Metaphysik oder Seinsschau, Kritik oder Rückgang auf das

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Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Dietrich Böhler
Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Metaphysik oder Seinsschau,
Kritik oder Rückgang auf das Erkenntnissubjekt,
»Kommunikation« oder Rückgang auf die Sinnbasis des Denkens.
Diskursbezogene Einleitung in die Philosophie und ihre Entwicklung
(2 SWS) Do 14.00-16.00 – Rost-/Silberlaube Habelschwerdterallee 45, HS 2 (Hörsaal)
1
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2
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,
Ich beginne mit einem Geständnis. Es gibt zwei kleine Schwierigkeiten am Anfang dieser
Vorlesung.
1)
Terminschwierigkeit: Wer kann absolut nicht Do 14-16 Uhr? Wir müssen uns auf 14
Uhr oder 16 Uhr verständigen, weil es eine Doppelankündigung gegeben hat, die ich
sehr bedauere.
2)
Hör-Schwierigkeit, weil ich 26. Oktober und 2. November aus gesundheitlichen
Gründen nicht werde lesen können. Doch ist diese Situation für Sie als Studenten sehr
nutzbringend, weil sie ein Stimulans zum Selbststudium und damit zur Annäherung an
Ihr vornehmstes Studienziel ist: Erwerb von Urteilsautonomie und der Kompetenz des
autonomen Philosophierens = des Selbstdenkens.
Ad 1) Nächste Vorlesung, die ich persönlich halten kann: Do, 9. November
vermutlich (siehe Aushang und im Internet: www.hans-jonas-zentrum.de)
um 14 Uhr
in Hörsaal 2.
Ad 2) Was nun Ihren Weg zur philosophischen Denk- und Urteilsautonomie anlangt, soweit
sie ihn gleich zu Anfang dieser Vorlesung – man darf sagen glücklicherweise –
beschreiten können, so ist folgendes nötig und sehr leicht möglich:
Erstens: Sie laden sich den Text für diese sowie für die nächste und übernächste VL
von der Website des Hans-Jonas-Zentrums herunter, lesen ihn sorgsam und – ganz
wesentlich – notieren grob Ihre Fragen dazu.
Zweitens: Sie kommen donnerstags hier in die Vorlesung und verfahren wie folgt:
1) A liest 4-5 Seiten Tilman Lücke.
2) Alle formulieren nach der Lektüre gemeinsam und mit Blick auf Ihre Grobnotizen
Fragen an mich.
3) B hält diese Fragen schriftlich als Aide-mémoire (an Böhler) fest.
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4) Dann liest A wieder 5 Seiten etc.
5) Nach der 1. Vorlesung dieses Ihres selbstorganisierten Studienteils
-
suchen A und B die wichtigsten Fragen (die sich nicht durch einfaches
Weiterlesen oder Nachschlagen von selbst beantworten) heraus,
-
bringen sie in eine sinnvolle Abfolge,
-
kopieren sie auf eine Overhead-Folie,
-
und senden sie mir per Fax (030-85961309) nicht vor dem 8. November.
6) Nun nur noch die Frage: Wer macht die/den vorlesenden A und wer die/den
protokollierenden B:
-
am 26. Oktober?
-
am 2. November?
3
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4
Vorlesungsbegleiter
Die Vorlesung gibt eine Einleitung, d. h. systematische Grundlegung und problem- bzw.
begriffserschließende Einführung, in Grundzüge der abendländischen und europäischen
Philosophie. Diese hat sich bis weit in die Neuzeit wesentlich als Metaphysik bzw. als
metaphysische, spekulative Ontologie verstanden - mit der Folge, daß sie auch dann, wenn
sie, wie bei (und z. T. im Gefolge des) Aristoteles, ein Eigenrecht der Ethik und Politik als
„Pragmatie“ der sich wandelnden Handlungswelt geltend machte, zumeist in dem Rahmen
eines spekulativen, (latent) theologischen Seinsdenkens geblieben ist.
Wie ist das von uns zu beurteilen, wenn wir berücksichtigen, daß (erstens) seit Sokrates auch
die Möglichkeit eines dialogischen Philosophierens unabhängig von Glaubensannahmen und
unüberprüfbaren Seinsspekulationen aufscheint, daß (zweitens) wir selbst als
philosophierende Argumentationspartner diesseits solcher Spekulationen im und aus dem
Dialog denken müssen, daß (drittens) die Philosophiegeschichte quasi eine Entwicklungslogik
zeigt: eine Tendenz zur dialektischen ‚Aufhebung’ der (traditionellen) Metaphysik.
So will Kants kopernikanische Wende zu einer Kritik der Vernunft die metaphysische
Seinsspekulation in eine „Transzendentalphilosophie“ aufheben. Seit der linguistischen,
sprachpragmatischen Wende soll nun diese Denkweise kritisiert und aufgehoben werden: Auf
der Agenda steht die 'Aufhebung' dieser und jeder Art der Bewußtseinsphilosophie in
Sprachanalyse und Sprachpragmatik, Hermeneutik und Kommunikationsreflexion.
Kann und sollte also die Sprach-, Kommunikations- und Dialogphilosophie eben das werden,
was die theoria des Seins, die ursprüngliche Metaphysik, hatte darstellen wollen, nämlich eine
erste oder fundamentale Philosophie? Und könnte dadurch das Philosophieren den
sokratischen Anspruch, aus dem und im Dialog zu denken, am Ende einlösen?
In unserem Zeitalter der Verwissenschaftlichung und zugleich der Selbstbesinnung oder
Selbstbehauptung sich pluralisierender Kulturen wäre das zudem eine Aufgabe von
weltpolitischer und weltethischer Bedeutung, die wir bedenken sollten.
Einführende und begleitende Literatur:
[●: Für die Themen der Vorlesung zentral]
-
-
● Jonas, Hans: Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Reclam 2004.
● Kamlah, Wilhelm, und Lorenzen, Paul: Logische Propädeutik. B1
Hochschultaschenbücher 1967. §§ Einführung und IV. Kapitel.
● Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, 2. Bde. Suhrkamp 1973 und 1984
(3. Aufl.). Einleitung (Bd. 1) und aus Bd. 2: S. 330f.
Ders., Böhler, Dietrich u. a. (Hrsg.): Funkkolleg Praktische Philosophie / Ethik:
Studientexte, 3 Bde. Beltz 1984. Aus Bd. 1: Studieneinheiten (STE) 2, 4, 10; aus Bd.
3: STE 22, 26, Lösung der Aufgaben und Glossar (!).
● Böhler, Dietrich: Vorlesung SoSe 2006. §§ 1-2.6 und 5-6.6 (zu kopieren aus dem
Handapparat im Philosophischen Institut).
Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt. Klett-Cotta 1972.
Tugendhat, Ernst und Wolf, Erika: Logisch-semantische Propädeutik. Reclam 1983.
Böhler, Dietrich: Rekonstruktive Pragmatik. Suhrkamp 1985. Bes. S. 17-81 und
S. 335-374.
Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung. Suhrkamp 1999. Bes. S. 65-101.
● Lücke, Tilman: „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“. In:
Burckhart, Holger und Gronke, Horst (Hrsg.): Philosophieren aus dem Diskurs.
Beiträge zur Diskurspragmatik. Königshausen & Neumann 2002.
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Für die ersten Sitzungen - Oktober/November – insbesondere:
-
Basistext: T. Lücke, s. o.
Begleittexte:
E. Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie.
Suhrkamp 1976. Bes. S. 24-91.
D. Böhler: Vorlesung SoSe 2006, s. o., §§ 1-2,6.
K.-O. Apel: Transformation, s. o., Bd. 2, S. 330ff.
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Inhalt
I
Einleitung: Metaphysik als Schau des Ganzen.
Oder: Spekulation über Gott und die Welt.
1
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik.
1.1
Wie Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende noch
möglich ist: Hans Jonas’ „rationaler Mythos“.
1.2
Der verdinglichende, subjekt- und kommunikationsvergessene Weltbezug der
(traditionellen) Metaphysik, dessen Fortwirkung der Erkenntniskritik als SubjektObjekt-Struktur und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber
reflexionsvergessene Metakritik.
1.2.1
Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme:
Heidegger.
II
Instruktiver Seitenblick auf den paradigmatischen Gang und
wichtige Inhalte der Vorlesung.
III
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
3.1
Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie? Die drei
philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik.
3.2
Die Wie-, Was- und Warum-Frage der Moral: Aufstufung zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit als Entwicklungslogik der lebensweltlichen praktischen Diskurse.
3.3
Der argumentative Dialog – ein Diskurs unter vielen?
3.4
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik.
Die
3.4.1
Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit.
3.4.2
Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen.
3.4.3 Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik.
seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens.
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7
IV
„Diskurs“ und Diskurse im geschichtlichen Spannungsfeld
von Seinsschau, Selbst-Bewußtsein und Kommunikationsreflexion.
4.1
4.2
Theoria-Metaphysik versus Diskurs.
4.1.1
Platon: Philosophie als theoria-Ontologie. Oder: Vom Diskurs zur einsamen
Ideenschau, vom argumentativen und reflexiven Dialog zum totalitären
Kosmos-Polis-Mythos.
4.1.2
Aristoteles und das Aufblitzen der Dialogreflexion inmitten der theoriaOntologie. Vorgriff auf die Verbindlichkeit aus dem argumentativen Dialog?
4.1.3
Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie –
Türöffnung für den methodischen Solipsismus.
Rhetorik versus Metaphysik oder Metaphysik in der Rhetorik?
4.2.1
Von Isokrates zu Cicero. Die unbefriedigte Kommunikation (I). Rhetorik als
konsensbezogene Alternative zur theoria-Ontologie oder als relativistischer
Diskursersatz mit naturalistischem Sicherheitstitel?
4.2.2 Rhetorik und Ideologie. Von Cicero bis Rorty – kulturrelativistische
Anfälligkeit der Rhetorik.
4.3
4.4
Diskurs im metaphysisch-theologischen Rahmen einer christianisierten theoria.
4.3.1
Wirkmächtiger Augustinus. Verfestigung der akommunikativen Erkenntnisund instrumentellen Sprachauffassung.
4.3.2
Thomas von Aquin. Der unbiblische Seins- bzw. Kontemplationsgott und das
akommunikative Erkenntnisschema ‚diskursiver Verstand versus intuitive
Vernunft’.
Die unbefriedigte Kommunikation (II): Emanzipation von der christianisierten theoria
– zwischen italienischem Humanismus, Lutherscher Reformation, Montaignes
Lebenskunst und Vicos geistigem Wörterbuch der Menschheit.
4.4.1
Reformation versus Humanismus: Verdeutschung der Bibel, Behauptung und
Verlust der Gewissensfreiheit – Idee der Menschenwürde.
4.4.2
Südlich der Alpen: uomo universale im Spielfeld der discorsi.
4.4.3 Machiavelli und Galilei: Vom rhetorisch humanistischen zum
machtanalytischen und zum konstruktiv theoretischen discorso.
4.4.4
Diskurs zwischen moderner Didaktisierung und althergebrachtem „hohen
Geistergespräch“.
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4.4.5
Montaignes Diskursessays: Schwebende Selbst- und Weltbetrachtung
zwischen Autonomie und stoischer Skepsis.
4.4.6
Vicos geschichtsphilosophisch hermeneutischer Diskursrahmen: sprachlichinstitutioneller Gemeinsinn der Völker.
8
V
Diskurs im subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophischen Paradigma des
Selbst-Bewußtseins und der Kritik
5.1
Descartes versus Pascal.
5.2
Zweckrationalität als Rahmen der Vertragstheorie. Hobbes und die Moderne.
5.3
Etablierung der Kritik durch Kants Revolution der Denkart. Solipsistische Vernunft
und verallgemeinerbare Gegenseitigkeit.
VI
Auf dem Wege zu einem dritten Paradigma. Oder: Die pragmatischhermeneutische Entdeckung der Kommunikation
als Sinnbasis des Etwas-Denkens.
6.1
Weichenstellungen zur Pragmatik: W. von Humboldt und Ch. S. Peirce.
6.2
Sprechakttheorie und empirische Diskursanalyse.
6.3
Diskurs zwischen konservativ pragmatischer Hermeneutik (Gadamer, Marquard),
relativistischem Neopragmatismus (Rorty) und antiuniversalistischem
Poststrukturalismus (Foucault, Lyotard, Derrida).
6.4
Nouvelle Rhétorique (Perelman) und konstruktivistische Dialogik (Lorenzen).
6.5
Diskurstheorie (Habermas) versus Transzendentalpragmatik (Apel) versus sokratische
Diskurspragmatik.
VII
Zum Beschluß: Wo bist du? Was hast du, etwas als etwas denkend,
schon in Anspruch genommen?
Oder: Der Begleitdiskurs, meine Geltungsansprüche und Dialogversprechen.
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1
9
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik.
‚Was heißt Metaphysik?’ Anders gefragt: Gibt es gemeinsame Leitthemen, Gegenstände und
Fragen dessen, was wir im Rückblick auf das Denken seit der vorsokratischen und
nachsokratischen Antike „Metaphysik“ nennen?
Zweifellos. Es gibt spekulative ‚Gegenstände’, die als solche weder empirisch durch
Theorien, Beobachtungen und Experimente i. S. kausaler Gesetzeserklärungen objektivierbar
sind, noch durch erkenntnis- und sinnkritische Reflexion auf interne und unvermeidbare, weil
erkenntnistragende und eine Erkenntnis oder sinnvolle Erörterung erst ermöglichende,
Voraussetzungen (Kant: „Bedingungen der Möglichkeit“ von Erkenntnis) aufweisbar sind,
aber doch von denkenden Menschen nach den mythischen Kulturepochen immer wieder
umrissen und thematisiert werden. Dazu gehören in erster Linie:
1) Das Ganze als Inbegriff dessen, vom dem sich – vermutlich –
Existenzaussagen (der Form: ‚p existiert’, ‚p existiert wirklich’) behaupten
lassen.
2) Das Ganze
a) als Inbegriff eines (vermeintlich) objektiven, unvordenklich
vorgegebenen und (vermeintlich nur) teleologisch1 verstehbaren, von
einem Schöpfer gegebenen Sinnzusammenhangs (→ objektiv
teleologisch angesetzte Seins- bzw. Schöpfungstheologie),
b) als Inbegriff eines möglichen Sinnzusammenhangs, d. h.: Wir
Menschen können unser Verhältnis zum All so verstehen, daß wir
ihm Sinn abgewinnen (→ Sinnentwurf einer hypothetischen
Metaphysik als „rationaler Mythos“ i. S. von Hans Jonas).
3) Der Begriff eines Zentrums und ursächlichen Grundes eines solchen Ganzen:
in zahlreichen (mythisch-)metaphysischen Traditionen – Sonderfall
Buddhismus? – ist das »Gott«, z. B. als ‚Demiurg’ oder ‚Schöpfer’, und in den
biblischen Traditionen (AT und rabbinische, NT und christliche Lehren) auch
als personales Gegenüber, als Inbegriff der Gerechtigkeit und barmherzigen
Liebe. Durchaus verwandt ist der Gottesbegriff der dritten abrahamitischen
Religion, des Islams.
1
Wenn man einen Zusammenhang, der einem selbst geordnet erscheint, objektiv teleologisch versteht, deutet
man ihn als zweckvoll angelegt. Dabei unterstellt man häufig ein Subjekt, welches diese zweckvolle Anlage
verursacht oder geschaffen hat – einen schöpferischen Geist.
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4) Zeitlich bzw. denkepochal erstreckt sich Metaphysik in verschiedensten
Ausprägungen vom mythischen Denken über die griechische theoria bis in die
gegenwärtige Philosophie – zum Teil auch innerhalb der, seit Kant, weithin
metaphysikkritisch gewordenen Philosophie.
Als Überblick bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich das
exemplarische Werk von Karl Jaspers: „Die großen Philosophen. Erster Band:
Die maßgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Die
fortzeugenden Gründer des Philosophierens: Plato, Augustinus, Kant. Aus dem
Ursprung denkende Metaphysiker: Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin,
Anselm, Spinoza, Laotse, Nagarjuna“ (München: Piper 1957, Neuauflage
1981). Mit Ausnahme Kants thematisiert Jaspers in diesem bedeutenden Werk
ausnahmslos spekulative Metaphysiker, die also weder erkenntniskritisch im
Sinne der Kantischen transzendentalen Rückfrage nach Bedingungen der
Möglichkeit der Erkenntnis, noch gar sinnkritisch denken, also nicht gemäß
der Frage nach den Sinnbedingungen und Sinngrenzen metaphysischer
Theorien: ‚Wann wird eine metaphysische Position ein sinnloser
Argumentationsbeitrag?’
Nicht mit dem weiten, explizit nachkantischen Horizont von Jaspers, sondern
zumal metaphysik-immanent, ja eher dogmengeschichtlich, angelegt, ist das
2001 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Buch Jörg
Disses, „Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis
Hegel“. Was den Geltungsstatus metaphysischer Theorien anbelangt, so
plädiert jedoch auch Disse dafür, diesen „nur einen grundsätzlich
hypothetischen Charakter“ zuzubilligen. Er schreibt aber der Metaphysik die
Kraft zu, das auf naturwissenschaftlichen Theorien gründende Wissen „zu
einem einheitlichen Verständnis von Welt zusammenzudenken bzw. von einem
spekulativen Einheitspunkt aus rückwärts schreitend“ dieses Wissen in seinen
wichtigsten Grundzügen einzuholen (!).
Befremdlicherweise referiert Disse die Positionen der traditionellen
Metaphysik von Platon bis Hegel bloß und hat überhaupt kein Verständnis für
die Notwendigkeit einer Sinnkritik der traditionellen Metaphysik. Den
Sinnlosigkeitsverdacht, der mit der linguistischen und der pragmatischhermeneutischen Wende des Philosophierens begründeterweise aufgekommen
ist, scheint er für eine abwegige Zumutung zu halten und unterstellt einfach,
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daß die Aussagen der traditionellen Metaphysiker sinnvoll sind und daher auch
aktuell sein können.
Karl Jaspers’ Darstellung ist in diesem Betracht durchaus differenzierter,
wiewohl er selbst die linguistische und pragmatisch-hermeneutische Wende
nicht nachvollzogen hat und nicht auf deren Niveau philosophiert. Aber er ist
konsequent durch Kant hindurchgegangen. Überdies hat er ein Gespür für das
Unzureichende der Subjekt-Objekt-Beziehung und des Subjekt-WeltDualismus, aus dem heraus die neuzeitliche Metaphysik denkt. Da er zudem
selbst die Kommunikation mehr und mehr in den Mittelpunkt seines Denkens
gerückt hat, ist er auch des methodischen Solipsismus unverdächtig, der die
metaphysische Tradition durchzieht. Freilich vermißt man eine sinnkritische
Aufarbeitung der metaphysischen Positionen unter der Frage, was von ihnen
noch gelten bzw. aufgehoben werden kann, wenn die drei Strukturfehler der
Metaphysik, jedenfalls der traditionellen – nicht durch Kants Vernunftkritik
noch durch eine (transzendental-)pragmatische Sinnkritik hindurchgegangenen
– Metaphysik, beseitigt würden, nämlich
ƒ
das Denken aus einem uneinholbar theoretischen Gesichtspunkt heraus,
gleichsam von einem Gottesstandpunkt außerhalb der Welt,
ƒ
die Unterstellung, daß einer alleine, jeder Metaphysiker für sich, Sinn
und Bedeutung sowie Wahrheit und Gewißheit der Wahrheit erlangen;
d. h. ohne Vermittlung seiner Thesen durch die reale
Kommunikationsgemeinschaft (z. B. Tradition) berücksichtigen zu
müssen, und ohne als letzten Geltungsmaßstab die sinnvolle
Vertretbarkeit und die argumentative Zustimmungswürdigkeit seiner
These im Rahmen einer (als regulative Idee vorauszusetzenden)
unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft zum Kriterium zu machen,
ƒ
die damit verwobene Erkenntnishaltung einer Subjekt-Objekt-Spaltung
bzw. eines Dualismus zwischen Erkenntnissubjekt und Welt als
Inbegriff möglicher Erkenntnisobjekte, welche nach dem Muster
dinglicher Gegenstände verstanden, also verdinglicht werden.
Diese drei Strukturprobleme sollten wir bei jeder Auseinandersetzung mit der
Metaphysik genau im Auge behalten. Ohne den Blick darauf läuft die
Beschäftigung mit Metaphysik ins Naive und Dogmatische. Das gilt aber auch
für die Diskussion aller anderen philosophischen Positionen, die sich nicht als
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Metaphysik verstehen. Auch sie genau können diese Strukturfehler haben,
schließlich liegen diese nicht offen zutage, sondern werden gleichsam ‚im
Rücken’ mitgeschleppt.
1.1 Wie Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Ende möglich
ist: Hans Jonas’ „rationaler Mythos“.
Für die Gegenwart möchte ich Ihnen ein besonders reiches und reflektiertes Beispiel eines
eigenständigen metaphysischen Ansatzes vorstellen, nämlich den „rationalen Mythos“ von
Hans Jonas. Dazu sei zweierlei bemerkt. Einmal steht dieser Versuch nicht im Zentrum seines
Denkens, welches sich nämlich von einer kritischen, nämlich entmythologisierenden
Hermeneutik, ausgeübt vor allem an dem Gnostizismus und der Metaphysik von Augustinus,
über eine leibphänomenologisch orientierte Evolutionstheorie des Lebens bzw. einer
philosophischen Biologie hin zur Ethik der Zukunftsverantwortung in der technologischen
Gefahrenzivilisation erstreckt.
Zum anderen, und das geht uns jetzt vor allem an, stellt Jonas’ rationaler Mythos einen
bemerkenswert metaphysikkritischen metaphysischen Versuch dar. Denn er nimmt – erstens –
die erkenntniskritische Wende zum transzendentalphilosophischen Paradigma einer
Erkenntnistheorie auf, die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt und
von daher die Grenzen, innerhalb derer ein metaphysischer Versuch gelten kann, eng zieht:
Hier sei keine Gewißheit der Wahrheit möglich, so daß es sich nur um eine metaphysische
Vermutung handeln könne, welche keinen höheren Geltungsstatus als den der Plausibilität zu
erreichen vermöge. Jonas berücksichtigt Kants Kopernikanische Wende von der naiven
Seinsschau zur Rückbesinnung auf die Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts gleich in
seinem metaphysischen Versuch.
Zweitens gibt er eine logische Kohärenzkritik und eine Sinnkritik an Grundgehalten der
jüdischen und christlichen Theologie als dem spekulativen Zentrum europäischer Metaphysik.
Zunächst prüft er die Kohärenz der drei Gottesattribute der absoluten Güte, der absoluten
Macht oder Allmacht und der Verstehbarkeit. Von diesen Attributen sagt Jonas, sie stünden
„in einem solchen Verhältnis, daß jede Verbindung von zweien von ihnen das dritte
ausschließt“. Und er fährt fort: „Die Frage ist dann, welche von ihnen sind wahrhaft integral
für unseren Begriff von Gott und daher unveräußerlich, und welches dritte muß als weniger
kräftig dem überlegenen Anspruch der anderen weichen? Gewiß nun ist Güte, d. h. das
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Wollen des Guten, untrennbar von unserem Gottesbegriff und kann keiner Einschränkung
unterliegen. Verstehbarkeit oder Erkennbarkeit, die zweifach bedingt ist: vom Wesen Gottes
und von den Grenzen des Menschen, ist in letzterer Hinsicht allerdings der Einschränkung
unterworfen, aber unter keinen Umständen duldet sie totale Verneinung. Der deus
absconditus, der verborgene Gott (nicht zu reden vom absurden Gott), ist eine zutiefst
unjüdische Vorstellung.“
Schließlich beruhe die Thora darauf, daß wir Gott verstehen können, wir besäßen sein Gebot
und sein Gesetz, und Gott habe durch seine Propheten, wenn auch in dem beschränkenden
Medium der Sprache einer Zeit, mit den Menschen gesprochen. Daher sei die Annahme eines
gänzlich verborgenen, unverständlichen Gottes ein unannehmbarer Begriff. Unannehmbar
aber müßte der Gottesbegriff sein, wenn Gott zusammen mit der Allgüte auch Allmacht
zugeschrieben würde: „nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor
behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem
Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber
Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir
festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es
nur, wenn er nicht allmächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar
und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“.2
An diese immanente Kritik einer Kohärenzprüfung schließt Jonas die eigentliche Sinnkritik an
dem Begriff „Allmacht“ an: Die Rede von Allmacht sei sinnlos, weil wir bei jeder
Verwendung des Begriffs „Macht“ – als dessen Sinnbedingung – voraussetzen müssen und
umgangssprachlich bzw. lebensweltlich auch tatsächlich voraussetzen, daß sich eine Macht
auf die Existenz von etwas anderem bezieht, das als solches schon eine Begrenzung der
Macht ist. Macht sei kein einsames und von daher gänzlich autarkes, sondern ein sozial
bezogenes Phänomen, welches Andere als Gegenüber oder Gegenstand voraussetze, worauf
die Macht wirken könne. Eine absolute Alleinmacht wäre leere Macht.
