1 Einleitung: Hegels Bestimmung des Naturschönen

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Karsten Berr
Hegels Bestimmung des
Naturschönen
Inhalt
1
2
3
4
5
Inhalt ................................................................................................................... I
Vorbemerkung .................................................................................................. III
Einleitung: Hegels Bestimmung des Naturschönen .......................................... 1
Geist und Natur .................................................................................................. 10
2.1
Der gemeinsame Ansatz von Natur- und Geistphilosophie ......................... 12
2.2
Hegels Bestimmung des „Geistes“............................................................... 15
2.2.1 Der Begriff des Werks und die Fundierung der theoretischen in der
praktischen Vernunft.................................................................................... 18
2.2.2 Der Begriff des Geistes................................................................................ 22
2.2.3 Subjektiver Geist als Grundlage des Naturvollzuges................................... 27
2.2.4 Objektiver Geist als Grundlage der Bestimmung des WerkCharakters des ästhetischen Naturvollzuges................................................ 30
2.3
Hegels Naturbegriff...................................................................................... 33
2.4
Objektiver und absoluter Geist als Grundlage der Bestimmung des
Kunstwerks................................................................................................... 40
Ideal und Naturschönes ..................................................................................... 46
3.1
Die Idee der Schönheit ................................................................................. 52
3.2
Das Ideal ...................................................................................................... 56
3.3
Das Ideal als Kunstwerk............................................................................... 63
3.4
Das Naturschöne als geistig vermitteltes Schönes ....................................... 66
3.5
„Natur“ oder „Geist“ als Maßstab der Kunst? ............................................. 72
Schöne Natur....................................................................................................... 79
4.1
Das Konzept einer „gebildeten Anschauung“.............................................. 81
4.2
Betrachtung schöner Natur........................................................................... 84
4.2.1 Organisiertheit der Natur als Grund ihrer Schönheit ................................... 85
4.2.2 Anschauungsgewohnheiten als Grundlage der Schönheit des
Natürlichen................................................................................................... 90
4.2.3 Teilaspekte als Leitfaden der Betrachtung................................................... 95
4.2.4 Sinnvolle Anschauung ................................................................................. 96
4.2.5 Abstrakte Form und abstrakter Stoff ........................................................... 99
4.2.5.1 Die abstrakte Form.............................................................................. 102
4.2.5.2 Der abstrakte Stoff .............................................................................. 105
4.2.6 Fazit ........................................................................................................... 106
Exkurs: Hegels Kritik ästhetischer Kriterien im Kontext der
Ästhetikentwicklung ............................................................................ 108
4.3
Von der Betrachtung zur Darstellung schöner Natur................................. 112
4.4
Darstellung schöner Natur ......................................................................... 115
4.4.1 Kunst als Symbol des Geistes und die Kunstformen ................................. 116
4.4.2 Natur als Symbol des Göttlichen ............................................................... 120
4.4.2.1 Erhabene Naturgestalten des Göttlichen ............................................. 120
4.4.2.2 Menschliche Gestalt als Naturgestalt des Göttlichen.......................... 125
4.4.3 Von der Natur als Symbol des Göttlichen zur Natur als Symbol des
Menschlichen ............................................................................................. 127
Naturdarstellung als schöne „Landschaft“ .................................................... 132
5.1
Anschauung schöner Landschaft ............................................................... 133
5.1.1 Zur Vorgeschichte der Landschaftsanschauung ........................................ 134
5.1.2 Landschaftsanschauung als gestaltete Anschauung................................... 145
I
5.1.3 Hegels Kritik an der Landschaft als Stimmungskulisse ............................ 149
Exkurs: Kritik des „Atmosphärischen“ in der Landschaft.............................. 162
5.2
Darstellung schöner Landschaft als Symbol des Menschlichen ................ 167
5.2.1 Landschaftsmalerei .................................................................................... 168
5.2.1.1 Zur gestalteten Anschauung in der Landschaftsmalerei ..................... 169
5.2.1.2 Kulturlandschaft als „objektiver Geist“ .............................................. 174
5.2.1.3 Niederländische Landschaftsmalerei als „Symbol der
Sittlichkeit“ .......................................................................................... 184
5.2.1.4 Landschaftsmalerei im Kontext: Carus, Hotho, von Rumohr............. 186
5.2.2 Gartenkunst................................................................................................ 197
Exkurs: Goethes Abwendung vom Landschaftsgarten ................................... 201
5.2.3 Idyllendichtung .......................................................................................... 203
5.2.3.1 Landschaftsmalerei, Idylle und Landschaftsgarten............................. 204
5.2.3.2 Hegels Kritik der Idylle ...................................................................... 207
Exkurs: Adornos Sehnsucht nach dem Paradies............................................. 213
Fazit .............................................................................................................. 221
6 Rückblick: Hegel vs. Hotho - oder die Kontroverse um die
systematische Bedeutung des Naturschönen................................................ 226
Quellenverzeichnis.......................................................................................... 233
Literaturverzeichnis ........................................................................................ 240
Erklärung......................................................................................................... 256
II
Vorbemerkung
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008/2009 von der Fakultät
für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen als
Dissertation im Promotionsfach Philosophie angenommen.
Für die wissenschaftliche Betreuung meiner Dissertation danke ich an erster
Stelle Frau Professor Dr. Annemarie Gethmann-Siefert (FernUniversität in
Hagen), die die Erstbegutachtung übernommen hat. Herrn Professor Dr. Otto
Pöggeler gilt mein Dank für die Übernahme des Korreferats.
Bei der FernUniversität in Hagen bedanke ich mich für die Förderung meiner
Arbeit im Rahmen des Forschungsschwerpunktes zur Ästhetik des deutschen
Idealismus und durch ein dreijähriges Promotions-Stipendium (2001-2004).
Im Rahmen dieses Forschungsprojektes hatte ich Gelegenheit, aus
Diskussionen mit Priv.-Doz. Dr. Elisabeth Weisser-Lohmann (Hagen), Frau
Dr. Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hagen) und Frau Dr. Francesca Iannelli
(Rom) wertvolle Hinweise für meine Arbeit zu erhalten und auf einer Reihe
wissenschaftlicher Kolloquien Teile meiner Überlegungen vorzustellen. Nicht
zuletzt gilt mein Dank der DFG, die mir durch ein Forschungsprojekt
„Erstellung einer kritischen Studienausgabe der Hegelschen Vorlesung zur
Ästhetik aus dem Wintersemester 1828/29“ unter der Leitung von Professor
Dr. A. Gethmann-Siefert und Priv.-Doz. Dr. Elisabeth Weisser-Lohmann
ermöglichte, meine Arbeit im umfassenden Rahmen der Forschung zur
Hegelschen Ästhetik durchzuführen und abzuschließen.
Edewecht, im Januar 2009
III
1
Einleitung: Hegels Bestimmung des
Naturschönen
Eine Forschungsarbeit, die sich mit Hegels Bestimmung des Naturschönen
beschäftigt, muß sich zunächst mit der gängigen Hegelinterpretation
auseinandersetzen, die davon ausgeht, daß Hegel das Naturschöne in seiner
Ästhetik nur marginal berücksichtigt hat. Dieses Urteil stützt sich auf die
bekannte Textgrundlage der Hegelschen Vorlesungen über die Ästhetik, die
Hegels Schüler H.G. Hotho nach dessen Tod auf der Basis des Hegelschen
Manuskripts zur Vorlesung sowie einer Reihe studentischer Nachschriften aus
den vier Berliner Ästhetikvorlesungen zusammenstellte und veröffentlichte.
In der Forschung der letzten Jahrzehnte wurde gezeigt, daß der Drucktext der
Ästhetik nicht nur die vom Herausgeber genannten Quellen berücksichtigt,
sondern eine ganze Reihe von Einschüben enthält, die offensichtlich Eingriffe
des Herausgebers darstellen und auf dessen eigene, nach Hegels Tod
übernommene Ästhetikvorlesung sowie auf zahlreiche gleichzeitig mit der
Arbeit an der Ästhetik-Edition entstandene Publikationen zurückgehen.1
Inzwischen liegen mit verschiedenen publizierten Nachschriften der Berliner
Ästhetikvorlesungen Texte vor, die ein anderes und differenzierteres Bild
nicht nur der Hegelschen Bestimmung der Künste, der systematischen
Konzeption seiner Ästhetik, sondern auch der Einschätzung des Naturschönen
vermitteln2.
In den Vorlesungsnachschriften zu Hegels Ästhetik überrascht trotz des
grundsätzlich
Kunstschönen
anderen
die
Ansatzes
der
Differenziertheit
Philosophie
der
Analyse
der
Kunst
beim
unterschiedlicher
Naturvollzüge, mit der Hegel auf der Basis seines in der Naturphilosophie
1
2
Am deutlichsten zeigen dies Hothos 1835 zusammen mit der Hegelschen Ästhetik erschienenen
Vorstudien für Leben und Kunst (H.G. Hotho. Vorstudien für Leben und Kunst. Hrsg. und
eingeleitet von B. Collenberg-Plotnikov, Stuttgart-Bad-Cannstatt 2002 [Spekulation und Erfahrung
I,5]) und die Edition einer Nachschrift seiner Ästhetikvorlesung von 1833 (Hotho, Heinrich
Gustav: Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst. Berlin 1833.
Nachgeschrieben und durchgearbeitet von Immanuel Hegel. Hrsg. und eingeleitet von Bernadette
Collenberg-Plotnikov. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 [Spekulation und Erfahrung I,8]; im folgenden
zitiert als Immanuel Hegel 1833). Bereits früher wurde in einer Reihe von Einzelstudien die
Diskrepanz zwischen Hegels eigenen Publikationen, den Nachschriften der Ästhetikvorlesungen
und der Druckfassung der Ästhetik nachgewiesen. Vgl. im Überblick die systematische Studie von
A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels
Ästhetik, Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25).
Siehe dazu das Quellenverzeichnis.
1
entwickelten Naturbegriffs das Naturverhältnis in der Vielfalt historischer und
kultureller Varianten zu erfassen und zu begreifen sucht. In der Wahl des
Kunstschönen als Ansatz der Ästhetik geht es Hegel nicht um eine Abwertung
des Naturschönen, sondern um einen Ausgangspunkt, der Kunst und
Schönheit auf menschliches Handeln bezieht und von da ausgehend sowohl
die gängige Bestimmung der Kunst als Nachahmung der Natur vermeidet als
auch eine indirekte Bedeutung des Naturschönen erschließt.
Das weitverbreitete Vorurteil, Hegel habe das Schöne der Natur in seinen
Ästhetikvorlesungen deshalb abgewertet, weil er die Natur gegenüber dem
Kunstschönen grundsätzlich gering schätzt, verhinderte in der Regel, die
Frage nach der Bedeutung des Naturschönen in Hegels Ästhetik überhaupt
vorurteilslos zu stellen. Exemplarisch für diese Kritik der Hegelschen
Ästhetik ist Adornos Bemerkung über den „finstere[n] Schatten des
Idealismus“, der das Naturschöne „verdrängt“ habe, so daß es „verlischt, ohne
daß es im Kunstschönen wiedererkannt würde“3. Den Grund für diese
Verdrängung und Verkennung des Naturschönen sieht Adorno in einer
„Usurpation des Subjekts“, die es mit sich bringt, daß neben dem „breite[n]
und schmutzige[n] Hauptstrom des Geistes“4 alles Naturschöne bedeutungslos
wird.5 Das Verhältnis von Geist und Natur wird als hierarchische
Unterordnung der Natur unter den Geist gedeutet, ohne Hegels Bestimmung
des Geistes wie der Natur im Einzelnen zu beachten.
Die hier entwickelte Analyse der Bestimmung des Naturschönen geht
gegenüber der bisherigen Kritik von einer genauen Bestimmung des
Verhältnisses
3
4
5
2
von
„Geist“
und
„Natur“
in
den
entsprechenden
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1992, 99, 98, 119.
Ebd., 99.
Hartmut Böhme hat Adornos Kritik wieder aufgegriffen, indem er Hegel vorwirft, die Natur bzw.
das Naturschöne zum Spiegel narzißtischer Selbstbespiegelung des Geistes zu degradieren: „Das
Hegelsche Naturschöne bleibt im Bann des Spiegels jener Quelle, über die Narziß sich beugt, sein
Bild im Anderen begehrend, ohne doch sich darin haben zu können. […] So arrangiert Hegel die
Dialektik von Natur und Geist zu einem Triumph des im Anderen sich vollendenden Subjekts.“
(Hartmut Böhme: Natürlich/Natur, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in
sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Bd. IV, Stuttgart 2002, 432-498; 493). - Sowohl bei
Böhme als auch bei Adorno bleibt die Bedeutung des Naturschönen unklar: Adorno identifiziert
das Naturschöne gelegentlich mit „Natur“, faßt es als Landschaft auf, oder er rückt es in eine Nähe
zum „Naturgefühl“ – letztlich aber charakterisiert er das Naturschöne durch Merkmale, durch die
er vorab das Kunstwerk definiert hat (Vgl. hierzu auch Norbert Schneider: Adornos Theorie des
Naturschönen, in: Frankfurter Schule und Kunstgeschichte, hg. von Andreas Berndt, Peter Kaiser,
Angela Rosenberg und Diana Trinkner, Berlin 1992, 59-67, insbes. 62). Adorno schließt damit von
Kunst- auf Naturvollzüge und verfährt selbst auf die Weise, die er bei Hegel kritisiert. Böhmes
Kritik richtet sich gegen Hegels Höherstufung des Geistes gegenüber der Natur, nicht vordringlich
gegen den Ausschluß des Naturschönen aus der Ästhetik.
philosophischen Bestimmungen beider aus. Wichtig für die Einschätzung der
„Höherstufung“ des Geistes gegenüber der Natur ist die Tatsache, daß Hegel
seine Bestimmung des Geistes und der Natur nicht isoliert vom menschlichen
Erkennen und Handeln, sondern aus diesem Zugang gewinnt. Der
menschliche „Geist“ läßt sich nur aus Werken, d.h. in menschlichen
Kulturleistungen
erschließen.
Auch
zur
„Natur“
gibt
es
keinen
voraussetzungsfreien Zugang. Obwohl sie zunächst als etwas dem „Geist“
objektiv Vorgegebenes und damit von menschlichen Kulturleistungen
Unabhängiges erscheint, ist „Natur“ nur als menschlich angeeignete Natur
zugänglich - d.h. begreifbar, erkennbar, wahrnehmbar, darstellbar -, nicht
hingegen als Natur „an sich“. Letztlich kann das Verhältnis von „Geist“ und
„Natur“ nur aus der Analyse von Handlungsformen (Praxen), d.h. aus einer
gleichsam transzendentalen Analyse der mitgesetzten Voraussetzungen dieser
Praxen adäquat philosophisch begriffen werden. Zu diesen Handlungsformen
zählen nicht nur Handlungen im engeren pragmatischen, poietischen oder
moralischen Sinn, sondern auch die theoretischen Formen, wie etwa
Anschauung und Wahrnehmung, die nicht lediglich passiv etwas aus einer
objektiv vorliegenden Wirklichkeit herausgreifen und mental widerspiegeln,
sondern
ebenfalls
als
aktive
Konstitutionsleistung
menschlicher
„Subjektivität“ (Kant) bzw. des „Geistes“ (Hegel) aufzufassen sind. Das aber
heißt vorläufig: Erst aus der Perspektive der Philosophie des Geistes lassen
sich unterschiedliche menschliche Kulturleistungen wie auch unterschiedliche
Naturzugänge bestimmen, die in den Wissenschaften, in individuellen
Naturbetrachtungen sowie in Kunst, Religion und Philosophie näher
analysiert bzw. in spezifischem Sinn vorausgesetzt werden.
Für Hegel liegen in der Naturerfahrung wie dem Erkennen im Sinne Kants
„Handlungen des Denkens“6 vor. Als ‚Stammvater’ dessen, was hier
„Vollzugsanalyse“ genannt wird, kann daher Kant genannt werden, der in
seinen drei Kritiken die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und
Erkenntnis sowie von Moral und Kunst, d.h. von Erfahrungs-, Erkenntnisund wissenschaftlichen sowie von moralischen, sittlichen und ästhetischen
Vollzügen analysiert und expliziert hat.
6
Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Vorrede. In: Kants Werke.
Akademie-Textausgabe. Bd. IV, Berlin 1968, 472.
3
Das heißt, sowohl die Bestimmung der Natur als auch des Geistes muß
sich im Sinne des versteckten oder „geheimen“ Kantianismus in der
Hegelschen Philosophie als Analyse des menschlichen Vollzuges (Erkennen
wie Handeln) durchführen lassen, dessen transzendentale Bedingungen
konstitutiv für die Erkenntnis des objektiv Gegebenen wie für die Geltung der
subjektiven Setzungen sind. Hegel hat diesen Zusammenhang in der
Phänomenologie des Geistes von 1807 im Rahmen einer „Wissenschaft der
Erfahrung des Bewußtseyns“ mit den Bestimmungen „Wissen“ und
„Wahrheit“ rekonstruiert und weitergeführt.7 Zunächst geht er - wie Kant davon aus, daß es für Erkenntnis keinen außerhalb des Bewußtseins
vorausgesetzten Maßstab gibt, der die Wahrheit (der Gegenstand bzw. das
„Objekt“ der Erkenntnis) des Wissens (der Begriff bzw. das „Subjekt“ des
Gegenstandes der Erkenntnis) garantieren könnte. So bleibt nur der Weg
offen, den Maßstab im Bewußtsein selbst zu finden. Die gesamte
Phänomenologie
führt
dieses
Programm
einer
Selbstprüfung
des
Bewußtseins8 auf dem Weg der Konstitution der Wahrheit im Erkennen wie
Handeln im einzelnen durch.
Hier ist zunächst nur der formale und methodische Ansatz interessant, den
Hegel in der Natur- und Geistesphilosophie und von da ausgehend in der
Bestimmung der Bedeutung des Naturschönen in der Philosophie der Kunst
beibehält. Es geht um ein Begreifen und Erschließen der Welt und Natur
durch „Vollzugsanalyse“. Dieser Begriff wird zwar an die Hegelsche
Philosophie gewissermaßen von außen herangetragen, gibt aber einen
methodischen Schlüssel an die Hand, um von Hegels Bestimmung der Natur
und des Geistes sowohl die in den Ästhetikvorlesungen auch - und zwar
indirekt - mitentwickelte Theorie des Naturschönen und des Verhältnisses von
Kunst und Natur differenziert zu entwickeln, als auch die gängige Kritik zu
7
8
4
Auf die kontroversen Deutungen der Berechtigung und Tragweite einer solchen Verortung des
Hegelschen Denkens kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Einen Überblick
auf die Problem- und Diskussionslage bietet Ch. Halbig: Objektives Denken. Erkenntnistheorie und
Philosophy of Mind in Hegels System, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 21-29. - Ein Beispiel dafür,
wie man Hegels philosophische Analysen im Lichte der transzendentalphilosophischen Methode
rekonstruieren kann, ist der Aufsatz von R.P. Horstmann: Der geheime Kantianismus in Hegels
Geschichtsphilosophie. In: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre
Logik. Hrsg. von D. Henrich und R.P. Horstmann, Stuttgart 1982, 56-71.
Vgl. ‚programmatisch’ GW 9, 53-62.
entkräften, Hegel habe das Schöne der Natur aus Gründen seines
systematischen Dogmatismus nicht schätzen können.9
Wenn Hegels Verbindung zwischen einer Philosophie des Geistes und der
Natur
im
Sinne
einer
solchen
Vollzugsanalyse
eine
gemeinsame
Auslegungsbasis haben, kann eine differenzierte Analyse des Hegelschen
Begriffs des „Geistes“ zeigen, welchen Leistungssinn Hegel dem „Geist“ und
welche Bedeutung er der „Natur“ zuspricht. In der Gegenüberstellung von
„Geist und Natur“ (Kap. 2) wird daher zunächst Hegels Konzeption des
Geistes näher analysiert, um die begrifflichen Grundlagen für die
Erschließung des Naturvollzugs sowie des Kunstwerks bereitzustellen. Auf
diese Weise läßt sich die Bestimmung des Naturschönen von der des
Kunstschönen ableiten. Um es kurz vorweg zu sagen: Das Naturschöne zeigt
eine Weise des Naturvollzugs durch den Menschen an. „Schöne Natur“, die
Zuschreibung von Schönheit an Natur wie Darstellung der Natur, wird daher
in Analogie zum Kunstvollzug zu erschließen sein, denn die „Schönheit“ ist
entweder durch Wiedergabe eines Natureindrucks in der Kunst oder in einem
sonstigen spezifischen Vollzug der Natur qua gesehene Natur konstituiert.
Insoweit ist für Hegel das Schöne der Natur - wie für Kant das Erhabene der
Natur - kein objektiv Vorliegendes, sondern ein durch den subjektiven (für
Hegel „geistigen“) Vollzug Gesetztes.
Die Möglichkeit einer ästhetischen Theorie des Naturschönen hat daher
zunächst eine Bestimmung des Kunstschönen zu entfalten. In Analogie zum
Begriffspaar „Geist und Natur“ kann das Verhältnis von Kunstschönem und
Naturschönem dann präziser als Verhältnis von „Ideal“ und Naturschönem
9
Der Terminus „Vollzugsanalyse“ wird von C.F. Gethmann übernommen, der ihn im Rahmen einer
transzendental-phänomenologisch orientierten Heidegger-Deutung u.a. unter Rückgriff auf
Wittgenstein näher erläutert hat: „In Anspielung auf die Wittgensteinische ‚Gebrauchstheorie’ der
Bedeutung kann man von einer ‚Vollzugstheorie’ der Bedeutung sprechen. Sie beinhaltet, daß die
Bedeutung eines Ausdrucks kennt, wer letztlich den Vollzug kennt, in dem der Gegenstand gehabt
ist, dem der Ausdruck zugesprochen wird. Das Primäre ist also ‚das Haben des Gegenstands’, die
‚Weise des Zugangs’. Das Denotat des Ausdrucks ist keine Sache, sondern eine ‚Habe’“
(„Philosophie als Vollzug und Begriff“. In: C.F. Gethmann: Dasein: Erkennen und Handeln.
Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin/New York 1993, 247-280; 265). Als
Bezugsstelle zitiert Gethmann folgenden Satz aus einer Vorlesung Heideggers im Wintersemester
1921/22: „Die Idee des Bestimmens, die Logik des Gegenstanderfassens, die Begrifflichkeit des
Gegenstandes in der jeweiligen definitorischen Bestimmtheit, muß geschöpft sein aus der Weise,
wie der Gegenstand ursprünglich zugänglich wird“ (Phänomenologische Interpretationen zu
Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung [Wintersemester 1921/22]. In:
Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 61. Hrsg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns.
1. Auflage 1985. 2., durchgesehene Auflage 1994, 20). Die „primäre Instanz“ ist somit „der
Vollzug des Gegenstandes, der Gegenstand als vom Menschen ‚gehabter’“ (C.F. Gethmann:
Dasein: Erkennen und Handeln, 265).
5
gefaßt werden, da Hegel zur Grundbestimmung des Kunstschönen den Begriff
des „Ideals“ einführt (Kap. 3). Mit dem Begriff des „Ideals“ schließt Hegel an
seine frühen Reflexionen zu den Möglichkeiten anschaulicher Wahrheits- und
Vernunftvermittlung an und gewinnt über die Analyse der lebendigen
Wirksamkeit der Vernunftidee insbesondere im „schönen Handeln“ der
Religionsstifter und Tugendlehrer eine Basis für die Bestimmung der
geschichtlichen bzw. kulturellen Funktion der Schönheit im und durch
menschliches Handeln.10 Hegel entwickelt daher ausgehend von dieser frühen
Bestimmung des Ideals als eines Vorbildes, dem man (im Handeln), nicht das
man (unreflektiert wiederholend) nachahmt, sowohl seine Ablehnung der
Bestimmung der Kunst als Nachahmung der Natur als auch seine
Bestimmung des Kunst-Werks. In der Jenaer Zeit definiert er das Kunstwerk
als Einheit von Arbeit: gestaltendem Zugriff auf Naturmaterialien, und
Sprache: Deutung über eine anschauliche Gestalt.11 Von daher gewinnt er den
Übergang von der Bestimmung des Ideals als „Dasein“, „Existenz“ oder
„Lebendigkeit“ der Idee zur notwendigen Realisationsform des Werkes,
zunächst des Kunstwerks. Von der Bestimmung des Ideals und des
Kunstwerks ausgehend läßt sich zeigen, auf welche Weise Natur-Schönes als
durch die Definition des Ideals Mitfundiertes die Funktion des Ideals als
Vermittlung der Vernunftidee im Sinnlich-Anschaulichen mitzuerfüllen
imstande ist, d.h. wieweit von Hegels Ansatz beim Kunstschönen ausgehend
das Schöne der Natur adäquat zu erfassen ist.
In den Abschnitten über „Schöne Natur“ (Kap. 4) und über „Schöne
Landschaft“ (Kap. 5) wird eine konkrete Analyse derjenigen Naturvollzüge
vorgenommen, die zur Erfahrung und zur Darstellung schöner Natur oder
schöner Landschaft führen. Die Überlegungen gehen von der Annahme aus,
10
11
6
Zur Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Ästhetik über den bereits in den frühen Schriften
vorbereiteten und später weiter entwickelten Begriff des „Ideals“ vgl. die umfassende Analyse von
A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte sowie dies.: Einführung in Hegels
Ästhetik, München 2005.
„Was Hegel (…) als die Funktion der Arbeit eines ganzen Volkes umschreibt, das Werk, das als
Tun mehrerer (im Idealfall aller) den Regeln der Geschicklichkeit folgt (Technik) und zur Deckung
der Totalität der Bedürfnisse (zum Besitz) führt, spezifiziert er später zum Charakteristikum des
Geistes in einer bestimmten Gestalt, des Geistes als Kunstwerk.. (…) Das Werk als Kunstwerk (…)
dient (…) der Manifestation, der Artikulation des Bewußtseins aller: sc. der Sittlichkeit eines
Volkes. Hier wird das geschichtliche Selbstbewußtsein eines Volkes sich selbst anschaulich, weil
zugleich mit dem Bild, der Gestalt, die handlungsorientierenden Grundanschauungen gegeben sind.
Hegel setzt als das allgemeine Werk, das die Sittlichkeit eines Volkes realisiert, die Sprache an, die
‚ideale Existenz des Geistes’ (…), die eine ideelle Welt ausbildet. In Ergänzung zur Sprache
bestimmt er als deren reales Korrelat die Arbeit“ (A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in
der Geschichte, 175).
daß Rezeption (Anschauung, Wahrnehmung) wie Produktion (Darstellung,
Gestaltung im Kunstwerk) schöner Natur und Landschaft sich jeweils einem
produktiven Natur-Vollzug verdanken, der seinerseits von verschiedensten
inhaltlichen wie formalen Voraussetzungen abhängig ist. Die genannten
Vollzüge Anschauung und Darstellung von Natur und ihre Voraussetzungen,
die jeweils in den beiden Kapiteln separat untersucht werden, hat Hegel nicht
nur analysiert, sondern zugleich demonstriert, welche Konsequenzen sich
daraus für eine Theorie des Naturschönen ergeben.
Zentrale Bedeutung für den produktiven Aspekt des Naturvollzuges nicht
nur der Darstellung, sondern bereits der Anschauung von Natur und
Landschaft hat das Konzept einer „gebildeten Anschauung“, das in
Anlehnung an ähnlich lautende Formulierungen Hegels als Grundlage der
Vollzugsanalyse von Natur- und Landschaftsanschauungen entwickelt wird.
Die These ist hier, daß bereits die Wahrnehmung oder Anschauung von Natur
und Landschaft gleichsam gestaltet oder gebildet ist, und zwar durch
Überformung mit bestimmten Seh- und Rezeptionsgewohnheiten und daran
geknüpfte Seh- und Rezeptionserwartungen. Die Analyse wird zeigen,
welcher Art diese den Vollzug gestaltenden Voraussetzungen sind und von
woher sie sich vermitteln. Die Betrachtung schöner Natur kann dann dem
Leitfaden der Hegelschen Ästhetikvorlesungen folgend in unterschiedliche
Vollzugsweisen differenziert werden, die jeweils von unterschiedlichen
Voraussetzungen geprägt sind und unterschiedliche Konsequenzen für die
Natur- und Landschaftsanschauung und ein damit verknüpftes Naturverhältnis
des Naturbetrachters mit sich bringen. Was die Darstellung schöner Natur und
Landschaft betrifft, werden schwerpunktmäßig für die vorantike Welt die
Architektur, für die griechische Antike die Skulptur sowie für die neuzeitliche
Welt die Landschaftsmalerei, die Gartenkunst und die Idyllendichtung
untersucht.
Die Untersuchung stützt sich im wesentlichen auf Hegels bereits zu
Lebzeiten publizierte Schriften und Manuskripte, die in der HistorischKritischen Edition der Gesammelten Werke erschlossen werden, sowie auf die
Vorlesungsnachschriften zu den vier Berliner Ästhetikvorlesungen Hegels aus
den Jahren 1820/21, 1823, 1826 und 1828/29. Weitere Quellen sind die im
Meiner Verlag publizierten Bände der Vorlesungen sowie verstreute
7
anderweitige Quellentexte und sekundäre Quellen, die im Quellenverzeichnis
aufgelistet werden. Für die systematische Grundlage wird die Enzyklopädie
von 1830 zitiert. Nur in den Fällen, in denen die Fassung von 1830
entscheidende Weiterungen oder Änderungen gegenüber den Fassungen von
1817 und 1827 bringt, wird auf diese zurückgegriffen.
Auf die erheblichen Differenzen zwischen der Druckfassung der Ästhetik
und den Quellen zu den Vorlesungen wurde in einer Reihe von
Einzelstudien12 hingewiesen. Für die Unterschiede in der Bestimmung des
Kunstschönen kann man als Quelle Hothos 1833 gehaltene Ästhetikvorlesung
heranziehen, die in Mitschriften von Friedrich Theodor Vischer13 und
Immanuel Hegel14 überliefert ist. Insbesondere die von Immanuel Hegel
stammende Mitschrift wirft ein bezeichnendes Licht auf Hothos eigene
Systematisierungsversuche und inhaltliche Schwerpunktsetzungen15, die in
die fast zeitgleich entstandene Druckfassung der Ästhetik einflossen. Die
grundsätzlichen Motive, die nicht nur hinter den Textveränderungen im
Übergang von der Vorlesung zur Publikation hinsichtlich der Thematik des
Naturschönen, sondern auch hinter vielen weiteren Veränderungen stehen,
„lassen sich aus dem Interesse der Schüler Hegels an einer Vollendung des
philosophischen Systems in Konkurrenz zu Schelling und Solger und damit
aus kunst- und bildungspolitischen Interessen erklären“16.
12
13
14
15
16
8
Diese Einzelstudien sind zum großen Teil in Sammelbänden erschienen. Vgl. beispielsweise
Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in
Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst. Hrsg. von A. GethmannSiefert, Bonn 1992 (Hegel-Studien. Beiheft 34); Kultur-Kunst-Öffentlichkeit. Hrsg. von A.
Gethmann-Siefert und E. Weisser-Lohmann, München 2001; Die geschichtliche Bedeutung der
Kunst und die Bestimmung der Künste. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert, Lu de Vos und B.
Collenberg-Plotnikov, München 2005; Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der
Hegelschen Ästhetik. Sonderheft des Jahrgangs 2005 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine
Kunstwissenschaft. Hrsg. von U. Franke und A. Gethmann-Siefert, Hamburg 2005; Zwischen
Philosophie und Kunstgeschichte. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert und B. Collenberg-Plotnikov,
München 2008.
Inzwischen publiziert unter dem Titel: Hotho [nach Notizen von Friedrich Theodor Vischer zu
Aestetick. Vorlesungen gehalten von Heinrich Gustav Hotho in Berlin seit dem Sommersemester
1833], hrsg. von F. Iannelli, im Anhang zu F. Iannelli: Das Siegel der Moderne. Hegels
Bestimmung des Häßlichen in den Vorlesungen zur Ästhetik und die Rezeption bei den
Hegelianern, München 2007, 306-323.
Vgl. Anm. 1.
In der genannten Dissertation Das Siegel der Moderne zeigt F. Iannelli den platonischen
Hintergrund der Dialektik von „Idee des Schönen - Naturschönes - Kunstschönes“ auf (Kap. 1.2 bis
1.4) sowie die Folgen für den Zusammenhang zwischen einer solchen Bestimmung des
Naturschönen und einer Konzeption des Häßlichen (Kap. 3.2.1: „Die Naturschönheit und das
Häßliche“).
A. Gethmann-Siefert/B. Collenberg-Plotnikov: Artikel „Georg Wilhelm Friedrich Hegel“, in:
Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, hrsg. v.
Julian Nida-Rümelin und Monika Betzler, Stuttgart 1999, 363-377; 376.
Die Differenzen der Deutung des Naturschönen in der postum von H.G.
Hotho
edierten
Druckfassung
der
Ästhetik
zu
Hegels
Berliner
Ästhetikvorlesungen, die weitgehend auf Überlegungen Hothos und dessen
spezifische Kunstinteressen zurückweisen, sind insbesondere im Blick auf die
gegenwärtige (negative) Kritik an Hegels Bestimmung des Naturschönen
aufschlußreich. Abschließend wird daher auf die unterschwellige Kontroverse
um die systematische Bedeutung des Naturschönen in der Ästhetik, die aus
den Ästhetikvorlesungen von Hegel und Hotho herauszulesen ist, einzugehen
sein. Es läßt sich nämlich zeigen, daß im Vergleich mit Hegels
Ästhetikvorlesungen Hothos Fassung des Naturschönen als „platonistisches“,
d.h. objektivistisches Mißverständnis des Hegelschen Vorbildes durch den
Schüler einsichtig wird. Auf diese Weise zeigt sich die aktuelle Kritik zwar
einerseits als zutreffend - nämlich für die Version der Ästhetik - andererseits
aber - was Hegels eigene Bestimmung des Naturschönen in den
Ästhetikvorlesungen betrifft - als unzutreffend.
9
2
Geist und Natur
Hegels Behauptung zu Beginn seiner Ästhetikvorlesungen, der Geist sei
„höher zu achten als die Natur“17, kann mißverstanden werden, wenn man
weder die Intention Hegels beachtet, einen umfassenderen Ansatz der
Ästhetik zu gewinnen, der letztlich zwar das Naturschöne nicht als
fundierenden Begriff auszeichnet, ihn aber mitfundieren (abgeleitet verstehen)
will, noch seinen Naturbegriff genau interpretiert, d.h. hierzu auf den Ansatz
der Philosophie der Natur zurückgreift. Beides, die nähere Analyse des
Ansatzes der Ästhetik wie die genaue Bestimmung des Begriffs der Natur und
- fundierend - des Geistes erlauben eine nicht nur präzisere, sondern korrekte
Gewichtung, die sich von gängigen Vorurteilen gegen die Hegelsche Ästhetik
löst. Die Fundierung des Naturvollzuges - in Form der Naturwahrnehmung,
-erkenntnis, -bearbeitung, -gestaltung oder -darstellung - wird bereits mit den
ersten Bemerkungen in den Vorlesungen über die Philosophie der Natur bzw.
den entsprechenden Paragraphen der Enzyklopädie zur Philosophie der Natur
erkennbar. Hegel stellt der Entfaltung des Begriffs der Natur eine
Bestimmung der beiden grundlegenden Vollzugsweisen von Natur, des
theoretischen und praktischen Verhältnisses zur Natur, voran. Diese beiden
Weisen
des
Verhältnisses
zu
Natur
sind
Beziehungen
auf
oder
Betrachtungsweisen von Natur18 und gründen damit nicht in Natur, sondern in
einem spezifischen Naturvollzug.
Durch den Ansatz beim Kunstschönen motiviert Hegel zu Beginn der
Berliner Ästhetikvorlesungen seine Entscheidung, gegen die Tradition der
Aufklärungsästhetik
nicht
das
Naturschöne
zum
Ansatz
und
Untersuchungsgegenstand der Philosophie der Kunst oder Ästhetik zu wählen.
Das Schöne der Natur wird als „Reflex des Geistes“19 bestimmt, das heißt, das
Naturschöne ist keine „objektiv“ vorliegende Qualität der Natur, sondern
indiziert eine Weise des Naturvollzugs durch den Menschen. Natur wird
17
18
19
10
V 13, 15. Die gleiche Überlegung findet sich durchweg am Anfang der Berliner
Ästhetikvorlesungen; vgl. z.B.: Es „läßt sich sagen, daß um soviel höher der Geist als die Natur ist,
so viel höher das Kunstschöne als das Naturschöne sei“ (Kehler 1826, 1).
In den Vorlesungen über die Philosophie der Natur von 1819/20 spricht Hegel in der Einleitung
von „Beziehungen auf sie [die Natur]“ (V 16, 3-11; 3), in der Enzyklopädie von
„Betrachtungsweisen der Natur“ (Enz 1830, §§ 245-246).
Kehler 1826, 2
infolgedessen, sofern sie als „schön“ bestimmt wird, strukturell analog zu
einem Kunstwerk aufgefaßt. Durch den Ansatz beim Kunstschönen reklamiert
Hegel daher zunächst nur, den ursprünglichen ästhetischen Vollzug an einem
Werk des Menschen, also am Kunstwerk als des eigens für einen solchen
Vollzug gestalteten Objekts zu analysieren und das Konzept der
Naturschönheit davon abgeleitet auszulegen.
In Kants Kritik der Urteilskraft findet Hegel ein Beispiel der Analyse des
Schönen. Allerdings erweitert Kant die Konzeption des Schönen in der
Analyse der Urteile über das Erhabene um eine Bestimmung menschlicher
Naturerfahrung aus der Konfrontation der Erfahrung der Freiheit mit der des
Überwältigtseins durch Natur. Diese Elemente des ästhetischen Vollzuges
greift er in der Bestimmung des Schönen als „Symbol der Sittlichkeit“20 auf,
um sie von der formalen Analyse der Urteile über das Schöne auf die
Beurteilung der Kunst zu erweitern. Hegel bezieht sich in den
Ästhetikvorlesungen häufig zustimmend auf einzelne Überlegungen in Kants
Kritik der Urteilskraft, so beispielsweise auf die Bestimmung des interesse(für Hegel begierde-) losen Wohlgefallens als Zugang zum Schönen. Er greift
aber - vermittelt durch die Schillerrezeption und -Diskussion - Kants
abschließende Bestimmung des Kunstwerks als „Symbol der Sittlichkeit“
auf.21 Hier wird letztlich die Analyse der Urteile über das Schöne und
Erhabene zu einem Begriff des Schönen verknüpft, der den für die Analyse
der Urteile über das Erhabene (also die Natur in ästhetischer Erfahrung)
fundierenden Begriff der Freiheit in die Bestimmung des Schönen integriert.
Kant selbst gibt damit ein Verhältnis von ästhetischem Vollzug gestalteter
Objekte und Natur vor, das Hegel in Konsequenz einer fundamentalen
Gewichtung der Freiheit zur Prävalenz des Kunstschönen umkehrt, aber nicht
aufhebt.
20
21
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1993 [im folgenden zitiert als: KU], § 59.
Im Briefwechsel mit Hölderlin läßt sich dieses frühe Programm Hegels greifen (in: Briefe von und
an Hegel. 1785-1812. Bd. 1. Hrsg. von Johannes Hofmeister. Hamburg 1969 [im folgenden zit. als:
Briefe], 24f). Hegel übernimmt den Teil der gemeinsamen Aufgabe, ein „Ideal der
Volkserziehung“ zu bestimmen, im Blick auf die Religion, Hölderlin fällt diese Aufgabe für die
Kunst zu. In beiden Teilen des „Ideals der Volkserziehung“ soll Schillers Konzeption der
ästhetischen Erziehung weitergeführt werden. Da Schiller sich mit seinen Überlegungen selbst an
einer Auslegung der Kritik der Urteilskraft orientiert, nämlich an Kants Bestimmung der Schönheit
als „Symbol der Sittlichkeit“, gibt er die Grundlage für eine Verknüpfung von Schönheitserfahrung
und Freiheitsidee vor, die für Hegel nicht nur in den frühen Überlegungen, sondern bis in die
abgeschlossene Gestalt der Ästhetik maßgeblich bleibt. - Vgl. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion
der Kunst in der Geschichte, Kap. 1; dies.: Einführung in Hegels Ästhetik, Kap. 1.
11
Durch den Ausgang vom Kunstschönen will Hegel also keineswegs die
Bedeutung der Naturschönheit leugnen, sondern er beansprucht, die
Bestimmung des Naturschönen im Rahmen der Analyse des Kunstschönen
mitentwickeln zu können, während sich umgekehrt die Besonderheit des
Kunstwerks (als Werk des Menschen) nur teilweise aus der Analyse des
Naturschönen begreifen läßt. Er begründet diese Wende mit der These - die in
der Tat im Sinne der Kritiker mißdeutbar ist -, „daß um soviel höher der Geist
als die Natur ist, so viel höher das Kunstschöne als das Naturschöne“22 sei.
Gemeint ist, und das macht Hegel in den weiteren Erläuterungen der
Ästhetikvorlesungen klar, daß das, was durch menschliches Handeln
geschaffen oder gestaltet ist, daß noch das „geringste Werkzeug“, erst recht
das Kunstwerk darum „höher“ stehe als die bloße Natur, weil es als
Handlungsresultat einem Verständnis eher zugänglich ist. So macht dasjenige,
was „wir die Natur, die äußere Welt nennen (…) es dem Geiste saurer“23,
sich, d.h. den zugrundeliegenden Vollzug, in ihr wiederzuerkennen, als das
Kulturding (Werkzeug, Instrument oder Kunstwerk). Denn - so argumentiert
Hegel im Kontext und in Weiterführung des Kantischen transzendentalen
Ansatzes - auch die Natur läßt sich nur aus der Analyse des Naturvollzuges
erschließen, erscheint vorderhand aber als etwas Äußerliches, objektiv
Vorgegebenes, dem Vollzug Fremdes. Letztlich liegt der Grund der
„Höherwertung“ des Geistes also nicht in dem von Adorno und seinen
Nachfolgern kritisierten dogmatischen „Idealismus“, sondern hat methodische
Gründe, die Hegel durch die Orientierung an Kant gewonnen hat.
2.1
Der gemeinsame Ansatz von Natur- und
Geistphilosophie
Um die Bedeutung des Naturschönen genau festzulegen, ist in einem ersten
Schritt Hegels Philosophie des Geistes heranzuziehen, da Hegel die
Bestimmung der Natur in Analogie zur Bestimmung des Geistes entwickelt.
In der Enzyklopädie ordnet Hegel systematisch unterschiedliche Bedeutungen
des Begriffs des Geistes: subjektiver, objektiver und absoluter Geist. Hegel
versteht unter „subjektivem Geist“ eine an das Individuum und die
22
23
12
Kehler 1826, 1.
