitten und Normen mit Hilfe von Prinzipien und diskursiven Erwägungen. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adolenszenzkrise sogar als eine eigene Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: anarchistische Obertöne, eine grenzenlose Relativierungstendenz und ein regressives „,Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‘“, das Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des „wie du mir, so ich 188 A.a.O., S. 101. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 60 dir“ (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist, weil alles als erlaubt gilt. 189 Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigsten Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können. Die Prinzipienorientierung charakterisiert Kohlberg als „postkonventionelle“ bzw. „nachkonventionelle Ebene“. Das halte ich freilich für unangemessen. Suggeriert diese Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw. Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive Vorstellung, die nicht allein der Wirksamkeit bzw. Orientierungsfunktion des Moralprinzips in der gemischten Alltagswirklichkeit widerspricht, sondern auch von Kohlbergs Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also nicht gehen. Vielmehr ist eine prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als Auseinandersetzung mit den sozialen bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen bzw. egozentrierten Orientierungen zu denken. Auch besteht ja die kriteriale Funktion eines Prinzips gerade in der Prüfung, welche Relevanz autonom Urteilende dem einen oder dem anderen Interesse, der einen oder der anderen sittlichen Konvention begründeterweise und verallgemeinerbarerweise zusprechen sollten. Aus diesem Grunde ist es angemessen, immer dort von „metakonventionell“ zu reden, wo Kohlberg unvorsichtig von „postkonventionell“ spricht. Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 „das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen“ 189 Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1984, S. 440ff; E. Turiel, Adolescent conflict in the development of moral principles, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues in cognitive psychology: The Loyala symposium, Washington D. C. 1973, S. 231-249; ders., Conflict and transition in adolescent moral development, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14-29, dt. in: R. Döbert, J. Habermas, G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253-269. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 61 ebenfalls „eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)“ ist. Und auf „Stufe 6 werden moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert, z.B. die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ: ‚Handle so, wie du handeln würdest, nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ‚sollte‘], wenn er in der Situation wäre.‘ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen, daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ‚Gerechtigkeit‘ definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d.h. sie schreiben vor, ‚so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‘ (Mead, 1934).190 „Auf prinzipieller Ebene besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den [...] Prinzipien der Gerechtigkeit als gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten Reziprozität“191. Führt man Kohlbergs Programm einer Sukzession der Ausdifferenzierung und Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durch, dann ergeben sich freilich drei Änderungen. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das metakonventionelle biblische Verständnis der mosaischen Sozialordnung als Sitten- und Gemeindeordnung: den von Gott und Israel auf dem Sinai geschlossenen Bund, dessen Gegenstand und zugleich die Vertragsurkunde das „Bundesbuch“ mit den 10 Geboten ist, als Stufe 5½ berücksichtigt. Warum? Hier fallen die utilitaristischen Untertöne einer Nutzenvereinigung weg; die Orientierung an dem, was gerecht und gut ist, die Achtung des menschlichen Lebens, die Nächstenliebe und das Vertrauen auf einen Gott, dessen Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsehen und auf dessen Treue man sich verlassen kann, treten in den Mittelpunkt. Sie sind es, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des Bundes mit dem Gott motivieren, der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5. Mose 10, 12-21 und 32, 1-4; Josua 24; Micha 6, 8; Psalm 119 etc. Jedenfalls in den jüngeren, den nachexilischen Überlieferungen dieser Bundestheologie, so im Deuteronomium (5. Buch Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, wird das Moment der Einsicht und freien Anerkennung des Bundes durch Israel betont. Die anfängliche Fremdbestimmung durch den machtvollen Gott, der Israel das Gesetz nach Art eines Unterwerfungsvertrages einfach ‚gibt’ Dazu in einer vor allem phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988), bes. S. 387ff, 410 und 430f. 190 Vgl. G.H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1934 (dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1968). 