Das aber wäre, so analysiert Jonas, eine „machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. ‚All’ ist
hier gleich Null [...]. Kurz, Macht ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges
Verhältnis [...]. Macht kommt zur Ausübung nur in Beziehung zu etwas, was selber Macht
hat. Macht, wenn sie nicht müßig sein soll, besteht in der Fähigkeit, etwas zu überwinden;
und Koexistenz ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen. Denn Dasein heißt
2
Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“. In: Ders.: Philosophische
Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Insel 1992, S. 203f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Widerstand und somit gegenwirkende Kraft.“ Daher könne es nicht sein, „daß alle Macht auf
Seiten eines Wirksubjekts allein sei. Macht muß geteilt sein, damit es überhaupt Macht gibt“.3
Allein aus diesem, wie Jonas sagt, zugleich logischen und ontologischen Grund, daß die Rede
von Allmacht sinnlos und das Phänomen einer Allmacht in der Wirklichkeit nicht denkbar sei,
müsse auf das Attribut der absoluten Macht Gottes verzichtet werden.
Wir bemerken also, daß Jonas’ rationaler Mythos eine metaphysikkritische Metaphysik
darstellt, weil sie sowohl Kants Beschränkung des Gültigkeitsstatus aller Spekulationen
hinsichtlich möglicher Erfahrung aufnimmt, übrigens gleich zu Anfang des Vortrags „Der
Gottesbegriff nach Auschwitz“, als auch den grundlegenden Geltungsanspruch der
Verstehbarkeit der Rede, also des Anspruchs auf sinnvolle Rede, ins Spiel bringt, in dem er
den metaphysisch-theologischen Begriff der Allmacht an diesem Anspruch mißt und daher
das Konzept verwirft.
Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’
„unverhüllt spekulativer Theologie“4 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rück. So
aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der
Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und
die Überreichung der Ehrendoktorurkunde.
Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’
„unverhüllt spekulativer Theologie“5 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rücke. So
aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der
Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und
die Überreichung der Ehrendoktorurkunde.
3
Ebd., S. 201f.
Ebd., S. 190.
5
Ebd., S. 190.
4
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Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der
Zukunftsverantwortung6
Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler
Verehrter Herr Professor Jonas, meine Laudatio spielt sich nach einem hermeneutischen
Auftakt in zwei Teilen ab: »Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus« zunächst,
»Metaphysisch ontologische Wertlehre und 'Prinzip Verantwortung'« sodann.
I. Entmythologisierende Hermeneutik
Aus ihrer frühen Forschung kann ich nur auf ein wertvolles Instrument hinweisen: auf Ihre, in
Rudolf Bullmanns theologischem Seminar entwickelte Methode, Dogmen und Mythen
rational zu erschließen, Ihre Hermeneutik der Entmythologisierung. Von Heidegger und auch
von Hegel belehrt, zeigen Sie in Ihrer Frühschrift "Augustin und das paulinische
Freiheitsproblem", Göttingen 1930, daß der Geist nur über den Umweg des Symbols "zu sich
kommen könne"; genauer gesagt, über eine Veranschaulichung und Verdinglichung seiner
wesentlichen Daseinsprobleme und Daseinserfahrungen. Diese liegen eigentlich in seinem
Verhältnis zu sich selbst. Aber in seiner Kindheit, einer unreflektierten Entwicklungsphase,
neigt der Geist dazu, sich innere Daseinsprobleme und -erfahrungen zu erklären, indem er sie
projiziert auf angeblich objektive Ereignisse oder Mächte außer sich.
So erklärt Augustinus - wirkungsträchtig am Anfang des abendländischen Verständnisses von
Freiheit und Moralität - das Dilemma des menschlichen Willens, einerseits moralisch sein zu
wollen, andererseits aber unmoralischen Willensrichtungen zu folgen, etwa der Selbstliebe,
dem Hochmut und dem bösen Begehren bzw. Haben-Wollen, mit dem (m.E. unbiblischen)
Mythos der Erbsünde: Augustinus führt also ein Dilemma des Willens zurück auf die
vermeintlich schicksalhafte Kausalität von Adams Sündenfall.
Indem Sie, Professor Jonas, diesen Mythos als veranschaulichende Objektivierung eines
inneren, existentialen Dilemmas enthüllen, wird exemplarisch zweierlei geleistet: rationale
Kritik an einem Mythos, die diesen als Verzerrung eines Existentialphänomens bestimmt, und
Rettung des zugrunde liegenden Dilemmas als eines Phänomens unseres moralischen
Selbstverhältnisses. Auf diese Weise bewahrt Ihre Methode den Gehalt von Dogmen und
6
Aus: Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, hrsg. von D. Böhler und R. Neuberth,
Münster: LIT, 2. Aufl. 1993, S. 27-36.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Mythen vor einem rationalistischen Verdikt und macht sie uns als Beiträge menschlicher
Selbstverständigung zugänglich.
II. Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus
Ihre Methode einer nicht-mythologischen Rekonstruktion von Mythen war also nicht
dekonstruktiv sondern sinnerschließend: Rekonstruktion von Erfahrungen und Problemen des
Daseins. Daher schuf sie einen Spielraum, den der Geist braucht, um die letzten Fragen, die
spekulativen Fragen, stellen und gehaltvoll erörtern zu können; jene Fragen, die uns
existentiell und gleichsam gattungsexistentiell angehen, als Personen und als menschliche
Wesen in einem materiellen All. Da ist zunächst das Ur-Rätsel: Wie können wir uns
verständlich machen, daß aus "den stummen Wirbeln" von Materie Subjektivität
hervorgegangen ist? Das ist wohl die erste jener Fragen, deren Antworten stets hinausgehen
über die Grenzen unserer möglichen Erfahrung.
Für solche Antworten können wir nicht mehr legitim den Anspruch des Wissens und einer
rationalen Gewißheit erheben. Immanuel Kant hat uns gezeigt, daß es hier kein Wissen der
Wahrheit, keinen Nachweis intersubjektiver Gültigkeit geben kann, obwohl uns diese Fragen
umtreiben. Die Vernunft, sagt Kant, wird "durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben" zu
metaphysischen Fragen, "die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher
entlehnte Prinzipien beantwortet werden können" (KdrV, B 21). Sofern der Mensch homo
metaphysicus ist, muß es möglich sein, metaphysische Fragen zu erörtern und sinnvolle
Antworten darauf zu versuchen. Erst, wenn wir das tun, verhalten wir homines metaphysici
uns dialogisch verantwortlich, weil wir unseren Dialogpartnern nur dann in
Orientierungsfragen Rede und Antwort stehen können, wenn wir uns auch metaphysisch oder
theologisch befragen lassen: Woher kommen wir? Wie können wir Menschen uns im Ganzen
des Seins und dieses im Blick auf uns verstehen? Was hat es mit Gott auf sich? Und wenn es
damit etwas auf sich haben mag, was kann es für unser Leben bedeuten?
Wer bei solchen Fragen von vornherein auf das Ziel rationaler Gewißheit verzichtet, der darf,
so Hans Jonas, im Blick auf "Sinn und Bedeutung sehr wohl über solche Dinge nachdenken".7
Der kann sich im Dialog auch metaphysisch verantworten, indem er sinnvolle Antworten
sucht:
7
Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1987. S. 9
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
-
17
Reflektierte Antworten, die auf den Anspruch ausweisbarer Wahrheit, erweisbarer
Gültigkeit, von vornherein verzichten,
-
sinnvoll diskutierbare Antworten, die uns eine Orientierung anbieten, welche logisch
stimmig ist und zu unserem Erfahrungswissen nicht etwa in ausschließendem
Widerspruch steht, sondern sich daran anschließen läßt.
Eine solche hypothetische Antwort nennt Hans Jonas 'rationalen Mythos'. Dreimal, wenn ich
richtig sehe, Herr Jonas, haben Sie einen rationalen Mythos entworfen bzw. modifiziert und
entfaltet: 1961 in dem Harvard-Vortrag "Unsterblichkeit und heutige Existenz", deutsch in
dem 1963 erschienenen Band "Zwischen Nichts und Ewigkeit", 1984 in dem Vortrag bei
Entgegennahme des Rabbi Leopold Lucas-Preises, "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", und
1988 in der Schrift "Materie, Geist und Schöpfung".
Ihr erster Entwurf wie auch die späteren gehen von Grundlagen moderner Welterfahrung aus:
von deren bedingungsloser Immanenz und von dem methodischen Atheismus der
Wissenschaften. Der moderne Geist bestehe darauf, "unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen:
die Welt als sich selbst überlassen zu sehen".8 Dasselbe fordert Ihr Mythos für "Gottes In-derWelt-Sein": Ein sinnvoller Gottesbegriff könne Gott zwar als den schöpferischen Grund des
Seins charakterisieren, aber doch nur als den absolut machtlosen, dem Abenteuer der
Evolution und damit der Menschheit ausgeliefert:
"Im Anfang ... entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der
endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging
in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück ... Vielmehr,
damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; cr entkleidete sich
seiner Gottheit... Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr
zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den
Wegen seines Lebens darauf sieht, daß es ... nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, daß
es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der
'sechsunddreißig Gerechten' sein, die nach jüdischer Lehre der Welt niemals mangeln
sollen."9
In dem Vortrag "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", der ausdrücklich die Brücke zur
kabbalistischen Lehre vom Zimzum schlägt und in Analogie zu Schellings Spekulation von
der Zusammenziehung, der Kontraktion Gottes auf einen bloßen Punkt, gelesen werden kann,
geben Sie mit diesem Mythos eine Antwort auf die, durch Auschwitz wahrhaft abgründig
8
Hans Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen: Vandenoeck & Ruprecht 1963. S. 56
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
18
gewordene, Hiobsfrage, die der Antwort des Buches Hiob entgegengesetzt ist: Diese, sagen
Sie, "beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung. Und doch seltsam zu sagen - sind beide zum Lobe: Denn der Verzicht geschah, daß wir sein könnten.
Auch das, so scheint mir, ist eine Antwort an Hiob: daß in ihm Gott selbst leidet. Oh sie wahr
ist, können wir von keiner Antwort wissen."10
Ihre Schrift "Materie, Geist und Schöpfung" stellt den Mythos in den Rahmen einer
"Teleologie, einer aristotelischen Theorie vom zweckvollen und zweckgerichteten Sein, mit
der Sie auf die Kehrseite der großen Errungenschaft des abendländischen Denkens im Sinne
eines "Einerseits ... andererseits" reagieren. Einerseits rühmen Sie z.B. an Platon und Paulus,
Augustinus, Descartes und Kant, Pascal und Kierkegaard, die Entdeckung der Seele, die
Herausarbeitung der Subjektivität und Reflexivität des Menschen als Hiatus zur Natur. Es
gehe darum, "genug von der dualistischen Einsicht" zu bewahren, "damit die Menschlichkeit
des Menschen (...) erhalten"11 werde. Daraus folgt eine Zurückweisung jeder Einheits- oder
Ganzheitsanschauung; sei es ein materialistischer Monismus, der selbstwidersprüchlich das
Geistes- und Seelenleben auf materielle Determinanten zurückführen will, sei es auch ein
ökologischer Holismus, der den Menschen als bloßen Teil der Natur ansieht, als bloßes
Moment einer kosmischen Lebensgemeinschaft oder eines Superökosystems. Eine solche
Ganzheits- und Einheitsanschauung wäre nicht minder selbstwidersprüchlich, weil jede
Theorie, auch eine holistische, sich der Freiheit des Geistes verdankt, die alles bloß Natürliche
gerade überschreitet und distanziert; überdies, weil die praktisch normativen Sätze, die
Verhaltensforderungen ökologischer Einheitsdenker nur Sinn machen, wenn eben das
unterschieden wird, was sie zusammenwerfen: Sein und Sollen, beschreibende Sätze über das
Seiende und vorschreibende Sätze über richtiges Verhalten.
So entschieden Hans Jonas mit dem abendländischen Denken die "transzendierende Freiheit
des Geistes"12 und damit die Sonderstellung des intelligenten und moralisch freien Menschen
im Kosmos betont, so scharf kritisiert er andererseits die dualistische Metaphysik, die vielfach
der Preis für deren Herausarbeitung gewesen ist. Von der Gnosis bis zum Existentialismus,
von Augustin bis Heidegger findet Jonas einen, in dieser Form nicht haltbaren, Dualismus
von Mensch und Natur, Seele und Leib, Geist und Materie oder dessen direktes Fortwirken.
Auch bei Heidegger hörte man "nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens:
9
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 55, 56 u. 60.
Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48f.
11
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 25.
12
Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1988. S. 25ff.
10
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
19
unserer Leiblichkeit, durch die wir ... bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind,
zuunterst durch den Stoffwechsel".13
Ihre Dualismus-Kritik - genährt vom hebräisch biblischen Denken, bestärkt von dem
griechischen Arztsohn Aristoteles - und Ihre Kriegserfahrung der verletzlichen Leiblichkeit
brachte Sie in Opposition zu dem Hauptstrom der Metaphysik, wie auch zum szientistischen
Naturverständnis. In der Seinsweise, die wir mit allem Lebendigen teilen, dem Organismus,
sahen Sie den metaphysischen Dualismus widerlegt; daher erschien "das Ziel einer
Philosophie des Organischen oder einer philosophischen Biologie" vor Ihren Augen. "Dafür
bedurfte es aber einer Kenntnis der wissenschaftlichen Biologie in ihrem Ertrag und ihrer
Methode. Daran wurde ich noch einmal zum Schüler"14 - so beschreiben Sie die Vorbereitung
Ihrer philosophischen Biologie "Organismus und Freiheit", die ohne Ihr Studium bei
amerikanischen Biologen und Ihren Dialog mit ihnen nicht möglich gewesen wäre.
III. Metaphysisch ontologische Wertlehre und "Prinzip Verantwortung"
Das Resultat Ihrer philosophischen Biologie ist eine ontologische Wertlehre, die besagt: "Die
Materie ist schlafender Geist", alles organische Leben ist wertvoll und daher prinzipiell
schutzwürdig, weil sich in ihm Freiheit aufstufe und weil derart sich entwickele, was höchsten
Wert habe: das "wirkliche Menschentum“15. In dessen moralischer Freiheit liegt die Fähigkeit
zur Verpflichtung und Verantwortung, also das Überschreitenkönnen alles Gegebenen zum
Idealen, alles Endlichen zum Unendlichen16, und damit das Überschreitenkönnen vom bloß
Faktischen zum Normativen, vom Gegebenen zum Gerechtfertigten und Richtigen, wie ich
hinzufügen möchte.
Nun haben Sie nie verhehlt, daß Ihre metaphysisch ontologische Wertlehre auf Kriegsfuß oder
gar auf Siegesfuß steht zur metaethischen Trennung von Sein und Sollen, Fakten und
Normen, beschreibenden Sätzen und vorschreibenden Sätzen. Gleichwohl hege ich hier
Konsenshoffnung. Zeichnet sich nicht Konsens ab, wenn man in Rechnung stellt, daß eine
Ontologie des Organischen und eine Teleologie der Freiheit notwendigerweise geleitet ist von
Ideen, die, wie Sie sagen, "über alles je Gehbare und seine Dimension als solche hinaus“17
sind? Dazu gehören: die Idee der moralischen Freiheit und die Idee einer "Selbstunterstellung
13
Hans Jonas: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987. S. 19.
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 21.
15
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 89.
16
Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 25f.
17
Ibid., S. 25.
14
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
20
unter die transzendenten Maßstäbe" des Gewissens und der Verantwortung für das
schutzbedürftige Wertvolle.18
Wenn dieser ideale Vorgriff auf moralische Freiheit und auf moralisches Sollen notwendige
Bedingung dafür ist, daß wir die Evolution als Entwicklung der Freiheit verstehen können,
wie auch dafür, daß wir das organische Leben als prinzipiell wertvoll und schützenswert
auszeichnen können, dann ist die Begründung von Ideen, von Maßstäben des Sollens, logisch
das Erste. Dann aber wäre - ich weiß nicht, ob Sie mir darin zustimmen - methodisch gesehen,
das "Sollen" vom "Sein" zu unterscheiden.19 Darin sehe ich die Bedingung für eine
Rechenschaftslegung der Philosophie; zumal einer ontologischen Wertlehre und einer
spekulativen Philosophie, die auch zum rationalen Mythos übergehen kann, ohne
überschwenglich oder objektivistisch zu werden. Aber wie dem auch sei. Es ist ein
leuchtendes Zeichen für die Größe Ihres Denkens, daß es, in mindestens viererlei Hinsicht,
über den Dissens innerhalb der Philosophie hinaus hochbedeutsam und fruchtbar,
stimulierend und konsensfähig bleiben dürfte:
Erstens bedarf es offenbar einer genau zu umreißenden Verhältnisbestimmung und
Kooperation von naturästhetischer und naturethischer Heuristik als methodischem Sensus für
Wert in der außermenschlichen Natur einerseits und einer Ethik der verbindlichen
Normenbegründung, der rationalen Maßstabe für intersubjektive Verbindlichkeit und Pflicht
andererseits. Daß eine teleologische Deutung des Seins, eine ontologische Wertlehre keine
letztgültigen Aussagen machen kann, sondern eher den Stellenwert einer Wertheuristik behält,
haben Sie selbst zu verstehen gegeben: "Letztlich kann mein (metaphysisch teleologisches)
Argument nicht mehr tun als vernünftig eine Option begründen, die es mit ihrer inneren
Überredungskraft dem Nachdenklichen zur Wahl stellt.20
Gerade als Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive Zusammenspiel
mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für Verantwortung
empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher
Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe
anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander anzusetzen,
um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von
vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der
ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivations- Prius zu, während die
18
Ibid., S. 28, 29.
Vgl. dazu die Erwiderung von Hans Jonas, in diesem Band, S. 123-125.
20
Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Leipzig: Insel
Verlag 1992. S. 140.
19
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
21
Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen
könnten.
Zweitens: Sinn und Geltung der Ethik hat Hans Jonas durch das "Prinzip Verantwortung"
tiefgreifend revidiert, indem er die moralischen Fragen nicht auf die personale Moralität
beschränkt, sondern die persönliche Moralität erweitert um die zugleich kollektive und
personale Verantwortung für die Zukunftsfolgen unserer hochtechnischen Lebensform und
Gesellschaft. Sein kategorischer Imperativ, "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung
verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“21, überschreitet
nicht nur die traditionelle Begrenzung der Ethik auf den zwischenmenschlichen Nahbereich
sondern hebt auch die Ethik als Gesinnungsethik auf.
Das Moralprinzip von Jonas läßt jede Ethik hinter sich, die entweder die Moral auf Pflichten
gegen die Mitmenschen einschränkt, statt Pflichten gegen die Menschheit einzubeziehen, oder
die Moral tendenziell auf die Reinheit und Prinzipienrichtigkeit des Willens beschränkt - so,
als ginge es darum, im Einklang mit moralischen Prinzipien "recht zu handeln", als dürfe man
aber die ungewollten Nebenfolgen seines Handelns de facto "Gott anheimstellen"22 Durch das
"Prinzip Verantwortung" wird die normative Ethik schwerpunktmäßig eine Ethik der
einsehbaren Pflicht zur Zukunftsverantwortung.
Drittens, verehrter Herr Jonas, haben Sie auch den Übergang zur Anwendung der normativen
Ethik erheblich verändert und neu bestimmt. Dazu mögen zwei Hinweise genügen.
Gegenüber den traditionellen Ethiken, sei es der aristotelischen, sei es der kantischen
Tradition, betonen Sie, daß keineswegs ethischer Gemeinsinn, moralisches Gefühl und
gesunder Menschenverstand ausreichen, um das moralisch Richtige zu treffen. Denn dieses
bemesse sich heute und künftig an der Verantwortbarkeit von Handlungsfolgen,
Lebensfolgen, Forschungsfolgen. Diese Folgen aber, und das heißt diesen ganz neuartigen
Gegenstandsbereich moralischer Beurteilung, können wir uns weder mit unserem gesunden
Menschenverstand noch mit unserem moralischen Gefühl vorstellen; haben wir es hier doch
zu tun mit sehr komplizierten Kumulativwirkungen und äußersten Fernwirkungen unserer
hochtechnischen Lebensgewohnheiten und Lebensformen, Produktionen und
Produktionsweisen, unseres Konsumverhaltens aber auch unserer Risikoforschungen und
riskanten Technologien.
Daraus ergibt sich eine neue Rolle des Wissens in der Moral und die Pflicht, sich Wissen zu
beschaffen. Freilich stößt diese Wissensbeschaffung an schmerzliche Grenzen. Denn die
21
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36.
Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, 3. Aufl.
Tübingen 1971, S. 551.
22
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
22
Kumulativwirkungen, die ökologischen Fernwirkungen etwa, entziehen sich der exakten
bedingten Prognose, wie sie in einem geschlossenen System möglich ist. Die Kluft zwischen
unserem Prognosewissen und der Wirkungsmacht unserer hochtechnologischen Projekte,
Praktiken aber auch Lebensgewohnheiten erzeugt "ein neues ethisches Problem. Anerkennung
der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der
Ethik".23 Aus diesem Grunde plädieren Sie für eine "Heuristik der Furcht", für "eine Furcht
geistiger Art", die uns fähig machen solle, das nichterfahrbare "Unheil kommender
Geschlechter" vorauszudenken und uns davon betreffen zu lassen.24
Daraus haben Sie für unsere öffentlichen Dialoge über das, was zu tun sei, und damit für
unsere Forschungsplanung, für wirtschaftliche Produktions- und Marktstrategien wie für
politische Entscheidungen die Vorschrift abgeleitet, "der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu
geben ... als der Heilsprophezeiung"25, also der schlechten Prognose einen Vorrang vor der
guten einzuräumen. Sie legen damit eine Dialogregel nahe, die den Befürwortern eines
Projekts und den Anwendern einer Technik die Beweislast für die Unschädlichkeit und die
Verantwortbarkeit auferlegt. In dubio pro humanitate, und damit: in dubio contra projectum,
in dubio contra quaestum würde das regulative Prinzip für unsere öffentlichen Diskurse
lauten müssen.26
Viertens: Das "Prinzip Verantwortung" enthält also ein zukunftsethisches Prinzip Vorsicht.
Mit diesem gehen das Werk und die politisch-ethischen Stellungnahmen des
Verantwortungsethikers vorsichtig um: Sie lassen keinen Zweifel daran, daß ein solches
Prinzip jeweils in interdisziplinären öffentlichen Diskursen zu prüfen und nur nach Maßgabe
einer solchen Prüfung anzuwenden ist.
Gegenüber einer globalen Technikkritik, gegenüber einer modischen Totalkritik an der
technologischen Zivilisation, die er als alternativenlos aber entwicklungsfähig ansieht, sagt
uns der Weise: "Nur im Bunde mit Wissenschaft und Technik, die zur Menschheitssache
gehören, kann die sittliche Vernunft dieser Sache dienen. Dafür gibt es kein einmaliges
Rezept, nur viele Wege des Vergleichs, die von Fall zu Fall, jetzt und künftig, in steter
Wachsamkeit immer neu zu suchen sind. Bestenfalls kann sich, immer wiederholt, eine
Übung dafür einstellen. Darauf ist zu hoffen. Doch zu jener Wachsamkeit anzuhalten ist des
Denkens Pflicht.“27
23
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 28.
Ibid., S. 64, 65.
25
Ibid., S. 70.
26
Dietrich Böhler, Mensch und Natur: Verstehen, Konstruieren, Verantworten - in dubio contra projectum. In
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, Heft 9, S. 999-1019, hier bes. S. 1013 ff.
27
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 30.
24
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
23
Abschließend zitiere ich aus der Ehrendoktorurkunde:
"... In dem hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen ehrt der Fachbereich zugleich
den Menschen Hans Jonas, dessen Gründlichkeit und Güte, dessen moralische
Unbeugsamkeit und Würde ihn zu einem Vorbild künftiger Wissenschaftler und Weltbürger
macht.
Qui Berolini, qua in urbe Mose Mendelssohn auctore cultura et ludaica et Germano-Iudaica
effloruerat, universitatem et per biennium academiam scientiae rerum ludaicarum
promovendae adiit, opuscula prima publicavit;
Berolini, qua ex urbe dignitatis et legum destructio, civium Iudaicorum numero carentium
expulsio atque excisio initium sumpserunt;
Berolini, quae urbs libertate, iure, hominis dignitate donata est ex occidente cuiusque libera
universitas libertatem, iura, dignitatem hominis colit coletque studiose. Quibus de causis hac
in urbe viro doctissimo totiusque orbis terrarum civi honoris quam maximi debentur.
Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Hermeneutiker, der mit seiner Methode einer
entmythologisierenden existentialen Interpretation die Aporien der christlich abendländischen
Freiheits- und Erbsündenlehre aufwies und uns den spätantiken Geist der Gnosis als
Verfremdung der Moderne erschloß. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Sucher
eines Gottesbegriffs nach Auschwitz und dem eindringlichen Denker der
Zukunftsverantwortung.
Hans Jonas verdanken wir die Ausweisung und Konkretion des Prinzips einer Ethik für die
technologische Zivilisation, von der er zeigt, daß ihr in dem Maße Verantwortung für das
Ganze zuwächst, als ihre Fernwirkungen die Zukunft der Menschengattung gefährden.