Hotho 1823, 3.
individuelle Vernunft gebundene Welteinstellung, die auf Äußerliches,
Nichtgeistiges bezogen ist. Vollzugsformen wie z.B. Gefühl, Empfindung,
Gewohnheit (in der „Anthropologie“), Bewußtsein, Selbstbewußtsein,
Vernunft (in der „Phänomenologie“) sowie der „theoretische Geist“ mit
Anschauung, Vorstellung, Denken und der „praktische Geist“ mit Fühlen,
Streben, Wollen (in der „Psychologie“) scheinen in dieser Welteinstellung
unvermittelt einer „Objektivität“ gegenüberzustehen. Als „objektiven Geist“
bezeichnet
Hegel
Phänomene
der
vom
Menschen
gestalteten
und
eingerichteten kulturellen Welt, also Werkzeuge, Behausungen, Technik, das
Recht, die Institutionen, den Staat, aber auch die Weltgeschichte. Diese
können dem Menschen als „zweite Natur“, d.h. als Formen und Institutionen
der
„Sittlichkeit“
entgegentreten.
wie
Als
die
Phänomene
„absoluten
Geist“
der
Natur
bezeichnet
als
notwendige
Hegel
diejenigen
Vollzugsformen in Kunst, Religion und Philosophie, in denen der Mensch
sich seiner von ihm selbst gestalteten Welt in der Anschauung, der
Vorstellung und dem Denken eigens als von ihm selbst hervorgebrachte und
gestaltete Welt versichert und sich in dieser wiederfindet bzw. wiedererkennt.
Obwohl die Phänomene des objektiven Geistes Handlungsresultate sind,
teilen sie mit Naturphänomenen ihre Vorgegebenheit. Der Unterschied besteht
darin, daß die Gegenstände des „objektiven Geistes“ kulturell, d.h. durch
menschliches Handeln vorgegeben sind und daher als Resultate menschlichen
Handelns durch Bezug auf menschliche Handlungszwecke erklärt werden
können und müssen. Dieser Unterschied wird im Alltag wie in den
Wissenschaften häufig übersehen und führt dazu, kulturell Vorgegebenes
(objektiver Geist) als naturhaft Vorgegebenes aufzufassen und rekonstruieren
zu wollen. Auf diese Besonderheit menschlicher Handlungsresultate hat
Hegel mit dem Begriff des „objektiven Geistes“ hinweisen wollen. Kunst,
Religion und Philosophie stellen insofern Möglichkeiten dar, die quasinatürlichen Phänomene des „objektiven Geistes“ als Handlungsresultate
(wieder) zu erkennen.
In einem zweiten Schritt ist Hegels Bestimmung der Natur zu
rekonstruieren. In Anlehnung an die Bestimmung des Geistes definiert Hegel
„Natur“ vorerst als das „Andere des Geistes“. Nimmt man diese Bestimmung
der „Natur“ in seiner Philosophie der Natur hinzu, dann wird zum einen
13
deutlich, daß Natur nicht vollzugsunabhängig, d.h. voraussetzungsfrei,
sondern stets und nur durch den Vollzug und die Analyse des Naturvollzugs
zu erfassen ist. Außerdem ergibt sich aus dieser Bestimmung, daß die
Sachhaltigkeit dieses Vollzuges aus einem spezifischen Bezug zu, damit einer
bestimmten Auslegung der Natur entspringt. Der Bezug zu und die damit
verbundene Auslegung der Natur wiederum ist an bestimmte Aspekte oder
Zwecksetzungen gebunden, ohne die eine Erfassung von etwas als etwas nicht
möglich wäre.
Auf
den
Zusammenhang
der
Bestimmung
der
Natur
mit
der
Geistphilosophie und auf die Bedeutung dieser Verknüpfung für die
Bestimmung des Kunstwerks hat z.B. Lu De Vos hingewiesen und eine
Grundlage für die Deutung der Ästhetik entwickelt. Kunst kann nur dann als
quasi natürliches Ding und Werk des Menschen erfaßt werden, „wenn ein
eigenständiger Begriff einer Einheit von theoretischer und praktischer Instanz,
d.h. von subjektivem und objektivem Geist, der auch die Natur übergreift,
gesichert werden kann“24. Analysiert man Hegels Explikation des
philosophischen Begriffs der Natur - als das „Andere des Geistes“ - in
Kombination mit der Bestimmung des subjektiven und objektiven Geistes, so
gewinnt man gegen die Kritik der Ästhetik die Basis für eine genauere
Bestimmung des Naturschönen, damit zugleich die Argumente gegen die
gängige Hegelkritik.
Auf die kontroversen Deutungen des Hegelschen Geistbegriffs und die
damit verknüpften Deutungen der Beziehung zwischen Geist und Natur kann
an dieser Stelle nur exemplarisch und in Form einer Anmerkung hingewiesen
werden.25 Entscheidend für die Analyse des Naturschönen ist der
24
25
14
Lu de Vos: Das Ideal. Anmerkungen zum spekulativen Begriff des Schönen, in: Hegel-Jahrbuch
2000, 13-20; 18. Vgl. auch ders.: Artikel „Kunst“, in: Hegel-Lexikon, Darmstadt 2006, 295-300.
Beispielsweise sind - so Hans Friedrich Fulda - Natur und Geist in die übergeordnete Einheit der
„Idee“ zu integrieren, aus der sie „hervorgehen“. Grundlage dieser Überlegung ist eine „Dualität
von Natur und Geist“ (Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 152). Walter
Jaeschke sieht in Natur und Geist „eine differenzierte Einheit“, die allerdings „unter dem Primat
der Idee“ (Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, 334) verbleibt. Michael Quante betrachtet das
Verhältnis von Geist und Natur als „reflexionslogisches Verhältnis“ (Michael Quante: Schichtung
oder Setzung? Hegels reflexionslogische Bestimmung des Natur-Geist-Verhältnisses, in: HegelStudien, Bd. 37, Hamburg 2002, 107-121; 107). - Eine genaue Rekonstruktion der Bedeutung des
Begriffs der „Idee“ bei Hegel kann hier nicht geleistet werden. Die in der Enzyklopädie
abschließend vorgetragene Definition der Idee als „absolute Einheit des Begriffs und der
Objektivität“ (Enz 1830, § 213) kann vielleicht, ihrer Abstraktheit und ihres
Voraussetzungsreichtums ungeachtet, ‚übersetzt’ werden als „das Gesamt der Möglichkeiten
geistiger Erfassung von Welt (…) im Rahmen einer humanen Kulturtradition, einer großangelegten
Kooperation in der Bereitstellung von Mitteln im Wissen und Können, in Wissenschaft und
Grundgedanke Hegels, daß Natur wie Geist nicht unabhängig voneinander
bestimmt werden können, daß „Natur und Geist sich durch sich selbst
aufeinander beziehen“26. Daher definiert sich der Geist zugleich durch den
Bezug auf und in Abgrenzung von Natur27, wobei dieser Bezug keineswegs
ahistorisch ein für alle mal festgeschrieben ist, sondern - wie die
Rekonstruktion des Hegelschen Geistbegriffs zeigt - als aspekt- bzw.
zweckgeleiteter Bezug geschichtlich vermittelt ist und damit dem historischen
Wandel unterliegt. Diese Deutung fußt auf der These P. Stekeler-Weithofers,
daß „unser ‚Geist’ in nichts anderem als in unserem besonderen Verhältnis zu
Natur und Geschichte“ besteht28.
2.2
Hegels Bestimmung des „Geistes“
In der Hegelkritik ist der Begriff des Geistes häufig der Anlaß, Hegels
Philosophie als „schlechte Metaphysik“ abzutun. Hegel selbst hat den
Terminus
„Geist“
der
an
Rene
Descartes
29
bewußtseinsphilosophischen Tradition entlehnt
anschließenden
und ihm eine über das
individuelle oder transzendentale „Ich“ hinausreichende Bedeutung gegeben.
Will man diese Bedeutung des Hegelschen „Geist“-Begriffs im Vergleich
zu den vorhergehenden Konzeptionen der Tradition adäquat erfassen, ist ein
kurzer Blick auf die entscheidende philosophische Frage der frühen
Überlegungen Hegels in der Frankfurter und Jenaer Zeit erforderlich. Hegels
Konzept des „Geistes“ kann nämlich als Antwort auf die Frage verstanden
werden, wie Vernunft und Freiheit angesichts einer scheinbar unvernünftigen
und in Unfreiheit verstrickten Welt vermittelt und realisiert werden können,
wie man die in der Cartesianischen und Kantischen Philosophie sich
ergebende Kluft zwischen „Subjekt“ und „Objekt“, zwischen Mensch und
26
27
28
29
Technik und der Entwicklung von Kultur- und Lebensformen in Staat und Gesellschaft, Religion
und Kunst“ (P. Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als
Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt am Main 2005, 312).
GW 15, 218.
Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, insbesondere Kap. 7.2
Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Naturphilosophie. Versuch einer topischen Bestimmung, in:
Hegel-Studien, Bd. 36, Hamburg 2001, 117-145; 141.
Vgl. den Artikel „Geist“ in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Unter ständiger
Mitw. von Gottfried Gabriel, in Verbindung mit Martin Carrier hrsg. von Jürgen Mittelstraß, 2.
neubearb. und wesentlich erg. Aufl., Bd. 3, Stuttgart 2008, 51-53.
15
Welt „durch die Versöhnung aufheben“30 kann.31 Diese Frage ist für Hegel
keine theoretische, sondern wird als Frage formuliert, wie eine sittliche
Gemeinschaft wiederhergestellt oder neu begründet werden kann. Grundlage
der gesamten Theorie ist demnach eine praktische Frage: nämlich die in der
Jenaer Zeit formulierte Frage, wie man durch die Philosophie „leben lernen“
kann32.
H. Schnädelbach hat gezeigt, daß Hegel „vor dem Hintergrund der
Denkerfahrungen vor allem der Frankfurter theologischen Jugendschriften,
aber auch der Hölderlinschen Vereinigungs- und Versöhnungsphilosophie
(…) praktische Philosophie eben nicht mehr nur als transzendentale
Philosophie der subjektiven und formalen Bedingungen der Möglichkeit des
Sittlichen wie bei Kant und Fichte auf[faßt], sondern als eine objektive und
inhaltliche Philosophie des Sittlichen, in der die Grundstrukturen der antiken
pólis-Sittlichkeit und das neuzeitliche Prinzip subjektiver Freiheit miteinander
in Einklang gebracht werden können“33. Diese Überlegungen bilden den
entwicklungs- und problemgeschichtlichen Hintergrund der Hegelschen
Konzeption des Geistes.34
In dem Fragment Introductio in Philosophiam aus dem Jahre 1801/02
bezeichnet Hegel es als „das allgemeine des Bedürfnisses der Philosophie“,
eine Antwort auf die Frage zu finden, „welche Beziehung hat die Philosophie
aufs Leben?“ Diese Frage wiederum sei gleichbedeutend mit der Frage:
„inwiefern ist die Philosophie praktisch? Denn das wahre Bedürfniß der
Philosophie geht doch wohl auf nichts anders als darauf, von ihr und durch sie
30
31
32
33
34
16
G.W.F. Hegel: Der Geist des Christenthums und sein Schicksal, in: Hegels theologische
Jugendschriften, nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin hrsg. von Dr. Herman Nohl,
Tübingen 1907, 241-342; 256.
Im Hinblick auf das in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes diskutierte Verhältnis von Natur
und Geist hat Michael Quante Hegels „reflexionslogische Bestimmung des Natur-GeistVerhältnisses“ als „attraktive Alternative zu dem gegenwärtig vorherrschenden Paradigma in der
Philosophie des Geistes“ beurteilt (Michael Quante: Schichtung oder Setzung? Hegels
reflexionslogische Bestimmung des Natur-Geist-Verhältnisses, 107). Der cartesianische
Substanzendualismus dient Quante zufolge im Kontext der genannten Debatten als „Kontrastfolie“
zu den substanz-monistischen „schichtenontologischen“ Alternativen. Da aber beide Modelle
jeweils die Frage nach der Relation zwischen den Substanzen bzw. den Schichten nicht
befriedigend beantworten können, „steht das Schichtenmodell nicht besser da als
substanzdualistische Positionen“ (a.a.O., 110).
Vgl. hierzu Manfred Baum/Kurt Meist: Durch Philosophie leben lernen. Hegels Konzeption der
Philosophie nach den neu aufgefundenen Jenaer Manuskripten. In: Hegel-Studien 12. 1977, 43-81.
H. Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 2000, 141.
Vgl. H. Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie, 143f. sowie L. Siep: Hegels Metaphysik der
Sitten. In: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a.M. 1992, 182-194.
leben zu lernen“.35 Hinter dieser Frage steht das Problem, wie der in einer
spezifischen Kultur und Tradition lebende Mensch sich seines Wissens, seiner
Erkenntnisse und seiner Handlungsorientierung in der Gegenwart und für die
Zukunft versichern kann, ob und wie er einer philosophischen Analyse
entnehmen kann, wie er jetzt und in Zukunft seine Welt human gestalten
sollte. Durch Philosophie für das Leben lernen in diesem Sinne ist dann
möglich, wenn Philosophie das Ganze der Wirklichkeit daraufhin prüft,
inwiefern die genannten Fragen in der Wirklichkeit beantwortet sind und
wenn es gelingt, den Einzelnen über seine individuellen Ein- und Ansichten
aufzuklären
und
seinen
„subjektiven
Standpunkt“
zugunsten
eines
36
allgemeineren Vernunft-Standpunktes zu führen.
Demgemäß bezeichnet Hegel durch den Begriff des Geistes kein abstrakt,
d.h. weltlos der Wirklichkeit (Natur und Kultur) bzw. einer „Objektivität“
gegenüberstehendes Cartesianisches „Subjekt“, auch nicht das Kantische
transzendentale oder das Fichtesche unbedingte „Ich“. In den Vorlesungen
über die Philosophie der Weltgeschichte von 1822/23 präzisiert Hegel die
Bestimmung des „Geistes“ dahingehend, „der Mensch als Geist“ sei
wesentlich Vermittlungstätigkeit im Hinblick auf die Freiheit des Menschen:
„Unsere Hauptbestimmung ist, daß der Mensch als Geist nicht ein
Unmittelbares ist, sondern wesentlich ein in sich Zurückgekehrtes. Diese
Bewegung der Vermittlung ist so das wesentliche Moment der geistigen Natur;
dadurch wird der Mensch selbständig und frei. […] Der Geist ist also nur das,
37
zu was er sich durch seine Tätigkeit macht.“
Auf die Frage, was der Geist sei, reagiert Hegel dementsprechend z.B. in den
Vorlesungen über die Philosophie des Geistes von 1827/28 mit einer
Umformulierung der Frage dahingehend, daß der Sinn dieser Frage sei: „Was
ist das Wahrhafte des Geistes?“ und diese Frage wiederum sei
„gleichbedeutend damit: was ist die Bestimmung des Menschen?“38 „Geist“
35
36
37
38
GW 5, 261.
„Der Zwek einer Einleitung in die Philosophie könnte bloß seyn, diese subjectiven Standpunkte
über sich selbst aufzuklären und sie mit dem objectiven der Philosophie zu verständigen, mit sich
selbst, daß sie durch ihre beschränkten Formen hindurch die Aufgabe in größerm und
allgemeinerem Standpunkte fassen lernen, und sich in dem Gegenstand der Philosophie erkennen
lernen“ (GW 5, 259).
V 12, 30.
„Wenn gefragt wird, was der Geist ist, so ist der eigentliche Sinn dieser Frage: was ist das
Wahrhafte des Geistes, und das ist gleichbedeutend damit: was ist die Bestimmung des
Menschen?“ (V 13, 6).
17
ist demnach keine menschlichen Vollzügen bereits vorausliegende Entität39
oder Instanz, sondern „Geist“ besteht in nichts anderem als in Tätigkeit, in der
Praxis des denkenden, erkennenden und handelnden Menschen. „Geist“ wird
sich daher nicht vor seinen theoretischen wie praktischen Vollzügen, sondern
allein in ihnen und durch sie seiner bewußt und bestimmbar.
Wenn Hegel die Frage nach dem „Geist“ mit der nach der „Bestimmung
des Menschen“ gleichsetzt, dann greift er im übrigen auf die bekannten
philosophischen Grundfragen Kants zurück - Was kann ich wissen? Was soll
ich tun? Was darf ich hoffen? - die insgesamt in der Frage münden: Was ist
der Mensch? Die häufig in der Hegelinterpretation behauptete Prävalenz der
Theorie vor der Praxis, dementsprechend des Geistes vor der Natur, kann und
sollte vor diesem Hintergrund als Mißverständnis zurückgewiesen werden.
Hegel geht es statt dessen darum, den Begriff des Geistes als Einheit eines
theoretischen und praktischen Vermögens, nämlich als Einheit von Erkenntnis
und Handeln zu fassen. Daß und wie die theoretische Vernunft in der
praktischen fundiert ist, zeigt sich an Hegels Konzeption des Werks, da der
menschliche „Geist“ - erkennend wie handelnd - nur aus den Resultaten
zweckgerichteten Handelns, d.h. in Werken faßlich ist.
2.2.1
Der Begriff des Werks und die Fundierung der
theoretischen in der praktischen Vernunft
Die Ausgangsfrage in Hegels vorsystematischen Überlegungen lautet also,
wie Philosophie praktisch werden kann, präziser: wie die Kantischen Ideen
von Vernunft und Freiheit sich in der Wirklichkeit geschichtlich realisieren
lassen. In den Jenaer Systementwürfen von 1803/04 und 1805/0640 greift
Hegel auf seine frühen, im Rahmen der religionskritischen Reflexionen
entwickelten Überlegungen zurück, und bestimmt den „Geist eines Volks“41
als das geschichtliche Bewußtsein einer Gemeinschaft, das heißt als ihre
gemeinsame Handlungsorientierung. Solcherweise mit dem Begriff des
Handelns bzw. der Handlungsorientierung verknüpft, kann nach Hegel ein
39
40
41
18
Lu de Vos’ These, „'Geist', 'absoluter Geist' und Idee bedeuten keine gesonderten 'metaphysischen'
Entitäten, sondern Formen, Bestimmtheiten einer sich vollziehenden monistischen
Selbstbeziehung“, wird hier zustimmend vorausgesetzt (Lu DeVos: Die Bestimmung des Ideals.
Vorbemerkungen zur Logik der Ästhetik, 43, Anm. 4). Vgl. auch ders.: Artikel „Geist“, in: HegelLexikon, 222-227.
GW 6, GW 8.
GW 6, 314.
Begriff des Geistes nur durch die Analyse der Realisierungsformen des
Geistes im menschlichen Handeln, nämlich Arbeit und Sprache, damit der
Resultate intentionalen Handelns gewonnen werden.42
Was die Sprache betrifft, lassen sich in und durch Sprache nicht nur Natur
und Kultur repräsentieren, sondern das „Ich“ oder „Selbst“ des Menschen
gewinnt eine Form der Selbstobjektivierung. Das heißt, das „Ich“ wird „sich
gegenständlich“, es „vernimmt ebenso sich, als es von den anderen
vernommen wird“, und es ist in dieser Gegenständlichkeit sowohl das sich
erhaltende Selbst als auch das Selbstbewußtsein der anderen.43 „Sprache“ ist
insofern „Dasein des Geistes“ bzw. die „ideale Existenz des Geistes“, die
sich „nur als Werk eines Volks“ manifestiert.44 Sie ist daher „nur als
Sprache eines Volks“.45 Ohne eine bestimmte historisch bedingte Kultur,
in der eine bestimmte Gemeinschaft lebt, handelt und arbeitet, gibt es also
keine Sprache als Form des „Sich-Gegebenseins“ im Sinne der Stiftung eines
gemeinsamen Bewußtseins, damit zugleich einer (Selbst-)Auslegung bzw.
(Selbst-)Deutung dieser Gemeinschaft.
Als reale Existenz des Geistes bestimmt Hegel Arbeit und Besitz.46 Arbeit
ist Tätigkeit, Vollzug, d.h. Auseinandersetzung des handelnden Menschen mit
der Natur mit dem Ziel der Überlebenssicherung und Schaffung wie
Gestaltung (Besitz) einer menschengemäßen Welt. Darin liegt die
„Vernünftigkeit“ der Arbeit, daß sie zwar „subjective Thätigkeit des
Einzelnen“ ist, aber zugleich „sich im Volke zu einem allgemeinen macht,
und darum der Einzelheit des Individuums entgegengesetzt ist“47. Alle
Werkzeugherstellung und -verwendung, jedwede Bearbeitung der Natur,
Maschinenherstellung und -nutzung sowie jede Einrichtung von Behausungen
und Gebäuden etc. lassen sich nicht allein aus der Tat und dem Werk eines
Individuums verstehen, sondern sie sind „Geist des Volks“: Sie entspringen
42
43
44
45
46
47
Vgl. hierzu A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, Kap. 1.3.
Diese Bestimmungen finden sich in der Phänomenologie des Geistes: „Wir sehen hiemit wieder
die S p r a c h e als das Daseyn des Geistes. Sie ist das f ü r a n d e r e seyende Selbstbewußtseyn,
welches unmittelbar a l s s o l c h e s v o r h a n d e n und als d i e s e s allgemeines ist. Sie ist das sich
von sich selbst abtrennende Selbst, das als reines Ich = Ich sich gegenständlich wird, in dieser
Gegenständlichkeit sich ebenso als d i e s e s Selbst erhält, wie es unmittelbar mit den anderen
zusammenfließt und i h r Selbstbewußtseyn ist; es vernimmt ebenso sich, als es von den anderen
vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das z u m S e l b s t g e w o r d e n e D a s e y n . “ ( G W
9, 351).
GW 6, 318.
GW 6, 318.
GW 6, 319.
GW 6, 320.