191 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 102. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 62 – diese heteronome Normengenese tritt zurück. Ja mehr noch: In der späteren Bundes- und Thora-Theologie scheint die Geltungsfrage der Entstehungsfrage übergeordnet zu werden. In logischer Zuspitzung folgte daraus: unabhängig davon, wie das Gesetz zustandegekommen ist, es ist einsehbar gerecht, und daher kann man sich damit identifizieren. Was die Stufe der moralischen Prinzipienorientierung, Stufe 6, anbelangt, so ist sie veränderungsbedürftig. Es gilt, sie derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem Anspruch gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Dann muß sie so begründet und formuliert sein, daß sie den rein kommunikativen Charakter einer strikten, verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit hat, so daß das anzustrebende Ziel und das Geltungskriterium, die hermeneutische Verständigungsgegenseitigkeit und die diskursive Geltungsgegenseitigkeit, als regulative Prinzipien festgehalten sind. Demgemäß kann die moralische Prinzipienstufe ein akommunikatives Prüfungsverfahren, etwa ein Gedankenexperiment oder ein role taking in Form des Einfühlens in den Anderen und dessen Situationswahrnehmung, bloß umständehalber und unter starkem Fallibilitätsvorbehalt in Kauf nehmen: als Notbehelf, dessen Ergebnisse riskant hypothetisch sind – kritikbedürftig im Blick auf eine Verständigung mit den Betroffenen über ihre eigene Situationseinschätzung und ihr Selbstverständnis. Freilich ist die Prinzipienfrage, ob eine Handlungsmaxime überhaupt argumentativ zustimmungswürdig sei, in hohem Maße idealisierend. Setzt sie doch voraus, daß alle Beteiligten wahrhaftig, argumentationseinsichtig und guten Willens sind, also auch bereit, die zustimmungswürdigen, diskursiv universalisierbaren Normen ausnahmslos zu befolgen. Just diese regulative Idealisierung müssen Verantwortungsträger nach Maßgabe ihrer jeweiligen realen Handlungssituation geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistischverantwortungsethisch gewissermaßen einklammern – nicht um sie zu vergessen, sondern um sie zu differenzieren: Das regulative Ideal, die Normen eines idealisierenden praktischen Diskurses, ist in folgenverantwortbare, konkrete Handlungsorientierungen umzuarbeiten; und dabei müssen die situationsbedingten Moralrestriktionen berücksichtigt und konterstrategisch aufgefangen werden. „Blauäugigkeit“ ist oft unverantwortlich. In der sozialen Wirklichkeit gilt, daß „gutgemeint“ nur zu oft das Gegenteil von „gutgetan“ bzw. von „verantwortlich“ ist. Diese erfolgsverantwortliche Lektion gehört vor allem dann unabdingbar zur moralischen Urteilsbildung, wenn die Urteilenden Verantwortung für anvertraute Schwächere bzw. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 63 Klienten tragen und dabei nicht voraussetzen können, daß sie es de facto einzig mit moralischen Handlungspartnern und moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben (werden). Im Alltag kann damit zu rechnen sein, daß ein Gegenüber massiv Eigeninteressen durchsetzen will und daher nicht zu einer argumentativ dialogischen Bemühung um das moralisch Richtige bereit ist – oder nur halbherzig. Auch sind in vielen Feldern der Gesellschaft – von der Bürokratie über die politischen Arenen und die Märkte bis zur Börse – die Handlungsbedingungen strategisch bzw. strategisch agonal vorstrukturiert. Deshalb müssen bzw. sollten die Akteure ihr moralisches Vertrauen auf den guten Willen der Gegenseite bzw. auf moralanaloge Handlungsbedingungen und Institutionen einklammern, dürfen sich jedenfalls nicht darauf verlassen. Sie sind auf Konterstrategien angewiesen. Wenn sie diese Notwendigkeit reflektieren, also in ein Diskursverhältnis zu ihren faktischen Handlungsbedingungen treten, stellt sich die situations- und prinzipienbezogene Verantwortungsfrage (7): ,Welche strategischen Gegenmittel bzw. konterstrategischen Mittel sind unter den gegebenen moralrestriktiven Handlungsbedingungen für Verantwortungsträger als Diskurspartner zustimmungswürdig und also verantwortbar, auch wenn sie moralischen Intuitionen der eigenen Person zuwiderlaufen mögen?