Maxima cum reverentia Hans Jonas homo ludaeus colendus est nobis, qui cum universitates
Germaniae adulescenti doctissimo intercluderent aditum pro libertate et iure, pro Iudaeorum
incolumitate atque dignitate contendere constituit.
Qui miles legionis Iudaicae bello pugnavit, ut in Germania res tandem publica foret, in qua et
tertii quod dicitur imperii et inhumanitatis et interfectorum memores, ut condiciones vitae
vere humanae in mundo permanerent, curare possemus sequentes iussum illud categoricum,
quo homines continuo ad officiorum conscientiam vocat Hans Jonas philosophus.
Als Soldat der jüdischen Brigade kämpfte er mit für die Gewinnung eines politischen Raumes
in Deutschland, der uns die Erinnerung an die nationalistische Unmenschlichkeit und ihre
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
24
Opfer ebenso möglich macht wie eine Verantwortungsübernahme für 'die Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden' - im Sinne des kategorischen Imperativs von Hans Jonas."
Sehr verehrter Herr Professor Jonas, ich überreiche Ihnen nun die Ehrenurkunde. Uno actu
verleihe ich Ihnen den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Ich
beglückwünsche Sie zu Ihrem großen Werk.
v. l.: H. Jonas, D. Böhler
1.2 Der verdinglichende, voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der
Metaphysik, dessen Fortwirkung im subjektphilosophischen Paradigma der Kritik als
Subjekt-Objekt-Struktur und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber
reflexionsvergessene Metakritik.
Die antike Metaphysik begreift die Erkenntnis der Welt, genauer: die des Ganzen, was da
ist, nach dem Muster des Etwas Sehens im Sinne der theoria. Darunter versteht sie ein
geistiges Sehen, eine begreifende Schau – was immer das sein mag. Nach Parmenides ist
Platon der Urheber und Klassiker dieser Auffassung. Lesen Sie etwa im
naturphilosophischen Dialog Timaios den kosmologisch-theoretischen Passus 47a bis c
(in der Stephanus-Numerierung); Tilman Lücke zitiert ihn einleitend in seinem Essay.
Oder lesen Sie, wie Platon in der Politeia, nämlich im Liniengleichnis (511c), von der
„dialektischen Wissenschaft“ sagen kann, sie „schaue“ das Seiende und Denkbare. Schaut
aber eine Wissenschaft, oder erkennt sie etwas durch Analyse, durch Begreifen etc.?
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
25
Lesen Sie auch, wie Platon das Erkenntnisziel darstellt, auf das hin er das Höhlengleichnis
entwirft: „Was ich sehe [...], das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur
mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich
anerkannt wird als die Ursache alles Richtigen und Schönen – im Bereich des Sichtbaren
erzeugt sie gleichsam die Sonne und damit das Licht (welches Erkenntnis ermöglicht); in
der Sphäre des Erkennbaren bringt sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft
hervor. Daher muß, wer vernünftig handeln will, diese [Idee des Guten] sehen.“
Die metaphysische Tendenz, ‚das Ganze’ nach dem Muster des Sehens von Dingen,
mithin unreflektiert direkt, anzugehen, war der Grund für einen erkenntniskritischen
Rückgang auf die Rolle des Erkenntnissubjekts in der Philosophie der Neuzeit (z. B.
Descartes, Kant). Indirekt war sie – in der Moderne – auch der Grund für einen
pragmatisch hermeneutischen Neuansatz bei dem verstehenden „In der Welt sein“ des
Menschen (Heidegger).
Anstatt die dialog- und denkkonstitutive Klasse der Behauptungsakte als
Sprachhandlungen mit Geltungsansprüchen zu thematisieren, betrachten die meisten
Metaphysiker seit Platon und Aristoteles (im Wortsinne der theoretischen bzw.
kontemplativen Einstellung des Etwas Vernehmenden – phänomenologisch und
verstehend – oder des Etwas Beobachtenden – empirisch analytisch und objektivierend)
das Thema ihrer Behauptungen, als sei es ein dinglicher Gegenstand: „das Seiende“ und
dessen Ganzheit, „das Sein“.
Das ist eine folgenschwere Vorentscheidung: die Frage nach dem Ganzen wird nämlich
sogleich von dem Vorverständnis, dieses sei nach dem Muster eines dinglichen
Gegenstandes zu verstehen, bestimmt, d. h. aber in einer sprach- und
kommunikationsverzerrenden Verdinglichung.
Noch das folgende Paradigma, das der subjektphilosophischen Kritik, behält diese
Perspektive bei: die Erkenntnistheorie fragt nach dem Verhältnis von Erkenntnissubjekt
und Erkenntnisgegenstand: Ernst Cassirer, „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie
und Wissenschaft der neueren Zeit“, IV Bände. Ebenfalls der Subjekt-Objekt-Beziehung
verpflichtet ist Heinrich Rickerts neukantianischer Klassiker „Der Gegenstand der
Erkenntnis“, 1892, wiewohl Rickert darin den Primat der praktischen Vernunft begründen
will, indem er eine „andere Welt“, die Welt der nichtseienden, aber absoluten „Werte“
nachzuweisen sucht. Doch bezieht er sich darauf als ein Objekt. So setzt auch die
neukantianische „Erkenntnistheorie“ nach dem Vorbild Descartes’ und Kants voraus, daß
das Ganze der realen Erkenntnisgegenstände dem Erkenntnissubjekt wie ein Gegenstand
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
26
im Großen, abgetrennt vom Erkenntnissubjekt, gegenüberstehe: als „Außenwelt“. In dem
modernen, insonderheit neukantianischen Erkenntnisproblem steckt eine sprachwidrige
Verdinglichung der Weltbeziehung des – nach seinen Erkenntnismöglichkeiten fragenden
– Menschen. Seit Kant führt sie in Probleme, die zu einem Gutteil Scheinprobleme sind:
Wie ist die Außenwelt, wenn doch ihr Wesen – Kant: das „Ding an sich“ unerkannt ist, für
das Erkenntnissubjekt erkennbar? Ist sie erkennbar? Ontologisch gewendet: Ist sie etwas
Reales? Oder können ‚wir’ Erkenntnissubjekte nur – oder gar allenfalls – die Realität
unserer selbst annehmen?
1.2.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme:
Heidegger
Von Kant geprägt, entsubstanzialisiert die moderne Erkenntnistheorie zwar die
Metaphysik als Weltanschauung, indem sie die Geltung ihrer Aussagen zu
Vermutungen herabsetzt; aber ihre Erkenntnisschemata perpetuieren, ja radikalisieren
die metaphysische Verdinglichung des erkennbaren Ganzen durch zwei
Grundannahmen und zwei Ausblendungen:
(1) Verabsolutierung der Subjekt-Objekt- oder Innen-Außenbzw. Ich – Nicht-Ich-Differenz in Folge von Descartes’
dualistischer Erkenntnismetaphysik
res cogitans – res extensa.28
(2) Die Unterstellung einer Weltlosigkeit des
Erkenntnissubjekts.29
(3) Das Überspringen der Leiblichkeit des
Erkenntnissubjekts und seiner Situiertheit
in einem organismischen Austauschzusammenhang
30
lebendiger und anorganischer Umwelt.
(4) Das von (3) mitgesetzte Überspringen der
Leib- und
Kommunikati
onsapriori der
Erkenntnis
Sprachlichkeit des Menschen und der Dialogizität
28
Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), S. 60-62.
Diese kritisiert eigentlich schon Husserl, insofern er bei der Intentionalität des Bewußtseins ansetzt: E.
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, §§ 40, 42f., 62 und 64.
Vgl. H. Gronke, Das Denken der Anderen, Würzburg 1999, S. 62f., S. 78-82, vgl. 174ff.
30
Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Göttingen 1973.
29
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
27
bzw. der Geltungsansprüche des menschlichen
Denkens als Miteinander-Sprechens.31
Die Wende zum dritten Paradigma der Philosophie wurde m. E. zunächst von den
ersten beiden Problemen ausgelöst. Zumal von der subjektphilosophischen
Suggestion, als befinde sich der etwas als etwas Bestimmtes erkennende Mensch,
subjektphilosophisch genauer: der es allererst erkennen wollende Mensch,
gegenüber einem Ensemble stummer Gegenstände bzw. unverständlicher Objekte,
draußen in einer strikt von ihm abgetrennten Außenwelt ‚vorhanden’ seien –
fremd und allererst zu entdecken, d. h. durch eine Erkenntnisprozedur mit der
Innenwelt des Erkenntnissubjekts zu vermitteln.
Einige dieser Vorannahmen der nachcartesischen Kritik und Erkenntnistheorie seit
Kant deckte Heidegger metakritisch 1937 in „Sein und Zeit“ auf, jedenfalls die
Annahmen (a) und (b). Dort lesen wir:
„Je eindeutiger man nun festhält, daß das Erkennen zunächst und eigentlich
‚drinnen’ ist, ja aber überhaupt nichts von der Seinsart eines physischen und
psychischen Seienden hat [ergänzt: sondern die Seinsart eines puren Betrachtens],
umso voraussetzungsloser glaubt man in der Frage nach dem Wesen der
Erkenntnis und der Aufklärung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt
vorzugehen.“ In Wahrheit entstünde aber erst durch diese Vorannahmen das
sogenannte Erkenntnisproblem, „die Frage nämlich: Wie kommt dieses
erkennende Subjekt aus seiner inneren ‚Sphäre’ hinaus in eine ‚andere und
äußere’, wie kann das Erkennen überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der
Gegenstand selbst gedacht werden, damit am Ende das Subjekt ihn erkennt [...]?“
Heideggers Kritik als Sinnkritik erläuternd, könnten wir sagen:
Der neuzeitliche Ansatz bei der Subjekt-Objekt-Spaltung, in gewisser Weise aber
schon die antik-griechische Auffassung des Erkennens als eines geistigen Sehens
im Sinne von theoria und noein mache sich blind gegenüber der Sinnbedingung
jeder Rede von Etwas Erkennen und über Erkenntnis. Denn es ignoriere, daß
Erkennen „ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein“ ist. Jedes Erkennen
31
W. v. Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, Band 3.
K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. Main 1973, Bd. 1: Einleitung und Teil II, Bd. 2: Teil II
„Transformation der Transzendentalphilosophie“.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
28
gründe „vorgängig in einem Schon-sein-bei-der-Welt“, weil es auf
Lebensinteressen, „auf dem Besorgen“ des Leibes und der ganzen „Existenz“ des
Menschen aufruhe.32 Insofern sei in der Lebenswelt immer schon eine Vermittlung
des Menschen mit seiner Welt geleistet, der Mensch existiere verstehend, Welt
verstehend.
In diesem Sinne stellt Heidegger gegen den dualistischen Ansatz von Subjekt und
Objekt oder Ich und Welt einen Ansatz in der Vermittlung beider Seiten – einen
Ansatz beim pragmatischen, handlungsbezogenen In-der-Welt-Sein. Damit
radikalisiert er den Ansatz seines Lehrers Edmund Husserl bei der Intentionalität
des Bewußtseins von den Dingen im Rahmen seiner Lebenswelt. Er geht von dem
alltäglichen bzw. lebensweltlichen Erkennen aus, welches der Mensch immer
schon im Sinne eines „apriorischen Perfekts“ besitze: Der alltägliche Mensch habe
immer schon den Kontext seiner Lebenswelt erkannt. Denn er befinde sich „immer
schon“ in einer Lebenswelt aus sinnhaften Dingen und Einrichtungen, wie
„Zeug“33, Kultur, Institutionen, welche nicht etwa bloß „vorhanden“, sondern dem
Alltagsmenschen mehr oder weniger schon „zuhanden“ sind – und daher apriori
verstanden34 als Gebrauchsdinge seiner Alltags- und Lebenswelt. Eben deshalb
lasse sich die menschliche Lebensform als „verstehendes“ und „besorgendes Inder-Welt-sein“ und der Mensch selbst als „Dasein“ bestimmen und nicht als
betrachtendes „Subjekt“ gegenüber stummen, fremden Objekten.35
Das ist eine grundlegende Einsicht der pragmatisch-hermeneutischen Wende hin
zu einem dritten Paradigma der Philosophie. Das Pragmatische daran ist die
Aufdeckung des interessierten Lebens- und Handlungsbezugs, der auch das
Welterkennen des Menschen trägt. Heidegger drückt das plastisch mit den
Begriffen der Sorge und des Besorgens aus. Das Hermeneutische an dieser Wende
ist der Ansatz bei dem alltäglichen Verstehen bzw. Schon-Verstanden-haben als
elementarer Form des Interpretierens von etwas Sinnhaftem – das griechische
„hermeneuein“ bedeutet „auslegen“ und „verdolmetschen“ – daher auch der Name
„Hermes“ als Götterbote, der den Willen der Götter den Menschen übermittelt und
insofern auslegt.
32
Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 60 und 61.
SuZ, § 23, §§ 15-18.
34
SuZ, S. 85ff, S. 109f.s
35
§§ 12-14.
33
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
29
Traditionskritisch pointiert Heidegger am Schluß des polemischen Paragraphen 13
von Sein und Zeit das verstehende Welterkennen folgendermaßen: „Im Sichrichten-auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre
hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart
nach immer schon ‚draußen’ bei einem begegnenden Seienden der je schon
entdeckten Welt.“36
Diese Einsicht ist in der Tat ein notwendiges Element des dritten Paradigmas, der
Philosophie als Kommunikationsreflexion. Aber es ist keine zureichende Einsicht,
weil sie die pragmatische Geltungsdimension des Etwas-als-etwas-Verstehens
links liegen läßt. Das Etwas-als-etwas-Bestimmtes-Verstehen ist nämlich ein
impliziter Sprach- und Kommunikationsvorgang. Dieser enthält
Geltungsansprüche von Verstehern/Sprechern als Subjekten dieser Ansprüche und
als Teilnehmern einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Ja, er setzt
solche Geltungsansprüche, logisch gesehen, geradezu voraus –so wie jemand,
der/die etwas versteht, bereits in Anspruch nimmt, daß er/sie das Gehörte oder
Erfahrene – normalerweise – richtig verstanden hat, oder daß er/sie es doch – in
Zweifelsfällen – richtig verstehen kann. In diesem vorausgesetzten Bezug auf
Richtigkeit, diesem Geltungsanspruch, kommt bereits etwas von dem zum
Vorschein, was seit Descartes und zumal von Kant unter den Begriffen Subjekt,
Urteilsautonomie und Kritik gedacht worden ist: das Verhältnis von
Geltungsanspruch und kritischer Prüfung desselben vor dem Forum der Vernunft.
Den Rückbezug auf das, was im zweiten Paradigma als „Subjekt“ gedacht worden
ist, und damit eine ‚Aufhebung’ seines Kernbestandes überspringt Heidegger. Er
denkt subjektvergessen und sprachgeltungsvergessen, insofern logosvergessen und
diskursvergessen. Radikal, besser: abstrakt negiert er den Kern des zweiten
Paradigmas. Er sucht keine Aufhebungsperspektive, so daß er dessen wertvolle
Errungenschaften ernst nähme und sich mit ihm als Argumentationspartner in das
Wahrheitsgespräch eines philosophischen Diskurses begäbe. Über seiner
hermeneutisch pragmatischen Entdeckung des Elementarphänomens, daß
Menschen, auch die Welt distanzierenden Philosophen, von vornherein in der Welt
sind und diese apriori als ihre Lebenswelt verstanden haben, vergißt er, daß er
selbst diese Entdeckung als Argumentationssubjekt behauptet, indem er dafür
Wahrheit beansprucht.
36
Ebd., S. 62.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
30
Die Selbstvergessenheit Heideggers als Diskursteilnehmer, d. h. als eines Subjekts
mit Geltungsansprüchen, das sich gegenüber anderen Diskurs-Subjekten für seine
Behauptungen zu rechtfertigen hat, führt letztlich zur Selbstimmunisierung seines
Denkens und zur Preisgabe des Zentralbegriffs der Philosophie überhaupt, des
Begriffs der Vernunft. Darauf müssen wir zurückkommen, weil Heideggers
Preisgabe der Vernunft zugunsten eines ‚Andenkens an das Sein’, das sich selbst
als das Ohr und die Stimme des Seins wähnt, seine Philosophie um die Distanz
und die Verantwortung der Kritik gebracht hat. So sehr, daß er die Philosophie
nicht nur blamiert sondern geradezu in den „Bankrott“ getrieben hat, wie Hans
Jonas pointiert, indem er sie zur Magd des Nationalsozialismus erniedrigte. Denn
er erhob den Hitler, den „Führer“, zur Manifestierung des Seinsgeschicks, statt
dessen Ansprüche vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ (Kant) zu prüfen, indem er
ihnen als autonomes Diskurssubjekt gegenübergetreten wäre – die Nazimythen
entlarvt und sich von deren Menschenverachtung zumindest distanziert hätte.
Mit dieser kritischen Bemerkung lasse ich es jetzt bewenden. Für den weiteren
Fortgang dieser Vorlesung und Ihres Selbststudiums empfehle ich Ihnen:
Studieren Sie den Essay, den mein früherer Tutor Tilman Lücke im Nachgang zu
meinem kühnen, für alle Beteiligten so anstrengenden wie erkenntnisreichen
Proseminar „Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation“ im Wintersemester
2000/2001 verfaßt hat. Vor allem, was die Inhalte anbetrifft, bietet dieser Text eine
vorzügliche Einleitung in die Sache dieser Vorlesung.
2
Grundzüge der Vorlesung zum Selbststudium
Text aus: H. Burckhart, H. Gronke (Hg.): Philosophieren aus dem
Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen &
Neumann, 2002, S. 45 ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
31
Tilman Lücke
Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte
Bei einer Tischgesellschaft saß neben Kant ein Mann, der ununterbrochen gleichermaßen dumme wie hochmütige Reden
führte und dabei auch noch herauskehrte, welch großer Skeptiker er sei. Schließlich sagte Kant zu ihm: „Sind sie so
skeptisch, daß Sie an nichts mehr glauben können?“ – „Das nicht, ich glaube nur an das, was ich mit meinem
Verstand begreifen kann.“ – „Das“, sagte Kant, „bedeutet im Ergebnis dann ja wohl dasselbe.“37
Einleitung
„Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der
Philosophiegeschichte“38 – unter diesem Titel kündigte Dietrich Böhler im Wintersemester
2000/2001 am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin ein Seminar an, welches
sich auch und besonders an Studienanfänger richtete. Schon im Titel ist auf jene „drei großen
Konzeptionen von Philosophie, die sich in unserer Tradition unterscheiden lassen“, verwiesen,
nämlich – wie sie Herbert Schnädelbach in seinem ‚Grundkurs Philosophie‘ benennt – „ein
ontologisches, ein mentalistisches (...) und ein linguistisches Paradigma“39, die man auch auf die
Begriffe „Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie“ bringen kann.40
Wenn zugleich ein „Grundkurs klassische[r] Texte und Probleme der Philosophiegeschichte“
angekündigt wird, dann könnte man meinen, hier gehe es um eine bloße historische
Rekonstruktion. Doch eine solche Rekonstruktion wäre noch nicht Philosophie. Philosophisch
wird das Denken frühestens, wenn es sich auch des (philosophischen) Standpunktes klar wird,
von dem aus diese Rekonstruktion unternommen wird. Denn man kann „unabhängig von
bestimmten Philosophiekonzeptionen nicht definieren (...) was Philosophie sei. Man kann
deswegen auch nicht in ‚die‘ Philosophie einführen, ohne zumindest implizit das
Philosophieverständnis ins Spiel zu bringen, das man als Einführender selbst besitzt. Man kann
somit auch nicht kontextfrei in ‚das‘ Philosophieren einführen; denn auch das
Methodenverständnis wandelt sich mit dem allgemeinen Bild von Philosophie.“41 Wenn keine
kontextfreie Einführung in die Philosophie denkbar ist, so stellt sich nicht nur die Frage, aus
welchen Kontexten heraus sie vermittelt wird, sondern auch, anhand welcher
Argumentationsmodelle die in Philosophie Eingeführten sich ihrer eigenen Kontexte
klarzuwerden vermögen. Für diese Aufklärung scheinen Fragemodelle skeptischer Art besonders
geeignet zu sein, sind sie doch Ausdrucksmittel der „Neigung zum Zweifel am allgemein
37 Abgedruckt (im Kapitel der vermutlich erfundenen Anekdoten) bei Peter Kauder (2000): Hegel beim Billard.
München, S. 140; mit Verweis auf Information Philosophie 24 (1996), Heft 5, S. 93.
38 Böhler 2001 c, S. 1. Hervorhebungen in Zitaten sind vom Verf. durchgängig getilgt.
39 Schnädelbach 1986, S. 39. Die an Thomas Kuhn [1962/1967] anknüpfende Rede vom „Paradigma“ beinhaltet
Schnädelbach zufolge „immer Vorstellungen vom Gegenstandsgebiet, von einschlägigen Problemstellungen und
vorbildlichen Problemlösungen einer Disziplin, d.h. sowohl eine Ontologie (griech. ,tó òn‘ – das Seiende) wie
eine Methodologie der Wissenschaft insgesamt“.
40 So z.B. Richard Rorty, zit. n. Habermas 1999, S. 240; ähnlich Karl-Otto Apel und Tugendhat.
41 Schnädelbach 1986, S. 38.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
32
Anerkannten, ungeprüft Übernommenen oder neu Auftretenden“ – so formuliert es jedenfalls
ein angesehenes philosophisches Wörterbuch.42
So gelten die ersten Fragen nicht nur dem Kontext, aus dem heraus heute immer noch
Studierende mit Philosophie beginnen43, sondern auch dem Zusammenhang, in dem uns
Philosophiegeschichte entgegentritt. Begegnet sie uns in Gestalt „einer kontingenten Folge
inkommensurabler Paradigmen“44, wie Richard Rorty45 behauptet? Oder handelt es sich eher um
einen dialektischen Zusammenhang, in dem das jeweils „folgende Paradigma (...) die Antwort auf
ein Problem, das die Entwertung des vorangehenden Paradigmas hinterlassen hat“, bereithält, wie
Jürgen Habermas46 meint?
Der hier unternommene kursorische Gang durch die Philosophiegeschichte soll – um diesen
Kontext gleich klarzustellen – die letztere Auffassung stützen. Die Zusammenhänge
verschiedener philosophischer Paradigmen sollen untersucht und herausgestellt werden, analog
zum pädagogischen Ansatz im erwähnten Seminar: Da ging es stets auch darum,
Studienanfängern der Philosophie Kompetenz darin zu vermitteln, ihnen begegnende
Argumentationsweisen und Positionen in Denkmodelle der Philosophie einordnen und interne
Bezüge und solche zu ihrem eigenen Kontext verstehen zu können. Nur so läßt sich – wenn
überhaupt – ein Überblick über die unübersehbare Vielfalt philosophischer Schulen gewinnen.
So wie es ein gewisses Wagnis ist, einen verstehenden Durchgang durch diese drei
Paradigmen innerhalb eines Seminars in einem Semester absolvieren zu wollen (ein Wagnis, das
viel Disziplin und konzentrierte Mitarbeit erfordert), erscheint es auch hier vermessen, auf
wenigen Seiten dieses Wagnis nachzuvollziehen und kritisch zu rekonstruieren. So gilt für beide
Anliegen: Gelingen können sie höchstens unter der Maßgabe, zum einen bloß schlaglichtartig
Details der paradigmatisch umrissenen Hauptströmungen zu beleuchten und zum anderen den
Schwerpunkt auf den Zusammenhang der Paradigmen, auf die logischen Abhängigkeiten und die
ideengeschichtlichen Ablösungsprozesse zu richten.
I. Paradigma: Sein
Schöne alte Welt –
die klassisch-griechische Kosmosfrömmigkeit
Exemplarisch für die klassisch-griechische Weltauffassung, die am Anfang unseres Durchgangs
durch die Philosophiegeschichte steht, wird ein Auszug aus Platons Dialog ‚Timaios‘
herangezogen. Den Hauptteil des Dialoges macht Timaios’ Rede über das Entstehen der Welt
aus. Darin wird die „klassisch griechische Ontologie als ewigkeits- und strukturbezogene
Kosmostheologie“47 unter anderem so entfaltet:
„Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick auf
das Unvergängliche gerichtet (...), denn sie ist das Schönste alles Gewordenen, er der
Beste aller Urheber. So also entstanden, ist sie nach dem durch Nachdenken und
Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibendem auferbaut (...). Indem
nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nicht schlecht sei, brachte
42 Johannes Hoffmeister (Hg.) (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg2, S. 562.
43 Der Frage „Wozu Philosophie (studieren)?“ soll und kann hier nicht nachgegangen werden. Vgl. hierzu das
Unterkapitel ‚Wozu brauchen wir heute noch den philosophischen Diskurs?‘ in Gronke 2001.
44 Habermas 1999, S. 242.
45 Polemisch und anregend (wenn auch mit – im Vergleich zum hiesigen Verfahren – quasi umgekehrter Intention)
beispielsweise Rortys Versuch, auf wenigen Seiten die „Geschichte (...) wie die Philosophie qua
Erkenntnistheorie sich in der modernen Periode ihrer selbst versichert“ zu erzählen (Rorty 1981, S. 155 ff.).