19
einer zwar individuellen, aber nur aus einem bereits bestehenden
Handlungszusammenhang verstehbaren zweckgerichteten „Thätigkeit“48 und
führen als Resultat (Werk) zu einer Kultur-Welt des Menschen. Jedes
Werkzeug, jede Maschine, jedes Gebäude sind daher auch nicht Natur,
sondern zählen zum Bereich des „objektiven Geistes“ und lassen sich aus der
Handlungsintention der Herstellung und des Gebrauchs rekonstruieren und
erklären.
Der „Geist eines Volks“ läßt sich daher vor diesem handlungstheoretischen
Hintergrund nur aus Handlungsresultaten, und das heißt aus einem Werk
erschließen. Der „Geist“ - so Hegel - „muß sich ewig zum WERKE werden,
oder er ist nur als ein ewiges Werden zum Geiste“49. Er muß sich also in
menschlichen Handlungs-Vollzügen und Handlungs-Resultaten (Werken) und zwar erkennend wie handelnd - manifestieren, um überhaupt faßlich zu
sein. In diesen frühen Überlegungen Hegels sind die begrifflichen
Bestimmungen der späteren Vorlesungen zur Philosophie des Geistes bereits
angelegt. Auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte
von 1822/23 greift Hegel diesen Gedanken wieder auf. Zunächst ist ein
Erkennen, ein Wissen des Geistes nur möglich und rekonstruierbar, wenn der
entsprechende sachhaltige Vollzug zum Ansatz genommen wird. Dann erfaßt
man „Geist“ zureichend, und zwar aus seinem Zweck:
„Dies ist der Zweck des Geistes (…), sich zu produzieren, zum Gegenstand zu
machen, damit er sich als Dasein habe, damit er sich wisse; sein Sein ist, sich
50
zu wissen.“
Der „Geist“ bezieht sich jeweils zugleich auf etwas und auf sich selbst51, ist
daher seiner Bestimmung nach Selbstbezug52, in Hegels Sprache: ein „Beisich-selbst-Sein“53. Die ausgezeichnete Form dieses Selbstbezuges des
48
49
50
51
52
53
20
GW 6, 315.
GW 6, 315.
V 12, 45.
Geist „ist Bewegung und Tätigkeit, die ein Erstes verläßt, zu einem anderen geht, es bearbeitet,
überwindet und sich hierin in dieser Arbeit selbst gefunden [hat] und so zurückkehrend zum ersten
erst wirklich Geist geworden [ist]“ (V 12, 36).
„Der Geist ist Ich = Ich, das Ich, das sich ganz selbst erfaßt“ (Vorlesungen über die Philosophie
der Natur. Berlin 1819/20. Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier, hg. von Martin Bondeli
und Hoo Nam Seelmann, Hamburg 2002 [im folgenden: V 16], 141).
„[…] die konkrete Freiheit ist, daß ich in der Bestimmtheit meiner − Schranke, Negation − nur bei
mir selbst bin, das andere annihiliere“ (V 13, 14).
Geistes ist Sich-Wissen - aber als Bestimmung seiner Wirklichkeit54, d.h.
Geist als zum „Werk“ gewordener. Weil aber ein zureichender Begriff des
Geistes nur durch die Analyse des Vollzuges und insbesondere des
Vollzugsresultates (im Zitat: Wissen) möglich ist, und weil Hegel sich für den
Ansatz der Analyse des Geistes der Kategorie des Zwecks bedient, schließt
Hegel, daß der Geist, will er „Bewußtsein über sich haben“, „sich also als Tat
gegenüberstehen“55 muß: „So ist er nur wirklicher Geist, indem [er] sein
Ansichsein als Objekt, als Werk, Tat vor sich gebracht hat.“56
Wenig später, in der Ästhetikvorlesung des Sommersemesters 1823,
benutzt Hegel den gleichen Gedanken, um den geistigen Charakter des
Kunstwerks zu erklären:
„Der Mensch als Bewußtsein verdoppelt sich, ist einmal, dann ist er für sich,
treibt, was er ist, vor sich, schaut sich an, stellt sich vor, ist Bewußtsein von
57
sich; und er bringt nur vor sich, was er ist.“
Im Gegensatz zum menschlichen Bewußtsein sind Naturphänomene zu einer
Objektivierung ihrer selbst nicht fähig: Die „natürlichen Dinge sind nur, sind
nur einfach, nur einmal“58. Das „Vernünftige“ des allgemeinen Bedürfnisses
des Menschen, Kunst zu produzieren, besteht Hegel zufolge darin, „daß der
Mensch als Bewußtsein sich äußert, sich verdoppelt, sich zur Anschauung für
sich und andere bringt“. Das Kunstwerk wird vom Menschen produziert,
„damit das Bewußtsein sich selbst zum Gegenstande werde“59.
In Anknüpfung an die Bestimmung der Vollzüge „Arbeit“ und „Sprache“
lassen sich diese Äußerungen nutzen, an dieser Stelle eine erste vorläufige
Bestimmung der Kunst vorzunehmen. Das Kunstwerk definiert sich auf diese
Weise als Einheit von Arbeit und Sprache, da es konkret aus dem erkennendhandelnden Umgang des Menschen mit Natur, damit als Einheit von Geist
und Natur gewonnen werden kann. Die Kunst gestaltet einen gegebenen Stoff
- ist damit Arbeit. Kunst ist aber auch Auslegung bzw. Deutung, weil die
Gestaltung des Stoffs einer bestimmten Zwecksetzung, d.h. einer bestimmten
Intention folgt - und ist damit Sprache. Beides - Gestaltung wie
54
55
56
57
58
59
Der „wichtigste Punkt für die Natur des Geistes ist das Verhältniß (…) dessen, als was er s i c h
w e i ß ; dieses Sichwissen ist (…) Grundbestimmung seiner W i r k l i c h k e i t “ (GW 21, 16).
V 12, 44.
V 12, 45.
Hotho 1823, 13.
Hotho 1823, 12f.
Hotho 1823, 13.
21
Gestaltungszweck - erscheinen anschaulich für einen Nachvollzug im Werk.
Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, besteht der allgemeine Zweck
der Kunst darin, ein spezifisches historisches Selbst- und Weltverständnis,
eine
spezifische
Weltanschauung
bzw.
Weltdeutung
einer
Handlungsgemeinschaft in einer anschaubaren (seh- und hörbaren) KunstGestalt anschaulich darzustellen und dadurch für einen wirksamen
Nachvollzug zu vermitteln.
2.2.2
Der Begriff des Geistes
Wenn sich die Bedeutung des Werks im allgemeinen und des Kunstwerks im
besonderen aus der Einheit der Vollzüge „Arbeit“ („reale Existenz des
Geistes“) und „Sprache“ („ideale Existenz des Geistes“), damit aus dem
erkennend-handelnden Umgang des Menschen mit der Natur bestimmen läßt,
und eine Theorie des Naturschönen im Ausgang von einer Konzeption des
Kunstschönen entwickelt werden kann, dann ist der Begriff des Geistes als
noch vorerst nur behauptete Einheit von Erkennen und Handeln für eine
zureichende Grundlage dieser Konzeption noch genauer zu fassen. Für eine
erste Bestimmung menschlichen Erkennens wie Handelns sind insbesondere
die Begriffe der „Freiheit“, „Idealität“ und „Geschichtlichkeit“ des Geistes
entscheidend.
In den §§ 379-380 der Enzyklopädie macht Hegel zuerst auf eine
„eigenthümliche
Verständnis
des
Schwierigkeit“
Geistes,
aufmerksam,
insbesondere
im
die
einem
Unterschied
adäquaten
zur
Natur,
entgegenstehen könnte. Er nennt als entscheidendes Charakteristikum des
Geistes dessen „lebendige Einheit“60, die mit einem Terminus aktueller
Diskussionen als „Holismus“61 charakterisiert werden kann. Das bedeutet, die
„concrete Natur des Geistes“62 ist eine in sich gegliederte Einheit, in der die
Stufen und Bestimmungen des Geistes nur Momente sind. Das wiederum
bedeutet, daß der Geist nicht in „besondere Existenzen“ zerfällt, wie dies in
der Natur der Fall ist, wo beispielsweise die Materie „ihre freie Existenz als
60
61
62
22
Enz 1830, § 379.
Eine ausführliche Analyse der „concreten Natur des Geistes“ im Sinne eines Holismus liefert
Christoph Halbig, der diesen Holismus von einer in aktuellen Diskussionen häufig vertretenen
„Modularitätstheorie“ des Geistes unterscheidet und kritisch absetzt. Vgl. Christoph Halbig:
Objektives Denken, Kap. 3.
Enz 1830, § 380.
Sonnensystem hat“. Vollzugsformen wie Empfindung und Wahrnehmung
hingegen haben keine freie Existenz, sondern sind nur „Momente, Zustände,
Bestimmungen an den höhern Entwicklungsstufen“ des Geistes.63
Hegel wendet sich damit zum einen gegen die Vorstellung der damaligen
rationalen Psychologie, die den menschlichen Geist wie ein Ding durch
Verstandeskategorien analysiert, zum anderen gegen eine empirische
Psychologie, die die „Vermögen“ des Geistes empirisch aufgreift und zu einer
„Zersplitterung desselben in die verschiedenen, gegeneinander selbstständig
vorgestellten Vermögen, Kräfte“64, ja dazu führt, daß „der Geist auf diese
Weise zu einer verknöcherten, mechanischen Sammlung (…) zu einem
Aggregatwesen“65 gemacht wird. Hegels Konzeption des Geistes als
„lebendige Einheit“ hat zur Folge, daß geistige Vermögen wie Empfindung
und Gefühl sittliche und religiöse Inhalte, Kunst und Religion etwa
Stimmungen oder Anschauungen vermitteln können. Für den Naturvollzug
kann dies die Konsequenz haben, daß historisch vermittelte Kunsterfahrungen
oder spezifische Sehgewohnheiten gleichsam auf ästhetische Naturerfahrung
bildend oder formend einwirken („gebildete Anschauung“) und dazu führen,
Natur als schön, bei Abweichung von vertrauten Sehmustern als häßlich zu
erfahren. „Geist“ ist somit auch die Fähigkeit oder das Vermögen des
Menschen, seine natürlichen Voraussetzungen66 aufzuheben67. Der Mensch
kann in Distanz treten zur Natur und in und aus Freiheit Natur in Kultur
transformieren. Der menschliche Geist kann sich aber auch in eine der Natur
analoge Notwendigkeit verfangen, wenn Vollzüge - wie im genannten
Beispiel das Sehen von etwas als etwas - undurchschaut oder unreflektiert in
Gewohnheiten erstarren. Zudem bedarf der Geist der Natur, einmal zu seiner
Definition - er definiert sich in Differenz zu Natur68 -, darüber hinaus zum
63
64
65
66
67
68
Enz 1830, § 380.
Enz 1830, § 379.
Enz 1830, § 445.
„Der Geist h a t f ü r u n s d i e N a t u r zu seiner V o r a u s s e t z u n g , deren W a h r h e i t , und damit
deren a b s o l u t E r s t e s er ist“ (Enz 1830, § 381).
Der „Geist“ „k a n n (…) von allem Aeußerlichen und seiner eigenen Aeußerlichkeit, seinem
Daseyn selbst abstrahiren“ (Enz 1830, § 382).
In einem „Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes“, das Hegel Anfang der 1820er Jahre
verfaßt haben muß (GW 15, 207-249. Zur Datierung vgl. Ein Hegelsches Fragment zur
Philosophie des Geistes. Eingeleitet und hg. von Friedhelm Nicolin. In: Hegel-Studien 1 (1961),
17-48, Einleitung: 9-17) heißt es hierzu: „Den Begriff des Geistes festzusetzen, dazu ist nöthig, die
B e s t i m m t h e i t anzugeben, wodurch er die Idee als Geist ist. Alle Bestimmtheit ist aber
Bestimmtheit nur gegen eine andere Bestimmtheit; der des Geistes überhaupt steht zunächst die der
Natur gegenüber, und jene ist daher nur zugleich mit dieser zu fassen. Indem dieser Unterschied
23
Material für seine Kulturleistungen. So ist beispielsweise die Sprache für
Hegel ein Zeichen, das nicht ohne natürliches Material auskommt − beim
gesprochenen Wort sind dies Laute und Töne, beim geschriebenen Wort ist
dies die Schrift.69
Den
Unterschied
von
Geist
und
Natur
bzw.
die
prinzipielle
Eigentümlichkeit des Geistes gegenüber der Natur definiert Hegel vor dem
Hintergrund dieser Bestimmungen als „Freiheit“70. Seine „Tätigkeit“71 analog zu Fichtes „Tathandlung“ - ist zugleich seine Wirklichkeit, d.h.
Möglichkeit und Wirklichkeit fallen insofern zusammen, als die Wirklichkeit
des Geistes ohne Tätigkeit nicht zu haben ist72. Der Mensch ist daher immer
schon auf Verständigung73, auf (Selbst-)darstellung für sich selbst und andere
angewiesen, wie dies im Kunstwerk als Präsentation eines anschaulich
gestalteten
(Natur-)Vollzuges
für
den
Nachvollzug
einer
Handlungsgemeinschaft der Fall ist. Im Gegensatz dazu bleibt die Natur
vorderhand in sich verborgen, gewissermaßen in der eigenen Unmittelbarkeit
verhüllt74. Natur ist insofern durch einen Mangel an Transparenz, durch
fehlende Selbstmanifestation gekennzeichnet: Das ist mit ein Grund für
Hegels Aussage in den Ästhetikvorlesungen, sie mache es dem „Geiste
saurer“, sich zu erkennen.
Die Freiheit des „Geistes“ besteht demnach in einer Selbstkonstitution, da
dessen wesentliche „Tätigkeit“ überhaupt nur im subjektiven Vollzug
(subjektiver Geist) und dessen Vergegenständlichungen (objektiver Geist)
69
70
71
72
73
74
24
des Geistes und der Natur zunächst f ü r u n s , für die subjektive Reflexion ist, so wird sich dann an
ihm selbst zeigen, daß und wie Natur und Geist sich durch sich selbst aufeinander beziehen.“ (GW
15, 218).
Vgl. z.B. GW 6, 280ff.; V 13, 209; Enz 1830, § 458.
„Das W e s e n des Geistes ist deswegen formell die F r e i h e i t “ (Enz 1830, § 382). An anderen
Stellen heißt es: „Das Wesen des Geistes ist die Freiheit“ (Vorlesungen über die Philosophie des
Geistes. Berlin 1827/1828. Nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter,
hg. von Franz Hespe und Burkhard Tuschling unter Mitarbeit von Markus Eichel, Werner Euler,
Dieter Hüning, Torsten Poths und Uli Vogel, Hamburg 1994 [im folgenden: V 13], 12); die
„abs[olute] Anlage ist das, worauf sich alles reduziert, d[er] Urspr[ung]. Diese abs[olute] Anlage
oder Substanz des Geistes ist seine Freiheit, und die Bestimmung seines Tuns, die Tat des Geistes
ist, sich zu befreien“ (V 13, 7).
„Der Geist ist diß wesentlich, thätig zu seyn, das heißt, sich und zwar nur seinen Begriff zur
Erscheinung zu bringen, ihn zu offenbaren“ (GW 15, 218).
Das vollständige Zitat lautet: „Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die M a n i f e s t a t i o n . Er ist
nicht irgend eine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Aeußerung und Aeußerlichkeit nur davon
unterschiedene Form wäre; so daß er nicht E t w a s offenbart, sondern seine Bestimmtheit und
Inhalt ist dieses Offenbaren selbst“ (Enz 1830, § 383).
Die „Wurzel der Humanität“ (GW 2, 47) besteht in der Verständigung in „der Gemeinschaft der
Vernünftigkeit“ (Enz 1830, § 447).
Hegel benutzt häufig die Metapher, wonach die „physische Natur“ die Idee in der Form sei, „in die
sie sich selbst versenkt“ (V 12, 25).
Existenz gewinnt. Das heißt, nur durch „Tätigkeit“ (Vollzug) überhaupt wird
Welt, also die der Natur abgerungenen Behausungen, Einrichtungen,
Institutionen, Sittlichkeit und Staat, kurz: das Gesamt menschlicher Kultur
erschlossen. In der Enzyklopädie formuliert Hegel dies entsprechend so: Geist
ist „Setzen der Natur als seiner Welt“75. Infolgedessen erscheint Natur „im
Geist als Ideelles, als ein Gesetztes“76. Idealität verweist dementsprechend
zurück auf die „Freiheit“ menschlicher Vollzüge, ob diese nun theoretisch der
Erkenntnis oder praktisch dem Handeln dienen. So definiert Hegel in den
Vorlesungen zur Philosophie des Geistes von 1827/28 den Begriff der
„Idealität“ wie folgt:
„Die Bestimmung der Freiheit ist auch, was wir Idealität nennen, ein
Unterschied ist gesetzt, aber seine Selbständigkeit zugleich aufgehoben. Ich
verhalte mich idealistisch, ich schaue etwas an, und das ist selbständig gegen
mich, aber diese ganze Vorstellung ist mein, ich bin der Träger derselben,
das Selbständige, der Gegenstand ist ideal“77.
„Idealität“ heißt also, daß der Mensch Wirklichkeit erschließt, indem er
mittels subjektiver Vollzüge wie Wahrnehmung, Wollen, Denken etc. Inhalte
setzt, d.h. einem bestimmten (Erkenntnis-, Handlungs-, Gestaltungs)-Zweck
unterwirft. Entsprechend stellt Hegel die These auf, der menschliche Geist
erkläre jeden Inhalt zu „seinem Eigentum“78. Hegel bewegt sich auch mit
diesen Grundbegriffen seiner Philosophie weitgehend im Rahmen des von
Kant entwickelten transzendentalphilosophischen Ansatzes, wonach die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der
Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind.
Ein weiteres, für ein Verständnis nicht nur der Hegelschen Ästhetik,
sondern für dessen gesamte Philosophie des Geistes entscheidendes
Charakteristikum des Geistes, das auch für den Naturvollzug qua Erkennen
und Kunst relevant ist, ist dessen Geschichtlichkeit79. Auch der Naturvollzug dies wird zu zeigen sein - unterliegt der Geschichtlichkeit, mit erheblichen
Konsequenzen für Naturwahrnehmung, -erkenntnis und -darstellung. In der
75
76
77
78
79
Enz 1830, § 384.
Pfordten 1826, 71.
V 13, 15.
V 13, 141.
W. Jaeschke macht darauf aufmerksam, daß Hegel „mehr noch als Kant (…) aber auch als Herder
(…) der Entdecker der »Geschichtlichkeit« geworden“ sei, „ein Wort, das sich anscheinend
erstmals bei ihm findet“ (W. Jaeschke: Hegel-Handbuch, 353).
25
Enzyklopädie wird der Zusammenhang zwischen Geist und Geschichte nur
angedeutet, obwohl Hegel ausführlich beispielsweise die jeweilige Geschichte
der Kunst, Religion und Philosophie rekonstruiert. Im Zusammenhang der
Paragraphen zum „Begriff des Geistes“ findet sich lediglich eine knappe
Andeutung dahingehend, daß die Weltgeschichte nur „aus dem Drang“ zu
„begreifen“ sei, die „Definition“ des Absoluten als Geist „zu finden“.80
Allerdings findet sich beispielsweise in den Vorlesungen über die Philosophie
des Geistes von 1827/28 ein deutlicher Hinweis auf die Beziehung von Geist
und Geschichte. Geschichte ist Ausdrucksform des Geistes, weil Geist
Freiheit ist. Will man die Bedeutung des Geistbegriffs nicht losgelöst vom
Ursprung gleichsam „substantiviert“ fassen, so muß man an die Grundlage
Hegels erinnern, an die im Kantischen Sinne gewendete Frage nach dem, was
der Mensch aus sich machen, wozu er sich entwickeln soll. Da Hegel Geist
und Freiheit verknüpft, geht es in der Geschichte eindeutig um den auch sonst
geforderten „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“81, d.h. der Mensch muß
sich als freies und vernünftiges Wesen nicht nur begreifen, sondern zugleich
realisieren:
„Der Mensch soll sich hervorbringen, aber er kann sich zu nichts anderem
machen, kann keinen anderen Zweck haben, als was er ursprünglich an sich
ist. (…) Alles Interesse der Geschichte des Weltgeistes dreht sich um diesen
Unterschied, zum Bewußtsein zu bringen, was an sich ist, dies Innere, daß es
auch für sich werde“.82
Diesen notwendigen Zusammenhang von Erkenntnis des eigenen Wesens und
Realisation von Vernunft und Freiheit, also von Erkennen und Handeln
entwickelt Hegel in der Differenzierung des Begriffs des Geistes, konkret als
Gegenüberstellung von „subjektivem“ und „objektivem“ Geist. In dieser
differenzierenden Analyse faßt Hegel den Geist zunächst als Form der
Erkenntnis, um ihn dann aber sogleich in seiner Sachhaltigkeit zu erschließen,
indem er auf sein „Anderes“ bezogen wird, das im Erkennen und Handeln
vollzogen wird.
80
81
82
26
„D a s A b s o l u t e i s t d e r G e i s t (…) Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu
begreifen (…) aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen“ (Enz 1830, § 384).
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: TWA, Bd. 12, 32 u.ö.
V 13, 6f.
2.2.3
Subjektiver Geist als Grundlage des Naturvollzuges
In der Enzyklopädie bestimmt Hegel den „in seiner Idealität sich
entwickelnd[en]“ Geist „als erkennend“.83 Unter den Begriff des
„subjektiven Geistes“ faßt und behandelt er die verschiedenen Formen der
Erkenntnis im weitesten Sinne, wie etwa Empfindung und Gefühl,
Bewußtsein und Selbstbewußtsein, Anschauung und Vorstellung, Wissen und
Wollen.