‘ Überdies ist eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit durchaus mit der politisch von Max Weber und zukunftsethisch von Hans Jonas, diskursethisch von Karl-Otto Apel und feministisch von Carol Gilligan geltend gemachten Fürsorge- und Verantwortungsperspektive vereinbar. Im Blick auf asymmetrische und moralrestriktive bzw. nonmoralische Handlungsbedingungen fordert diese Perspektive die Bereitschaft zu Konterstrategien und die Prüfung solcher; müßten sie doch nach Maßgabe der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit rechtfertigbar sein. Wie anders sollten sie als moralisch und daher als verantwortlich gelten können? Hier liegt das Problem des, am schärfsten von Max Weber und Karl-Otto Apel eingeforderten, Übergangs von der „Gesinnungsethik“ zu einer „Verantwortungsethik“. Dieser Übergang führt zu Belastungen der moralischen Person; ja er kann eine moralische Identitätskrise zur Folge haben, wofür es bewegende Zeugnisse gibt – nicht zuletzt bei Repräsentanten des religiösen Ethos oder eines Standesethos (Ärzte, Soldaten). Es fragt sich jedoch, ob es sich bei diesen unleugbaren Krisen des moralischen Selbstverständnisses eigentlich um solche auf der metakonventionellen moralischen Prinzipienstufe (sechs) handelt. Oder begegnen uns hier gesinnungsethische Überhöhungen einer eingelebten Orientierung an Recht und Ordnung (Stufe vier) oder einer Orientierung am Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 64 Sozialvertrag (Stufe fünf) resp. einer religiösen Bindung an Gottes Gebote? M.E. bezeugen die moralischen Identitätskrisen der Gesinnungsethiker die inneren Schwierigkeiten, gegenüber den Stufen 3, 4 und 5 die Autonomie eines konsequent prinzipienethischen Urteils zu behaupten. Denn diese erfordert eine metakonventionelle Distanzierung nicht allein der ethischen Konventionen (Stufen 3 und 4), sondern auch der durch einen Sozialvertrag oder durch einen Glaubensbund mit Gott (i. S. des Inbegriffs der Gerechtigkeit und Liebe) anerkannten Grundnormen (gemäß Stufe 5 bzw. 51/2). Die moralische Autonomie, die man sich als möglicher Diskurspartner schon vorausgesetzt hat, bedeutet eine zweifache Bereitschaft zum kritischen Diskurs: die Bereitschaft zur Geltungseinklammerung aller konkreten normativen Gehalte und die Bereitschaft zu ihrer Verantwortbarkeitsprüfung angesichts der gegebenen Situation. Um moralische Autonomie zu praktizieren, bedarf es einer dialektischen Einsicht und einer psychologischen Selbstdistanz samt Konfliktbereitschaft. Zunächst ist die dialektische Einsicht erfordert, daß ‚wir’ einerseits Urteilende sind, die als Diskurspartner das ideale Geltungsverhältnis universaler Reziprozität zu allen möglichen Argumentationspartnern und ihren sinnvollen Diskursbeiträgen anerkannt haben, andererseits aber Akteure bzw. Rollenträger, die als Verantwortliche den Moralrestriktionen asymmetrischer Handlungsbedingungen und nonmoralanaloger Verhaltensweisen ausgesetzt sind bzw. sein können. Die Dialektik dieser beiden ursprünglichen Positionen, in der ‚wir’ uns hier befinden, ist der Bezugsrahmen der Verantwortungsethik. Denken und praktizieren läßt sich moralische Verantwortung einzig dann, wenn beide Positionen gleichermaßen berücksichtigt werden. Diskursidealität ohne Folgenverantwortungsrealismus wäre schwärmerisch und verlöre den konkreten Gegenstand des Diskurses aus den Augen. Folgenverantwortungsrealismus ohne Diskursidealität wäre zynisch, wüßte nicht, was es eigentlich zu verantworten gelte und vor welcher Instanz. Zur Umsetzung jener Dialektik braucht es Selbstdistanz – Abstand von eingelebten ethischen Orientierungen und Selbstverständnissen. Wer moralisch verantwortlich sein will, benötigt Raum und Kraft für eine moralstrategische Risiko- und Konfliktbereitschaft. Deren normativer Sinn besagt: ‚Suche und praktiziere Konterstrategien – auch auf die (wohl selten auszuschließende) Gefahr hin, daß du etwas bewirkst, was man im nachhinein, in einem wohlinformierten Diskurs über die Verantwortbarkeit des Getanen bzw. in Gang Gesetzten, nicht gutheißen und als zustimmungswürdig ansehen kann.’ Ohne die Risikobereitschaft, praktisch zu irren, auch Gewissensbisse zu erleiden oder im Urteil Anderer schlecht Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 65 dazustehen, gibt es keine couragierte, moralstrategische Tat, keine „freie, verantwortliche Tat auch gegen Beruf und Auftrag“, wie Dietrich Bonhoeffer formulierte.192 Während auf der Stufe 6 die Diskursfrage einfach lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise oder Norm im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie überhaupt der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung finden würde und daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 das situationsbezogene Realisierungs- und Durchsetzungsproblem dessen, was als eigentlich moralisch richtig erkannt worden ist. Das Moralkriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als argumentativer Zustimmungswürdigkeit bleibt in Kraft. Der Blick richtet sich nun aber auf Handlungsbedingungen, unter denen der Verantwortliche nicht auf die Moralbereitschaft des Gegenübers und nicht auf eine Moralgemäßheit der Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das ist das von Karl-Otto Apel so genannte B-Problem der Ethik; es verlangt die Bildung und Prüfung „moralischer Strategien“.193 Wird dieses Problem durchdacht, dann transformiert sich die Prinzipienethik von einer Gesinnungs- in eine Verantwortungsethik. Um diesen Überstieg von der unmittelbaren prinzipienethischen Orientierung zu einer moralstrategisch gebrochenen Orientierung am Moralprinzip geht es auf Stufe 7. Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskompetenz, kann die Frage aufkommen, ob oder inwiefern derlei auch für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von Bedeutung sei. Die Antwort ergibt sich daraus, daß erst das dritte, das kommunikationsphilosophische Paradigma im Stande ist, Kohlbergs Idee zu würdigen und fruchtbar zu kritisieren. Mehr noch, die soeben vorgetragene (und noch abzuschließende) Auseinandersetzung ist selbst ein signifikantes Ergebnis des dritten philosophischen Paradigmas, der Kommunikationsphilosophie – und auch ihrer Weiterentwicklung von Habermas’ Rekonstruktion des Idealtyps ‚kommunikatives Handeln‘ zu einer sokratischen Reflexion auf ,uns‘ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird deutlich, wenn wir auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste Auseinandersetzung mit Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren zurückblicken. 192 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. v. E. Bethge, München 111962 (zit.: Widerstand), S. 14. 193 K.-O. Apel, Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?, in: Funkkolleg Studientexte (1984), III, bes. S. 624-634. Ders., Diskurs (1988), S. 256ff, 265ff und 299f; ders., The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially Today, Leuven 2001 (zit.: The Response (2001)), S. 77ff. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 66 Jürgen Habermas hat auch dank seiner intensiven, kundigen Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg Wissenschaftsgeschichte gemacht. So gab er 1976 den Anstoß zu einer kommunikationsbezogenen Reformulierung von Kohlbergs höchster Stufe. Er argumentierte, daß von einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit strenggenommen erst dann die Rede sein kann, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen „nicht mehr nur innerhalb eines durch kulturelle Überlieferung naturwüchsig fixierten Interpretationsrahmens nach einem monologisch angewendeten Prinzip der Verallgemeinerung überprüft“ und damit die Bedürfnisinterpretationen „nicht länger als gegeben angenommen, sondern in die diskursive Willensbildung einbezogen werden“194. Im Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß Kohlberg, wenn er die Stufe 6 durch Kants Kategorischen Imperativ erläutert, auf das einsame Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe: „Der Einzelne überlegt sich, ob seine subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar sind [...], aber er berät sich nicht mit anderen darüber“. So schließe Kohlbergs Definition der Stufe 6 noch nicht die (entscheidende) „Forderung einer zwischen allen Betroffenen zu vollziehenden Verständigung“ über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein.195 Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel (1980) aus dieser moraltheoretischen Erkenntnis eine falsche entwicklungslogische Konsequenz gezogen. Beließen sie doch Kohlbergs Stufe 6 als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen Gewissensethik und fügten dieser dann – im Sinne einer „universalen Sprachethik“ – noch eine siebente Stufe der „universalistischen Bedürfnisinterpretationen“ als höchste Stufe hinzu.196 Doch ergibt es keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn Kohlbergs Bestimmung der Urteilsstufe 6 das entwicklungslogische Telos der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit offensichtlich unterbietet – also das Moralprinzip fehlerhaft ansetzt. Außerdem ist auch der Geltungsanspruch eines Gewissensentscheids ein Anspruch auf Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt, wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, vielleicht nicht realisieren läßt. Daher sieht sich der Urteilende/Handelnde zu einer kommunikationsentlasteten, mehr oder weniger einsamen Urteilsbildung genötigt. Sein Geltungsanspruch ist aber, „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu urteilen. Damit hat er die Verpflichtung anerkannt, sich auch um 194 J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 88 und 87. 195 K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 62. 196 J. Habermas, a.a.O., S. 83 und 84f; vgl. K.-O. Apel, a.a.O., S. 62f. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 67 das beste Wissen zu bemühen.197 Und das beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen gewinnt man durch Kommunikation mit den Betroffenen, das zweitbeste durch Methoden der Interpretations- und Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht mögliche Gespräch über den Sinn dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt bzw. gewollt haben, durch sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht. Das hermeneutische Regulativ bleibt die Idee der Verständigung mit den betreffenden Anderen: die regulative Idee der „Verständigungsgegenseitigkeit“ (Böhler).198 Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden (Kommunikation auf Stufe 7) wäre Flickschusterei. Die mithin erforderliche verständigungsbezogene Reformulierung der Kohlbergschen Stufe 6 müßte zudem zwei verschiedenartige Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des praktischen Diskurses zusammenwirft. Das ist einmal die Gegenseitigkeit der Verständigung über den Sinn anstelle eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse angewiesenen monologischen Verstehens. Das ist außerdem die Gegenseitigkeit der Geltung von Gründen, worauf die diskursive Prüfung zielt. In einem ersten Schritt geht es um die kommunikative Sinnermittlung als Verständigung zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen über ihre Interessen und ihre Situation. Zu fragen ist zunächst: „Was ist der Sinn der Handlungsweise und der dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N. N.? Was wollen die Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?“ Erst dann, wenn wir durch direkte Kommunikation oder hermeneutische Verfahren dieses Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder praktischen Diskurs im engen Sinne zu führen. Strenggenommen ist der praktische Diskurs erst der zweite Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: „Was sollen wir (im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren Interessen und Werten so-und-so beschaffen ist?“ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun wieder möglichst kommunikativ geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt, im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Im Diskurs geht es um die Bestimmung der „Geltungs-Gegenseitigkeit“ der Gründe für/gegen eine Handlungsweise. 197 Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G.H. Meads Beziehung des Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf hin und sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar: D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte (1984), II, bes. S. 347-350; ders., Rek. Pragm. (1985), S. 339ff. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 68 Aus unseren Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs Idee einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslogisch tragenden Säule („Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau“) dargestellt. 198 Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, S. 276, vgl. 274ff und in Bd. III, S. 858f. Diskursebene verfahren Rechtsnormen bzw. – funktionale Autorität u. Bezug auf konkrete Werte/Normen persönliche Autorität und Konventionell: Bezug auf II Strategismus Vorkonventionell: Egoismus I Gegenseitigkeit (do ut des) Instrumentell relativistische (gut ist, was mir nützt) Belohnung bzw. Freiheit von Strafe (normativen) Anderen Gegenseitigkeit des generalisierten Ordnungs- und Rechtsbewußtsein: Anerkennung und von Erwartungen in ,unserer’Gruppe Institutionenloyalität Normensystem → Fürsorge gruppenbezogene Rollen → gemäß Bezugsgruppe: Gegenseitigkeit Soziale Identität und Anerkennung Reifungskrise: zur Autonomie mitsamt Folgen- und Strategie-Verantwortung („Krisenstufe 4½“) sozialer Ordnung um ihrer selbst willen 4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und den Rollen ,unserer‘ Gruppe 3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden in Handlungsweise Je meine/deine mein Bedürfnis Je deine Handlung, je Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau Bezugspunkt Reziprozität von Gehorsam – Reifungskrise: zur Anerkennung der Anderen und der Sozialität Tauschperspektive 2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit egoistischer durch egozentrische Machtkonformität 1 Orientierung durch Ego-Intuitionen/Lustgewinn und Stufe der Orientierung Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils: Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 69 mögliche Regressionstendenzen 19, 18; 5. B. 5 u. 6; Propheten, z.B. Micha 6,8; Hillel und Jesus) und Zustimmungs- würdigkeit (für alle) von Handlungsweisen Verallgemeinerbare Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit unter (möglichen) Diskurspartnern einsamem Test der Verallgemeinerbarkeit zum Dialog- Moralprinzip ‚D’: „Ist die Maxime M aufgrund von Verständigungs-Gegenseitigkeit und in rein Erfolgsbezogene Moral- und Zukunftssorge gemäß argumentative Zustimmungswürdigkeit im Blick auf nonreziproke Handlungsbedingungen Erfolgsstrategie X zur Durchsetzung der Maxime M moralisch noch verantworten?’ ‚D’ wortungsprinzip → moralischen Gesinnungsmaximen (6): Moralrestriktionen: ‚Können wir als Diskurspartner die 7 Ausgang von (6) mit Blick auf faktische Diskursverant- berücksichtigen! gleichermaßen alle Rechtsansprüche Diskurs-Gerechtigkeit: Menschenwürde und Moralprinzip ‚D’ → bzw. Goldene Regel und Nächstenliebe bare Gebote Gottes Diskurs-Autonomie gegenüber argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?“ mit Autonomie gegenüber 3 bis 5½, Kommunikative Diskurs-Einstellung Korrelation mit Gott, dem Gerechten Verpflichtungen von 3 bis 5: gegenüber Eigeninteressen und Moralprinzip: Vom „Kategorischen Imperativ“ als 6 Orientierung am Gewissen und am universalen dem Gerechten und Liebenden (z. B. Mose 2. B., 20; 3. B. Werten/ Normen/ grundsätze Gesetz: Vertragspartnerschaft Als gerecht einseh- Sozialvertrags- Verfassungs- bzw. Verbindlichkeit von Konvention und Politische Autonomie gegenüber der 5½ Orientierung an Kult- u. Sittenvertrag („Bund“) mit Gott Theonomie mit partieller Autonomie Nutzens ,unserer‘ Gesellschaft (Gemeinwohl) 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i.S. des Einsehbarkeit (für mich) oder Diskurse über die Gedankenexperimente Metakonventionell: III Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 70 Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 Die hier vorgeschlagene Entwicklungslogik 71 reformuliert Kohlbergs Schema in diskursverantwortungsethischer Sicht. Diese Reformulierung hat gegenüber dem Urbild vier Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des „Postkonventionalismus“, zudem kann sie das genuin moralische Niveau der hebräisch-biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½). Drittens bestimmt verallgemeinerbare sie das moralische Gegenseitigkeit, so Prinzipienniveau daß auch das der Stufe 6 strikt Beurteilungsverfahren als nicht monologisch sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist, wird durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die Tendenz zu einer gesinnungsethisch idealistischen Anwendung des moralischen Prinzipienurteils aufgehoben. Die vierte Errungenschaft ist sozusagen das „Überlegungsgleichgewicht“ von Kommunikation, prinzipiengeleitetem Verantwortungsdiskurs: konterstrategische Die realistische Erfolgsgesichtspunkt Idealdiskurs und real Zukunftsverantwortung ernüchtert die folgenbezogenem konkretisiert, Orientierung an der der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden können, zeigt Kohlbergs Sukzession der Urteilsentwicklung: das Moralischwerden ist ein Bildungsprozeß der sich aufstufenden Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Im Laufe der Sozialisation, der Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung differenziert sich die faktische Orientierung bei Normenkonflikten derart, daß die Urteilenden die Frage, was ‚moralisch’ heiße, im Sinne einer stufenweise allgemeineren bzw. umfassenderen Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit) beantworten. Kohlbergs Antwort auf die Entstehungsbzw. Wie-Frage der Moral lautet also: Man wird moralisch, indem man zunächst – auf der vorkonventionellen und dann der konventionellen Ebene – die Frage, was moralisch zu sein heiße, in Form einer zunehmend umfassenden und abstrakten Gegenseitigkeit zu beantworten lernt. Dann erfolge der Einschnitt der Krisenstufe 4½, der Sprung auf die „postkonventionelle“ Urteilsebene. Hier wird nach Kriterien, nach Grundsätzen dafür gesucht, warum eine Gegenseitigkeitsorientierung als moralisch gelten soll. Die Was-Frage verwebt sich mit der Warum-Frage. Ja, sie wird nun im Lichte der Begründungs- bzw. Warum-Frage gestellt. Die Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 72 Antworten stufen sich jetzt so auf, daß progressiv allgemeine und abstrakte Grundsätze ins Spiel kommen; und zwar Stufe 5: Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf die Angehörigen ‚unseres’ politischen Verbandes, z.T. mit Menschenrechten Stufe 5 ½: Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen, Stufe 6: Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und Sich-Orientieren am Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, Stufe 7: Sich-Distanzieren von einem gesinnungsethischen, harmonistischen und konkretistischen Verständnis des Moralprinzips und von der Ausschließlichkeit der rein dialogisch kommunikativen Einstellung, statt dessen Sich-Einlassen auf moralstrategische Situations- und Folgen-Diskurse, deren Ergebnisse aber dem Dialogprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit genügen sollen. Die Stufen 6 und 7 eröffnen zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Sie ermöglichen es den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren Anspruch auf Urteilsautonomie, sprich: auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch Beantwortung der prägnanten Frage „Warum moralisch sein?