46 Habermas 1999, ebd.
47 Böhler 2001 c, S. 3.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
33
er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser
Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm diese
durchaus besser schien als jene. (...) [So] verlieh er der Seele Vernunft und dem
Körper die Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner Natur nach
schönste und beste Werk zu vollenden.“48
Die Welt ist hier als Kosmos geordnete Schönheit49 und Abglanz des göttlich-planvollen Ewigen
dargestellt.
Was ist nun die Rolle des Denkenden in dieser Welt? Ihm ist es aufgegeben, mit seiner Seele,
die sich als Teil der wohlgestalteten Ordnung verstehen läßt, in diese Einblick zu nehmen. Die
ewigen Ideen, die allem Seienden zugrunde liegen, sind demzufolge Thema und Erkenntnisgebiet
der Philosophie; das bloß wandelbar-geschichtliche Auftreten der Dinge, mithin die Praxis gilt es
zu überwinden, um so zur reinen Theorie zu kommen. Dann wird der „Philosoph, der mit dem
Göttlichen, dem Kosmos und Logosgemäßen umgeht, (...) selber kosmosgemäß und göttlich“50.
Für die dem Menschen angeborene Erkenntnisfähigkeit gibt es eine dominante Metapher:
das Sehvermögen. Dahinter steht die vorgestellte Analogie, daß wir so, wie wir mit unseren
Augen unmittelbar aufnehmen könnten, was ist, in gleicher Weise durch Anschauung von
Sachverhalten unmittelbar zu Erkenntnis kämen. Verbunden ist damit die Überzeugung,
Philosophie überhaupt sei aus Anschauung der kosmischen Kreisläufe entstanden – so
rekonstruiert jedenfalls Timaios „das Wesen Philosophie, als welches ein größeres Gut weder
kam noch jemals kommen wird dem sterblichen Geschlecht als Geschenk von den Göttern“51.
Die optische Erkenntnisfähigkeit sei uns Menschen gegeben, heißt es weiter,
„damit wir beim Erschauen der Kreisläufe der Vernunft am Himmel sie für die
Umschwünge unserer eigenen Denkkraft benutzten, welche jenen, die regellosen den
geregelten, verwandt sind, und, nachdem wir sie begriffen und zur naturgemäßen
Richtigkeit unseres Nachdenkens gelangten, durch Nachahmung der durchaus von
allem Abschweifen freien Bahnen Gottes unsere eigenen, dem Abschweifen
unterworfenen, danach ordnen möchten.“52
Wie sich wesentliche Elemente dieser Auffassung bis in die römische Stoa erhalten haben, zeigt
Hans Jonas, wenn er Ciceros „De natura deorum“ wie folgt zusammenfaßt:
Die Welt sei als All „beseelt, verständig und weise, und etwas von diesen
Eigenschaften wird auch in manchen seiner Teile sichtbar; (...) der Mensch hat aber
zusätzlich zu dem natürlichen Anteil, der ihm als einem Teil der Vollkommenheit des
göttlichen Universums zukommt, auch die Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen,
indem er sein Sein dem des Ganzen durch Betrachtung mittels seines Verstandes und
Nachahmung in seiner Lebensführung angleicht“53.
Die Annäherung an die ewige Vernunft der Kosmos-Gesamtheit soll also als Orientierung der
aktuellen Lebenswelt diese selbst transzendieren.
48 Platon, Timaios 28c f. (S. 154 f.).
49 Als pädagogisch fruchtbar erwies sich in diesem Zusammenhang der Hinweis eines referierenden Studenten auf
das in die deutsche Sprache eingegangene Wort ‚Kosmetik‘, denn es knüpft (vermittelt durch französische
Übernahme) an die griechische ‚kosmetiké techné‘ – ‚Kunst des Schmückens‘ – an. (Vgl. Etymologisches Wörterbuch
des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin. München 1995, S. 721.)
50 So faßt Dietrich Böhler Politeia VI, 500c f. zusammen: Böhler 2001 c, S. 3.
51 Platon, Timaios 47 b f. (S. 169).
52 Ebd.
53 Jonas 1999, S. 292.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
34
Erschütterungen: Sophistik und Gnosis – und klassische Antworten
Für Erfahrungswelt und Intuitionen derjenigen, die heute mit Philosophie beginnen, ist zunächst
nur schwer eine Anknüpfungsmöglichkeit an dieses Weltverständnis abzusehen. Wir empfinden
heute die Welt, auf die sich unsere Praxis bezieht, als krisengeschüttelt und unbeständig. Doch
lenkt man den Blick zurück auf Platon, kann deutlich gemacht werden, daß diese
Krisenerfahrung keine Erscheinung der Moderne ist – Platons Philosophie selbst ist nämlich in
gewisser Weise schon eine Antwort auf zwei geschichtliche Krisenerfahrungen54, „die die
philosophische Reflexion herausforderten: Einmal die bedrängende Erfahrung eines
permanenten geschichtlichen Wandels, der alles erschüttert, verändert und in Frage stellt.
Zweitens die nicht minder bedrängende Erfahrung einer in dieser Zeit um sich greifenden
Aufklärungs- und Bildungsbewegung der Sophisten.“55 Der ‚Angriff‘ dieser sophistischen
Bewegung erschütterte die unhinterfragte Vertrautheit mit dem ontotheologischen Hintergrund
der platonischen Philosophie; auch wenn die Sophistik von Weisheitslehre über Rhetorik mehr
und mehr zu einem Skeptizismus wurde, der – wie es in der philosophischen Einführung von
Wilhelm Windelband und Heinz Heimsoeth dramatisch heißt56 – nur „anfangs eine ernste
wissenschaftliche Theorie war, jedoch bald in ein frivoles Spiel überging. Mit der selbstgefälligen
Rabulistik ihres Advokatentums machten sich die späteren Sophisten zu Sprechern aller
zügellosen Tendenzen, welche die Ordnung des öffentlichen Lebens untergruben.“
Fruchtbar machen lassen sich indessen die Antworten Platons und Aristoteles’ auf diese
Erschütterungen. Im Hinblick auf die im Rahmen einer Einführung in die Philosophie
entscheidende Einsicht über den Zusammenhang philosophischer Paradigmen erweisen sich
insbesondere zwei Grundsätze als wesentlich, die Teil dieser Antworten an die skeptische
Herausforderung sind: Logosgrundsatz und Satz vom zu vermeidenden Widerspruch.
1. Wenn man den Logosgrundsatz rekonstruiert, läßt sich dort ein „fast sinnkritisch
dialogpragmatischer Vorgriff aus sokratischem Geist“57 festhalten, den Platon durch Sokrates im
Dialog ‚Kriton‘ anführen läßt: „Schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von
mir gehorche als dem Logos [lógos]58, der sich bei der Untersuchung mir als der beste zeigt.“59
Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung einer Rede als wahr oder richtig ist also ihre
Überzeugungskraft in argumentativen Diskursen. Nur was sich anhand wohlbegründeter
Argumente erweisen läßt, kann als verbindlich gelten.60 Die überzeugendsten Argumente stehen
miteinander im Widerstreit; und damit ist vom platonischen Sokrates zugleich notwendigerweise
„die Diskursgemeinschaft der sinnvoll Argumentierenden als die einzige Instanz für die Prüfung
und für das In-Geltung-Setzen von Normen akzeptiert. Damit hat er sich gegenüber dem Ethos
einer
realen
Normen-Gemeinschaft
auf
die
Ethik
einer
idealen
Normenbegründungsgemeinschaft berufen.“61
Gleichwohl ist ein wichtiges Defizit festzuhalten: Konsequent gedacht wäre mit dieser
Vorstellung der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft nicht mehr jene traditionelle
Auffassung zu vereinbaren, welche den inneren seelischen Dialog des Einzelnen (mit sich selbst
54 Zum faktisch-historischen Kontext der griechischen Polis-Krise detaillierter vgl. Apel/Böhler/ Kadelbach 1984,
Bd. I, S. 306 ff.
55 Apel/Böhler/Kadelbach 1984, Bd. I, S. 309.
56 Windelband/Heimsoeth 1957, S. 58.
57 Böhler 2001 c, S. 5.
58 Schleiermacher übersetzt etwas verengend lógos mit „Satz“, obwohl sich mindestens die Bedeutungen „das
Sagen, Sprechen, (...) Rede = Darstellung, (...) Rechenschaft, (...) Begründung, Beweis, (...) Denkkraft, Vernunft“
anbieten (Menge 1953, cf. logos, 274). Vgl. Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II, S. 340 f.; vgl. den Abschnitt ‚Dritte
Reflexion der unterstellten sokratischen Bildungsidee: Logos‘ (S. 254-257) in Jürgen Sikora: Bildung als
Dialogpraxis. Einige Anmerkungen zu Sokrates, die Grenzen und Möglichkeiten ‚Mitverantwortung‘ zu lehren
und zu lernen betreffend. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 247-270.
59 Platon, Kriton 46 b (S. 38).
60 Vgl. Böhler 2001 a, S. 47.
61 Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 339.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
35
oder als Schau göttlicher Ideen) als Fundament für Erkenntnis ansieht und den Logos bloß als
„Ausfluß von jenem“62. Doch an dieser Vorstellung wird unreflektiert festgehalten; Denken gilt
weiterhin als Tätigkeit, „die man prinzipiell einsam, unabhängig von Kommunikation und
Sprache, vollziehen“63 könnte. „Erst heute, wo die Philosophie sprachbewußt wird“,64 kommt ans
Licht,65 daß mit der Einsicht in die Rationalität der unbegrenzten Gemeinschaft der
Argumentierenden gerade die Kommunikation mit diesen Anderen als das unhintergehbare
Erkenntnismodell schlechthin immer schon anerkannt werden muß.
2. Damit zu einer anderen klassischen Antwort auf die skeptische Herausforderung:
Aristoteles’ Aufweis der Unbestreitbarkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch – Es
kann nicht zugleich und in der selben Hinsicht66 gelten: A und non-A. „Mangel an Bildung“67 wirft
Aristoteles den Skeptikern vor, die einen Beweis in klassischer (d.h. deduktiver) Form für diesen
Satz vom zu vermeidenden Widerspruch fordern. Aristoteles meint damit eigentlich – so könnte
man es modern und weniger autoritär sagen – mangelnde Selbstreflexion. Dies geht aus seiner
Erläuterung hervor: Einerseits sei es unsinnig, für alles einen Beweis nach dem Muster der
deduktiven Ableitung zu verlangen, dies würde nämlich heillosen „Fortschritt ins Unendliche“68,
also infiniten Regreß, nach sich ziehen – denn jeder deduktive Beweis ist von Prämissen
abhängig, die selbst wieder in Frage gestellt werden müßten, wenn für alles Beweise dieser Art
eingefordert würden. Zum anderen kann ein unbezweifelbarer indirekter Beweis geführt werden,
indem gezeigt wird, daß die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch nicht mit
einer sinnvollen Äußerung bestritten werden kann. Denn wenn eine Äußerung A (zum Beispiel
die Äußerung: „Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gilt für mich nicht!“) verständlich sein soll,
muß sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen und die Bedeutung A haben und nicht zugleich die
Bedeutung non-A; eine Äußerung, in der A und non-A enthalten sein würden, wäre so allgemein,
daß sie nichts Bestimmtes mehr bezeichnen würde und also unverständlich wäre.69 Ein Skeptiker,
der die Gültigkeit des Prinzips in Zweifel ziehen will, verwickelt sich folglich in einen
„Widerspruch immer dann, wenn er überhaupt redet und denkt. Das ist aber eine Bedingung, die
alle nur denkbaren Fälle abdeckt, in denen sich auch nur das Problem erheben könnte (...). Das
Prinzip ist also für jeden, gegen den überhaupt zu argumentieren sich lohnt (weil er es selbst tut),
unvermeidlich Voraussetzung.“70 Hervorzuheben ist, daß Aristoteles bei der Begründung auf die
Dialogpraxis reflektiert und „ganz ausdrücklich einen zentralen Teil seiner Philosophie mit Hilfe
dieses Argumenttyps“71 begründet. Die Bedeutung dieser Argumentationsweise im
Zusammenhang mit dem in diesem Seminar beabsichtigten Lernfortschritt soll hier betont
werden. Denn die indirekte Skeptikerwiderlegung nach diesem Modell ist exemplarisch für die
Art und Weise, wie Philosophen es vermögen, aus skeptischen Erschütterungen hergebrachter
Vorstellungen Kapital zu schlagen. Die entscheidende Frage, die sie sich, da sie sich in einer
Argumentation befinden, vorlegen, lautet: Was ist Voraussetzung eines sinnvollen Redebeitrags?
Indes bleibt Aristoteles wegen seiner akommunikativen, gegenstandstheoretischen Sichtweise
ein bedeutender unreflektierter Rest vorzuhalten. Er geht einerseits nicht weit genug mit dem
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
Platon, Sophistes 263 e (S. 239).
Böhler 2001 c, S. 5.
Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 342.
Die selbstverständliche Formulierung „ans Licht kommen“ zeigt erneut, wie sehr bis in unseren heutigen
Sprachgebrauch Erkenntnis mit optischer Metaphorik zusammenhängt.
Der einschränkende Verweis auf gleiche, mitgedachte und explizierbare Verwendungsweise der Begrifflichkeit A um
die es jeweils geht – hier durch die Wendung „in gleicher Hinsicht“ ausgedrückt –, hat sich im Seminar als
wichtig erwiesen. Denn andernfalls bringen Seminarteilnehmer leicht Beispiele, in denen A und non-A gleichzeitig
zu gelten scheinen, tatsächlich aber verschiedene Kategorien oder Verwendungsweisen zu Grunde liegen. Diese
Beispiele sind aber wenig geeignet, weil ‚zu schwach‘, um sich wirklich mit der Stärke des aristotelischen
Aufweises messen zu können.
Aristoteles Metaphysik 1006 a (zit. n. Kuhlmann 1985, S. 271).
Ebd.
Ausführlicher vgl. Kuhlmann 1985, S. 273-276.
Kuhlmann 1985, S. 275.
Kuhlmann 1985, S. 268.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
36
reflexiven Ansatz, in dem er sich nicht selbst auf seine Rolle als Argumentierender besinnt: „im
Ganzen wird das Argument durchaus aus der distanzierten Position des Theoretikers
vorgetragen, der von außen ganz allgemein und unabhängig von seiner faktischen
Argumentationssituation hier und jetzt überlegt“72. Andererseits geht er zu weit in der Abwehr
sophistischer Rhetorik – dies ist ablesbar u.a. an der Aristoteles-Schule seit Theophrast, der „die
pragmatische Dimension der Rede (Kommunikation zwischen Sprecher/Hörer und
Hörer/Sprecher) (...) als erkenntnis- und daher philosophisch irrelevant zurückstuft, um die
Philosophie von der nicht wahrheitsfähigen Rhetorik etc. zu emanzipieren“73. Der so
interpretierte Aristoteles blendet die pragmatischen Bedingungen der Rede, d.h. die
Verwendungsweise von Sprache in bestimmten Handlungskontexten, systematisch aus und
konzentriert sich allein auf die logischen Voraussetzungen der Rede. Dabei läßt sich sein Modell
der Skeptikerwiderlegung – der indirekte Aufweis, in dem die Sinnlosigkeit von
Bestreitungsversuchen gezeigt wird –, wie zu sehen sein wird, insbesondere für praktische
Kontexte fruchtbar machen.
In historischer Perspektive könnte man sagen, daß zur Überwindung dieses
gegenstandstheoretischen Rests die völlige Erschütterung der traditionellen Auffassung von
Sprache und Welt noch ‚fehlte‘. Als eine der Vorbereitungen dieser Erschütterung kann das
Phänomen der Gnosis74 gesehen werden, das sich in den ersten Jahrhunderten nach Beginn
unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum in Gestalt zahlreicher Sekten und Glaubensrichtungen
zeigte. In ihnen „fand die geistige Krise des Zeitalters ihren verwegensten Ausdruck und
gleichsam ihre radikale Antwort“75: eine „jenseitsbezogene, die Welt als heillose Entfremdung
verneinende Selbstsorge und Selbsterlösungsreligiosität“76. An Stelle der Auffassung von der einen
Welt (in der sich die Zeichen göttlicher Vernunft wiederfinden lassen) predigen gnostische Lehrer
nun radikalen Dualismus zwischen Gott und Welt: „Die Gottheit ist absolut außerweltlich, ihr
Wesen ist dem des Universums fremd, das sie weder geschaffen hat noch regiert und zu dem sie
die vollkommene Antithese bildet: dem in sich geschlossenen und fernen göttlichen Reich des
Lichts steht der Kosmos als Reich der Finsternis gegenüber.“77 Im Zusammenhang mit der
Erlösungslehre der Gnosis wird die Besinnung auf das Innere des Menschen zum entscheidenden
Moment, denn Voraussetzung zur Erlösung ist „das ‚Wissen des Weges‘, nämlich des Weges der
Seele aus der Welt hinaus (...). Die unmittelbare Erleuchtung macht das Individuum nicht nur
souverän in der Sphäre des Wissens (daher die grenzenlose Vielfalt gnostischer Lehren), sondern
bestimmt auch sein praktisches Verhalten.“78 In unserem Kontext der Betrachtung
philosophischer Paradigmen ist die damit aufkommende individuelle Souveränität oder
Autonomie relevant. Mit dem ‚Fluchtimpuls‘ aus der verkommenen Welt geht eine
Herausforderung für die Erkenntnisleistung des Einzelnen einher. Im Dualismus der Gnosis liegt
somit „praktisch eine Vorstufe zu einem autonomen Selbst- und Weltverhältnis, welches Normen
und Sinn letztlich nicht in der Welt vorfinden kann, sondern begründen bzw. prüfen und selbst
erkennen muß.“79
72
73
74
75
76
77
78
79
A.a.O., S. 275 f.
Böhler 2001 c, S. 6.
Vgl. den Artikel Carsten Colpes in RGG, Sp. 1648-1652.
Jonas 1999, S. 55.
Böhler 2001 c, S. 9.
Jonas 1999, S. 69.
Jonas 1999, S. 72 f.
Böhler 1999, S. 2. Dieser Impuls bildet den Ansatzpunkt für Hans Jonas’ vergleichende Betrachtung von Gnosis
und modernem Existentialismus, die von einer Parallelität von – wie Jonas selbst zugibt – historisch sehr
unterschiedlichen Phänomenen ausgeht; aber eben dieser Fluchtimpuls evoziert deren Vergleichbarkeit – s. a. die
Attraktivität ‚gnostischer‘ Bewegungen in jüngster Zeit (vgl. Hans Jonas: Epilog – Gnostizismus, Existentialismus
und Nihilismus. In: Jonas 1999, S. 377-400).
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
37
II. Paradigma: Selbst
Selbstbesinnung bei Augustinus und Descartes
Voll in Besitz genommen wird diese Stufe der Autonomie durch Augustinus, der in seiner Jugend
dem Manichäismus, einer der wirkmächtigsten gnostischen Bewegungen, anhing. Seine
Aneignung und Weiterentwicklung der Vorstellung eines autonomen Ichs lassen Augustinus zu
„einem Urheber des modernen Denkens“ werden80. Seine Suche nach einem sicheren Fundament
für die Philosophie läßt ihn fündig werden im
„Prinzip der selbstgewissen Innerlichkeit, das Augustin zuerst mit voller Klarheit
ausgesprochen und als Ausgangspunkt der Philosophie formuliert und behandelt hat.
Unter dem Einfluß der ethisch-religiösen Bedürfnisse hatte sich allmählich und fast
unvermerkt das metaphysische Interesse aus der Sphäre der äußeren Wirklichkeit in
diejenige des inneren Lebens verschoben. An die Stelle der physischen Begriffe
waren die psychischen als Grundfaktoren getreten.“81
Damit wird zugleich eine neue Selbstbehauptung des Individuums in der Welt begründet. Seele
bzw. Bewußtsein werden (neben Gott und Geschichte) zu zentralen Themen der Philosophie
Augustins.
„Die Wissenschaft von der Außenwelt, von der Natur, vom Kosmos ist dagegen
ganz unwichtig. Die Wendung geht jetzt – das zeigt den Beginn eines neuen
Paradigmas an – nach ‚innen‘.“82
Die in der Neuzeit aufkommende „Verinnerlichung des Denkens als Suche nach dem Selbst im
Denken und Erfahren bzw. nach dem Selbst als Subjekt des Denkens und Erkennens“83 hat hier
einen Ursprung. Die Bedeutung Augustins im Zusammenhang der Untersuchung und
Einführung philosophischer Paradigmenwechsel wird noch gesteigert dadurch, daß er sein
Interesse auch auf die menschliche Sprache richtet84, und durch seine selbst in Anspruch
genommene Rolle als Vermittler platonischer Philosophie.85
Mit dem Vorigen ist schon der Übergang zum methodischen Subjektivismus René Descartes’
angedeutet. Als Wegbereiter wäre ergänzend noch die große mittelalterliche Auseinandersetzung
um die Universalien, also um die „Frage nach der metaphysischen Bedeutung der
Gattungsbegriffe“86 zu erwähnen, was hier – wenngleich die Folgen der Auseinandersetzung
weitreichend sind – nur am Rande geschehen kann. Hier wären vor allem Spielarten des
Nominalismus zu nennen, bei denen „das augustinische Gefühlsmoment, welches der individuellen
Persönlichkeit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will“87, festzustellen ist. Zugleich macht
sich aber auch „die antiplatonische Tendenz der erst jetzt bekannt werdenden aristotelischen
Erkenntnistheorie geltend, die nur dem empirischen Einzelwesen den Wert der ‚ersten Substanz‘
zuerkennen will“88. Inwiefern der Subjektivismus an den Nominalismus anknüpft, läßt sich an
Wilhelm von Occams spätem nominalistischem Modell ablesen (wie es in Windelbands
Philosophiegeschichte beschrieben ist): „Die Einzeldinge (...) werden von uns intuitiv (ohne
Vermittlung von species intelligibiles) vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die
80
81
82
83
84
85
86
87
88
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 237.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 284.
Böhler 2001 c, S. 9.
Andererseits bietet der Aufweis der augustinischen Defizite auf diesem Gebiet den Vorreitern des dritten
Paradigmas Gelegenheit zur Weiterentwicklung eigener Ansätze, s.u.
Vgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 775.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 232.
A.a.O., S. 292.
Ebd.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
38
‚natürlichen‘ Zeichen für jene Dinge und haben zu ihnen nur eine notwendige Beziehung,
dagegen eine sachliche Ähnlichkeit mit ihnen so wenig, wie dies sonst für ein Zeichen in Hinsicht
des bezeichneten Gegenstands nötig ist.“89 Der Zusammenhang mit dem hier schon
angedeuteten – und spätestens mit Descartes vollzogenen – Übergang zum zweiten Paradigma,
dem der Subjektphilosophie, läßt sich mit Jürgen Habermas so auf den Punkt bringen:
„Der Nominalismus hatte die Dinge ihrer inneren Natur oder ihres Wesens beraubt
und die Allgemeinbegriffe zu Konstruktionen des endlichen Geistes erklärt. Seitdem
fehlte der gedanklichen Erfassung die Fundierung in der begrifflichen Verfassung des
Seienden selber. Die Korrespondenz des Geistes mit der Natur konnte nicht mehr
als Seinsrelation begriffen werden, die Regeln der Logik spiegelten nicht mehr die
Gesetze der Wirklichkeit.“90
Es ist die (wenn auch nicht konsequente, s.u.) Anwendung skeptischer Fragestellungen, die es
René Descartes möglich macht, die subjektivistische Wendung zu vollenden. Es gelingt ihm,
Skepsis zu „durchdenken und als methodischen Zweifel für begründete Erkenntnis fruchtbar [zu]
machen“91. Descartes’ gründlicher und allgemeinverständlich formulierter Neubeginn der ‚ersten‘
Philosophie bewegt Hegel dazu, in seiner ‚Vorlesung über die Geschichte der Philosophie‘ über
ihn zu sagen, er sei „so ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von vorne angefangen und
den Boden der Philosophie erst von neuem konstituiert hat“92. Voraussetzung für diesen
Neuanfang ist dabei eine „Umkehrung der Erklärungsrichtung“.93 Da die Vorstellung einer
untrüglichen Korrespondenz zwischen äußerer Wirklichkeit und Erkenntnis nicht mehr zur
Verfügung stand, suchte Descartes nach einem alternativen Fundament für gesicherte
Erkenntnis: „Wenn das erkennende Subjekt einer entqualifizierten Natur die Maßstäbe der
Erkenntnis nicht mehr entnehmen kann, muß es diese aus der reflexiv erschlossenen Subjektivität
selbst schöpfen.“94 Es ist wichtig festzuhalten, daß nicht gleich auf jegliche Maßstäbe gesicherter
Erkenntnis95 verzichtet werden soll. Denn Descartes verfolgt mit seinem ‚De omnibus
dubitandum est‘ nicht die Strategie des haltlosen Skeptizismus;
„es hat vielmehr den Sinn, man müsse jedem Vorurteil entsagen – d.h. allen
Voraussetzungen, die ebenso unmittelbar als wahr angenommen – und vom Denken
anfangen, um erst vom Denken auf etwas Festes zu kommen, einen reinen Anfang
zu gewinnen. Dies ist bei den Skeptikern nicht der Fall; da ist der Zweifel das
Resultat.“96
Das Ergebnis der Cartesischen Suche nach unbezweifelbarem Grund, wenn sich doch an allen
äußeren Erscheinungen zweifeln läßt, ist bekanntlich das cogito, mein ich denke: das Bewußtsein als
Zweifelnder, das ich nicht sinnvoll bezweifeln kann, ohne mir selbst zu widersprechen. Skeptiker,
die wirklich an allem zweifeln wollen, werden von Descartes – durchaus in augustinischer
Tradition – auf ihr eigenes zweifelndes Bewußtsein verwiesen und auf die Gewißheit, die sie darin
finden können, wenn sie sich bewußt machen: „Indem ich zweifle, weiß ich, daß ich, der
Zweifelnde, bin; und so enthält gerade der Zweifel in sich die wertvolle Wahrheit von der Realität
des bewußten Wesens: denn wenn ich in allem anderen irren sollte, so kann ich darin nicht irren;
denn um zu irren, muß ich sein.“97 Oder, wie es dann bei Wittgenstein heißt: „Wer an allem
89
90
91
92
93
94
95
A.a.O., S. 293.