Ziel
dieser
Rekonstruktion
der
verschiedenen
Stufen
der
Erkenntnisfähigkeiten des Menschen ist es aufzuweisen, daß der Mensch
seine Geistigkeit als Freiheit erkennt, das heißt, „im Anderen bei sich selbst
zu sein“ vermag. Durch diesen spezifischen Vollzug des Anderen, der Welt
der Dinge bzw. Natur ist - anders als bei Schelling, der die Philosophie der
Intelligenz und der Natur zunächst parallel neben einander entwickelt und erst
in der Philosophie der Kunst zu einer Synthese findet - eine ursprüngliche
Einheit der Bestimmung des Subjekts der Erkenntnis und des Erkannten
gesetzt. Im Sinne des Kantischen und Fichteschen transzendentalen Ansatzes
sind die Bestimmungen des „Selbstbewußtseyn[s] (…) eben so sehr
gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen
Gedanken“84. Der Mensch kann also durch Vernunft einsehen, daß erkannte
Natur und Welt ihm in seinen theoretischen wie praktischen Vollzügen nicht
als ein Fremdes gegenüberstehen. Noch einmal betont Hegel dies kurz danach
in der Enzyklopädie: Im Bezug zur Natur verhält der Mensch „sich nur zu
seinen eigenen Bestimmungen“85.
Hegel wiederholt hier einen Gedanken aus den Vorlesungen über die
Philosophie des Geistes von 1827/28. Hier sieht er es nicht nur als
methodische Fundierung der Erkenntnis, sondern als „allgemeines Gebot, daß
der Mensch sein Wesen, d.h. den Geist, erkenne“ - so sei den antiken
Griechen das „höchste Gebot“ gewesen: „Erkenne dich selbst“86. Gemeint ist
nicht eine „Selbsterkenntniß nach den particulären Fähigkeiten,
83
84
85
86
Enz 1830, § 387.
Enz 1830, § 439.
Enz 1830, § 440.
V 13, 5.
27
Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums“87, sondern ein
Selbstverständnis im Kontext geschichtlichen Erkennens wie Handelns.
In dem Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes bestimmt Hegel
„Geist“ als einen Übergang von Natur zu Freiheit:
„Wo er [Geist] herkommt, - es ist von der Natur; wo er hingeht, - es ist zu
seiner Freyheit. Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich
zu befreyen. Diß ist sosehr seine Substanz selbst, daß man von ihm nicht als
einem so feststehenden Subjecte sprechen darf, welches diß oder jenes thue
und wirke, als ob solche Thätigkeit eine Zufälligkeit, eine Art von Zustand
wäre, außer welchem es bestehe, sondern seine Thätigkeit ist seine
88
Substantialität, die Actuosität ist sein Seyn.“
Das Programm der gesamten Hegelschen Philosophie kann in diesem Sinne
unter die in der Phänomenologie des Geistes entwickelte zentrale These
gestellt werden, „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als
Subject aufzufassen und auszudrücken“89. Genauer gesagt, Wahrheit kann
nicht einfachhin durch die Sachverhalte, auf die das Erkennen wie Handeln
des Menschen bezogen sind, erschlossen werden, sondern Wahrheit wird
durch subjektive Reflexion und deren philosophische Prüfung - mit der
Differenz-Schrift: durch Spekulation im Sinne einer ‚Reflexion der
Reflexion’, d.h. einer Reflexion, „die sich selbst zu ihrem Gegenstand
macht“90
-
gewonnen.
zeitgenössischen
Hegel
Philosophie
entlehnt den Begriff „Subjekt“ der
und
Diskussion
um
„Subjektivität“,
insbesondere derjenigen von Kant, Reinhold, Fichte und Schelling.91 Der
Begriff der „Substanz“ verweist philosophiegeschichtlich auf Spinozas
Begriff einer „causa sui“92, damit auf eine Struktur der Selbstbeziehung, die
die gesamte Wirklichkeit umfaßt. Das im Begriff der „causa sui“ gedachte
Moment spontaner Selbstsetzung wird nun gedacht als Moment der
87
88
89
90
91
92
28
Enz 1830, § 377. - „Die Auslegung jenes Gebotes im Verstande einer Selbstkenntnis (…) wäre,
könnte man sagen, des delphischen Apollo, des Wissenden, unwürdig, weil solche subjective
Menschenkennerey, dem griechischen Geiste noch fremde und ein späteres, modernes Erzeugniß
ist“ (GW 15, 208).
GW 15, 249.
GW 9, 18. – Diesen Wechsel von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität, den
Hegel bereits in Jena vorgenommen hat, hat Klaus Düsing dargestellt: Von der Substanzmetaphysik
zur Philosophie der Subjektivität. Zum Paradigmenwechsel Hegels in Jena. In: Die
Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Hrsg. von Heinz Kimmerle, Berlin 2004,
185-199.
GW 4, 18.
Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels
„Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt a.M. 2000, 69.
Vgl. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4. Philosophie des
Mittelalters und der neueren Zeit. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke.
Vorlesungen, Band 9, Hamburg 1986, 41f, 98f, 104ff.
Subjektivität.93 Als grundlegende Momente von Subjektivität überhaupt lassen
sich „Tätigkeit, Beziehung, Selbstbeziehung und Zweckbeziehung“ sowie als
spezifische Momente des Geistes „Wissen und Sich-Wissen“94 herausstellen.
Zusammenfassend leistet Hegels Philosophie des subjektiven Geistes im
Hinblick auf die Frage, wie das Naturschöne als Form des Geistes zu
rekonstruieren ist, zweierlei: Erstens findet sich in der Theorie des subjektiven
Geistes der Ansatz der Naturerkenntnis, damit die Grundlage der Bestimmung
der Natur. Erst auf der Basis der Rekonstruktion des Naturvollzuges im Sinne
der Naturerkenntnis lassen sich die Grundlagen der gestalteten, im
ästhetischen Rezeptions- wie Produktionsgeschehen vollzogenen Natur, d.h.
der Natur als „Werk“ bzw. „Kunstwerk“ analysieren. Dies ist dann möglich,
wenn der Leitfaden der Überlegung, daß Natur als erkannte nur „für uns“,
nämlich uns Menschen nur im und durch den Vollzug gegeben ist, auf den
Vollzug der Natur als schöne Natur bezogen wird. Hierfür ist zuvor eine
genauere Untersuchung des „objektiven Geistes“ als Analyse menschlicher
Setzungen im Handeln, darauf aufbauend des „absoluten Geistes“ notwendig,
die diese Setzungen als Form des „Wissens und Sich-Wissens“ rekonstruiert.
Zweitens liefert die erreichte Bestimmung des Geistes als „Subjektivität“
einen Anknüpfungspunkt an ein für die „idealistische Ästhetik“ zentrales
Charakteristikum, nämlich die Verknüpfung von Schönheit und Kunst mit
Subjektivität.95 Von hier aus ergibt sich eine Argumentationslinie zur
Favorisierung des Kunstschönen als vom Menschen geschaffener (und als
solche
erklärbare)
gegenüber
der
Naturschönheit
als
vermeintlich
aufgefundener (und als solche „schwerer“ erklärbare) Schönheit sowie zum
„Ideal“ als „Form der Subjektivität“96.
Das Naturschöne gegen die philosophische Tradition analog zum
Kunstschönen aus dem menschlichen Vollzug zu rekonstruieren, verlangt
93
94
95
96
„Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt,
welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die
Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist“ (GW 9, 18).
Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, 182.
Diese Verknüpfung beschreibt Dieter Henrich wie folgt: „Die idealistische Ästhetik denkt Kunst
als das Hinaussetzen und Darstellen einer <Wahrheit> durch Subjektivität (...). Solche <Wahrheit>
bedarf der Subjektivität, um hervorzutreten und schließt sie somit in ihrem Begriffe ein. Deshalb
ist Subjektivität in ihr auch nicht negiert, sondern gerade begründet“ (Dieter Henrich: Kunst und
Natur in der idealistischen Ästhetik. In: H. R. Jauß: Nachahmung und Illusion. München 1964. S.
128-134; 133).
„Das Schöne auch noch als Idee in der Existenz zu erhalten, ist Ideal. Idee ist das allgemeine, Ideal
derselbe Inhalt, nur in Form der Subjektivität.“ (Libelt 1828/29, Ms. 22 a).
29
insofern den Nachweis, daß sowohl Naturwahrnehmung wie Naturdarstellung
„schöner“ Natur diese als Geformtes oder Gestaltetes, also als „für uns“
vermittelte Natur aus einem produktiven ästhetischen Vollzug voraussetzen.
Um diesen Nachweis in den weiteren Ausführungen erbringen zu können, ist
daher zunächst eine Analyse des „objektiven“ und „absoluten Geistes“ als
Grundlage der Bestimmung des Kunstwerks erforderlich. Die Analyse des
„objektiven Geistes“ hat vorab den Werk-Charakter des ästhetischen
Naturvollzuges aufzuzeigen.
2.2.4
Objektiver Geist als Grundlage der Bestimmung des
Werk-Charakters des ästhetischen Naturvollzuges
Hegels Begriff des „objektiven Geistes“ wird zumeist als Element seiner
Rechts- und Staatstheorie bzw. seiner Theorie der Sittlichkeit oder auch
allgemein als Element seiner Praktischen Philosophie analysiert. Aus dem
Blick geraten dabei leicht Phänomene, die ob ihrer Alltäglichkeit kaum der
philosophischen Rede Wert zu sein scheinen, aber ebenfalls in den Bereich
des „objektivierten“ oder „objektiven“ Geistes gehören. Vorrangig sind hier
Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände, Gerätschaften und Maschinen aller Art
zu nennen, aber auch - dies wird noch zu zeigen sein - das Phänomen der
Landschaft. Das, was Hegel unter dem Titel „objektiver Geist“ faßt, ist eine
vom handelnden Menschen in seiner Freiheit gestaltete und erwirkte Welt, in
der dessen Handlungs-Intentionen sich in einem Erwirkten, d.h. in einem
gestalteten Ding (Werk) oder in sozialen Institutionen und Organisationen mit
Orientierungsfunktion
(Sittlichkeit)
gegenständlich
werden,
sich
„objektivieren“. Der Begriff des objektiven Geistes erschließt insofern in
einem ersten Zugriff alle Kulturphänomene als Handlungsresultate, als
Setzungen des Menschen, die in ihrer und durch ihre Existenz gleichsam eine
Art Eigenwelt, ein „Anderes“ des Geistes darstellen, das jedoch nur aus der
subjektiven Setzung erschließbar ist.
Einerseits werden diese Handlungsresultate demzufolge als „geistige“ für
den Menschen erklärlich. In sozialen Institutionen wie Ehe und Familie, in
Organisationsformen
30
wie
Recht
und
Staat
sowie
in
Werkzeugen,
Gebrauchsgegenständen und in bearbeiteter Natur97 findet der Mensch sich
selbst, kann er die Dinge und Institutionen nur als seine Setzung erklären,
nicht als bloßes Faktum. Andererseits stehen dem Menschen die Phänomene
des „objektiven“ Geistes wie eine Natur gegenüber. In der aus Freiheit
gestalteten Realität aus Werken und Organisationsformen des Handelns
entsteht eine aus dem Geist gesetzte, nur als solche begreifbare, dennoch
zugleich durch naturhafte Notwendigkeit98 geprägte Wirklichkeit, die Hegel
deshalb als „zweite Natur“99 bezeichnet. Das vom Menschen Gemachte,
Gestaltete und Erwirkte erstarrt zu einer ‚Quasi-Natur’, die mit scheinbar
naturwüchsiger
‚Objektivität’
im
Sinne
von
‚menschenunabhängiger
Vorgegebenheit’ dem Menschen gegenübertritt. Die aus menschlicher
Handlungsfreiheit entstandenen „objektivierten“ Formen, Gestalten und
Phänomene treten mit einer zur ‚ersten’ Natur analogen Notwendigkeit auf,
aber als „eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der
Natur“100.
Zudem darf die Tatsache, daß die kulturelle Wirklichkeit Resultat bzw.
„Werk“ ist und damit die Phänomene des „objektiven Geistes“ nicht
einfachhin im Rahmen naturalistischer Reduktionsprogramme auf Natürliches
zurückgeführt werden können, nicht übersehen lassen, daß menschliche
Handlungszwecke und -intentionen „sich auf eine äußerliche vorgefundene
Objectivität“101 beziehen. Der Mensch „setzt“ Natur als Welt, indem er die
Natur zugleich als von dieser „Setzung“ unabhängige voraussetzt. Der
Mensch unterwirft die Natur seinen Zwecken, d.h. er unterwirft sie dem Ziel
der Gestaltung einer Welt im Vollzug seiner Freiheit. Aber er kann dies nur,
wenn er die Natur voraussetzt und als Material seiner Gestaltungen
gebraucht.102 Ohne dieses „Material“ kann keine Welt gestaltet werden.103
97
98
99
100
101
102
In Hegels Worten: Freiheit ist „sich zur Gegenständlichkeit zu entwickeln bestimmt, zur
rechtlichen, sittlichen und religiösen, wie wissenschaftlichen Wirklichkeit“ (Enz 1830, § 482). Die
„Zweckthätigkeit“ des freien Willens besteht darin, die Freiheit „in der äußerlich objectiven Seite
zu realisieren, daß sie als eine durch jenen [freien Willen] bestimmte Welt (…) zur Wirklichkeit
einer Welt gestaltet“ ist (Enz 1830, § 484).
Dies ist der Geist in der „Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und
hervorgebrachten Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Nothwendigkeit ist“ (Enz 1830, §
385).
Rph, § 4.
Rph, § 146.
Enz 1830, § 483.
Die „ä u ß e r l i c h e vorgefundene Objectivität“ fächert sich demzufolge auf in innere Natur, äußere
Natur und die „Pluralität und Intersubjektivität der Einzelwillen“ (H. Schnädelbach: Der objektive
Geist (§§ 483-552). In: Hegels ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ (1830). Ein
31
Hegel hat zwar die Definition der Phänomene des objektiven Geistes im
Sinne der „selbstbewußte[n] Freiheit“, die „zur Natur geworden“ ist104, in
den Grundlinien wie in der Enzyklopädie jeweils im Abschnitt über „Die
Sittlichkeit“, also im Hinblick auf Familie, Ehe, bürgerliche Gesellschaft,
Staat und Geschichte entwickelt. Wie die Berliner Vorlesungen zur Ästhetik
durch ihre Eingangsreflexionen aber zeigen, läßt sie sich auch auf die
Gestalten und Phänomene der vom Menschen bearbeiteten Natur sowie auf
Formen wahrgenommener und dargestellter Natur übertragen. Dies hat Hegel
in seiner Bestimmung des Werk-Begriffs als Einheit von Arbeit und Sprache
und ebenso in seiner Definition des Genies, durch die er sich von Schelling
absetzt, angelegt.105 „Genie“ ist nicht jemand, der mit für andere
unzugänglichen Vermögen ausgestattet ist, die ihn zu außergewöhnlichen
Leistungen und Werken befähigen. Genie ist statt dessen jemand, der mittels
der anschaulichen Gestaltung eines Kunstwerks allen Mitgliedern einer
Gemeinschaft zu Bewußtsein bringt, was durch die Arbeit aller in der
Geschichte erreicht werden konnte. Auch die Bearbeitung, Wahrnehmung und
Darstellung der Natur ist wie jedes andere Werk ein gesellschaftlichkulturelles Gemeinschaftsprojekt, das nicht als subjektive, sondern nur als
allgemeine Setzung ausgelegt werden kann. Mit Hegel: Es entspringt dem
„Geist eines Volks“ und ist nur aus diesem heraus verständlich.
In diesem Sinne ermöglicht die Theorie des objektiven Geistes einen
Brückenschlag nicht nur zum Naturvollzug, sondern erklärt auch, warum
Hegel dann in den Ästhetikvorlesungen vermutet, die Naturschönheit mache
es „dem Geiste saurer“106, sich zu erkennen, d.h. die als schön erfahrene oder
dargestellte Natur aus dem Naturvollzug, also der geistigen Vermittlung zu
analysieren. Es wird hier ausdrücklich nicht behauptet, Naturschönes sei dem
Geiste unerschließbar, sondern nur, es sei schwerer erschließbar bzw.
103
104
105
106
32
Kommentar zum Systemgrundriß, hg. von Hermann Drüe, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa
Hackenesch, Walter Jaeschke, Wolfgang Neuser und Herbert Schnädelbach, Frankfurt/M. 2000,
289-314; 293).
Die „ä u ß e r l i c h e vorgefundene Objectivität“ spaltet sich „in das anthropologische der
particulären Bedürfnisse, in die äußern Naturdinge, die für das Bewußtsein sind, und in das
Verhältniß von einzelnen zu einzelnen Willen, welche ein Selbstbewußtseyn ihrer als
verschiedener und particulärer sind. Diese Seite macht das äußerliche Material für das Daseyn des
Willens aus.“ (Enz 1830, § 483).
Enz 1830, § 513.
Vgl. Hotho 1823, 9f; Pfordten 1826, 106f; Kehler 1826, 62f. Zur Interpretation vgl. A. GethmannSiefert: Einführung in Hegels Ästhetik, insbes. 148ff.
Hotho 1823, 3.
zugänglich. Die Grundlage dieser Annahme ist offensichtlich Hegels These,
daß die Phänomene des „objektiven Geistes“ zwar als quasi „natürliche“
erscheinen und ihren geistigen Ursprung gewissermaßen ‚verbergen’, sich
dennoch nur als Resultat menschlicher Setzung (Gestaltung, Werk)
erschließen lassen. Dieser Vollzugs- oder Werkcharakter wird bei der Natur
wie beim Schönen der Natur nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt
deutlich.
Hier
muß
daher
der
bereits
angesprochene
notwendige
Vermittlungsschritt einbezogen werden, nämlich die Einsicht, daß Natur uns
nur im Bewußtsein, d.h. im Vollzug, und zwar zunächst als „das Andere“ des
Bewußtseins gegeben ist.
Um die spezifische Form des ästhetischen Naturvollzugs, damit die
Bedeutung des Begriffs der Naturschönheit präzisieren zu können, ist
infolgedessen eine genauere philosophische Analyse des Begriffs der Natur
als das „Andere des Geistes“ an dieser Stelle der Argumentation
zwischenzuschalten. Der theoretische wie praktische Umgang des Menschen
mit
Natur
ist
auf
der
Basis
der
Hegelschen
Ausführungen
zur
Naturphilosophie genauer zu bestimmen, um die Möglichkeiten des
Naturvollzuges daran anschließend differenzierter zu fassen und die
Besonderheit des ästhetischen Naturvollzugs in Abgrenzung zu den
theoretischen und praktischen Naturvollzügen vorbereitend in den Blick zu
nehmen.
2.3
Hegels Naturbegriff
Im Rahmen seiner Philosophie des Geistes entwickelt Hegel den Begriff der
Natur zunächst als das „Andere“ des Geistes. Es geht um die Frage, wie sich
die Sachhaltigkeit des Naturvollzuges aus dem Bezug zur Natur, d.h. aus der
Konstitutionsleistung des „Geistes“ ergibt und welche Konsequenzen dies für
den Begriff der Natur hat. Diese Konsequenzen übertragen sich letztlich auch
auf die Konstitution des „Naturschönen“.
In dem in der Jenaer Zeit entstandenen Vorlesungsfragment Das Wesen des
Geistes aus dem Jahre 1803107 bezeichnet Hegel die gängige Art des
Naturvollzugs als „gemeine Anschauung“ bzw. als „gemeine[s] Erkennen“.
107
GW 5, 370-373.
33
Dieses fasse die Natur nur als „das andersseyn des Geistes“, als „geistlose“
empirische Mannigfaltigkeit isolierter „Einzelnheit“, die „ein unbekanntes,
ein Jenseits“ bleibt, „das gleichgültig ist, Gott oder Natur zu nennen“.108 Aber
„wahrhaffter Geist“109 ist ein Naturvollzug nur als „das Aufheben seines
Andersseyns“. Diese Aufhebung ist nur möglich, wenn der Mensch im
Naturvollzug „erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist, daß sie [die
Natur] nichts anderes ist, als er selbst, gesetzt als ein entgegengesetztes“110.
Nur wenn diese (Selbst-)Erkenntnis gelingt, wird Natur dem Menschen
überhaupt erst verständlich, und zwar dadurch, „daß der Geist sich in der
Natur finde“. Mit Hegel: „Durch diese Erkenntniß wird der Geist frey, oder
durch diese Befreyung ist erst der Geist“.111 An anderer Stelle heißt es: „Das
Bild seiner selbst, das der Geist in der Natur anschaut, ist darum allein seine
Befreyung von der Natur, eben indem er sich sich selbst gegenüber stellt;
darin hört er auf, Natur zu seyn“112. Die Natur selbst erscheint nicht mehr
losgelöst vom erkennenden wie handelnden Umgang des Menschen mit ihr,
sondern wird auf unterschiedliche Weise als das „Meinige“, d.h. als im und
durch diesen (theoretischen wie praktischen) Umgang des Menschen mit
Natur erfahren.113
In unterschiedlichen Ansätzen entwickelt Hegel eine Bestimmung der
Natur, die er in den Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Natur
zusammenschließt. Für die folgende Analyse wird die Vorlesung von
1823/24114 zugrunde gelegt, da Hegel diese Vorlesung in unmittelbarer Nähe
108
109
110
111
112
113
114
34
GW 5, 372.
GW 5, 371.
GW 5, 370.
GW 5, 370.
GW 5, 371.