“ Es ist dies eine doppelte Frage, nämlich die wertethische Frage der Selbstmotivation: „Warum will ich eigentlich moralisch sein?“ und die normative Frage der Verbindlichkeitserkenntnis: „Warum soll ich (begründeterweise) moralisch sein?“ Denn auf der sechsten Stufe und mit situations- sowie zukunftsbezogener Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden – im Zuge einer sokratischen Besinnung auf ihre Ansprüche als Diskurspartner – folgende Antworten: ‚Ich, der ich mit Anspruch auf Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um VerständigungsGegenseitigkeit und um Geltungs-Gegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt habe, daß andere Orientierungen mit meinen Ansprüchen, ein autonomer Diskurspartner zu sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine Diskursglaubwürdigkeit und damit auch meine moralische Identität zerstören würden.’ Wenn skeptisch nachgefragt wird, warum man diese moralische Wertorientierung wählen und warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung auf die eigene Diskurspartnerrolle – diese Antwort: ‚Ich würde mir selbst praktisch unverständlich und verlöre gegenüber anderen meine Glaubwürdigkeit, meinen moralischen Kredit, den ich als Diskurspartner in Anspruch genommen habe, wenn ich in Zweifel zöge, daß ich, ein Diskurspartner, die Pflicht habe, Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 73 meine Urteilsbildung und mich selbst an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu orientieren. Also sehe ich ein, daß ich eben das tun soll.’ Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur bzw. der von dir zu beurteilende Akteur moralwidrige Bedingungen vorfindet oder solche Handlungsnebenfolgen nicht ausschließen kann, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren Menschenwürde in Frage stellen, dann stehst du, Diskurspartner, vor dem verantwortungsethischen Dilemma der Stufe 7: Du benötigst jetzt eine moralische Strategie für die du in realer Kommunikation mit allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit) keinen Konsens finden kannst; doch ist ein strategisches Handeln deiner dialogischen Moralgesinnung zuwider, weil du die Autonomie Anderer strikt achtest und niemanden ‚hintergehen’ willst. Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument sucht, mithin letztlich die Geltungsgegenseitigkeit in einer idealen Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten und moralischen Diskurspartner, ob du es sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d.h. rechtfertigen und daher sollen kannst, die nötige Entscheidung für eine jetzt nicht konsensfähige Strategie zu umgehen. Bald wirst du einsehen: du kannst diesen bequemen Weg nicht ernsthaft wollen. Denn er ist unvereinbar mit deiner moralischen Prinzipienorientierung, weil diese die Übereinstimmung deiner Handlungsweise bzw. deines Urteils mit der Geltungsgegenseitigkeit verlangt und damit deren Akzeptanz in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Das, was in letzter Instanz zählt, das letztlich ausschlaggebende Kriterium, ist nicht die faktische Zustimmung seitens deiner real gegebenen Kommunikations-, sondern die Zustimmungswürdigkeit einer idealen, unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Freilich verlangt diese strikte Orientierung am DialogMoralprinzip die Zivilcourage, sich von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu distanzieren, und ebenso die Gesinnungscourage, im Gegenzug zur unmittelbaren Moralität sich auf eine moralische Strategiebildung einzulassen und das reale Gegenüber zu hintergehen. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen Egoismus: du würdest im Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein gesinnungsethisches Moralund Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten, darüber aber deine moralische Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein argumentativen Diskursen (konsequente Stufe 6) fahren lassen. Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 74 Weiterhin gilt: Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht vorschlagen, wollen oder tun. Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners unverträglich ist, das darf er nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse führen und soll eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage kommt bloß eine Strategie, von der er – gemeinsam mit den ernsthaften Diskurspartnern, denen er vertrauen kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß sie in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft Zustimmung finden würde.