Habermas 1999, S. 242.
Böhler 2001 c, S. 12. Vgl. Gronke 1999, S. 30 ff.
Hegel 1986, S. 123.
Habermas 1999, S. 242.
Ebd.
Insofern geht die Polemik Rortys, wenn er mit Étienne Gilson davon spricht, daß „Descartes’ Hirngespinste“
deshalb so aufsehenerregend gewesen wären, „weil man Fragen ernst nimmt, die zu stellen die Scholastiker (...)
zu vernünftig waren“, ins Leere (Rorty 1981, S. 246 f.).
96 Hegel 1986, S. 127.
97 Windelband/Heimsoeth 1957, S. 238 mit Verweis auf Augustinus, De beata vita 7; Solil., II, 1 ff.; De ver. Rel. 72
f.; sowie De trin. X, 14. Vgl. auch Kuhlmann 1985, S. 287 f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
39
zweifeln wollte, der würde auch nicht zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt
schon die Gewißheit voraus.“98 Die Ähnlichkeit zur aristotelischen Zurückweisung desjenigen
Skeptikers, der meint, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch nicht anerkennen zu müssen,
ist unübersehbar: Die Zurückweisung des Skeptikers verwendet eine indirekte Argumentation, die
ihm nachweist, mit seinem Bestreitungsversuch zugleich Voraussetzungen zu machen – und diese
Voraussetzungen muß er reflektierend sofort einsehen, und damit ebenso die Sinnlosigkeit seines
Bestreitungsversuchs. Die unhintergehbare Gewißheit des cogito erstreckt sich sogar – mindestens
mit dieser Erwägung geht Descartes über Augustinus hinaus – auf die ketzerische (in gnostischen
Lehren angespielte) Eventualität, wir würden in dieser Welt von einem bösen Dämon mit
Absicht verführt, und alle unsere Wahrnehmungen seien von diesem Dämon eingepflanzte
Täuschungen; denn selbst dann, so Descartes, sei ja gewiß, daß ich es bin, der da getäuscht wird.
Diese so reflexiv aufweisbare Unhintergehbarkeit ist von Vertretern des dritten,
kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophiegeschichte etwas mißverständlich als
‚Letztbegründung‘ bezeichnet worden – mißverständlich, weil Kritiker sie so verstehen konnten,
als sei mit der einmaligen Begründung von Gewißheiten dieser Art die Reflexionsarbeit ein für
alle Mal ‚erledigt‘ und deren Ergebnisse müßten fortan dogmatisch anerkannt werden (was
Vertretern des Paradigmas den Vorwurf latenten Fundamentalismus’99 eingebracht hat); gemeint
ist aber Unhintergehbarkeit im Sinne von jeweils in der aktuellen Auseinandersetzung als
unbezweifelbar – d.h. nicht mit sinnvollen, widerspruchsfreien Argumenten bezweifelbar –
anerkennungswürdiger Grundlage dieser Argumentation. In diesem Sinne ist Wolfgang
Kuhlmann zu verstehen, wenn er schreibt, daß es sich bei der cartesischen Verwendungsweise
der reflexiven Wendung „tatsächlich um ein Letztbegründungsargument handelt, ein Argument,
mit dem selbst der äußerste Skeptizismus, derjenige, der sogar mit einer uns absichtlich
täuschenden Instanz zu rechnen bereit ist, noch zu bezwingen ist.“100
Descartes erweitert dieses Modell jedoch noch in anderer Hinsicht entscheidend gegenüber
Augustinus: Die in reflexiver Denkrichtung zu gewinnende Gewißheit steht im Mittelpunkt seiner
Philosophie, ja im Mittelpunkt von Wissenschaft überhaupt.
Descartes macht das reflexive Argument
„zum Zentrum und zugleich zum Prinzip seiner ganzen Philosophie. Zum Zentrum
und Angelpunkt insofern, als alle sachhaltigen Aussagen der cartesischen Philosophie
in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit stehen zu diesem Argument. Zum
Prinzip insofern, als mit diesem reflexiven Argument die cartesische Philosophie im
engeren Sinne, die prima philosophia, ausdrücklich zur Philosophie in der intentio
obliqua, zur Reflexion wird, und zwar vor allem zur Reflexion auf das erkennende
Subjekt. Bei Descartes verliert das Argument vollkommen den Charakter eines
sophistisch spielerisch zu verwendenden bloßen Versatzstückes aus dem Arsenal der
nur halb ernst gemeinten Skeptikerdiskussionen.“101
Grenzen der Subjektphilosophie –
‚Metaphysischer Rest‘ bei Augustinus, Descartes, Kant
Es bleibt jedoch – trotz all dieser Würdigungen – eine gewisse Ambivalenz festzuhalten, die aus
der mangelnden ‚Sprachbewußtheit‘ von Augustinus und Descartes resultiert. Augustinus hatte
98 Wittgenstein, Über Gewißheit § 115, zit. n. Habermas 1999, S. 244.
99 Vgl. Karl-Otto Apels Einschätzung in: Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen
Begründung der Diskursethik als Verantwortungsethik. Gespräch von Horst Gronke, Jens Peter Brune und
Micha H. Werner mit Karl-Otto Apel. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 97-121, S. 118 mit dem Verweis auf
Jürgen Habermas 1996; sowie dessen Abschnitt über den „Sinn von ‚Letztbegründungen‘ in der Moraltheorie“ in
Habermas 1991, S. 185-199; vgl. Habermas 1999, S. 256 ff.
100Kuhlmann 1985, S. 290.
101A.a.O., S. 291.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
40
zwar noch den Erkenntnisprozeß als ‚Dialog‘ verstanden, allerdings als inneren Dialog der Seele
mit Gott, also als „sprachfreie Erleuchtung“102. Der Bewußtseinsphilosoph Descartes übersieht
hingegen vollends, „daß Sprache und Kommunikation zu den Bedingungen der Möglichkeit
sinnvollen Zweifelns gehören“103. Die Folge sind interne Inkonsequenzen: Denn ohne
Inanspruchnahme sprachlicher Zusammenhänge müßte die cartesische Gewißheit
strenggenommen beschränkt bleiben auf „das mögliche apriorische Wissen, welches ein
Erkenntnissubjekt von sich selbst – als real zweifelndem, also sprachfähigem, also auf Andere
bezogenem und leibhaftem, also in der Welt befindlichem Kommunikations-Lebewesen etc. –
muß haben und daher auch als sicher müßte voraussetzen können“104. Doch dies genügt
Descartes eben nicht, er vermengt diese geltungslogische Funktion mit seinem „psychologischen
und ontotheologischen Ziel, den Bestand einer individuellen Seele als eigentümlicher Substanz
(res cogitans) zu erweisen.“105 Damit verstößt Descartes gegen seine eigene Programmatik,
derzufolge er sich doch verpflichtet hatte, nichts anzuerkennen, was sich mit gutem Grund
bezweifeln läßt. Statt sich durchgehend reflexiv auf die Voraussetzungen seiner Argumentation
zu besinnen, nimmt er wieder eine theoretische Einstellung ein. Von strikter Reflexion läßt er
sich nur bis zum Erweis des cogito leiten
– wenn „dies feststeht: ‚sum, existo‘, sofort wechselt Descartes die Einstellung: die
strikte Reflexion, die einzige Einstellung, in der der drohende Regreß gestoppt
werden kann“, verläßt er und „analysiert in theoretischer Einstellung, was es ist, was
er da gewonnen hat, und gelangt so zu der überaus problematischen Bestimmung:
‚sum res cogitans‘ und zu (...) ebenso problematischen Brückenprinzipien, die (...)
sich offenbar sämtlich ohne Selbstwiderspruch bestreiten [lassen], und damit ist der
Letztbegründungseffekt vertan“106.
Die breite Inanspruchnahme dieser – von sinnvollen skeptischen Argumenten eben durchaus
erschütterbaren – Brückenprinzipien bei Descartes sorgt dafür, daß er als „unfreiwilliger
Kronzeuge für die These von der Unfruchtbarkeit reflexiver Argumente in Anspruch genommen
werden“107 kann. Es ist aber eigentlich mangelnde Reflexivität, die für diese Defizite verantwortlich
ist. Was als Leistung Descartes’ festzuhalten bleibt, ist der Anspruch, daß philosophische
Erkenntnisse den Standards wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen haben, womit „Descartes
die Grundform des Anfangs aller wahrhaft wissenschaftlichen Philosophie entdeckt“ hat – „wie
sehr er den Sinn dieses Anfangs auch mißverstanden und damit den wirklichen Anfang verfehlt
hat“.108
Einen wirklichen unbezweifelbaren Anfang in der Philosophie wollte in vergleichbarer Weise
Immanuel Kant gewinnen. Er spielt natürlich in einem Seminar, das Paradigmen der
Philosophiegeschichte und ihren Zusammenhang untersucht, eine Schlüsselrolle. Auch Kant
verfolgte den Anspruch, daß die zu erreichende „Selbsterkenntnis der Vernunft durch
Begrenzung ihrer Ansprüche“109 wissenschaftlichen Anforderungen genügen müsse: In seiner
Vorrede zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gibt er zu, daß bei einem Vorhaben wie dem seinen
unter anderem „Gewißheit und Deutlichkeit (...) als wesentliche Forderungen anzusehen [sind,
T.L.], die man an den Verfasser, der sich eine so schlüpfriche Unternehmung wagt, mit Recht tun
kann“110. Diese wissenschaftliche Sicherheit soll durch strikte Verfolgung der transzendentalen
102Böhler/Gronke 1994, S. 775.
103Böhler 2001 c, S. 13.
104A.a.O., S. 14.
105Ebd.
106Kuhlmann 1985, S. 297.
107A.a.O., S. 291.
108Edmund Husserl (1956): Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hg. v. Rudolf
Boehm. Den Haag (Husserliana Bd. VIII), S. 5. Zit. n. Gronke 1999, S. 37.
109Böhler 2001 b, S. 16.
110Kant KrV A, S. XV, zit. n. Kant 1956, S. 9.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
41
Methode erreicht werden, die kritisch nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis fragt.
Auch Kant bedient sich dabei einer indirekten Argumentationsstrategie – derjenigen,
„daß die ‚objektive Gültigkeit‘ eines x (sei es eines ‚Prinzips der Sinnlichkeit‘, sei es
einer Kategorie, sei es eines ‚Grundsatzes des Verstandes‘, sei es auch z.B. eines
‚teleologischen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur‘) auch dadurch erwiesen
werden kann, daß gezeigt wird: Ohne dieses x, ohne die ‚objektive Gültigkeit‘ dieses
x, kann es Erfahrung nicht geben.“111
Kant argumentiert dabei „ganz im Sinne des cartesischen Paradigmas“112. Denn er bemüht sich
nicht etwa, den Skeptiker auf klassisch-metaphysische Weise zu überzeugen – also dadurch, daß
er „neben sich und seine Erkenntnisbeziehungen zur objektiven Welt tritt und (...) nach dem
Muster der ontologischen Wahrheitstheorie durch Vergleich des Subjektiven mit dem Objektiven
von einer dritten Position aus die bezweifelte Übereinstimmung (adaequatio) in den fraglichen
Punkten“113 zu zeigen versuchte – denn er weiß, daß sich eine solche Übereinstimmung niemals
unbezweifelbar erweisen ließe. „Er versucht den Nachweis vielmehr aus der Position des
neuzeitlichen Erkenntnissubjekts“114: von der Frage ausgehend, was die Sinnbedingungen dafür
sind, „daß ein Vernunftsubjekt objektive Erfahrung überhaupt haben kann.“115 Diese Methode ist
auch als Antwort auf den empiristisch-objektivistischen Skeptizismus von Hume zu verstehen.
Insofern macht die kantische Vernunftkritik im Hinblick auf das erkenntnissichernde Fundament
„Schluß mit unkritischer Ontologie / Metaphysik im Sinne der theoria-Tradition“116.
Doch dieser Bruch wird innerhalb der kantischen Philosophie nicht vollendet. Es ist nämlich
ein „metaphysischer Rest“117 festzustellen unter dem Aspekt der Erkenntnisorientierung Immanuel
Kants. Denn die Erkenntnis richtet sich seinem Modell zufolge jeweils auf das hinter dem
Gegenstand der Erfahrung (der Erscheinung) liegende ‚Ding an sich‘ (also quasi außerhalb der
Erfahrung) „auf die Dinge, ‚so wie sie an sich selbst sind‘ (reines Wesen)“118. In diesem reinen
‚An-sich-Sein‘ bleiben sie jedoch für uns – „im Unterschied zu dem göttlichen, alles direkt
anschauenden Verstand“119 – letzten Endes unerkennbar. Denn wir sind auf Erkenntnis durch
Erfahrungsvermittlung notwendigerweise angewiesen. Der Skeptiker kann Kant nun zeigen, daß
diese Vorstellung inkonsistent ist. Denn dieses Argumentieren für ein Modell, das sich auf etwas
letzten Endes Unerkennbares stützt, ist in sich widersprüchlich, „eine sinnlose Rede“120. Dies
wird deutlich, wenn wir Kant selbst mit den Voraussetzungen konfrontieren, die er implizit
benötigt, um uns gegenüber diese Theorie zu vertreten. Denn Kant führt die Rede vom für uns
prinzipiell unerkennbaren ‚Ding-an-sich‘ im Mund und macht zugleich Aussagen über dieses:
„daß es sich um ein ‚unerkennbares Reales‘ handele, behauptet man ja schon erkannt zu
haben“;121 und dies, während er das Ziel verfolgt, eine Erkenntnistheorie zu begründen, „die nach
ihrem eigenen Verständnis Vernunftkritik auf den Bereich des vom Bewußtsein Erfahrbaren
beschränkt“122. Für diese Erkenntnistheorie ist eine solche „immanent widersprüchliche
111Kuhlmann 1985, S. 300.
112A.a.O., S. 303; vgl. KrV B, S. 817 ff.
113Ebd.
114Ebd.
115Gronke 1999, S. 39.
116Böhler 2001 c, S. 21.
117Ebd.
118Ebd.
119Ebd.
120Ebd.
121Ebd. „Eine Folge davon ist, daß sich der Philosoph unter der Hand Erkenntnismöglichkeiten zubilligt, die er als
vernunftkritischer Denker, der nur das reflexiv Ausweisbare in Anspruch nimmt, nicht haben kann. Kant macht
sich etwa nicht klar, daß er sich einen quasi-göttlichen Einblick in das Verhältnis von einer erkennbaren
Erfahrungswelt und einer vermeintlich unerkennbaren Welt an sich zugesteht. Wenn man solcherart Einträge in
den philosophischen Diskurs unausgewiesen einbringt, weil man nicht reflexiv genug philosophiert, tangiert dies
auch den Geltungsstatus der möglichen Ergebnisse dieses Diskurses.“ (Gronke 2001, S. 216 f.)
122Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
42
Auffassung“ natürlich fatal;123 entgegen Kants Unterstellung läßt sich „der Begriff eines
unerkennbaren Dinges an sich nicht einmal denken“124. So läßt sich dem kantischen Projekt
entgegenhalten, daß der Skeptiker nicht ‚besiegt‘ sei, und zwar „solange er noch sinnvoll nach
einer Rechtfertigung für das kantische Verfahren fragen könne“125. Wie kommt es zu diesem
metaphysischen, unreflektierten Rest? Hauptursache ist, „daß Kant sich im Rahmen der
Vernunftkritik statt der an sich für sein Projekt erforderlichen strikten Reflexion ausschließlich
der theoretischen Reflexion bedient“126. Kant reflektiert zwar auf die Bedingungen der
Erkenntnis, letztlich aber in „theoretisch selbstvergessener distanzierender Reflexion von außen“
127
; und statt von sich selbst – dem Philosophen – als Reflexionssubjekt auszugehen, thematisiert
er eigentlich „den Physiker“128 als exemplarisches Reflexionsobjekt. Die skeptische Frage: „Welche
Erkenntnisbedingungen kann / muß ich als Transzendentalphilosoph beachten?“129, mithin die
quaestio iuris der Transzendentalphilosophie130, bleibt ungestellt.
Trotz dieser Defizite soll hier noch einmal die Weiterentwicklung des Vernunftbegriffes
Würdigung finden, die Kant gegenüber dem klassischen Modell vornimmt und die als
‚kopernikanische Wende‘ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist; Kant gibt mit seinen
„Überlegungen zur Konstitution des Selbstbewußtseins einen überzeugenden Beleg
dafür, daß sein transzendentaler Ansatz, in dem der vorneuzeitliche Vernunftbegriff
eines vernehmenden Erfassens zugunsten der Vorstellung einer leistenden,
geltungskonstitutiven Vernunft zurückgedrängt wird, gegenüber Descartes’ noch von
scholastischen Einflüssen durchwirktem Denken einen wesentlichen Denkfortschritt
markiert.“131
III. Paradigma: Sprache
Radikaler Skeptizismus als widersprüchliche Konsequenz aus der Kant-Kritik
Die skeptischen Anfragen, gegen die man sich innerhalb der kantischen Vernunftvorstellung
schwerlich eine schlagende Argumentation denken kann, sind wohl deutlich geworden.
Überblicksartig kann gesagt werden, daß diese Erschütterung erneut einen Paradigmenwechsel
einleitet und insofern vergleichbar ist mit dem Paradigmenwechsel zwischen klassischer
Ontologie und Subjektphilosophie: „Wie der Universalienstreit im ausgehenden Mittelalter zur
Entwertung der objektiven Vernunft, so hat im ausgehenden 19. Jahrhundert die Kritik an
Introspektion und Psychologismus zur Erschütterung der subjektiven Vernunft beigetragen.“132
Aus dem nun mehrfach angeführten sprachreflexiven Ansatz ergibt sich, in welcher Richtung die
Suche nach unhintergehbaren Fundamenten philosophischer Argumentation – die Suche nach
‚Skepsis-resistenten‘ Ergebnissen also – fruchtbar sein kann: im Bereich der Sprache selbst. Ihre
Thematisierung als gewißheitsermöglichende Voraussetzung an Stelle der subjektiven Vernunft
markiert den Übergang vom zweiten zum dritten Paradigma.
123Kuhlmann spricht davon, „daß es überhaupt verheerend sei für ein Unternehmen, welches mit dem
Dogmatismus endgültig abrechnen wolle, wenn es selbst des Dogmatismus bezichtigt werden könne.“
(Kuhlmann 1985, S. 306).
124Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
125Kuhlmann 1985, S. 306.
126A.a.O., S. 308.
127Ebd.
128Ebd.
129A.a.O., S. 42 f.
130Vgl. Böhler 2001 c, S. 18.
131Gronke 1999, S. 42 f.
132Habermas 1999, S. 243 f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
43
„Mit der Verlagerung der Vernunft aus dem Bewußtsein in die Sprache als dem
Medium, über das handelnde Subjekte miteinander kommunizieren, ändert sich die
Erklärungsrichtung noch einmal. Die epistemische Autorität geht vom erkennenden
Subjekt, das die Maßstäbe für die Objektivität der Erfahrung aus sich selber schöpft,
auf die Rechtfertigungspraxis einer Sprachgemeinschaft über. Bis dahin ergab sich
eine intersubjektive Geltung von Meinungen aus einer nachträglichen Konvergenz
von Gedanken und Vorstellungen (...). Aber nach der linguistischen Wende gehen
alle Erklärungen vom Primat einer gemeinsamen Sprache aus.“133
Dieser ‚linguistic turn‘ macht es möglich, so nun die These, das „Scheitern von Des-cartes’ und
Kants transzendentalphilosophischen Ansätzen“134 zu überwinden.
Könnte man nun auch ein anderes Modell vertreten, welches das Scheitern einfach
hinnimmt? Also dem radikalen Skeptiker ‚nachgeben‘ und sich dessen Position des „skeptischen
Relativisten, der die Möglichkeit einer absoluten Selbstrechtfertigung der Philosophie und einer
rationalen Vernunftkritik bestreitet“135, zu eigen machen? Man würde also – von den bisherigen
Erfolgen skeptischer Erschütterung ermuntert und im skeptischen Aufspüren ‚metaphysischer
Reste‘ geübt – die These vertreten wollen, daß es unhintergehbare Wahrheit im Grunde
genommen nicht gibt ebensowenig wie verläßliche Kriterien dafür. Zur Prüfung wollen wir kurz
aus dem historischen Durchgang heraustreten und aufzeigen, daß diese Argumentationsweise
sich nicht wirklich vertreten läßt, weil sie sich nicht widerspruchsfrei äußern, ja nicht einmal
denken läßt. Dietrich Böhler legt – wie viele seiner Mitstreiter auch in diesem Band –
überzeugend dar, warum es nicht möglich ist, diese Position in einem aktuellen Dialog mit
sinnvollen Argumenten zu vertreten. Dies kann dem so auftretenden Skeptiker anhand seiner
eigenen Praxis, in der er sich – diese Auffassung äußernd oder denkend – befindet, gezeigt
werden. In Dietrich Böhlers Beitrag zum Sammelband ‚Zwischen Universalismus und
Relativismus‘136 von 1998 heißt es:
„Der Rückgang auf die notwendige, alles menschliche Tun und Lassen zumeist
unausdrücklich begleitende, mithin für jeden erfahrbare und erkennbare Meta-Praxis
des Etwas-Behauptens, welche einen argumentativen Dialog eröffnet oder antizipiert,
erschließt uns einen universalen ‚Grund der Verbindlichkeit‘ (Kant) und damit
zureichende Kriterien für die Suche nach dem Wahren und Richtigen.“137
Denn diese unhintergehbare Meta-Praxis begleitet eben auch das Tun und Lassen des Skeptikers
– erst recht, wenn er versucht, irgendeine Position (zum Beispiel eine skeptische) zu vertreten.
Und dies kann dem Skeptiker gezeigt werden, in dem er „in einen dialogreflexiven Test
verwickelt“138 wird. Darin wird der Skeptiker erstens „auf die aktuelle Dialogsituation
hingewiesen (...), in die er – sich selbst und uns gegenüber – bereits eingetreten ist (...)“; dann
wird zweitens „diese Dialogsituation mit seiner Meinung, seinen Aussagen, konfrontiert“; und
drittens wird „geprüft (...), ob diese Aussagen von uns, in der Rolle argumentativer Dialogpartner,
jetzt als Dialogbeitrag ernst genommen und dementsprechend mit einer begründbaren Rede
(einem sinnvollen Dialogbeitrag) beantwortet werden könnten.“ Daß Dietrich Böhler im
Zusammenhang mit diesem Modell der Skeptikerwiderlegung139 auf Kant verweist, hat trotz der
oben gemachten Kritik an Kants theoretischer Einstellung seine Berechtigung – denn sein
Ansatz, der für die Frage nach Wahrheit ja Kriterien wie Allgemeinheit und vernunftgemäße
133Ebd.
134Gronke 1999, S. 52.
135A.a.O., S. 70.
136Böhler 1998.
137Böhler 1998, S. 136.
138Dies und die folgenden Zitate: Böhler 2001 a, S. 51.
139In welcher sprachlichen Gestalt dieser Dialog mit dem Skeptiker im einzelnen ablaufen könnte, dazu Beispiele
bei Gronke 1999, S. 93-96 mit dem Verweis auf Wolfgang Kuhlmann (1993): Bemerkungen zum Problem der
Letztbegründung. In: Alexander Dorschel u.a. (Hg.): Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M., S. 233-327; und
bei Brune 1995, S. 69-73.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
44
Prüfbarkeit heranzieht, läßt sich sprachlich transformieren. Wie dies möglich ist, zeigt in
überzeugender Weise schon die Kant-Kritik des Charles Sanders Peirce. Dessen „Konzeption der
Konsensbildung in der ‚Gemeinschaft der Wissenschaftler‘“140 ersetzt die kantische theoriaEinstellung und zugleich den Solipsismus der Subjektphilosophie. Die solipsistisch vorgestellte
Gewißheit des Einzelsubjekts wird abgelöst durch die „Experimentier- und
Interpretationsgemeinschaft (...) als Konkretisierung des transzendentalen Subjekts bei Kant“141.