In diesem Sinne behauptet Hegel in der ersten Berliner Vorlesung zur Naturphilosophie von
1819/20, die Naturphilosophie könne als „verkörperte Vernunft“ betrachtet werden, wodurch die
Natur aufhöre, „ein Fremdes, Starres gegen mich zu sein, denn ihr Wesen ist ein Vernehmliches;
darin sehen wir uns selbst“; und in der „vernünftigen Erkenntnis lasse ich es [das Natürliche] frei
und «bin» ohne Furcht, es zu verlieren. Es ist ein in sich Geschlossenes und Vernünftiges, dessen
Freiheit für mich nichts Furchtbares hat, da sein Wesen das meinige ist.“ Der Mensch sei sogar
„nur insofern frei, als noch andere neben ihm frei sind. Die Naturphilosophie ist also die
Wissenschaft der Freiheit“ (G.W.F. Hegel: Naturphilosophie. Bd. I. Die Vorlesung von 1819/20, in
Verbindung mit Karl-Heinz Ilting hg. von Manfred Gies, Napoli 1982 [im folgenden zitiert als
Gies], 6).
G.W.F. Hegel. Vorlesung über Naturphilosophie Berlin 1823/24. Nachschrift von K.G.J.v.
Griesheim. Hrsg. und eingeleitet von Gilles Marmasse (Hegeliana. Bd. 12), Frankfurt am Main
2000 (im folgenden: Griesheim 1823/24). Hinweise auf die verschiedenen Vorlesungszyklen zur
Naturphilosophie geben die Herausgeber einer weiteren Vorlesung zur Naturphilosophie in:
Vorlesungen über die Philosophie der Natur. Berlin 1819/20. Nachgeschrieben von Johann Rudolf
Ringier, hg. von Martin Bondeli und Hoo Nam Seelmann, Hamburg 2002 (G.W.F. Hegel:
Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 16), Einleitung, XXI-XXVI.
zu seinen Ästhetikvorlesungen gehalten hat und offensichtlich den in der
Philosophie des Geistes entwickelten methodischen Zugang auch hier
beibehält. Da ein unmittelbarer Zugang zur Natur als solcher nicht
vorausgesetzt werden kann, kann Naturphilosophie im Gegensatz zu anderen
Wissenschaften ihren Gegenstand „Natur“ nicht einfach voraussetzen,
sondern, so Hegel, „die Natur muß bewiesen werden“, da ihre Notwendigkeit
„nicht vorausgesetzt werden kann“115. Um die Frage „Was ist Natur?“116
beantworten zu können, fragt Hegel daher, „in welchem Sinne“ wir über oder
von Natur sprechen, genauer gesagt diesen Ausdruck verwenden.117 Die
Bedeutung von „Natur“ ergibt sich infolgedessen insbesondere aus der
denkenden Hinwendung zur Natur. Allerdings gibt es auch „noch andere
Weisen sich zur Natur zu verhalten“. Gelingt es, diese Weisen des Verhaltens
zur Natur aufzufassen, so wird sich zeigen, daß in diesen Naturverhältnissen
„die Momente der Idee [der Natur] liegen“118.
Hegel beginnt dementsprechend seine Einleitung nicht direkt mit der
Explikation eines Begriffs der Natur, sondern er setzt an den Anfang seiner
Analyse die Unterscheidung von zwei fundamentalen Naturverhältnissen: das
praktische und das theoretische „Verhalten“119 zur Natur. Das praktische
„Verhalten hat es immer nur mit dem einzelnen Produkt der Natur zu thun,
oder mit einzelnen Seiten derselben“120; „der Mensch ist der Zweck“ dieses
Naturvollzuges, und er erschließt sich die Bedeutung von Natur nur aus
diesem Vollzug und dieser Zwecksetzung. Insofern ist der Mensch als
derjenige, der die Zwecke setzt, frei; die Naturdinge, insofern sie nur als
Mittel für menschliche Zwecke dienen, sind unfrei. Das theoretische
Verhältnis hemmt die Begierde des seine Zwecke verfolgenden Menschen; er
läßt die Dinge in ihrem Eigenbestand gelten und richtet sich in seiner
Erkenntnis nach ihnen. Dadurch werden die Naturdinge „zum Allgemeinen“
und „zu Freien gegen uns“121. Insofern der Mensch im theoretischen
Naturverhältnis auf seine Zwecksetzungen verzichtet, seine Begierde hemmt,
115
116
117
118
119
120
121
„Es ist daher nötig (…) zu beweisen daß eine Natur ist. (…) die Natur muß bewiesen werden; ihre
Nothwendigkeit, die Erschaffung der Natur, dieß ist etwas was nicht vorausgesetzt werden kann“
(Griesheim 1823/24, 61).
Griesheim 1823/24, 62.
Griesheim 1823/24, 63.
Griesheim 1823/24, 63.
Griesheim 1823/24, 63ff.
Griesheim 1823/24, 63.
Griesheim 1823/24, 65.
35
bleibt er der Natur in ihrem Eigenstand gegenüber unfrei. Dieser doppelte
„Gegensatz“ von Freiheit und Unfreiheit sowohl des Ich als der Natur122 kann
nur in einer philosophischen Einstellung zur Natur aufgehoben werden, die
die jeweils einseitige und - isoliert genommen - defizitäre theoretische
(naturbeobachtende und -erforschende) und praktische (naturbearbeitende und
-beherrschende) Einstellung versöhnen, d.h. nach ihrem jeweiligen Recht
untereinander vereinbar machen soll. In diesem Sinn hat Hegel bereits in der
vorhergehenden
Vorlesung
zur
Naturphilosophie
von
1819/20
eine
„Versöhnung des Geistes mit der Natur“123 gefordert.
Durch die philosophische Erschließung wird ein einseitiges theoretisches
Naturverhältnis durch Praxis belehrt mit dem Resultat, daß nur erkannt
werden kann, was uns nicht nur als opakes fremdes Selbständiges
gegenübersteht, sondern unserem die Dinge verallgemeinernden und Gesetze
aufstellenden Denken zugänglich ist. Denn, so Hegel, die „einzelnen Dinge
sind ebenso ideell, dieser idealistische Glaube liegt in dem was wir im
praktischen Verhalten gezeigt haben, daß die Dinge nichts an sich sind“124.
Ein einseitiges praktisches Naturverhältnis wird durch Theorie belehrt mit
dem Ergebnis, daß Natur unseren subjektiven Zwecken nur dann willfährig
sein kann, wenn sie eigenen allgemeinen Gesetzen folgt. Dadurch erst kann
der Mensch für seine Zwecke objektiv-allgemeine und in ihrer Verfügbarkeit
berechenbare und antizipierbare Mittel vorfinden.
Wenn die Rekonstruktion dieser beiden grundlegenden menschlichen
Naturvollzüge (Theorie/Denken und Praxis/Handeln) die Grundlage für ein
philosophisches Erfassen und Verständnis der Natur ist, dann bestätigt sich
aufs Neue die These, daß im Sinne Kants auch bei Hegel über eine Natur
unabhängig vom subjektiven Vollzug nicht sinnvoll gesprochen werden kann.
Schon der Begriff der Natur - noch vor jeder konkreten Bestimmung der Natur
- ist selbst eine Form der geistigen Vermittlung, Resultat einer Reflexion auf
die Gegebenheitsweise von Natur bzw. des subjektiven (theoretischen wie
praktischen) Vollzugs des objektiv Vorgegebenen. Dies entspricht dem
122
123
124
36
Griesheim 1823/24, 65.
V 16, 189.
Griesheim 1823/24, 69.
Zugang der Philosophie des Geistes, in der Hegel „Natur“ zuerst als das
„Andere“, das Verhältnis von Natur und Geist als „Anderssein“125 definiert.
Aus den beiden grundlegenden Naturvollzügen lassen sich mit Hegel die
beiden fundamentalen Gegebenheitsweisen der Natur herleiten. Die Natur
kann nämlich - als das Andere des Geistes - einmal als Kausalgefüge, also der
Notwendigkeit unterworfen, zum anderen als lebendige Natur analysiert
werden.126 Diese Gegebenheitsweisen lassen sich zudem mit den von Spinoza
der scholastischen Tradition entlehnten und von Schelling für seine
Naturphilosophie in Anspruch genommenen Begriffen natura naturans und
natura naturata charakterisieren.127 Der natura naturata entspricht die uns
zuerst als Objektwelt entgegentretende Natur, der natura naturans die Natur
in
ihrer
Freiheit
und
Lebendigkeit,
d.h.
in
ihrem
Selbstvollzug.
Dementsprechend verfolgt Hegel eine doppelte Konstitutionsanalyse dieser
beiden grundlegenden Gegebenheitsweisen der Natur. Die Objektwelt der
natura naturata konstituiert sich schrittweise über Differenzierungen der
sinnlichen Wahrnehmung, die letztlich zur Wahrnehmung von Körpern mit
seh-, hör- und fühlbaren Qualitäten führt.128 Auf diese Weise läßt sich der
Aufbau einer gegenständlich-widerständigen Welt durchaus aus subjektiven
Vollzügen rekonstruieren. Die Kategorien der in ihrer Lebendigkeit und
„Freiheit“ aufgefaßten Welt der natura naturans rekonstruiert Hegel als
Stufenfolge von den abstrakten Formen der Materie bis hin zum
Gattungsprozeß des Lebendigen, wobei auf diesen Stufen Vorformen von
Subjektivität und damit Freiheit ausgebildet werden. In der „Organologie“
schließlich sei „die Natur zu ihrer Freiheit gekommen, so weit sie kommen
kann“129. Die höchste Weise des Selbstbezugs der Natur, die in organischer
Vereinzelung besteht, namentlich des „animalischen Organismus“, nennt
Hegel dementsprechend auch „natürliche Subjectivität“130, da sie noch nicht
sich selbst denkende Subjektivität131 ist. Das philosophische Begreifen der
Natur
125
126
127
128
129
130
131
darf
folglich
auch
nicht
mit
der
(kausalen)
Analyse
der
GW 6, 317.
Hier erscheint Natur als „beseelter Zusammenhang“, der der „Materie in[newohnt]“ (Hotho 1823,
61).
Vgl. hierzu P. Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins, 301ff.
Vgl. hierzu P. Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins, 306ff.
V 16, 139.
Enz 1830, § 358.
Diese „Subjektivität kommt in der Natur nicht mehr dazu, daß sie sich Gegenstand ist“ (V 16, 141).
37
Naturwissenschaften gleichgesetzt, der Begriff der Natur nicht auf einen an
den Methoden der Naturwissenschaften allein orientierten szientifischen
Naturbegriff verkürzt werden.132
An dieser Stelle der Rekonstruktion des Hegelschen Naturbegriffs liegen
zwei mögliche Einwände nahe. Der eine Einwand könnte Hegels Idealismus
als ‚produktiven Idealismus’ mißverstehen, wonach es in der Macht des
Menschen liege, auch noch die Natur selbst in ihrer Materialität zu setzen
oder nicht zu setzen. Wenn Hegel freilich die beiden komplementären
Naturverhältnisse und die ihnen korrespondierenden Gegebenheitsweisen der
Natur aus dem subjektiven Vollzug konstitutionsanalytisch rekonstruiert und
als gleichberechtigte „Betrachtungsweisen“ der Natur behandelt, dann ist die
mit der Idealisierungsfähigkeit des erkennenden wie handelnden Menschen
verbundene „Freiheit vom und im Natürlichen“133 auch mit Hegel keinesfalls
als „Willkür“-Freiheit mißzuverstehen. Ein solcher Glauben an die
grenzenlose Macht des Geistes sei ein bloßer „Wunderglauben“134. In der
Vorlesung zur Naturphilosophie von 1819/20 stellt Hegel klar, daß ungeachtet
aller Idealisierungsleistungen des menschlichen Geistes die Natur das sei, was
sie ist, unabhängig vom Geist: „Wenn kein Geist wäre, so wäre sie doch, was
sie ist; sie ist für sich“135, d.h. unabhängig von einem möglichen Betrachter.
Daher wäre es eine „Torheit (…) ihre Realität zu leugnen“136.
Auch mag sich erneut der Einwand aufdrängen, die Hegelsche
Bestimmung des Begriffs der Natur werde dieser in ihrer vom menschlichen
Zugriff unabhängigen „Objektivität“ nicht gerecht, wenn Hegel die Natur der
„Herrschaft“ des subjektiven Geistes „opfert“.137 Zwar geht Hegel zu Anfang
der Ästhetikvorlesungen von der (häufig kritisierten) These aus, „daß um
soviel höher der Geist als die Natur ist, so viel höher das Kunstschöne als das
Naturschöne“138 sei. Auf der Basis seiner Kritik am „albernen“ oder
„schlechten Idealismus der modernen Zeit“, der davon ausgeht, „daß Ich das
Setzende ist“139 und die „Torheit“ begeht, die „Realität [der Natur] zu
132
133
134
135
136
137
138
139
38
Vgl. hierzu P. Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins, 309ff.
V 13, 19.
V 13, 18.
Gies, 9.
V 13, 17.
Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, 119f.
Kehler 1826, 1.
TWA 18, 405.
leugnen“140, wird aber deutlich, daß die im Einleitungskapitel erwähnte Kritik
am Ansatz der Ästhetik und damit am vermeintlichen „Dogmatismus“ des
Hegelschen Idealismus unbegründet, zumindest ungenau ist. Wenn Hegel
zeigt, daß es keinen unmittelbaren Zugang zur Natur gibt, dann verfolgt er
den gleichen Grundgedanken wie Kants transzendentalphilosophischer
Ansatz. Denn die Annahme eines unmittelbaren Naturzugangs ist für Kant
„Dogmatismus“, d.h. ein „Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende
Kritik ihres eigenen Vermögens“141, womit die Kritik an Hegels
„Dogmatismus“ sich gegen diejenigen selbst richtet, die sie äußern. Wird eine
solche Vernunftkritik im Hinblick auf den Naturvollzug durchgeführt, findet
man nämlich, „daß viele von den Sätzen, die wir als obiectiv ansehen, in der
That subiectiv seyen, d. i. die conditiones enthalten, unter denen wir allein
den Gegenstand einsehen oder begreifen“ können.142
Wenn Hegel daher für die Naturphilosophie und die Ästhetik fordert, „die
Idealität als die Wahrheit der Natur selbst zu betrachten“143, dann läßt sich
auch
diese
Forderung
als
Fortsetzung
und
Modifikation
des
transzendentalphilosophischen Ansatzes verstehen, wobei die Modifikation in
eben der Betonung der Andersheit und Selbständigkeit der Natur, in der
Angewiesenheit des Geistes auf Natur im Begreifen wie Handeln liegt.
Komplementär dazu zeigt die Analyse des Hegelschen Geist- wie
Naturbegriffs, daß über Natur unabhängig von Vollzügen nicht sinnvoll
gesprochen werden kann. Der „Begriff“ der Natur erschließt sich
ausschließlich durch die Rekonstruktion des Vollzuges von Natur und kann
daher nur als Form „geistiger“ Vermittlung gewonnen und bestimmt werden.
Strukturell ähnlich liegen die Dinge bei der Bestimmung des
„Naturschönen“. Auch hier muß sich zeigen lassen, daß das Naturschöne nur
als „geistig Hervorgebrachtes“, genauer gesagt als Schönes bestimmt werden
kann. In einer unreflektierten Einstellung könnte man annehmen, das Schöne
der Natur sei - analog zu den Naturdingen der natura naturata - ein in der
Natur Vor- und Auffindbares, das mehr oder weniger subjektiv verfremdet im
140
141
142
143
V 13, 17.
KrV, Vorrede, B XXXV.
Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der preußischen Akademie der Wissenschaften. Band
XVIII. Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlaß. Fünfter Band. Berlin und Leipzig 1928, Nr.
5116, Seite 95.
V 13, 15.
39
betrachtenden Bewußtsein „abgebildet“ wird, so wie die Objektwelt scheinbar
voraussetzungslos wahrgenommen werden könne. Hätte die Kunst die
Aufgabe, das Vorgegebene der Natur und Welt abzubilden - die bzw. der
Natur nachzuahmen -, so wird unterstellt, es gebe in der Natur Phänomene
und Gestalten, die von sich aus schön sind und in der Wahrnehmung eines
Betrachters voraussetzungslos als Naturschönes erfaßt werden können. Der
Rechtfertigungsgrund für die Verwendung des Prädikates „schön“ liegt dann
in der Natur selbst. Die grundsätzliche Frage ist aber, ob das, was als
Naturschönes bezeichnet wird, unvermittelt aufzufinden ist und ästhetisch
wahrgenommen oder künstlerisch abgebildet werden kann, oder ob sich das
Naturschöne
nicht
ebenso
wie
das
Naturverständnis
einem
voraussetzungsreichen Naturvollzug verdankt.
In seinen Ästhetikvorlesungen legt Hegel daher das Schöne, das heißt
primär das Kunstschöne und (wie zu zeigen sein wird) abgeleitet davon das
Naturschöne als Ideal und Werk, als eine menschlicher Gestaltung
entspringende Form der in ein anschauliches Ding gefaßten WirklichkeitsErfahrung, genauer gesagt als ein in sich reflexives dingliches Vorliegen
anschaulich vermittelter Welt- bzw. Natur-Deutung aus. Die Möglichkeit
einer ästhetischen Theorie des Naturschönen setzt also zunächst eine
Bestimmung des Grundbegriffs der Kunstschönheit als Ideal und Werk
voraus. Die Bedeutung des Werks als Einheit von Geist und Natur entwickelt
Hegel in seiner Theorie des objektiven Geistes, die spezifische Bedeutung des
Kunstwerks in der Theorie des absoluten Geistes. In diesem Zusammenhang
ist zum einen der Übergang vom objektiven zum absoluten Geist, damit vom
Werk zum Kunstwerk, zum anderen der Übergang von einer kulturrelativen
Gesamtdeutung einer Kultur durch Kunst zu Kunst als einer kulturinvarianten
Form geschichtlichen Bewußtseins erklärungsbedürftig.
2.4
Objektiver und absoluter Geist als Grundlage
der Bestimmung des Kunstwerks
Der „objektive Geist“ in Gestalt von Werkzeugen, Institutionen, Staaten ist
Resultat einer Handlung von Einzelnen, Gemeinschaften und Völkern mit der
Intention, das Überleben zu sichern und die Welt dementsprechend
40
einzurichten und zu gestalten. Obwohl Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände
und Institutionen sich nur durch Bezug auf menschliche Handlungszwecke
und auf ihren Nutzen als Mittel für die Erreichung dieser Zwecke erklären
lassen, weisen sie nicht zwangsläufig auf diese Handlungsabsichten zurück.
Es ließ sich im Gegenteil bereits zeigen, daß die Phänomene des objektiven
Geistes aufgrund ihrer Eigenart, als Handlungsresultat zugleich wie ein quasinatürlich Vorgegebenes zu erscheinen, ihre Handlungsurheberschaft (den
Menschen mit seinen Handlungsintentionen) in den Hintergrund treten lassen
können - zu sehr sind die Formen und Gestalten des objektiven Geistes an die
unmittelbaren Bedingungen des Handelns geknüpft. Sie sind - wie Hegel in
den Jenaer Systementwürfen von 1803/04 sagt - „Geist eines Volks“144, d.h.
eine in der Geschichte wirksame, weil sich in Werken realisierende
menschliche Vernunft. Den „Geist eines Volks“ hat Hegel dann in den Jenaer
Systementwürfen von 1803/04 als „absolute[n] Geist eines Volkes“145 und in
den Jenaer Systementwürfen von 1805/06 als Kunstwerk146 weiterbestimmt.
In diesem Übergang vom „Geist eines Volks“ zu den „absoluten Geistern der
Völker“ liegt der Übergang vom objektiven zum absoluten Geist.
Im Gegensatz zu den Werken im engeren Sinne des „objektiven Geistes“,
die auf Daseinssicherung und Gestaltung einer Welt mit dienlichen Mitteln,
also „utilitär“ abgezweckt sind, bringen die Werke der Kunst dem Menschen
seine eigenen Vermögen bzw. Fähigkeiten (den „Geist“) zur Anschauung,
insbesondere seine Fähigkeit zur Weltdeutung und Weltgestaltung. Das
Kunstwerk ist nicht nur - wie die Werke, die Hegel dem objektiven Geist
zuordnet - Handlungsresultat mit unmittelbar praktischem Nutzen (z.B.
Werkzeuge) oder Orientierungsfunktion (z.B. Institutionen), sondern es weist
darüber
hinaus
anschaulich
auf
den
Zweck
und
Urheber
der
Handlungsintention, auf Vernunft und Freiheit als Handlungsfähigkeiten des
Menschen.
144
145
146
GW 6, 314.
GW 6, 315.
GW 8, 263.
41
Im sog. „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ von 1797147
postuliert Hegel eine „Mythologie der Vernunft“, die zu mehr als einer
fiktiven ästhetischen Welt – so Hegels Kritik an Schiller und an der
Realitätsferne der Idee des Schönen in dessen Konzeption – führen soll,
nämlich zu einer tatsächlichen Veränderung der realen Verhältnisse.
Ausdrücklich behauptet er: „Ehe wir die Ideen ästhetisch d.h. mythologisch
machen, haben sie für das Volk kein Interesse“.148 Die Frage, wie sich
Vernunft und Freiheit in einer Welt des Zwanges in die geschichtliche
Realität umsetzen lassen, wie der Übergang von Schillers Bild besserer Zeiten
in reale institutionalisierte vernunftgeleitete Verhältnisse gelingen kann,
führen Hegel und Hölderlin dann gemeinsam dazu, in Auseinandersetzung
mit Schiller ein „Ideal der Volkserziehung“149, d.h. den Entwurf einer
Volksreligion zu entfalten, dessen notwendiges Moment die Kunst qua Poesie
ist.150 Kunst wird zur „Lehrerin der Völker“151 bzw. zur „Lehrerin der
Menschheit“152 erklärt. Die Vernunftidee soll anschaulich vermittelt und für
den Deutungszugriff des Menschen konkret faßlich und wirksam werden,
damit eine geschichtliche Selbst-Deutung und Orientierung menschlichen
Handelns in der Gemeinschaft möglich ist.