Wahrheit ist das, worüber in dieser Instanz sich „Konsens in methodisch kontrollierbarer Form
herstellen“142 ließe. An die Stelle der von Kant vorgestellten Einheit von Bewußtseinsinhalten tritt
„semantische Konsistenz einer intersubjektiv gültigen ‚Repräsentation‘ der Objekte durch
Zeichen, die nach Peirce freilich erst in der (...) Dimension der Interpretation der Zeichen
entschieden wird.“143
Transformation Kants am Anfang der ‚Transformation der Philosophie‘
Wenn zunächst nur von einer ‚ersetzenden‘ Vorstellung oder ‚Ablösung‘ der kantischen
Vernunftinstanz die Rede ist, dann wird damit der Erkenntnisfortschritt noch nicht deutlich
genug. Er liegt darin, daß skeptische Kritik an diesem Modell der ‚indefinite community of
investigators‘ keinen Ansatzpunkt mehr findet; denn der Kritiker muß, um Kritik an ihm
vorzubringen, selbst diese Instanz in Anspruch nehmen – denn genau ihr gegenüber müßte die
Kritik des Skeptikers verständlich sein, will er sich überhaupt nur theoretisch die Möglichkeit
offen halten, gegebenenfalls bessere Argumente zu haben. Die unbegrenzte Gemeinschaft der
Argumentierenden als ‚höchster Punkt‘ der Peirceschen Transformation Kants144 bedarf damit
höchstens noch der Explikation, die Karl-Otto Apel so leistet:
Darin „konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der
Interpretation und das forschungslogische Postulat einer experimentellen Bewährung
der Erfahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt dieser postulierten
Einheit ist die unbegrenzte Experimentier-Gemeinschaft, die zugleich die
unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft ist.“145
Im Rahmen dieser Konzeption läßt sich auch die problematische Unterscheidung von ‚Ding-ansich‘ und Erscheinungen verabschieden: An ihre Stelle „tritt in der sinnkritisch-realistischen
Transzendentalpragmatik die Peircesche Unterscheidung zwischen dem Realen als dem
prinzipiell – in the long run – Erkennbaren einerseits und dem hier und jetzt faktisch Erkannten
andererseits“146.
Für den Übergang zum dritten Paradigma, dem Paradigma der Kommunikation, ist damit
etwas Wichtiges geleistet, denn Peirces Auffassung kann ergänzt werden von der
„kommunikationsbezogenen Auffassung der Sprache und des Denkens, (...) einer
(transzendental-pragmatischen) Rekonstruktion der Bedingungen sinnvoller Rede und
wahrheitsfähigen Argumentierens“147. Diese Transformation der Philosophie verändert die
Zielrichtung philosophischen Denkens weg „von jedweder Betrachtung (bloße
Beobachterperspektive, also subjekt- und dialogvergessen) hin zu einer aktuell dialogbezogensinnkritischen Reflexion auf sich und Andere als Partner des jetzigen Dialogs“148. Vollendet
werden kann diese Transformation als Reflexion auf die Dialogizität von Sprache überhaupt,
140Apel 1973 Bd. I, S. 12.
141Ebd.
142Ebd.
143Apel 1973 Bd. II, S. 169.
144Vgl. A.a.O., S. 173.
145Ebd.
146Kuhlmann 1985, S. 25.
147Böhler 2001 c, S. 25.
148Ebd.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
45
wobei sie im Rahmen deutschsprachiger Philosophie anknüpfen kann auch an „Wilhelm von
Humboldts kaum rezipierte (mit Kant gegen Kant denkende) Einsicht: Sprechen als miteinander
Sprechen und als Aktualisieren einer dualischen bzw. dialogförmigen Struktur der Sprache“149.
Bedingung der Möglichkeit des Sprechens ist Humboldt zufolge „Anrede und Erwiderung“150;
und dies „hat zur Folge, daß ein Sprecher die eigene Rede nur verstehen, mithin sie auch nur
vorbringen kann, weil er immer schon in Erwartung und Erwartungserwartung des resp. der
Anderen redet“151.
Sprachanalyse als Thema der Philosophie nach dem ‚linguistic turn‘
Insgesamt läßt sich der ‚linguistic turn‘ als der „Durchbruch der sprachanalytischen Philosophie
zum beherrschenden Paradigma der Philosophie im 20. Jahrhundert“152 beschreiben. Das
Verhältnis von Erfahrungssubjekt auf der einen und Welt auf der anderen Seite wird abgelöst:
Das von der Gnosis bis Kant als einsames Subjekt gedachte Selbst „stellt sich nun als gar nicht
absolut und nicht als autonomer Grenzpunkt der Welt heraus, sondern zeigt sich als
realkommunizierender Akteur, der in Welt als einen Sozial- und Sinnzusammenhang von
vornherein einbezogen ist“153. Die Beschäftigung mit diesen Kommunikationsprozessen wird
zum vorherrschenden Thema der Philosophie. Sprache als Ausdruck dieses Zusammenhanges
rückt in den Mittelpunkt philosophischer Analyse, was dazu führt,
„daß die Sprache, die lange Zeit nur als ein – freilich stets besonderer – Gegenstand
der Erkenntnis figurierte, nun endlich in die ihr eher gemäße Stelle einer
entscheidenden subjektiven Erkenntnisvoraussetzung rückt (...). Statt mit zunächst
nur privat zugänglich scheinenden ‚Tatsachen des Bewußtseins‘ hat die Analyse es
nun mit öffentlich zugänglichen Strukturen von Zeichen und Sprache zu tun, was
sowohl die Analyse selbst, wie auch ihre kritische Diskussion, ganz wesentlich
erleichtert.“154
Zunächst gilt es, das Phänomen der Sprache zu differenzieren. Neben der semantischen und der
syntaktischen Dimension der Sprache entdeckt die Analyse (z.B. bei Carnap und Morris155) die
Bedeutung der dritten, der pragmatischen Dimension der Sprache. Hieraus resultiert die Rede von
der pragmatischen Wende der (Sprach-)Philosophie; „Sprache ist jetzt etwas, das erst im Gebrauch
durch Subjekte Bedeutung erhält; der Gebrauch (das kognitive Verhältnis des Sprechers zur
Sprache) wird zentrales Thema unter Titeln wie ‚Was heißt es, einer Regel zu folgen‘ oder ‚How
to do Things with Words‘.“156
Das Verständnis von Sprache als ‚Regelfolgen‘ hat am nachhaltigsten Ludwig Wittgenstein
aufgebracht. Doch seine Bedeutung im Rahmen des ‚linguistic turn‘ ist insgesamt ambivalent.
Denn in seinen frühen Schriften beschäftigte er sich zwar bereits mit Sprache, allerdings ganz
und gar in theoretischer Einstellung – was ihn gegenüber skeptischer Kritik schwächt: „Der frühe
Wittgenstein eröffnet die Bewegung mit der paradoxen Fassung einer Sprachkritik, welche ganz
ausdrücklich für den Sprachkritiker selbst und seine kritischen Aktivitäten keinen legitimen Platz
149Ebd.
150Wilhelm von Humboldt (1960): Über den Dualis. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin (Akademie-Ausgabe). Bd.
VI., S. 27. Zit. n. Böhler 2001 b, S. 168.
151Böhler 2001 b, S. 168.
152Kuhlmann 1985, S. 16.
153Böhler 1985, S. 65.
154Kuhlmann 1985, S. 16 f. Daher ist es vielleicht eher zu verschmerzen, wenn das Folgende tendenziell wie eine
historische „Nacherzählung“ einiger Stationen des dritten Paradigmas wirkt und zuweilen weniger wie eine
gründlich-kritische Würdigung.
155Vgl. Kuhlmann 1985, S. 17.
156A.a.O., S. 18.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
46
vorsieht.“157 Leitfaden des frühen Wittgenstein ist nämlich sein methodisch-solipsistisches
Verständnis von Sprache158 – Wittgenstein ist dabei nicht klar geworden, daß er selbst ja als
Kritiker und Argumentierender über Sprache als Regelfolgen zu uns, seinen Lesern spricht und
somit bereits eine Meta-Ebene von Sprache in Anspruch genommen hat. Doch beim späten
Wittgenstein wird dieser ‚logische Atomismus‘ (Apel) überwunden, indem der „neue
Schlüsselbegriff des späten Wittgenstein: der Begriff des ‚Sprachspiels‘ oder besser gesagt: der
‚Sprachspiele‘“159aufkommt. Dieses Modell ist leistungsfähig zur Illustration der logischen
Verbindung von „Handlungssinn und sozialem Handlungskontext“160: Der Sinn einer konkreten
Handlung läßt sich nur dann verstehen, wenn auch die Lebenspraxis, auf die die Handlung
bezogen ist, bereits – mindestens teilweise – mitverstanden wird.
„Ein Akteur muß immer schon ein wie immer unvollständiges Wissen haben, so daß
er sich im Totum eines Handlungszusammenhangs (...) in gewisser Weise auskennt,
wenn er eine bestimmte Handlungsweise (...) als Handlungsweise einer sozialen
Praxis soll richtig verstehen und anwenden können.“161
Wittgenstein überwindet aber niemals vollständig – dies muß als entscheidendes Defizit
festgehalten werden – die Aporie seiner Frühschriften, die er sich einhandelt, weil „die Stelle des
Zeicheninterpreten, die Stelle des zeichenverwendenden Subjekts, entweder ganz leer bleibt oder
nur – halbherzig – im Sinne der empirischen Pragmatik besetzt wird.“162
Wittgensteins Kritik an der klassischen Sprachauffassung
und Aufhebung dieser Kritik: Doppelte Dialogizität
Zwar wird diese Leerstelle auch vom späten Wittgenstein nicht ausgefüllt; im Rahmen einer auf
den Zusammenhang philosophischer Paradigmen konzentrierten Untersuchung ist Wittgenstein
dennoch zu würdigen. Denn in Absetzung zu traditionellen Sprachvorstellungen lassen sich die
von (oder zumindest mit) Wittgenstein errungenen Fortschritte erkennen: Mit seinen
‚Philosophischen Untersuchungen‘ vollendet er die Kritik des „seit Aristoteles die Sprachlogik
beherrschenden Denkmodells“, welches naiv angenommen hatte, „daß die Wörter der Sprache
ihre ‚Bedeutung‘ dadurch haben, daß sie ‚etwas bezeichnen‘, und (...) daß die Wörter ‚Namen‘ für
‚vorhandene Dinge‘ oder ‚Gegenstände‘ sind“163. Wittgenstein verabschiedet nun diese
Vorstellung ebenso nachhaltig wie das augustinische Modell, Kinder würden sprechen lernen,
indem sie die durch die Eltern vorgesagten Bezeichnungen für Gegenstände (auf die diese dabei
hinweisen) nachahmen. Dieses Modell hatte nämlich übersehen, „daß ein Kind, das zum
erstenmal die Sprache erlernt, hinweisende Erklärungen noch gar nicht verstehen kann, da es
weder über eine strukturelle Artikulation der Welt schon verfügt, die ihm sagt, was jeweils durch
einen Hinweis gemeint ist (ob z.B. die Farbe oder Form oder Art oder Zahl), noch die Funktion
des zu erklärenden Wortes in der Sprache, seine Verwendung, schon kennt. Eine hinweisende
Erklärung von Namen versteht nach W[ittgenstein] nur der, ‚der schon etwas mit ihr anzufangen
weiß‘ (...).“164 Wittgenstein macht also auf bislang nicht berücksichtigte Voraussetzungen des
eingeschränkten Sprachspiels Benennung von Gegenständen aufmerksam und weist es aus als
„‚defizienten Modus‘ derjenigen Sprachspiele (...), in denen Kinder zugleich mit der Erlernung
157A.a.O., S. 17.
158Darin „war die Funktion der intentionalen Ausdrücke wie ‚meinen‘ als etwas aufgefaßt, das man nicht selbst
wieder meinen, d. h. als etwas ‚bezeichnen‘ kann; ihre Funktion sollte identisch sein mit dem Meinen, d. h. der
Bezeichnungsfunktion überhaupt.“ (Apel 1973 Bd. II, S. 71)
159Apel 1973 Bd. II, S. 71.
160Böhler 1985, S. 202.
161Ebd.
162Kuhlmann 1985, S. 25.
163Apel 1973 Bd. I, S. 253.
164A.a.O., S. 261 mit Verweis auf Wittgenstein, Phil. Unters. § 31.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
47
ihrer Muttersprache auch eine bestimmte Lebensform und ein bestimmtes strukturell artikuliertes
Verständnis der Welt als Situation der Lebenspraxis sich aneignen“165. Und da ohne diese
fundierenden Bezüge zu bestimmter Lebensform und -praxis kein Erlernen von Sprache denkbar
ist, kommt so die Kritik an Augustins166 „apragmatischer, nämlich instrumentalistisch
gegenstandstheoretischer und methodisch solipsistischer Sprachauffassung“167 zum vorläufigen
Abschluß.
Die Reichweite dieses Sprachverständnisses auch beim späten Wittgenstein erweist sich
indessen, wie oben angedeutet, aufgrund der unaufgeklärten Irreflexivität als begrenzt. Dieses
Defizit arbeitet Audun Øfsti auf, indem er zeigt, daß das Sprachspielmodell nicht geeignet ist, um
das Ganze einer Sprache abzubilden. Øfsti ergänzt damit Erkenntnisse der sprachanalytischen
Philosophie. Diese zeigt die „Doppelstruktur der Rede“168 aus performativem und propositionalem Teil
als denknotwendig: Aussagen können nur verständlich sein, „weil sich die Sprecher immer schon
und unvermeidlich in eine performative Distanz zu ihnen bringen, indem sie für sie Geltung
beanspruchen. So hat jeder, der etwas [und damit propositionalen ‚Inhalt‘, T.L.] behauptet, weil
seine Behauptungshandlung Geltung (mögliche Wahrheit bzw. Richtigkeit) für die Aussage
unterstellt [und zwar den Anderen, den Adressaten seiner Behauptungshandlung gegenüber –
hierdurch kommt die Performativität ins Spiel, T.L.], die Ebene des argumentativen Dialogs
betreten und dadurch bereits die Rolle eines Dialogpartners auf sich genommen.“169 Øfstis
Erweiterung zur doppelten Doppelstruktur weist nun darauf hin, daß mit dieser Doppelstruktur
stets auch die Bezugsmöglichkeit auf diese einhergeht: Wir können auf diese Doppelstruktur noch
einmal reflektieren und diese Reflexion explizieren. Also sei es doch richtiger, so Øfsti, von einer
doppelten Doppelstruktur der Rede zu sprechen, um das Ganze einer Sprache ausdrücken zu
können: „Notwendig für eine vollständige Sprache und Kommunikationskompetenz ist die
doppelte
Reflexivität
der
performativ-propositionalen
Äußerung
und
des
170
Stellungnehmenkönnens zu solchen Äußerungen.“ Nun ist nach dieser Präzisierung noch
einmal an die Geltungsansprüche, die wir mit dem Vorbringen einer Äußerung zugrunde legen,
zu erinnern.
Da „das Vorbringen und das Erläutern einer Äußerung wiederum die Form von
Dialogbeiträgen hat, deren Geltungsansprüche mit der Anerkennung anderer als
gleichberechtigter Argumentationspartner etc. verwoben sind“, schlägt Böhler vor,
„diese doppelte dialogbezogene Doppelstruktur ‚doppelte Dialogizität der
Kommunikation‘ oder ‚doppelte Dialogstruktur der Sprache‘ zu nennen“171.
So ist das dritte Paradigma der Philosophiegeschichte vollständig entfaltet, indem die
„betrachtende (theoretische bzw. analytische) Einstellung“ verlassen worden ist und statt dessen
die Besinnung „auf den jeweiligen Dialog und die Dialogpartnerrolle“172 durchgeführt wird. Die
zutage tretenden Bestimmungen der Sprache lassen sich dabei als Differenzierungen der
Voraussetzungen verstehen, die mit sinnvollen Äußerungen einhergehen. Um zu prüfen, ob sie
skeptischen Anfragen standhalten, können wir sie dem sinnkritischen Test unterziehen: Lassen sich
sinnvolle Argumente finden – also Argumente, die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne
daß er damit selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender
anerkennen muß –, die die vorgebrachten Thesen bestreiten? Dann müssen diese Thesen
verworfen werden. Zeigt sich dagegen, daß sich keine Argumente finden lassen, ja daß keine
165A.a.O., S. 262.
166Z.B. in Confessiones I, Kap. 8.
167Böhler 2001 c, S. 26.
168Böhler 2001 a, S. 29 mit Verweis auf Habermas 1991.
169Böhler 1998, S. 134 f.
170Böhler 2001 c, S. 26 a.
171Böhler 2001 a, S. 33 in Anknüpfung an Audun Øfsti (1994): Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und
Wissenschaftstheorie. Würzburg, S. 139-147, 166-181.
172Böhler 2001 c, S. 27.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
48
sinnvoll gedacht werden können, die diesem Sinnkriterium standhalten, dann können die Thesen
als bestätigt gelten.173
Dieser sinnkritische Test kann auch Anwendung beispielsweise für diesen Durchgang durch
die Philosophiegeschichte finden – und dabei die Frage klären helfen, welche Erkenntnisse der
einzelnen Argumentationsweisen und Konzeptionen jeweils als entscheidende (und zu
bewahrende) Denkfortschritte gegenüber vorherigen Modellen Gültigkeit beanspruchen können.
So kann eine kritisch-logische Einschätzung dieser paradigmatischen Entwicklungen erreicht
werden, die mehr und anderes als ihre historische Rekonstruktion174 zu leisten vermag. Analog
lassen sich Fehlentwicklungen – sozusagen Sackgassen im ‚Labyrinth der Ideen‘175 – aufdecken,
wie Dietrich Böhler es formuliert:
„Seit Augustin kommt ein philosophischer Individualismus auf, seit Kant ein
transzendentaler Solipsismus, der voraussetzt oder behauptet, einer könne für sich
allein (solus ipse) Sinn und Gültigkeit haben. Darin sehe ich das, erst dank Karl-Otto
Apels gemeinschafts- und diskursbezogener ‚Transformation der Philosophie‘
überwundene, próton pseūdos der abendländischen Bildungstradition, ihren
elementaren Denkfehler. Er ist der hohe Preis, den die abendländische Philosophie
für ihre vielleicht größten Errungenschaften, die Begründung des kritischen,
Vorgegebenes distanzierenden Denkens und der freien, selbständig urteilsfähigen
Person, hat entrichten müssen.“176
Ob und inwieweit dieser Preis unvermeidlich ist, kann die dialogreflexive Sinnkritik aufweisen,
deren kritische Prüfung und Aneignung philosophischer Paradigmen man in Dietrich Böhlers
Seminarpraxis erlernen kann.
Literatur
Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie. Bd. I: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik; Bd. II:
Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M.
Ders.; Böhler, Dietrich; Kadelbach, Gerd (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik: Dialoge. 2
Bde. Frankfurt a. M.
Ders.; Böhler, Dietrich; Rebel, Karl-Heinz (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik:
Studientexte. 3 Bde. Weinheim.
Ders.; Burckhart, Holger (Hg.) (2001): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg
(zit.: Prinzip Mitverantwortung).
Böhler, Dietrich (1985): Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion.
Frankfurt a. M.
Ders. (1998): Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik.
Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung? In: Horst Steinmann, Andreas Georg
Scherer (Hg.): Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen
Managements. Frankfurt a. M., S. 126-178.
Ders. (1999): Gnosis. Existentialismus und Hermeneutik der Entmythologisierung. Interdisziplinäres Seminar zu Hans
Jonas [Seminarprogramm Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin]. Typoskript.
173Ebd. Micha Werner zeigt beispielhaft, wie fruchtbar mit diesem Kriterium im Hinblick auf bestimmte Probleme
gearbeitet werden kann und welche Beschränkungen zu berücksichtigen sind. (Micha Werner 2001: „Who
counts“, in: Marcel Niquet u.a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg, S. 265-292.
174Die Tatsache, daß hier und im zugrundeliegenden Seminarprogramm Dietrich Böhlers Paradigmen und
Philosophen grosso modo entsprechend der historischen Abfolge behandelt werden, hat dementsprechend
primär einen pädagogischen Grund – so läßt sich eine (natürlich sehr schematische) Systematisierung wichtiger
Strömungen der Philosophiegeschichte vermitteln, die spätere Einordnungen erleichtert. Dieser
Erkenntnisfortschritt wurde von den Teilnehmern des Seminars in einer Evaluierung am Ende des Semesters als
besonderer wertvoll gewürdigt.
175Vgl. Böhler 2001 c, S. 1.
176Böhler 2001 b, S. 154.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
49
Ders. (2001 a): Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und
Mitverantwortung. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 15-67.
Ders. (2001 b): Bildung zur dialogbezogenen Mitverantwortung. Zweckrationales und dialogethisches
‚Lernen des Lernens‘. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 147-176.
Ders. (2001 c): Leitfaden zum Proseminar 16015 ‚Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische
Texte und Probleme der Philosophiegeschichte.‘ Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin.
Typoskript.
Ders.; Gronke, Horst (1994): Diskurs. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen.
Bd. II, Sp. 1256-1298.
Brune, Jens Peter (1995): Setzen ökonomische ‚Sachzwänge‘ der Anwendung moralischer Normen
legitime Grenzen? In: Ders., Dietrich Böhler, Werner Steden (Hg.): Moral und Sachzwang in der
Marktwirtschaft ( = Ethik und Wirtschaft im Dialog VIII). Münster, S. 1-114.
Gronke, Horst: (1999): Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der
Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg.
Ders. (2001): Was können wir im philosophischen Diskurs lernen? Elemente einer sokratischen
Pädagogik. In: Prinzip Mitverantwortung. S. 203-226.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: Ders.: Werke in
20 Bänden, Bd. XX. Frankfurt.
Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M.
Ders. (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Philosophie. Frankfurt a. M.
Ders. (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende. In: Ders.: Wahrheit
und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M., S. 230-270.
Jonas, Hans (1999): Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Hg. von Christian Wiese. Frankfurt a.
M./Leipzig.
Kant, Immanuel (1959): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe, hg. v. Jens
Timmermann. Hamburg.
Kuhlmann, Wolfgang (1985): Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik.
Freiburg/München.
Kuhn, Thomas (1962/1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Chicago/Frankfurt a. M.
Menge, Hermann (221953): Langenscheidts Taschenwörterbuch der griechischen und der deutschen Sprache. Berlin.
Platon: Kriton. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Platon. Sämtliche Werke Bd. I. Hg. von
Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck. Hamburg 1959, S. 33-47.
Ders.: Sophistes. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. IV., S. 183-244.
Ders.: Timaios. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. V., S. 141-213.
Religion in Geschichte und Gegenwart (=RGG). Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (31957). Hg.
von Kurt Galling in Gem. mit Hans Frhr. v. Campenhausen; Erich Dinkler, Gerhard Gloege, Knut
Løgstrup. Tübingen.
Rorty, Richard (1981): Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a. M.
Schnädelbach, Herbert (1985): Philosophie. In: Ekkehard Martens, Herbert Schnädelbach (Hg.):
Philosophie. Ein Grundkurs. Reinbek.
Windelband, Wilhelm; Heimsoeth, Heinz (151957): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen.
III
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
3.1
Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie? Die
drei philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik.
Wir fragen nach den Sinnkriterien des philosophischen Diskurses. Im Blick auf diese Frage
können wir die Etappen der Philosophiegeschichte teleologisch, vom Zielpunkt her, darstellen
und kritisch prüfen. Als internes Entwicklungsziel nehmen wir eine zustimmungswürdige,
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
50
argumentativ konsensfähige Selbsteinholung der Philosophie an, der Philosophie als
Sachwalterin des einsehbar Allgemeinen, des Logos. Die Philosophie soll das einholen
können, was sie beim Philosophieren in Anspruch nehmen muß.
In einer solchen Selbsteinholung liegt die Selbstverantwortung der Philosophierenden.
Verantwortlich sind sie in erster Linie für die Klärung des Diskursphänomens, zu dem ihre
Denkpraxis gehört, und die Sorge für eine Übereinstimmung ihrer Thesen mit den Grundlagen
der kommunikativen Praxis des Diskurses.
Die Klärung betrifft das Diskursphänomen in seinen verschiedenen Erscheinungen: elementar
als Begleitphänomen aller Formen und Ausdrucksweisen menschlichen Lebens, kultiviert und
differenziert sowohl als Medium und Geltungsinstanz der gesellschaftlichen bzw. politischen
Kultur wie auch als Medium und Geltungsinstanz der Wissenschaften und der Philosophie
selbst.
Diese Klärung, hier nur im kursorischen Überblick zu leisten, ist zunächst eine
Rekonstruktionsaufgabe
und
dann
die
Sache
einer
selbstkritischen
Prüfung
der
Rekonstruktionsergebnisse, eine Geltungsreflexion. Letztere ist erforderlich, wenn die
Philosophie diejenigen Voraussetzungen begründen (und dadurch verantworten) soll, die sie
selbst in Anspruch nimmt, wofern sie sich – seit Sokrates, Platon und Aristoteles – als
Sachwalterin des Logos und damit als die erste Wissenschaft versteht, als die
Grundlegungswissenschaft. Kraft einer Reflexion in dem strittigen Diskurs, in dem sich ein
Philosoph mit seinen Thesen gerade befindet, auf die Sinnvoraussetzungen bzw.
Geltungsbedingungen jedes argumentativen Diskurses, müssen die Philosophierenden
erweisen können, daß sie mit dem argumentativen Diskurs ein kommunikatives und moralisch
bindendes Verhältnis mit allgemeingültigen Regeln und Grundnormen in Anspruch nehmen:
das Argumentieren überhaupt, welches immer schon eine Sache des Erkennens und des
gesollten Wollens ist, eine logische und moralische Verbindlichkeit.
Die logische Verbindlichkeit des Argumentierens hängt an seinem Ziel, Wahrheitsansprüche
einzulösen, indem auf konsistente Weise gute Gründe für eine These erarbeitet werden, so daß
sich ein einsehbar Allgemeines ergibt. Damit verwoben ist eine mögliche moralische
Verbindlichkeit für praktische Urteile und konkrete Normen: eine verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit, so daß auch alle Betroffenen, sofern sie den Diskurs konsequent als
Argumentationspartner mitvollziehen, dem Urteil oder Normenvorschlag zustimmen würden.
Insofern es den Philosophen gelingt, die internen normativen Grundlagen des argumentativen
Diskurses als dialogischer, mithin logisch und moralisch verbindlicher Praxis zunächst
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
51
aufzudecken, nämlich zu rekonstruieren, und sie dann reflexiv zu erweisen, haben sie die
Basis dessen eingeholt, was wir „Philosophieren“ nennen. Sie haben dann erkannt und
demonstriert, worauf sich jeder, der sich und anderen etwas verständlich machen und uno actu
zur Geltung bringen will, bereits eingelassen hat: die Rolle eines Partners im argumentativen
Dialog, der auf das logisch Allgemeine und auf die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit als
Ziel verpflichtet ist.
So ergibt sich das interne Entwicklungsziel des Diskursbegriffs durch Reflexion auf die
Diskurspraxis selbst. Es ist zuvörderst die Erkenntnis der konstitutiven Regeln und Normen
des Dialogs der Argumente, sodann deren Berücksichtigung und Befolgung in der je
besonderen Philosophie, Theorie oder auch Lebenskunst. Im Blick auf dieses Telos können
wir die unterschiedlichen Beiträge zur Entfaltung dieses Grundbegriffs allen Denkens
zwanglos interpretieren und kritisch beurteilen: als einen Fortschritt oder eine Regression,
oder auch als beides in verschiedener Hinsicht. Darin sehe ich den kriteriologischen Kern
einer philosophischen, reflexiv argumentierenden Begriffsgeschichte und einer Theorie des
Diskurses, die auch die praktischen Diskurse einschließt, mithin die moralische
Urteilsbildung.
Eine solche entwicklungslogisch angelegte, kritische Begriffsgeschichte ist ein Spiegel des
Geistes. Historisch zunächst ein Geistesspiegel Europas, kann sie logisch und ethisch ein
Geistesspiegel aller Denkenden sein. Warum? Der Geistesspiegel Diskurs ist für alle
möglichen Thesen und Fragen offen, über die sich mit Argumenten streiten läßt. Die Idee
dieses friedlichen Streits, die Auseinandersetzung allein mit Argumenten, hat im Athen des
fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht bloß Schule gemacht, sondern eine neue Kultur des
Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens ermöglicht. Deren Urbild ist der Sokratische
Dialog als Institution des Gründe-Gebens, des λόγον διδόναι (logon didonai). Denn Sokrates
sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen, nach Wahrheit und richtiger Definition, und
führt diese Suche in Form eines dem Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος (elenchos) durch.
Daraus entwickelte sich in Europa das Paradigma kritischer Vernunft, in dem die
Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants „Kritik der reinen Vernunft“177 – eine
ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines Scheinwissens, das unfähig ist, die naiv
behaupteten Interessen und Meinungen als Geltungsansprüche einzulösen, und dank seiner
Aufnahme juridischer Verfahrenselemente weist der Sokratische Dialog über sich hinaus auf
ein kommunikatives Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen
und „Gewißheit“ durch Rechtfertigung.
177
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (zit.: KrV), A XI f; B 697, 767 f, 779f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
52
Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes, solipsistisch
ausgeklammert, blieben freilich der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und die
dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide in Platons sokratischen Dialogen angelegt sind
– schon und noch. Das „Noch“ verweist auf die ontologische und ideentheoretische
Verdeckung, ja Überformung der freien Verständigung unter Gleichberechtigten und ihrer
gemeinsamen moralischen Basis als Dialogpartner: Der Seinstheologe Platon verdrängte den
argumentativen Dialog zunehmend durch eine kontemplativ spekulative Wesensschau, die
theoria. Ineins damit überformte er den, in Dialogen wie „Apologie“, „Kriton“, „Gorgias“
und „Thrasymachos“ spürbaren, Ansatz einer sokratischen Moralbegründung, nämlich eine
dialogische Besinnung auf normative Grundlagen des Denkens. Denn er zwängte den
Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus dem Dialog in den undialogischen Rahmen
einer Seinsschau – einer geistigen Schau des Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte
er als das ewig in sich ruhende Gute und Eine. Den Dialogansatz des Sokrates, dessen
konsequente Durch- und reflexive Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren
Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte Platon durch eine ungeschichtlich denkende, spekulative
Kosmostheologie. Aus seiner Deutung des göttlichen Kosmos leitete er dann die höchsten
Werte und deren normative Gehalte ab – naturalistischer Fehlschluß im Rahmen eines
spekulativen Intellektualismus?
Platon stellt eine erste Weggabelung unter mehreren dar, die uns vor die Alternativfrage
stellen: Wie hätte sich das europäische Denken – hier: nach Sokrates – entwickeln können?
Und wie würde es sich im Sinne einer Entwicklungslogik entwickelt haben, wenn Platon und
auch sein eigenwilliger Schüler Aristoteles schon reflexiv dialogisch gedacht hätten? Das ist
keine müßige rückwärtsgewandte Perspektive. Kraft einer Entwicklungslogik kann die Frage
fruchtbare
Gedankenexperimente
eröffnen,
die
uns
über
unsere
eigenen
Traditionsabhängigkeiten aufklären und uns emanzipatorische Anstöße geben mögen. Eine
aufregende Sache. Um sie zu betreiben, versuche ich in dieser Einleitung, die Darstellung
stets mit der Auseinandersetzung, die Hermeneutik mit der Kritik zu verbinden. So nämlich,
daß wir Zeitgenossen unser Denken wirkungsgeschichtlich in dem der Tradition spiegeln und
das der Tradition kritisch mit den Geltungsansprüchen des argumentativen Diskurses
konfrontieren.
Jene Alternativfrage weist uns einerseits auf das Abenteuer der faktischen europäischen
Ideengeschichte hin; andererseits eröffnet sie die Perspektive einer Entwicklungslogik,
welche die unverzichtbaren Elemente einer Selbstaufklärung des Denkens als Stufen seiner
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
53
Selbsterkenntnis aufeinander aufbauen würde. Die Alternativfrage provoziert dazu, derart mit
und gegen die tatsächliche Philosophiegeschichte zu denken, daß sich die faktische Genese
der Diskursidee mit ihrer normativen Rekonstruktion verbindet: die Frage danach, wie es in
der Geistesgeschichte wirklich vor sich gegangen ist, mit der Frage, wie sich die Diskursidee
konsequenterweise entwickelt hätte.
3.2
Die Wie-, Was- und Warum-Frage der Moral: Aufstufung zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit als Entwicklungslogik der lebensweltlichen praktischen Diskurse.
Dort, wo es zu einer kommunikationsphilosophischen Bearbeitung der Impulse von Wilhelm
von Humboldt einerseits, von Charles Sanders Peirce andererseits kommt, erscheint der
argumentative Diskurs als die Existenzbasis und Realisierungsform der Vernunft. Das ist
insbesondere bei der Transzendentalpragmatik K.-O. Apels und der Formalpragmatik bzw.
Diskurstheorie von J. Habermas der Fall. Diese kommunikationsphilosophische Bearbeitung
bedeutet eine Entmetaphysizierung – oder sollten wir sagen, eine Entmythisierung? – der
Vernunft. Abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen der theoria-Tradition,
entledigt sie sich ihrer metaphysischen Maskierung. Sie tritt nicht länger als nous (νούς) auf,
als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu
erschauen. Nunmehr zeigt sie sich als die dialogförmige Praxis, Geltungsansprüche zu
erheben und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn eine dialogische Praxis bildet ein normativ
verpflichtendes und kriterial bestimmendes Anerkennungsverhältnis. Als Diskursverhältnis
von Gleichberechtigten, gehalten, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und
das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei
sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre,
weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. So führt die Rekonstruktion der konstitutiven
Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen
Diskursethik.178
Traditionell gesagt, besteht eine Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft.
Wenn Vernunft nichts anderes ist als das Verhältnis und die Praxis des argumentativen
178
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)); ders.,
Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders.,
Transf. d. Philos., II (1973), S. 358-435. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985); J. Habermas,
Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußts. u.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
54
Dialogs, dann ist das Vernunftkriterium nicht bloß das logisch Allgemeine sondern auch etwas
au fond Sittliches und Soziales: Gerechtigkeit als verallgemeinerbare Gegenseitigkeit. Dann
ist es auch kein bloßes Kriterium der Gültigkeit, sondern ebenso eine moralische Grundnorm.
Warum? Weil jeder, der nach Gültigkeit sucht, seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner
verlöre und den möglichen Argumentationspartnern nicht die geschuldete Anerkennung
gewähren könnte, wenn er die Verbindlichkeit des Diskursprinzips in Frage stellte, welches
fordert: ›Suche einzig nach solchen Urteilen und Handlungsweisen, die selbst in einer idealen
Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Beurteilung der realen Situation
gleichermaßen gehört worden wären, begründete Zustimmung fänden.‹
In dieser Norm der moralischen Normen, dem zugleich kriteriologischen und deontologischen
Diskursprinzip, sehe ich auch die eigentliche, weil allererst konsequente Schlußpointe einer
„Entwicklungslogik des moralischen Urteils“ oder sagen wir genauer: der praktischen
Alltagsdiskurse. Eine solche verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen Lawrence
Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert Mead
sowie John Dewey erarbeitet hat.179 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche und
Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata, d.h.
Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat.
Den Rahmen jener Dilemmata bilden vor allem zwei „entwicklungsphilosophische“
Annahmen. Von G.H. Mead entlehnt er die sozialisationstheoretische Annahme, daß die
Menschen lernen, sich zur Welt in der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über
diese, symbolisch vermittelte, Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: „Wir
besitzen ein Selbst gerade insoweit, als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen
können.“180
Die Reziprozitätsrelation gilt auch als Strukturbedingung ‚meiner’ Beurteilung praktischer
Fragen und Konflikte. Darüberhinaus enthält sie – und das ist die zweite, nunmehr normativ
moralische, entwicklungsphilosophische Annahme – den Kern des Beurteilungskriteriums:
die Orientierung an Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit, das sich von
kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch
kommunik. Handeln (1983), S. 53-125; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.
M. 1991; W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985).
179
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven Entwicklung
(1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Kohlberg (1996)). K.-O.
Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des
moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im
Jahre 1980), S. 59-65, vgl. auch 66-153.
180
G. H. Mead, Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: ders., Philosophie der Sozialität.
Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Hg. v. H. Kellner, Frankfurt a. M. 1969, S. 95, vgl. 84ff. Vgl. ders.,
Geist, Identität und Gesellschaft (1968), Kap. 9-11 und 19-25.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
55
universalistischen Formen entwickele. Die Pointe von Kohlbergs Entwicklungslogik ist die
stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung der Reziprozität als Kriterium
moralischer Urteile.
Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf den hermeneutischen Zirkel
zwischen philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen, also viel eher auf
Abduktion im Peirceschen Sinne denn auf Induktion.181 Das Verhältnis von idealtypischer
Rekonstruktion und empirischer Bestätigung hat Kohlberg als komplementäres Verhältnis
beschrieben, das zu einer wechselseitigen Korrektur führt: „Die Wissenschaft kann
überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde,
phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann
jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen,
was Moral sein sollte.“182 Diesen „hermeneutischen Rekonstruktionismus“ hat Habermas als
„Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie)
und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)“ gewürdigt.183
Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose
Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen
Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies: die genetische Entwicklungsfrage ‚Wie
wird man moralisch?’, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ‚Was heißt moralisch bzw.
moralisch zu sein?’ und die deontologische Begründungsfrage ‚Warum soll man moralisch
sein bzw. sein wollen?’. Kohlberg teilt nämlich mit der Diskursphilosophie die – letztlich auf
Sokrates zurückgehende – Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst
verwoben sind. Genauer gesagt: derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit
noch einmal zu diesem Urteil Stellung, indem er ein Verständnis dessen ins Spiel bringt, was
es heißt, moralisch zu sein.
Nun läßt sich die sokratische „Was-ist“-Frage nicht von der Entwicklungsfrage „Wie wird
man etwas?“ abtrennen. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe
leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und
Erläuterung dessen, was sich da entwickelt. Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys
181
Die strukturelle Verwandtschaft des ‚Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen’ und des abduktiven Schlusses
bzw. der „Hypothesis“ bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders., Peirce, Schriften
I, Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, S. 81ff, vgl. 139ff; und: Peirce, Schriften II, Vom
Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1970, S. 153ff und ebenda: „Vorlesung 7: Pragmatismus
und Abduktion“, S. 365ff.
182
L. Kohlberg, From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of
moral development, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S.
151-235 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 38).
183
J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg (1996), S. 37-42
und 49ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
56
Unterscheidung von Kompetenz und Performanz und auf dessen Idee der linguistischen
Kompetenz zurück. „Wir behaupten, daß die empirische Untersuchung der moralischen
Entwicklung sich nicht stark von der empirischen Untersuchung der grammatischen
Entwicklung unterscheidet; diese geht aus einer linguistischen Theorie grammatischer
Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und revidiert die formale linguistische Theorie.
Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht Sokrates’, daß man keine psychologische
Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf
die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.“184 Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn
moralisch sei bzw. heiße, der Entwicklungsfrage in der Tat voraus. Und es ist jene
Erläuterungsfrage, auf welche die Probanden, denen ein moralisches Dilemma aufgegeben ist,
jeweils antworten, sei es auch nur implizit. Kohlbergs Entwicklungslogik ist letztlich die
systematisierte Aufstufung von Antworten auf die Frage, was es heiße, moralisch zu sein.
An Kant geschult, erkennt Kohlberg überdies, daß sich die Was-ist-Frage, wenn sie im Blick
auf Moral gestellt wird, letztlich nur beantworten läßt, wenn man zugleich die Frage ‚Warum
moralisch sein?’ beantworten kann. Als transzendental Fragender, die quaestio iuris stellender
Philosoph hat Kant eine moralische Verhaltensweise als diejenige bestimmt, die „den Grund
einer Verbindlichkeit“ bei sich führe.185 Eben in diesem Sinne versteht Kohlberg den
Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als Selbsteinholung des moralischen
Sollens als autonome Einsicht des praktisch Urteilenden in die Verpflichtung zur
Gegenseitigkeit, und zwar zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, zeichnet
Kohlberg eine solche Begründung als rein moralische aus, die das Prinzipienniveau einer
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit erreicht haben würde. Darin sieht er das Telos einer
Entwicklungslogik
des
moralischen
Urteils,
wenngleich
dieses
Urteilsprinzip
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von den meisten Menschen offenbar nicht erreicht bzw.
von den Begründungen ihrer moralischen Urteile verfehlt werde. Freilich verstand er es
zunächst, wie Kant und Rawls, gewissermaßen im Sinne der methodisch akommunikativ
denkenden Traditionslinie – als Gedankenexperiment und somit als methodisch einsame
Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen herausgelöst wäre. Das
bleibt zu diskutieren.
Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte
Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem „Heinz-Dilemma“ –
184
Vgl. das Manuskript Kohlbergs: „General Preface”, in: Essays in moral development, 1978 (zit. bei D. Garz,
Kohlberg (1996), S. 44).
185
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (zit.: GMS), Akademie-Ausg., S. 389.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
57
angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen.
Diese ließen sich nach „regelmäßigen Alterstrends der Entwicklung“ differenzieren und
beruhten auf einer ebenfalls gestuften „kognitiven Basis“.186 In den gegebenen
Urteilsbegründungen stufe sich das Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive auf: von der
gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe 2), deren
Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle
Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als
Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zu der
abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die
um ihrer selbst anerkannt wird („law and order“ – Stufe 4). Hier und sonst besteht die
stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit „differenzierter und
verallgemeinerter als die vorausgehende ist“.187 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich, wenn
wir verschiedene Veröffentlichungen Kohlbergs zusammenführen, in dieses Stufenschema der
moralischen Urteilsentwicklung fassen:
186
187
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59f.
A.a.O., S. 100f.
Übernahme guter und richtiger Rollen,
Einhalten der konventionellen
Ordnungen und Erwartungen anderer
II Konventionelle
Ebene
III Postkonventionelle
Ebene
Quasi physische
Geschehnisse/Handlungen und
Bedürfnisse
I Präkonventionelle
Ebene
2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht
und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen.
Rücksicht.
3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden
meiner Gruppe. Konformität
1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko
2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller
Gegenseitigkeit (do ut des)
1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung und
Gehorsam
Entwicklungsstufen
Übereinstimmung des ‚Ich‘ mit faktisch 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des
oder potentiell (→ Gedankenexperiment,
Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl)
Empathie) gemeinsamen Werten und
6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem
Ansprüchen, Grund-Rechten und
Respekt/Vertrauen und an der verallgemeinerbaren
Pflichten
Gegenseitigkeit: ideale wechselseitige
Rollenübernahme (z. B. kategorischer Imperativ)
(Übergangsstufe 4 ½)
Basis der moralischen Wertung
Ebene
Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg
58
Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974, S. 60 f und: From Is to Ought, in: Th. Mischel (Hg.),
Cognitive Development and Epistemology, New York 1871, S. 151-235. Vgl. Kohlberg, Boyd u. Levine, Die Wiederkehr der sechsten Stufe:
Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: W. Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S.
205-240, hier S. 223 f. Vgl. Kohlberg, Essays on Moral Development, Vol I. San Francisco 1981, S. 411.
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
mögliche Regressionstendenzen
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
59
Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch
soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische
Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische
Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das
Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die
Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung
gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen
anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3.
Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein
Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen
Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt
werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle,
bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die „Adoleszenzkrise“ das
prinzipienbezogene, metakonventionelle Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen
Urteilsbildung.
Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist
„die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der
Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen
zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der
Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei
dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.“
Wenngleich sich „die logische Ordnung“ der Stufen unter dem Gesichtspunkt der
Differenzierung von „Reziprozität und Gleichheit“, zumal nach „Kategorien der
Gerechtigkeit“ weiter fortsetzt,188 gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch
kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen
einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch
einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung, Infragestellung und kritischen
Gewichtung der eingelebten Sitten und Normen mit Hilfe von Prinzipien und diskursiven
Erwägungen. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein
Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adolenszenzkrise sogar als eine eigene
Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: anarchistische Obertöne, eine grenzenlose
Relativierungstendenz
und
ein
regressives
„,Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‘“,
das
Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des „wie du mir, so ich
188
A.a.O., S. 101.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
60
dir“ (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist,
weil alles als erlaubt gilt. 189
Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigsten
Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung
zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten
Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und
Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft
werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die
Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die
Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können.
Die
Prinzipienorientierung
charakterisiert
Kohlberg
als
„postkonventionelle“
bzw.
„nachkonventionelle Ebene“. Das halte ich freilich für unangemessen. Suggeriert diese
Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw.
Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon
aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen
Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive
Vorstellung, die nicht allein der Wirksamkeit bzw. Orientierungsfunktion des Moralprinzips
in der gemischten Alltagswirklichkeit widerspricht, sondern auch von Kohlbergs
Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also nicht gehen. Vielmehr ist eine
prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als Auseinandersetzung mit den sozialen
bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen bzw. egozentrierten Orientierungen zu
denken. Auch besteht ja die kriteriale Funktion eines Prinzips gerade in der Prüfung, welche
Relevanz autonom Urteilende dem einen oder dem anderen Interesse, der einen oder der
anderen sittlichen Konvention begründeterweise und verallgemeinerbarerweise zusprechen
sollten. Aus diesem Grunde ist es angemessen, immer dort von „metakonventionell“ zu reden,
wo Kohlberg unvorsichtig von „postkonventionell“ spricht.
Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit
Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 „das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung
vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen“
189
Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1984, S. 440ff; E. Turiel,
Adolescent conflict in the development of moral principles, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues
in cognitive psychology: The Loyala symposium, Washington D. C. 1973, S. 231-249; ders., Conflict and
transition in adolescent moral development, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14-29, dt. in: R. Döbert,
J. Habermas, G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253-269.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
61
ebenfalls „eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)“ ist. Und auf „Stufe 6 werden
moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert,
z.B. die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ: ‚Handle so, wie du handeln würdest,
nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ‚sollte‘], wenn er
in der Situation wäre.‘ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen,
daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ‚Gerechtigkeit‘
definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der
Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die
moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d.h. sie
schreiben vor, ‚so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen
Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‘ (Mead, 1934).190 „Auf prinzipieller Ebene
besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den [...] Prinzipien der Gerechtigkeit als
gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten
Reziprozität“191.
Führt
man
Kohlbergs
Programm
einer
Sukzession
der
Ausdifferenzierung
und
Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durch, dann ergeben sich freilich drei
Änderungen. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das
metakonventionelle biblische Verständnis der mosaischen Sozialordnung als Sitten- und
Gemeindeordnung: den von Gott und Israel auf dem Sinai geschlossenen Bund, dessen
Gegenstand und zugleich die Vertragsurkunde das „Bundesbuch“ mit den 10 Geboten ist, als
Stufe 5½ berücksichtigt. Warum? Hier fallen die utilitaristischen Untertöne einer
Nutzenvereinigung weg; die Orientierung an dem, was gerecht und gut ist, die Achtung des
menschlichen Lebens, die Nächstenliebe und das Vertrauen auf einen Gott, dessen
Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsehen und auf dessen Treue man sich verlassen
kann, treten in den Mittelpunkt. Sie sind es, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des
Bundes mit dem Gott motivieren, der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5.
Mose 10, 12-21 und 32, 1-4; Josua 24; Micha 6, 8; Psalm 119 etc. Jedenfalls in den jüngeren,
den nachexilischen Überlieferungen dieser Bundestheologie, so im Deuteronomium (5. Buch
Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, wird das Moment der Einsicht und freien
Anerkennung des Bundes durch Israel betont. Die anfängliche Fremdbestimmung durch den
machtvollen Gott, der Israel das Gesetz nach Art eines Unterwerfungsvertrages einfach ‚gibt’
Dazu in einer vor allem phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988),
bes. S. 387ff, 410 und 430f.
190
Vgl. G.H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1934 (dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M.
1968).
191
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 102.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
62
– diese heteronome Normengenese tritt zurück. Ja mehr noch: In der späteren Bundes- und
Thora-Theologie scheint die Geltungsfrage der Entstehungsfrage übergeordnet zu werden. In
logischer Zuspitzung folgte daraus: unabhängig davon, wie das Gesetz zustandegekommen
ist, es ist einsehbar gerecht, und daher kann man sich damit identifizieren.
Was die Stufe der moralischen Prinzipienorientierung, Stufe 6, anbelangt, so ist sie
veränderungsbedürftig. Es gilt, sie derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem Anspruch
gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit. Dann muß sie so begründet und formuliert sein, daß sie den rein
kommunikativen Charakter einer strikten, verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit hat, so daß
das
anzustrebende
Ziel
und
das
Geltungskriterium,
die
hermeneutische
Verständigungsgegenseitigkeit und die diskursive Geltungsgegenseitigkeit, als regulative
Prinzipien festgehalten sind. Demgemäß kann die moralische Prinzipienstufe
ein
akommunikatives Prüfungsverfahren, etwa ein Gedankenexperiment oder ein role taking in
Form des Einfühlens in den Anderen und dessen Situationswahrnehmung, bloß
umständehalber und unter starkem Fallibilitätsvorbehalt in Kauf nehmen: als Notbehelf,
dessen Ergebnisse riskant hypothetisch sind – kritikbedürftig im Blick auf eine Verständigung
mit den Betroffenen über ihre eigene Situationseinschätzung und ihr Selbstverständnis.
Freilich ist die Prinzipienfrage, ob eine Handlungsmaxime überhaupt argumentativ
zustimmungswürdig sei, in hohem Maße idealisierend. Setzt sie doch voraus, daß alle
Beteiligten wahrhaftig, argumentationseinsichtig und guten Willens sind, also auch bereit, die
zustimmungswürdigen, diskursiv universalisierbaren Normen ausnahmslos zu befolgen. Just
diese regulative Idealisierung müssen Verantwortungsträger nach Maßgabe ihrer jeweiligen
realen Handlungssituation geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistischverantwortungsethisch gewissermaßen einklammern – nicht um sie zu vergessen, sondern um
sie zu differenzieren: Das regulative Ideal, die Normen eines idealisierenden praktischen
Diskurses, ist in folgenverantwortbare, konkrete Handlungsorientierungen umzuarbeiten; und
dabei müssen die situationsbedingten Moralrestriktionen berücksichtigt und konterstrategisch
aufgefangen werden. „Blauäugigkeit“ ist oft unverantwortlich. In der sozialen Wirklichkeit
gilt, daß „gutgemeint“ nur zu oft das Gegenteil von „gutgetan“ bzw. von „verantwortlich“ ist.