Im Hinblick auf die anfängliche Problemlage, die Hegel zu einer
Konzeption des Geistes geführt hat, nämlich die Abstraktheit, mit anderen
Worten die Herausgelöstheit der Kantischen Vernunftideen aus einem Praxisund Wirklichkeitszusammenhang, damit in ihrer Kluft zur Realisierung in der
Wirklichkeit, zu überwinden, hat diese Konzeption der „absoluten Geister der
147
148
149
150
151
152
42
Zwischen Philosophen und Philologen war lange umstritten, ob dieser Text von Hegel oder von
Hölderlin, Schelling oder Friedrich Schlegel verfaßt wurde. Eine detaillierte Auseinandersetzung
um das älteste Systemprogramm enthalten folgende Aufsatzbände: Das älteste Systemprogramm.
Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hrsg. von R. Bubner. Bonn 1973 (HegelStudien. Beiheft 9); Mythologie der Vernunft. Hegels ältestes Systemprogramm des deutschen
Idealismus. Hrsg. von C. Jamme und H. Schneider. Frankfurt a.M. 1984. Vgl. zudem A.
Gethmann-Siefert: Die geschichtliche Funktion der „Mythologie der Vernunft“ und die
Bestimmung des Kunstwerks in der „Ästhetik“. In: Mythologie der Vernunft, 226-260 sowie A.
Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 51.
Zitiert nach Mythologie der Vernunft, 13.
Hegel übernimmt schon im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus F. Schlegels
Bestimmung der Kunst als „Lehrerin des Volks“ in seine Philosophie (Über das Studium der
griechischen Poesie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter
Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Paderborn/München/Wien 1975. Bd. 1,
217 - 367, hier: 351). Zugleich führt er damit seine eigenen Bemühungen weiter, im Anschluß an
Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (Schillers Werke. Bd. 20, 337) ein
„Ideal der Volkserziehung“ zu konzipieren (vgl. Briefe, 20, 24f.).
Vgl. hierzu A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, Kap. 1.
Hotho 1823, 29.
Im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. Zitiert nach Mythologie der Vernunft, 13.
Völker“
den
Vorteil,
aus
der
gemeinsamen
Praxis
einer
Handlungsgemeinschaft heraus Vernunft und Freiheit als menschliche
Handlungsvermögen konkret wirksam, d.h. für alle faßlich und gültig zu
vermitteln. Die Vernunft ist demnach kein nur theoretisches Konstrukt, das
„nur als Begriff“ besteht, somit auf begriffliche Reflexion verwiesen ist und
für das individuelle Bewußtsein ein „absolutes Jenseits“ bleibt.153
Das Welt- wie Selbstverständnis einer Handlungsgemeinschaft, das Hegel
in diesen frühen Überlegungen als „absoluten Geist eines Volkes“ oder als
„absolute[s] Bewußtseyn“154 bezeichnet, ist demnach immer an eine
spezifische individuelle historische Kultur, d.h. an die „Weltanschauungen,
Religionen eines Volks“155 gebunden. Daher spricht Hegel in den
Ästhetikvorlesungen im Plural und nennt sie „Volksgeister“156. Die Poesie als
„Lehrerin der Völker“ bestimmt er als Deutungs- und Orientierungsinstanz;
die antiken Epopöen zeigen mithin eine „Galerie der Volksgeister“157. Die
Religion dient der Orientierung der Sittlichkeit. Kunst und Religion vereint
die Funktion einer Gesamtdeutung und Handlungsorientierung einer Kultur.
Die somit durch die „schöne Religion“158 gestiftete griechische pólis ist daher
als „Kunstwerk“ anzusehen:
„In der alten Zeit, war das schöne öffentliche Leben die Sitte aller, − Schönheit
unmittelbare Einheit des Allgemeinen und einzelnen, ein Kunstwerk, worin
kein Theil sich absondert vom Ganzen, sondern diese genialische Einheit des
159
sich wissenden Selbsts und seiner Darstellung [ist].“
Die individuellen „Volksgeister“ bleiben aber kultur-relativ. Die Frage, die
die Enzyklopädie daher beantworten soll, ist, ob die Funktion des „Geistes“
(„absoluter Geist eines Volkes“) als kulturelle Gesamtdeutung und
Handlungsorientierung einer Gemeinschaft in den historisch variablen
Kulturen und Epochen kultur- wie zeitinvariant gültig bleibt und
systematisch-methodisch gesichert werden kann. Hegel versucht, in der
systematischen Philosophie auf genau diese Frage eine Antwort zu finden,
indem er die historische Bedingtheit der mit dem „absoluten Geist eines
153
154
155
156
157
158
159
Vgl. GW 6, 331.
GW 6, 314.
Hotho 1823, 203.
Hotho 1823, 203.
Hotho 1823, 293.
Vgl. A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 67ff.
GW 8, 263.
43
Volkes“ verknüpften Geltungs- und Legitimationsansprüche nochmals
reflektiert.
Die Verallgemeinerung der Bestimmung des Geistes als Welt- wie
Selbstvollzug führt Hegel in der Enzyklopädie letztlich dazu, Kunst wie
Religion und Philosophie dem „absoluten Geist“ zuzuordnen. Nur die mit
Begriffen arbeitende Philosophie kann das, was die Kunst qua Anschauung
und
die
Religion
qua
Vorstellung
vermittelt,
kulturinvariant
und
allgemeingültig begründen und damit gegen Einwände absichern. Die
Philosophie erfaßt Kunst und Religion als kultur-invariante Konstellation, d.h.
als „absoluten Geist“ im Sinne einer überindividuellen und überzeitlichen
Form von Gültigkeit, insofern Kunst und Religion in jeder (individuellen)
Kultur und zu jeder Zeit die kulturelle Funktion der Weltdeutung und
Handlungsorientierung haben. In den Berliner Ästhetikvorlesungen greift
Hegel diese frühe, in den Systementwürfen entwickelte und in der
Enzyklopädie verallgemeinernd begründete Bestimmung des Kunstwerks
wieder auf und bezeichnet Kunst als das „anschauende Bewußtsein des
absoluten Geistes“160, d.h. als eine anschauliche Gestalt, die den „Geist eines
Volks“ aufscheinen läßt.
In diesem Sinne ist die in den Eingangsüberlegungen begründete
Bedingung für die Bestimmung des Kunstwerks erfüllt, Kunst könne nur dann
als quasi natürliches Ding und Werk des Menschen erfaßt werden, „wenn ein
eigenständiger Begriff einer Einheit von theoretischer und praktischer Instanz,
d.h. von subjektivem und objektivem Geist, der auch die Natur übergreift,
gesichert werden kann.“161. Durch Hegels Unterscheidung von subjektivem
und objektivem Geist, die jeweils aus den für ein vernünftiges und freies
Wesen charakteristischen Setzungen erschlossen werden, gewinnt man die
Basis für die Bestimmung des „Werks“ aus erkennendem Handeln. Jene
Werke, die eigens gestaltet sind, um die jeweiligen kulturellen Welten aus
dem Erkennen und Handeln des Menschen zu erschließen, die Kunst-Werke,
rechnet Hegel den von den unmittelbaren Bedingungen des Handelns
losgelösten Formen geistiger Setzung zu, also nicht dem „objektiven Geist“ -
160
161
44
Kehler 1826, 33.
Lu de Vos: Das Ideal. Anmerkungen zum spekulativen Begriff des Schönen, in: Hegel-Jahrbuch
2000, 13-20; 18. Vgl. auch ders.: Artikel „Kunst“, in: Hegel-Lexikon, Darmstadt 2006, 295-300.
obgleich auch hier gestaltete quasi-natürliche Dinge entstanden sind -,
sondern dem „absoluten Geist“.
Wenn im Anschluß an diese Ergebnisse im Folgenden zuerst die
Bestimmung des Ideals und Werks in der Ästhetik analysiert wird, muß die
Besonderheit des Hegelschen Begriffs der Schönheit bestimmt werden, um
von vornherein einen häufig gemachten Vorwurf gegen Hegels Ästhetik zu
entkräften, diese sei eine Form des „ästhetischen Platonismus“. Nach der
Bestimmung des Ideals wird sich dann zeigen müssen, ob und auf welche
Weise eine Bestimmung des Natur-Schönen an die Bestimmung des Ideals als
Vermittlung der Vernunftidee im Sinnlich-Anschaulichen anknüpfen kann.
45
3
Ideal und Naturschönes
Die systematischen Argumente für seine Einschätzung des Naturschönen und
insbesondere für die Entscheidung, in der Philosophie der Kunst beim
Kunstschönen anzusetzen, entwickelt Hegel in der Bestimmung des Ideals
und - abgeleitet aus der Bestimmung des Ideals - in seiner Konzeption des
Kunstwerks. Ginge man von der gängigen Hegelkritik aus, so hätte das
Naturschöne für die Ästhetik in der Tat keine Bedeutung. Der „Bereich“, d.h.
das Untersuchungsfeld der philosophischen Ästhetik ist das Reich der
„Schönheit“, „näherhin“ betrachtet „die Kunstschönheit“. Da Hegel seine
Entscheidung für den Ansatz beim Kunstschönen unter anderem auch damit
begründet, daß von einer Analyse des Kunstschönen auch die Bestimmung
des Naturschönen zu entwickeln sei, muß die Bestimmung des Ideals diese
Option mit ermöglichen.
Die Gewichtung des Naturschönen hängt also letztlich ab von der
Definition des Kunstschönen als „Ideal“. Die entscheidende Frage wird sein,
ob ein „Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit“162 oder die
Behauptung, „daß um soviel höher der Geist als die Natur ist, so viel höher
das Kunstschöne als das Naturschöne“163, eine Definition des Ideals erlaubt,
die auch den Bereich des Naturschönen erschließt und insbesondere dann
auch Kunstwerke, die die Schönheit der Natur zum Gegenstand haben, in
ihrer Bedeutung einschätzen kann. Da diese Frage auf einen „Streit“ zwischen
Kant und Hegel hinausläuft und in der idealistischen wie nachidealistischen
Ästhetik der maßgebliche Bezugspunkt164 für die in dieser Arbeit behandelte
Thematik der Konzeption des Naturschönen bei Hegel ist, ist es erforderlich,
zuerst die Gründe für Kants Gewichtung des Naturschönen wenigstens kurz
zu skizzieren. Auf diese Aspekte und Weichenstellungen reagiert Hegel mit
der eigenen Theorie des Naturschönen implizit wie explizit.
162
163
164
46
KU, § 42.
Kehler 1826, 1.
Diese These notiert J. Kulenkampff: Es gibt zu Kant und Hegel als „den beiden Vätern der
Ästhetik gar keine Alternativen. Die europäische Ästhetik vor Kant ist eigentlich nur
Vorgeschichte zur philosophischen Ästhetik, und die philosophische Ästhetik von Hegel bis heute
ist immer nur eine Spielart des kantschen oder des hegelschen Typs“ (J. Kulenkampff: Metaphysik
und Ästhetik: Kant zum Beispiel, in: Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur
philosophischen Ästhetik, hg. von Andrea Kern und Ruth Sonderegger, Frankfurt/M. 2002, 49-80;
80).
Im Rahmen der „Aufklärungsästhetik“ gewinnt das Naturschöne eine
herausragende
Bedeutung.
Ästhetikkonzeptionen
geht
In
der
den
Begriff
klassizistisch-objektivistischen
des
Naturschönen
„in
die
Nachahmungslehre ein“165, Natur wird zum Paradigma für Kunst und „zum
Synonym der ‚Vernunft‘“166. Kant allerdings trennt in seinen beiden Kritiken,
in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft, die
Bereiche der Natur und der Vernunft (Freiheit) durch eine unüberbrückbar
scheinende Kluft. In jedem dieser Bereiche regiert eine autonome
Gesetzgebung: im sinnlichen Bereich der Erscheinungen der Natur die vom
Verstand apriorisch konstituierten Naturgesetze, im übersinnlichen Bereich
der Freiheit das Sittengesetz der Vernunft. Kants Kritik der Urteilskraft hat
die Aufgabe, diese Kluft zwischen dem Übersinnlichen (Freiheit, Sittlichkeit)
und Sinnlichen (Natur, Welt) zu überbrücken, damit es möglich sei, daß die
Vernunftforderungen in der Realität tatsächlich verwirklicht werden können
und nicht bloßes Postulat bleiben müssen. Deshalb hat die Vernunft ein
Interesse daran, Indizien aufzuspüren, die nahelegen könnten, daß die
Wirklichkeit der Vernunft vielleicht doch Realisierungsmöglichkeiten bietet.
Die Frage ist, ob es ästhetische Natur- und/oder Kunstvollzüge gibt, die mit
Vernunftideen verknüpft sind und die genannte Kluft überwinden können.
Kant analysiert dementsprechend sowohl den Kunstvollzug als auch den
Naturvollzug im Hinblick auf diese Leistungsfähigkeit.
Eine erste Form der Verbindung eines ästhetischen Naturvollzuges mit den
praktischen Vernunftideen sieht Kant exemplarisch in der Erfahrung des
„Erhabenen“, wenn auch nur auf negative Weise. Kant übernimmt die
Kategorie des „Erhabenen“ aus der empiristischen Tradition und gibt ihr
einen neuen Sinn, indem Natur ungeachtet ihres Schreckens und ihrer Zwänge
dem Menschen eine Erfahrung seiner Freiheit im Gegensatz zum
Ausgeliefertsein an die Natur eröffnet. Das Erhabene löst ein zwiespältiges
Gefühl aus Unlust und Lust aus (Burke). Einerseits scheitert die
Einbildungskraft in ihrer Synthetisierungsfunktion am unfaßbar und
unvorstellbar Großen der Natur: Unlust ist die Folge. Andererseits vermag die
165
166
G. Tonelli/C. Hufnagel: Artikel „Naturschönheit/Kunstschönheit“, in: J. Ritter u.a. (Hg.):
Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Basel/Stuttgart 1984, Spalte 623-633; Spalte 625.
Ernst Cassirer: Grundprobleme der Ästhetik (Band V der Schriften zur Kunsttheorie, hrsg. von
Hein Stünke), Berlin 1989, S. 13.
47
Vernunft dieses Scheitern der Einbildungskraft dadurch ins Positive zu
wenden, daß sie infolge ihres unendlichen Vermögens der Ideen selbst noch
die unermeßliche Gewalt der Natur durch das Bewußtsein der Macht dieses
intelligiblen Vermögens über die Natur zu bezwingen vermag. Auf diese
Weise wird sich der Mensch im Gefühl des Erhabenen seiner Freiheit
gegenüber der endlichen sinnlichen Seite seines Wesens bewußt: Ein Gefühl
der Lust ist die Folge. Diese so erfahrene Freiheit ermöglicht es dem
Menschen, sich selbst als sittliches Wesen zu erfahren. Zwar zeigt sich in der
Erfahrung des Erhabenen vorrangig die Differenz zwischen Anschauung (der
übermächtigen Natur) und Vernunftideen, aber sie sind für die Vernunft
bedeutsam, weil „das Erhabene jederzeit Beziehung auf die Denkungsart“ hat
und den „Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht“ verschafft167, d.h.
einer ethischen Dimension einen Freiraum verschafft.
Im Hinblick auf die Frage, ob die Erfahrung des Erhabenen für alle
Menschen gleichermaßen möglich sei, geht Kant einerseits davon aus, daß nur
eine solche Kultur, die bereits in der Kultivierung der Vernunft weit
vorangeschritten sei, überhaupt dem Gefühl des Erhabenen eine zentrale
Bedeutung einräumen könne:
„In der Tat wird ohne Entwicklung sittlicher Ideen das, was wir, durch Kultur
vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß abschreckend
168
vorkommen“ .
Andererseits ist die Erfahrung des Erhabenen nicht einfach „Konvention“,
also kontingente Übereinkunft in einer Kultur und Gesellschaft, sondern alle
Menschen in jeder Kultur verfügen grundsätzlich über das Potential der
Vernunft und damit der Erfahrung des Erhabenen.
„Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur Kultur bedarf (…),
ist es doch dadurch nicht eben von der Kultur zuerst erzeugt und etwa bloß
konventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt; sondern es hat seine
Grundlage in der menschlichen Natur, und zwar demjenigen, was man mit
dem gesunden Verstande zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern
167
168
48
KU, A 124.
KU, § 29. - Kant nennt als Beispiel die Mahnungen eines („rohen“) savoyischen Bauern, der
empfindsam-enthusiastische („kulturell vorbereitete“) Alpenreisende vor den Gefahren der
Eisgebirge warnen will.
kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem
169
moralischen“ .
Die Kultivierung der Vernunft, die bei der Analyse des Erhabenen
insbesondere mit Blick auf eine vernunftgebildete Kultur vorausgesetzt
wurde, spielt auch dann eine Rolle, wenn die Kultiviertheit einer einzelnen
Person in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. In genau diesem
Zusammenhang räumt Kant dem Naturschönen einen „Vorzug“ vor dem
Kunstschönen ein. Kant glaubt, „daß ein unmittelbares Interesse an der
Schönheit der Natur zu nehmen (...) jederzeit ein Kennzeichen einer guten
Seele sei; und daß, wenn dieses Interesse habituell ist, es wenigstens eine dem
moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung anzeige, wenn es sich mit der
Beschauung der Natur gerne verbindet“170. Ein Mensch, der solcherweise
einen Zugang zur Natur findet, „stimmt mit der geläuterten und gründlichen
Denkungsart aller Menschen überein, die ihr sittliches Gefühl kultiviert
haben“171. Dieses „sittliche Gefühl“ ist es, was sich in diesem Naturvollzug
ausdrückt. Ein solchermaßen gebildeter Mensch steht nach Kant sogar höher
als einer, der „Geschmack genug hat, um über Produkte der schönen Kunst
mit der größten Richtigkeit und Feinheit zu urteilen“.172 Der Kunstkenner
gewinnt durch das Kunstschöne eine „Lust des Geschmacks“, der
Naturbetrachter gewinnt durch das Naturschöne eine „Lust des moralischen
Gefühls“.173 Zwar ist für Kant ein für die Schönheit der Natur empfänglicher
Mensch nicht automatisch gut. Aber dieser praktiziere immerhin eine der
moralischen
Beurteilungsweise
analoge
Beurteilung
schöner
Naturgegenstände und lasse daher zumindest eine „Anlage zu guter
moralischer Gesinnung“ vermuten. Das Interesse an Kunstschönheit hingegen
läßt keinerlei Rückschlüsse auf eine moralische Denkungsart zu.
Da also die Naturschönheit im erläuterten Sinne eine Fähigkeit des
Vernunftgebrauchs voraussetzt, kann Kant abgeleitet von dieser Überlegung
zwar nicht das Urteil über das Schöne (die Fähigkeit des Kenners), wohl aber
das Kunstwerk als „Symbol der Sittlichkeit“174 definieren. Kunst hat dann die
169
170
171
172
173
174
KU, § 29.
KU, § 42.
KU, § 42.
KU, § 42.
KU, § 42.
KU, § 59.
49
Aufgabe, den Vollzug des Erhabenen der Natur anläßlich eines gestalteten
Dinges zu wiederholen, und zwar in seiner Funktion als „Symbol der
Sittlichkeit“.
Der
kultivierte
Naturbetrachter,
dessen
Interesse
am
Naturschönen „der Verwandtschaft nach moralisch“ ist, kann dieses Interesse
nur haben, insofern „er vorher schon sein Interesse am Sittlich-Guten wohl
gegründet hat“.175 Ebenso muß der Kunstkenner dieses Interesse am Guten
schon mitbringen, wenn er einen kultivierten Geschmack („Cultur des
Geschmacks“)
als
„Vorübung
zur
Moral“176
ausbilden
und
wahre
Kennerschaft erreichen will. Denn der Geschmack ist „im Grunde ein
Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen“, sodaß die „wahre
Propädeutik zur Gründung des Geschmacks die Entwicklung sittlicher Ideen
und die Kultur des moralischen Gefühls“177 ist. Insofern wäre Aufgabe der
Kunst, die Funktion des Naturschönen im Kunstwerk nachzuahmen, um den
Kunstbetrachter qua Anschauung zum Vollzug sittlicher Ideen anzustiften.
Diese Nachahmung ist nicht Nachahmung der natura naturata im Sinne
vorbildhafter Naturdinge, sondern Nachahmung der natura naturans im Sinne
dieser vorbildhaften Evozierung sittlicher Ideen. Schöne Kunst muß daher
aussehen wie Natur.178 Dann kann sie das Vermögen der Natur nachahmen,
im Menschen - insbesondere sittliche - Vernunftideen zu evozieren. Die Frage
ist allerdings, wie diese Art der Repräsentation der Natur im Kunstwerk
wiederholt, durch es evoziert werden kann, und zwar nun als Erfahrung der
Schönheit.
Kant kann dieses Anschlußproblem nur über seine Konzeption des Genies
lösen. Das Genie schafft - wenn es ein Kunstwerk hervorbringt - wie die
Natur und schreibt so der Kunst die Regeln vor. Das heißt, das Genie vermag
es, Natur in ihrer Schöpferkraft (natura naturans) und Evozierung der
Vernunftideen nachzuahmen. Hier ist es dann die Natur, die durch das Genie
„der Kunst die Regel gibt“.179 In diesem Sinne ist auch ersichtlich, daß das
Genie „dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen ist“180, d.h. einer
175
176
177
178
179
180
50
KU, § 42.