Diese erfolgsverantwortliche Lektion gehört vor allem dann unabdingbar zur moralischen
Urteilsbildung, wenn die Urteilenden Verantwortung für anvertraute Schwächere bzw.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
63
Klienten tragen und dabei nicht voraussetzen können, daß sie es de facto einzig mit
moralischen Handlungspartnern und moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben
(werden). Im Alltag kann damit zu rechnen sein, daß ein Gegenüber massiv Eigeninteressen
durchsetzen will und daher nicht zu einer argumentativ dialogischen Bemühung um das
moralisch Richtige bereit ist – oder nur halbherzig. Auch sind in vielen Feldern der
Gesellschaft – von der Bürokratie über die politischen Arenen und die Märkte bis zur Börse –
die Handlungsbedingungen strategisch bzw. strategisch agonal vorstrukturiert. Deshalb
müssen bzw. sollten die Akteure ihr moralisches Vertrauen auf den guten Willen der
Gegenseite bzw. auf moralanaloge Handlungsbedingungen und Institutionen einklammern,
dürfen sich jedenfalls nicht darauf verlassen. Sie sind auf Konterstrategien angewiesen. Wenn
sie diese Notwendigkeit reflektieren, also in ein Diskursverhältnis zu ihren faktischen
Handlungsbedingungen
treten,
stellt
sich
die
situations-
und
prinzipienbezogene
Verantwortungsfrage (7): ,Welche strategischen Gegenmittel bzw. konterstrategischen Mittel
sind
unter
den
gegebenen
moralrestriktiven
Handlungsbedingungen
für
Verantwortungsträger als Diskurspartner zustimmungswürdig und also verantwortbar, auch
wenn sie moralischen Intuitionen der eigenen Person zuwiderlaufen mögen?‘
Überdies ist eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit durchaus mit der politisch von
Max Weber und zukunftsethisch von Hans Jonas, diskursethisch von Karl-Otto Apel und
feministisch von Carol Gilligan geltend gemachten Fürsorge- und Verantwortungsperspektive
vereinbar. Im Blick auf asymmetrische und moralrestriktive bzw. nonmoralische
Handlungsbedingungen fordert diese Perspektive die Bereitschaft zu Konterstrategien und die
Prüfung solcher; müßten sie doch nach Maßgabe der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
rechtfertigbar sein. Wie anders sollten sie als moralisch und daher als verantwortlich gelten
können?
Hier liegt das Problem des, am schärfsten von Max Weber und Karl-Otto Apel eingeforderten,
Übergangs von der „Gesinnungsethik“ zu einer „Verantwortungsethik“. Dieser Übergang
führt zu Belastungen der moralischen Person; ja er kann eine moralische Identitätskrise zur
Folge haben, wofür es bewegende Zeugnisse gibt – nicht zuletzt bei Repräsentanten des
religiösen Ethos oder eines Standesethos (Ärzte, Soldaten).
Es fragt sich jedoch, ob es sich bei diesen unleugbaren Krisen des moralischen
Selbstverständnisses eigentlich um solche auf der metakonventionellen moralischen
Prinzipienstufe (sechs) handelt. Oder begegnen uns hier gesinnungsethische Überhöhungen
einer eingelebten Orientierung an Recht und Ordnung (Stufe vier) oder einer Orientierung am
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
64
Sozialvertrag (Stufe fünf) resp. einer religiösen Bindung an Gottes Gebote? M.E. bezeugen
die moralischen Identitätskrisen der Gesinnungsethiker die inneren Schwierigkeiten,
gegenüber den Stufen 3, 4 und 5 die Autonomie eines konsequent prinzipienethischen Urteils
zu behaupten. Denn diese erfordert eine metakonventionelle Distanzierung nicht allein der
ethischen Konventionen (Stufen 3 und 4), sondern auch der durch einen Sozialvertrag oder
durch einen Glaubensbund mit Gott (i. S. des Inbegriffs der Gerechtigkeit und Liebe)
anerkannten Grundnormen (gemäß Stufe 5 bzw. 51/2). Die moralische Autonomie, die man
sich als möglicher Diskurspartner schon vorausgesetzt hat, bedeutet eine zweifache
Bereitschaft zum kritischen Diskurs: die Bereitschaft zur Geltungseinklammerung aller
konkreten normativen Gehalte und die Bereitschaft zu ihrer Verantwortbarkeitsprüfung
angesichts der gegebenen Situation. Um moralische Autonomie zu praktizieren, bedarf es
einer
dialektischen
Einsicht
und
einer
psychologischen
Selbstdistanz
samt
Konfliktbereitschaft.
Zunächst ist die dialektische Einsicht erfordert, daß ‚wir’ einerseits Urteilende sind, die als
Diskurspartner das ideale Geltungsverhältnis universaler Reziprozität zu allen möglichen
Argumentationspartnern und ihren sinnvollen Diskursbeiträgen anerkannt haben, andererseits
aber Akteure bzw. Rollenträger, die als Verantwortliche den Moralrestriktionen
asymmetrischer Handlungsbedingungen und nonmoralanaloger Verhaltensweisen ausgesetzt
sind bzw. sein können. Die Dialektik dieser beiden ursprünglichen Positionen, in der ‚wir’ uns
hier befinden, ist der Bezugsrahmen der Verantwortungsethik. Denken und praktizieren läßt
sich moralische Verantwortung einzig dann, wenn beide Positionen gleichermaßen
berücksichtigt
werden.
Diskursidealität
ohne
Folgenverantwortungsrealismus
wäre
schwärmerisch und verlöre den konkreten Gegenstand des Diskurses aus den Augen.
Folgenverantwortungsrealismus ohne Diskursidealität wäre zynisch, wüßte nicht, was es
eigentlich zu verantworten gelte und vor welcher Instanz.
Zur Umsetzung jener Dialektik braucht es Selbstdistanz – Abstand von eingelebten ethischen
Orientierungen und Selbstverständnissen. Wer moralisch verantwortlich sein will, benötigt
Raum und Kraft für eine moralstrategische Risiko- und Konfliktbereitschaft. Deren
normativer Sinn besagt: ‚Suche und praktiziere Konterstrategien – auch auf die (wohl selten
auszuschließende) Gefahr hin, daß du etwas bewirkst, was man im nachhinein, in einem
wohlinformierten Diskurs über die Verantwortbarkeit des Getanen bzw. in Gang Gesetzten,
nicht gutheißen und als zustimmungswürdig ansehen kann.’ Ohne die Risikobereitschaft,
praktisch zu irren, auch Gewissensbisse zu erleiden oder im Urteil Anderer schlecht
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
65
dazustehen, gibt es keine couragierte, moralstrategische Tat, keine „freie, verantwortliche Tat
auch gegen Beruf und Auftrag“, wie Dietrich Bonhoeffer formulierte.192
Während auf der Stufe 6 die Diskursfrage einfach lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise
oder Norm im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie überhaupt der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung
finden würde und daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 das situationsbezogene
Realisierungs- und Durchsetzungsproblem dessen, was als eigentlich moralisch richtig
erkannt worden ist. Das Moralkriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als
argumentativer Zustimmungswürdigkeit bleibt in Kraft. Der Blick richtet sich nun aber auf
Handlungsbedingungen, unter denen der Verantwortliche nicht auf die Moralbereitschaft des
Gegenübers und nicht auf eine Moralgemäßheit der Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das
ist das von Karl-Otto Apel so genannte B-Problem der Ethik; es verlangt die Bildung und
Prüfung „moralischer Strategien“.193 Wird dieses Problem durchdacht, dann transformiert sich
die Prinzipienethik von einer Gesinnungs- in eine Verantwortungsethik. Um diesen Überstieg
von der unmittelbaren prinzipienethischen Orientierung zu einer moralstrategisch
gebrochenen Orientierung am Moralprinzip geht es auf Stufe 7.
Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik
des moralischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskompetenz, kann die Frage aufkommen,
ob oder inwiefern derlei auch für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von
Bedeutung
sei.
Die
Antwort
ergibt
sich
daraus,
daß
erst
das
dritte,
das
kommunikationsphilosophische Paradigma im Stande ist, Kohlbergs Idee zu würdigen und
fruchtbar zu kritisieren. Mehr noch, die soeben vorgetragene (und noch abzuschließende)
Auseinandersetzung ist selbst ein signifikantes Ergebnis des dritten philosophischen
Paradigmas, der Kommunikationsphilosophie – und auch ihrer Weiterentwicklung von
Habermas’ Rekonstruktion des Idealtyps ‚kommunikatives Handeln‘ zu einer sokratischen
Reflexion auf ,uns‘ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird
deutlich, wenn wir auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste
Auseinandersetzung mit Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren
zurückblicken.
192
D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. v. E. Bethge,
München 111962 (zit.: Widerstand), S. 14.
193
K.-O. Apel, Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?, in:
Funkkolleg Studientexte (1984), III, bes. S. 624-634. Ders., Diskurs (1988), S. 256ff, 265ff und 299f; ders.,
The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially
Today, Leuven 2001 (zit.: The Response (2001)), S. 77ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
66
Jürgen Habermas hat auch dank seiner intensiven, kundigen Auseinandersetzung mit
Lawrence Kohlberg Wissenschaftsgeschichte gemacht. So gab er 1976 den Anstoß zu einer
kommunikationsbezogenen Reformulierung von Kohlbergs höchster Stufe. Er argumentierte,
daß von einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit strenggenommen erst dann die Rede sein
kann, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen „nicht mehr nur innerhalb eines durch kulturelle
Überlieferung naturwüchsig fixierten Interpretationsrahmens nach einem monologisch
angewendeten
Prinzip
der
Verallgemeinerung
überprüft“
und
damit
die
Bedürfnisinterpretationen „nicht länger als gegeben angenommen, sondern in die diskursive
Willensbildung einbezogen werden“194. Im Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß
Kohlberg, wenn er die Stufe 6 durch Kants Kategorischen Imperativ erläutert, auf das einsame
Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe: „Der Einzelne überlegt sich, ob seine
subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar sind [...], aber er berät sich nicht mit
anderen darüber“. So schließe Kohlbergs Definition der Stufe 6 noch nicht die
(entscheidende)
„Forderung
einer
zwischen
allen
Betroffenen
zu
vollziehenden
Verständigung“ über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein.195
Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel (1980) aus dieser moraltheoretischen
Erkenntnis eine falsche entwicklungslogische Konsequenz gezogen. Beließen sie doch
Kohlbergs Stufe 6 als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen
Gewissensethik und fügten dieser dann – im Sinne einer „universalen Sprachethik“ – noch
eine siebente Stufe der „universalistischen Bedürfnisinterpretationen“ als höchste Stufe
hinzu.196 Doch ergibt es keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn
Kohlbergs
Bestimmung
der
Urteilsstufe
6
das
entwicklungslogische
Telos
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit offensichtlich unterbietet – also das Moralprinzip
fehlerhaft ansetzt.
Außerdem ist auch der Geltungsanspruch eines Gewissensentscheids ein Anspruch auf
Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt,
wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, vielleicht nicht realisieren
läßt. Daher sieht sich der Urteilende/Handelnde zu einer kommunikationsentlasteten, mehr
oder weniger einsamen Urteilsbildung genötigt. Sein Geltungsanspruch ist aber, „nach bestem
Wissen und Gewissen“ zu urteilen. Damit hat er die Verpflichtung anerkannt, sich auch um
194
J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 88 und 87.
195
K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen
des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“
im Jahre 1980), S. 62.
196
J. Habermas, a.a.O., S. 83 und 84f; vgl. K.-O. Apel, a.a.O., S. 62f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
67
das beste Wissen zu bemühen.197 Und das beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen
gewinnt man durch Kommunikation mit den Betroffenen, das zweitbeste durch Methoden der
Interpretations- und Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht
mögliche Gespräch über den Sinn dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt
bzw. gewollt haben, durch sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht.
Das hermeneutische Regulativ bleibt die Idee der Verständigung mit den betreffenden
Anderen: die regulative Idee der „Verständigungsgegenseitigkeit“ (Böhler).198
Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann
muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert
werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden (Kommunikation auf
Stufe
7)
wäre
Flickschusterei.
Die
mithin
erforderliche
verständigungsbezogene
Reformulierung der Kohlbergschen Stufe 6 müßte zudem zwei verschiedenartige
Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des praktischen Diskurses
zusammenwirft. Das ist einmal die Gegenseitigkeit der Verständigung über den Sinn anstelle
eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse angewiesenen monologischen Verstehens. Das
ist außerdem die Gegenseitigkeit der Geltung von Gründen, worauf die diskursive Prüfung
zielt. In einem ersten Schritt geht es um die kommunikative Sinnermittlung als Verständigung
zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen über ihre Interessen und ihre
Situation. Zu fragen ist zunächst: „Was ist der Sinn der Handlungsweise und der
dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N. N.? Was wollen die
Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?“
Erst dann, wenn wir durch direkte Kommunikation oder hermeneutische Verfahren dieses
Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder praktischen
Diskurs im engen Sinne zu führen. Strenggenommen ist der praktische Diskurs erst der zweite
Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: „Was sollen wir (im Sinne der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren
Interessen und Werten so-und-so beschaffen ist?“ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun
wieder möglichst kommunikativ geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt, im
Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Im Diskurs geht es um die
Bestimmung der „Geltungs-Gegenseitigkeit“ der Gründe für/gegen eine Handlungsweise.
197
Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G.H. Meads Beziehung des
Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf hin
und sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar:
D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte
(1984), II, bes. S. 347-350; ders., Rek. Pragm. (1985), S. 339ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
68
Aus unseren Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs Idee
einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen
Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle
wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslogisch tragenden Säule
(„Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau“) dargestellt.
198
Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, S. 276, vgl. 274ff und in Bd.
III, S. 858f.
Diskursebene
verfahren
Rechtsnormen bzw. –
funktionale Autorität u.
Bezug auf
konkrete Werte/Normen
persönliche Autorität und
Konventionell: Bezug auf
II
Strategismus
Vorkonventionell: Egoismus
I
Gegenseitigkeit (do ut des)
Instrumentell relativistische
(gut ist, was mir nützt)
Belohnung bzw. Freiheit von Strafe
(normativen) Anderen
Gegenseitigkeit des generalisierten
Ordnungs- und Rechtsbewußtsein:
Anerkennung und
von Erwartungen in ,unserer’Gruppe
Institutionenloyalität
Normensystem →
Fürsorge
gruppenbezogene
Rollen →
gemäß Bezugsgruppe: Gegenseitigkeit
Soziale Identität und Anerkennung
Reifungskrise: zur Autonomie mitsamt Folgen- und Strategie-Verantwortung („Krisenstufe 4½“)
sozialer Ordnung um ihrer selbst willen
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und
den Rollen ,unserer‘ Gruppe
3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden in
Handlungsweise
Je meine/deine
mein Bedürfnis
Je deine Handlung, je
Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau Bezugspunkt
Reziprozität von Gehorsam –
Reifungskrise: zur Anerkennung der Anderen und der Sozialität
Tauschperspektive
2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit egoistischer
durch egozentrische Machtkonformität
1 Orientierung durch Ego-Intuitionen/Lustgewinn und
Stufe der Orientierung
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils:
Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
69
mögliche Regressionstendenzen
19, 18; 5. B. 5 u. 6; Propheten, z.B. Micha 6,8; Hillel und
Jesus)
und Zustimmungs-
würdigkeit (für alle) von
Handlungsweisen
Verallgemeinerbare Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit unter
(möglichen) Diskurspartnern
einsamem Test der Verallgemeinerbarkeit zum Dialog-
Moralprinzip ‚D’: „Ist die Maxime M aufgrund von
Verständigungs-Gegenseitigkeit und in rein
Erfolgsbezogene
Moral- und
Zukunftssorge gemäß
argumentative Zustimmungswürdigkeit im Blick auf nonreziproke
Handlungsbedingungen
Erfolgsstrategie X zur Durchsetzung der Maxime M
moralisch noch verantworten?’
‚D’
wortungsprinzip →
moralischen Gesinnungsmaximen (6):
Moralrestriktionen: ‚Können wir als Diskurspartner die
7 Ausgang von (6) mit Blick auf faktische
Diskursverant-
berücksichtigen!
gleichermaßen
alle Rechtsansprüche
Diskurs-Gerechtigkeit:
Menschenwürde und
Moralprinzip ‚D’ →
bzw. Goldene Regel
und Nächstenliebe
bare Gebote Gottes
Diskurs-Autonomie gegenüber
argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?“
mit Autonomie gegenüber 3 bis 5½,
Kommunikative Diskurs-Einstellung
Korrelation mit Gott, dem Gerechten
Verpflichtungen von 3 bis 5:
gegenüber Eigeninteressen und
Moralprinzip: Vom „Kategorischen Imperativ“ als
6 Orientierung am Gewissen und am universalen
dem Gerechten und Liebenden (z. B. Mose 2. B., 20; 3. B.
Werten/ Normen/
grundsätze
Gesetz: Vertragspartnerschaft
Als gerecht einseh-
Sozialvertrags-
Verfassungs- bzw.
Verbindlichkeit von Konvention und
Politische Autonomie gegenüber der
5½ Orientierung an Kult- u. Sittenvertrag („Bund“) mit Gott Theonomie mit partieller Autonomie
Nutzens ,unserer‘ Gesellschaft (Gemeinwohl)
5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i.S. des
Einsehbarkeit (für mich)
oder Diskurse über die
Gedankenexperimente
Metakonventionell:
III
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
70
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Die
hier
vorgeschlagene
Entwicklungslogik
71
reformuliert
Kohlbergs
Schema
in
diskursverantwortungsethischer Sicht. Diese Reformulierung hat gegenüber dem Urbild vier
Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des „Postkonventionalismus“, zudem kann sie
das genuin moralische Niveau der hebräisch-biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½).
Drittens
bestimmt
verallgemeinerbare
sie
das
moralische
Gegenseitigkeit,
so
Prinzipienniveau
daß
auch
das
der
Stufe
6
strikt
Beurteilungsverfahren
als
nicht
monologisch sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an
die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment
durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung
an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht
und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist,
wird durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die Tendenz zu
einer gesinnungsethisch idealistischen Anwendung des moralischen Prinzipienurteils
aufgehoben. Die vierte Errungenschaft ist sozusagen das „Überlegungsgleichgewicht“ von
Kommunikation,
prinzipiengeleitetem
Verantwortungsdiskurs:
konterstrategische
Die
realistische
Erfolgsgesichtspunkt
Idealdiskurs
und
real
Zukunftsverantwortung
ernüchtert
die
folgenbezogenem
konkretisiert,
Orientierung
an
der
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die
Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden
können, zeigt Kohlbergs Sukzession der Urteilsentwicklung: das Moralischwerden ist ein
Bildungsprozeß der sich aufstufenden Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Im
Laufe der Sozialisation, der Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung differenziert sich
die faktische Orientierung bei Normenkonflikten derart, daß die Urteilenden die Frage, was
‚moralisch’ heiße, im Sinne einer stufenweise allgemeineren bzw. umfassenderen
Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit) beantworten. Kohlbergs Antwort auf die Entstehungsbzw. Wie-Frage der Moral lautet also: Man wird moralisch, indem man zunächst – auf der
vorkonventionellen und dann der konventionellen Ebene – die Frage, was moralisch zu sein
heiße, in Form einer zunehmend umfassenden und abstrakten Gegenseitigkeit zu beantworten
lernt.
Dann erfolge der Einschnitt der Krisenstufe 4½, der Sprung auf die „postkonventionelle“
Urteilsebene. Hier wird nach Kriterien, nach Grundsätzen dafür gesucht, warum eine
Gegenseitigkeitsorientierung als moralisch gelten soll. Die Was-Frage verwebt sich mit der
Warum-Frage. Ja, sie wird nun im Lichte der Begründungs- bzw. Warum-Frage gestellt. Die
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
72
Antworten stufen sich jetzt so auf, daß progressiv allgemeine und abstrakte Grundsätze ins
Spiel kommen; und zwar
Stufe 5: Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf die
Angehörigen ‚unseres’ politischen Verbandes, z.T. mit Menschenrechten
Stufe 5 ½: Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und
Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen,
Stufe 6: Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und Sich-Orientieren am Prinzip der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit,
Stufe
7:
Sich-Distanzieren
von
einem
gesinnungsethischen,
harmonistischen
und
konkretistischen Verständnis des Moralprinzips und von der Ausschließlichkeit der rein
dialogisch kommunikativen Einstellung, statt dessen Sich-Einlassen auf moralstrategische
Situations-
und
Folgen-Diskurse,
deren
Ergebnisse
aber
dem
Dialogprinzip
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit genügen sollen.
Die Stufen 6 und 7 eröffnen zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Sie ermöglichen es
den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren Anspruch auf
Urteilsautonomie, sprich: auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch Beantwortung
der prägnanten Frage „Warum moralisch sein?“ Es ist dies eine doppelte Frage, nämlich die
wertethische Frage der Selbstmotivation: „Warum will ich eigentlich moralisch sein?“ und die
normative Frage der Verbindlichkeitserkenntnis: „Warum soll ich (begründeterweise)
moralisch sein?“ Denn auf der sechsten Stufe und mit situations- sowie zukunftsbezogener
Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden – im Zuge einer sokratischen
Besinnung auf ihre Ansprüche als Diskurspartner – folgende Antworten:
‚Ich, der ich mit Anspruch auf Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um VerständigungsGegenseitigkeit und um Geltungs-Gegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt
habe, daß andere Orientierungen mit meinen Ansprüchen, ein autonomer Diskurspartner zu
sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine Diskursglaubwürdigkeit und damit auch
meine moralische Identität zerstören würden.’
Wenn skeptisch nachgefragt wird, warum man diese moralische Wertorientierung wählen und
warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung
auf die eigene Diskurspartnerrolle – diese Antwort:
‚Ich würde mir selbst praktisch unverständlich und verlöre gegenüber anderen meine
Glaubwürdigkeit, meinen moralischen Kredit, den ich als Diskurspartner in Anspruch
genommen habe, wenn ich in Zweifel zöge, daß ich, ein Diskurspartner, die Pflicht habe,
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
73
meine Urteilsbildung und mich selbst an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu
orientieren. Also sehe ich ein, daß ich eben das tun soll.’
Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur bzw. der von dir zu
beurteilende Akteur moralwidrige Bedingungen vorfindet oder solche Handlungsnebenfolgen
nicht ausschließen kann, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren Menschenwürde in
Frage stellen, dann stehst du, Diskurspartner, vor dem verantwortungsethischen Dilemma der
Stufe 7: Du benötigst jetzt eine moralische Strategie für die du in realer Kommunikation mit
allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit) keinen Konsens finden kannst; doch ist
ein strategisches Handeln deiner dialogischen Moralgesinnung zuwider, weil du die
Autonomie Anderer strikt achtest und niemanden ‚hintergehen’ willst.
Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument sucht, mithin letztlich die
Geltungsgegenseitigkeit in einer idealen Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten
und moralischen Diskurspartner, ob du es sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d.h.
rechtfertigen und daher sollen kannst, die nötige Entscheidung für eine jetzt nicht
konsensfähige Strategie zu umgehen. Bald wirst du einsehen: du kannst diesen bequemen
Weg
nicht
ernsthaft
wollen.
Denn
er
ist
unvereinbar
mit
deiner
moralischen
Prinzipienorientierung, weil diese die Übereinstimmung deiner Handlungsweise bzw. deines
Urteils mit der Geltungsgegenseitigkeit verlangt und damit deren Akzeptanz in einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft.
Das,
was
in
letzter
Instanz
zählt,
das
letztlich
ausschlaggebende Kriterium, ist nicht die faktische Zustimmung seitens deiner real gegebenen
Kommunikations-, sondern die Zustimmungswürdigkeit einer idealen, unbegrenzten
Argumentationsgemeinschaft. Freilich verlangt diese strikte Orientierung am DialogMoralprinzip die Zivilcourage, sich von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu
distanzieren, und ebenso die Gesinnungscourage, im Gegenzug zur unmittelbaren Moralität
sich auf eine moralische Strategiebildung einzulassen und das reale Gegenüber zu
hintergehen. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen Egoismus: du würdest im
Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein gesinnungsethisches Moralund Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten, darüber aber deine moralische
Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein argumentativen Diskursen
(konsequente Stufe 6) fahren lassen.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Weiterhin gilt: Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner
moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht
vorschlagen, wollen oder tun. Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners
unverträglich ist, das darf er nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse
führen und soll eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage
kommt bloß eine Strategie, von der er – gemeinsam mit den ernsthaften Diskurspartnern,
denen er vertrauen kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß
sie in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft Zustimmung finden würde.
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