I. Kant: Aus den Reflexionen zur Ästhetik, Nr. 993, S. 483, in: Kants Gesammelte Schriften
(Akademieausgabe), Bd. 15.1, Berlin 1923.
KU, § 60.
„Die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns
doch als Natur aussieht“ (KU, § 45).
KU, § 46.
KU, § 47.
Nachahmung der natura naturata. Auf dem Umweg über eine Natur, die als
menschliches Genie deren Schöpferkraft und Originalität nachahmt, soll
gesichert werden, daß das angeschaute Kunstschöne nur in der Vorstellung,
mit Kant: „in der bloßen Beurteilung (nicht in der Sinnesempfindung, noch
durch einen Begriff) gefällt“.181 Damit modifiziert Kant seine Bestimmung
des interesselosen Wohlgefallens im Rahmen des Kunstgefallens, d.h. des
Gefallens an einem (schönen) Symbol des Sittlichen.182
Sowohl Rezeption wie Produktion der Kunst scheinen Regeln zu folgen, so
daß das Geschmacksurteil (dieser Gegenstand, dieses Werk ist „schön“)
Anspruch auf allgemeine Beistimmung erheben kann. Da diese Regeln
aufgrund der geforderten Reinheit des Geschmacksurteils im Sinne der
Unabhängigkeit von begrifflichen Bestimmungen „keine objektive[n]
Geschmacksregel[n]“ sein können, bleibt Kant nur der Ausweg, ein „Urbild
des Geschmacks“ zu postulieren, das er als „Ideal des Schönen“ bestimmt und
das, da es nicht auf Begriffen beruht, nur ein „Ideal der Einbildungskraft“ sein
kann.183 Wenn der Geschmack, wie gezeigt, ein „Beurteilungsvermögen der
Versinnlichung sittlicher Ideen“184 ist, dann ist zu erwarten, daß das Ideal als
„Urbild des Geschmacks“ nicht nur induktiv aus der Erfahrung gewonnene
empirische Allgemeinheit (die „Normalidee“) erreicht, sondern zugleich mit
der „Vernunftidee“ verbunden ist. Diese macht gerade „die Zwecke der
Menschheit, sofern sie nicht sinnlich vorgestellt werden können, zum Prinzip
der Beurteilung einer Gestalt“185. Die einzige geistige Naturgestalt, die diese
Bedingungen erfüllt, ist die Gestalt des Menschen. Da aber für Kant die Kunst
nicht Naturphänomene (qua natura naturata) - also auch nicht die Gestalt des
Menschen - einfachhin nachahmen soll, sondern eine „schöne Vorstellung von
einem Dinge“186 ist, also einen Welt- bzw. Naturvollzug darstellt, greift Kant
auf die in der Kunst bereits vermittelte Gestalt des Menschen zurück,
namentlich auf die griechische Skulptur, die in ihrer Darstellungsart
exemplarisch sein soll. Diese in der Kunst dargestellte menschliche Gestalt
181
182
183
184
185
186
KU, § 45.
Diese Differenzen hat G. Felten in ihrer Analyse der Kantischen Urteile über Schönheit sowie der
Kunstschönheit herausgearbeitet: G. Felten: Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie
des ästhetischen Urteils (Reihe: Neuzeit & Gegenwart. Philosophie in Wissenschaft und
Gesellschaft), München 2004.
KU, § 17.
KU, § 60.
KU, § 17.
KU, § 48.
51
dient Kant als „Ideal der Schönheit“, d.h. als eine versinnlichte
Vernunftidee187 und damit als der „sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen“.188
Mit diesen Bestimmungen bereitet Kant die Art und Weise vor, wie später
Hegel, vermittelt über Schillers Kantinterpretation189 in Zusammenarbeit mit
Hölderlin, seine eigene Konzeption des Ideals gewinnt. Allerdings - dies
werden die weiteren Ausführungen zeigen - gewichtet Hegel das Naturschöne
im Gegensatz zu Kant als das abgeleitete gegenüber dem Kunstschönen, zieht
er andere und weitergehende Konsequenzen als Kant. Die Überlegungen der
Ästhetikvorlesung
zeigen,
daß
Hegel
im
Sinne
einer
Transzendentalphilosophie deren Probleme aufgreift und zu lösen versucht.
Dabei
zeigt
sich,
daß
sein
Lösungsvorschlag
gleichsam
den
transzendentalphilosophischen Grundgedanken, nämlich die Angewiesenheit
sachhaltiger Aussagen über die Wirklichkeit auf wirklichkeitserschließende
Vollzüge (wie sich an der Bestimmung des „Geistes“ zeigte), ernst nimmt.
Daß er bei der Ausführung dieses Unternehmens Kants Grundkonstellation
der Ästhetik - den „Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit“ genau umkehrt, müßte sich am Ende in dem Sinne als plausibel erweisen, daß
Hegel Probleme, die er in der Kantischen Ästhetik kritisiert, vermeiden und
trotzdem wesentliche Überlegungen Kants übernehmen kann.
3.1
Die Idee der Schönheit
Hegel bestimmt in den Berliner Ästhetikvorlesungen das „Kunstschöne“ als
„Ideal“, und zwar als eine noch näher zu bestimmende Form der
Repräsentation der „Idee des Schönen“ und gibt dadurch Anlaß für drei
typische Mißverständnisse, die insgesamt in die Kritik des „Ästhetischen
Platonismus“ münden und den sogenannten Klassizismusvorwurf gegen
Hegels Ästhetik190 begründen.
187
188
189
190
52
KU, § 60.
KU, § 17.
Vgl. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte, insbesondere Kap. 1.; dies.:
Einführung in die Ästhetik, insbesondere Kap. 3.2.
Zum „Klassizismusvorwurf“ gegen Hegels Ästhetik vgl. die differenzierte, wenn auch ältere Studie
von Helmut Kuhn: Hegels Ästhetik als System des Klassizismus. In: Archiv für Geschichte der
Philosophie. 40 (1931), 90-105. Vgl. insbes. A. Gethmann-Siefert: Hegels These vom Ende der
Kunst und der „Klassizismus“ der Ästhetik. In: Hegel-Studien. 19 (1984), 205-258.
Das erste Mißverständnis betrifft die Deutung der „Idee des Schönen“ als
Platonismus. Dieses Problem hat K. Düsing auf der Basis einer Analyse der
vorsystematischen „theologischen Jugendschriften“ Hegels diskutiert.191
Düsings zentrale These besteht in dem Vorwurf, Hegel entwerfe in den
genannten Schriften - ähnlich wie Hölderlin - „Grundzüge eines ästhetischen
Platonismus“.192 Dieser bestehe darin, „daß die Wahrheit und die Güte“, also
das Wahre und das Gute, durch die leitende Idee der Schönheit vereinigt
werden“, wobei das Schöne die „höchste, grundlegende Idee“ sei193. Damit
spielt Düsing auf die klassische platonische Ideentrias des Wahren-GutenSchönen an. A. Gethmann-Siefert hat dagegen zeigen können, daß bereits in
Hegels frühen Überlegungen das Schöne die Funktion hat, die (Kantische
Vernunft-)Idee bzw. das Göttliche qua künstlerische Phantasie und
Darstellung ästhetisch und zugleich geschichtlich zu vermitteln.194 Hegel geht
demgemäß nicht von einer platonischen Idee des Schönen aus, sondern
bestimmt bereits hier das Schöne als Ideal und damit als spezifische Form der
Vermittlung der Idee (Vernunftidee) mit der Wirklichkeit. Diese Bestimmung
ist auch die entscheidende Grundlage der Berliner Ästhetikvorlesungen.
„Schönheit“ wird in Hegels religionskritischen Jugendschriften mit dem
Begriff des Handelns verknüpft. Das „schöne“ Handeln der Tugendlehrer
konkretisiert bzw. realisiert die Vernunftidee – also die Fähigkeit des
Menschen, frei und vernünftig zu handeln − und entfaltet dadurch lebendige
geschichtliche Wirksamkeit. Die Person des Tugendlehrers sowie dessen
Handlungswirklichkeit bezeichnet Hegel als „Ideal“, die Verbindung
zwischen der realisierten Vernunftidee und ihrer geschichtlichen Wirksamkeit
als „Schönheit“. Da Hegel von dieser Linie seiner Bestimmung des Ideals
weder in der Jenaer Zeit noch später in der Philosophie der Kunst abweicht 191
192
193
194
Klaus Düsing: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel. In: Homburg v.d. Höhe in der
deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis von Hegel und Hölderlin. Hrsg. von
Christoph Jamme und Otto Pöggeler. Stuttgart 1981 (Deutscher Idealismus. Philosophie und
Wirkungsgeschichte in Quellen und Studien. 4), 101-117. - Düsing untersucht insbesondere das
„Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ und die Entwürfe zum „Geist des
Christentums“. Diese Texte sind überliefert in: Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. von H.
Nohl, Tübingen 1907.
Klaus Düsing: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel, 115.
Ebd. - Düsing bezieht sich auf folgende Stelle im „ältesten Systemprogramm“: „Ich bin nun
überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfast, ein ästhetischer Akt
ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind (zitiert nach: Mythologie
der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm“ des deutschen Idealismus. Hrsg. von Ch.
Jamme/H. Schneider, FaM 1984, 12).
A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 56f.
53
wie A. Gethmann-Siefert in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Analyse
nachgewiesen hat195 - verliert die Kritik des „ästhetischen Platonismus“ ihre
Grundlage.
Das zweite Mißverständnis der Idee des Schönen hat Hegels Schüler H.G.
Hotho in seiner eigenen Ästhetik entwickelt. Es besteht in der Trennung einer
„Idee des Schönen“ und ihrer Wirklichkeit in Natur (als Naturschönes) und
Kunst (als Kunstschönes), wobei die Überwindung der Trennung in einem
gleichsam dialektischen „Dreischritt“196 mit Entäußerung aus der Abstraktheit
der Idee (das Schöne) in die Natur und vermittelter Rückkehr in die
Kunstwirklichkeit stattfindet.197 Wirkungsgeschichtlich interessant und
folgenreich ist Hothos Integration dieser Gedankenfigur in die Druckfassung
der Hegelschen Ästhetik. Sie hat nicht nur zu dem immer wieder gegen Hegel
erhobenen Vorwurf des Platonismus geführt, sondern auch der Kritik der
Abwertung des Naturschönen gegenüber dem Kunstschönen Nahrung
gegeben.
Ein Folgeproblem ergibt sich mit der Bestimmung des Kunstschönen - des
„Ideals“, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden - als „sinnliches
Scheinen der Idee“198. Diese Definition, die in keiner der durch Nachschriften
dokumentierten Ästhetikvorlesungen Hegels zu finden ist, führt nicht nur zu
einer Fehldeutung der Sinnlichkeit in der Kunst im Sinne eines „ästhetischen
Platonismus“, sondern auch zu einer Modifikation des von Hegel unterstellten
195
196
197
198
54
Vgl. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte.
Diesen „Dreischritt“, dessen Voraussetzungen und problematische Ausführung wie Konsequenzen
hat ausführlich Lu De Vos untersucht. Vgl. hierzu Lu De Vos: Von der spekulativen Logik des
Ideals zu Hothos Schematismus der Triplizität. In: Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte.
Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2008,
191-203.
Hotho hat diesen Entwicklungsgang in seiner Ästhetikvorlesung von 1833 wie folgt
zusammengefaßt: „Wir werden hier vom Kunstschönen sprechen. Ehe wir aber bis dahin gelangen,
müssen wir zwei Stadien durchlaufen, weil das Kunstschöne als das Totale, Höchste nur als
Resultat früherer Stadien auftreten kann. Wir müssen es als Unendliches, als Einheit von
Unterschiedenen zeigen, aber so, daß die Totalität es selbst ist, die sich so in Unterschiedenes setzt
und mit entgegengesetzter Tätigkeit sie als Ideelles in sich aufhebt. Dies nennt man die
Selbstvermittlung. Jedes Wahrhafte, weil es nicht abstrakt ist, ist so sich selbst vermittelnd
darzustellen. - Die Kunstschönheit ist [eine] solche Totalität, die durch Vermittlung der abstrakten
unterschiedenen Seiten entstanden ist: Diese zwei Seiten sind erstens das Schöne, seinem reinen
Begriff nach, zweitens das unmittelbare, nur äußerlich vorhandene Schöne, das noch nicht vom
Bewußten reproduziert ist, das Naturschöne.“ (Immanuel Hegel 1833, 22) - Vgl. hierzu auch den
Kommentar von Bernadette Collenberg-Plotnikov in der angegebenen Edition: Einleitung:
Philosophische Grundlagen der Kunstgeschichte als historischer Wissenschaft im Hegelianismus.
Zu Heinrich Gustav Hothos Entwurf einer ‚spekulativen Kunstgeschichte, XIX-XCIX; XXV-XXIX
sowie die Sachanmerkung 15 auf S. 268f.
So die bekannte und wirkungsgeschichtlich bedeutsame Definition des Ideals in der Überlieferung
der von Hegels Schüler H.G. Hotho herausgegebenen Druckfassung der Ästhetik. Vgl. TWA 13,
151 u.ö.
Wahrheitsbegriffs. Fehlgedeutet wird die Sinnlichkeit in der Kunst, weil sie
nicht als bereits reflexive, mit Hegel „vergeistigte“ Form, sondern als
täuschungsanfällige Rezeption und Darstellung der sinnlich-haptischen
Oberfläche anschaubarer Objekte verstanden wird. Die Sinnlichkeit in der
Kunst führt aber - nach Hegel - nicht zur Täuschung über die Realität,
sondern zur ästhetischen Erschließung der Realität. Die „Idee“ in ihrer
geschichtlichen Realität wird über die „vergeistigte“ Form des Sinnlichen
anschaulich vermittelt. Der Wahrheitsbegriff im Sinne des Platonismus ist
gegen Hegels These gesetzt, daß das Sinnliche in Form des Scheins der Kunst
einerseits „wesentliches Moment des Wesens selbst“199 ist, aber aufgrund
seiner Äußerlichkeit „nur Zeichen der Idee“200, damit eine nicht notwendige,
sondern zufällige Gestalt der Idee und damit der Wahrheit sein kann. Das
bedeutet, Kunst kann nicht letztgültige Vermittlung der Wahrheit sein,
sondern sie verweist auf andere Medien der Wahrheitsvermittlung, die einen
höheren Grad an Reflexivität erreichen und der „vernunftfordernden
Vernunft“ der Gegenwart gerecht werden. Diese These Hegels hat dann den
Streit über die sogenannte „These vom Ende der Kunst“ ausgelöst.201 Hegel
selbst richtet seine These, die Kunst sei „ihrer höchsten Möglichkeit“ nach
etwas Vergangenes, vor allem gegen Schelling, der die Kunst zur höchsten
Vermittlungsform des Absoluten und der christlichen Religion erhebt.202
Indem die Wahrheitsvermittlung durch Kunst auf sinnliche Medien und auf
sinnliches Material angewiesen und beschränkt ist, kann Kunst nämlich „nicht
die höchste Weise sei[n], die Wahrheit auszusprechen“203. Gegen Schelling
gerichtet argumentiert Hegel daher, in der Kunst sei
199
200
201
202
203
Hotho 1823, 2.
Enz 1830, § 556.
Vgl. dazu: A. Gethmann-Siefert: Hegels These vom Ende der Kunst und der „Klassizismus“ der
Ästhetik. In: Hegel-Studien. 19 (1984). 205-258; dies.: Ist die Kunst tot und zu Ende?
Überlegungen zu Hegels Ästhetik, Erlangen und Jena 1994; dies.: Einführung in die Ästhetik. 230232; dies.: Eine Diskussion ohne Ende: zu Hegels These vom Ende der Kunst. In: Hegel-Studien.
16 (1981). 230-243; dies.: Einführung in Hegels Ästhetik, Kap. 2.2; Willi Oelmüller: Hegels Satz
vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. In: Philosophisches
Jahrbuch LXXIII. 1965-66. 75-94.
A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 159, 148ff. - In diesem Zusammenhang ließe
sich zudem Schellings Bestimmung der Kunst noch eher als „ästhetischer Platonismus“ bezeichnen
als diejenige von Hegel. Denn Schelling bezeichnet die Kunstproduktion als Darstellung der
„Formen der Dinge wie sie in Gott sind“ (Crabb Robinson, § 3), damit als Nachahmung der Ideen
Gottes in der Wirklichkeit.
Hotho 1823, 5.
55
„nur eine gewisse Stufe der Wahrheit fähig, Inhalt der Kunst zu sein. Denn es
gibt eine tiefere Existenz der Idee, die das Sinnliche nicht mehr auszudrücken
vermag, und dies ist der Inhalt unserer Religion, Bildung (...) Unsere Welt,
Religion und Vernunftbildung ist über die Kunst als die höchste Stufe, das
Absolute auszudrücken, um eine Stufe hinaus.“204
Die platonische Deutung der „Idee des Schönen“ gipfelt zuletzt in einem
dritten Mißverständnis, und zwar in der Annahme, daß die von Hegel
eingeführte „Idee des Schönen“ als Fehldeutung des Phänomens der Kunst
und dementsprechend in einer Philosophie der Kunst als fehlplaziert zu
betrachten sei.205 Hegels Rückgriff auf „Schönheit“ werde mit der die Berliner
Ästhetikvorlesungen tragenden „geistesgeschichtlichen Konzeption“ nicht
vermittelt. Daher müsse die Kunst als Ausdruck der Entzweiung und
Vergegenständlichung des Geistes, nicht aber als Verwirklichung der Idee des
Schönen angesehen werden.206 Eine solche Deutung muß sich allerdings in
der Perspektive der bislang erreichten Rekonstruktion der Hegelschen
Überlegungen den Vorwurf gefallen lassen, nicht zur Kenntnis zu nehmen,
daß bei Hegel das Schöne nicht an sich, gleichsam losgelöst von seiner
Wirklichkeit vorkommt, sondern nur - wie die weiteren Ausführungen noch
deutlicher zeigen werden - als Ideal bzw. als Kunstwerk. Ein platonischer
Chorismós ist bei Hegel nicht auszumachen, wohl aber in der von Jaeschke
vorgebrachten Kritik an der Hegelschen Ästhetik. Hegels Bestimmung des
Ideals zeigt eindeutig, daß er ohne die typisch platonische Abwertung der
Kunst als sinnlicher Schein von Schein, genauer gesagt als „Schatten von
Schatten“207 auch in der Ästhetik noch von der Notwendigkeit einer
anschaulichen Vermittlung der (Kantischen) Vernunftidee ausgeht.
3.2
Das Ideal
Nachweislich hat Hegel eine erste Bestimmung des Ideals als Konzept eines
am
204
205
206
207
56
„schönen
Handeln“
der
Tugendlehrer
orientierten
„Ideals
der
Hotho 1823, 5 f.
Diese Deutung hat Walter Jaeschke vorgetragen und die These vertreten, dieser Begriff
unterbestimme Hegels Philosophie der Kunst, weshalb er gänzlich für eine Begründung derselben
ungeeignet sei (Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, 422ff).
Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, 429.
Vgl. Politeia St. 509f (Liniengleichnis) sowie St. 597f (Wesensbildner, Werkbildner und
Nachbildner).
Volkserziehung“ durch Kunst wie Mythologie entfaltet.208 Dieser Konnex zur
Bedeutung des Handelns spiegelt sich in seiner Philosophie des Geistes wie
der Natur, ist aber auch das Fundament der Definition des Ideals in den
Ästhetikvorlesungen, und zwar als „gestaltete Idee“ sowie als „Dasein“,
„Existenz“ oder „Lebendigkeit der Idee“. In den frühen Überlegungen
betrachtet
Hegel
nicht
nur
das
Handeln
vorbildlicher
Individuen
(Tugendlehrer), sondern letztlich die durch ihr Handeln und in ihrer
Nachfolge entstandene geschichtliche Realität als Ideal im Vollsinn. So ist die
schöne Religion der Griechen durch die in der Kunst gestifteten Bilder der
Götter die Vernunftidee in einer staatlich organisierten Gemeinschaft (pólis).
Die geschichtliche Realität der antiken griechischen pólis selbst bezeichnet
Hegel als Kunstwerk.
In den Berliner Ästhetikvorlesungen knüpft Hegel an diese frühen
Bestimmungen des Ideals und des Kunstwerks an. Anfänglich verbindet er
den Begriff der „Schönheit“ mit dem des „Scheins“ und bestimmt in der
ersten Berliner Ästhetikvorlesung von 1820/21 das Schöne als „das Wahre in
äußerlicher Existenz, in sinnlicher Vorstellung“209. Das Schöne ist nicht ein
bloßer sinnlicher Schein, der die Erkenntnis des „Wahren“ wie ein trüber
Schatten vereiteln könnte oder eine rein anagogische Funktion im Hinblick
auf ein übersinnlich-wahrhaftes Schönes hätte.210 Statt dessen ist der Schein
notwendiges Moment der Wahrheit selbst. Hegel verbindet ausdrücklich den
Begriff des Schönen etymologisch mit dem Begriff des Scheins, um zu
zeigen, daß der schöne Schein sich nicht gegen die Realität und die Wahrheit
der Wirklichkeit ausspielen läßt, sondern der Entfaltung der Wahrheit
wesentlich ist:
„Schön kommt her von Scheinen; d.h. der Begriff kommt auch zum Scheinen.
(…) Im Schönen ist das Seyn als Schein gesetzt; denn der Begriff dringt durch
die Äußerlichkeit hindurch, scheint. Also steht das Scheinen höher als das
208
209
210
Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert, die diese Entwicklungsgeschichte im Zusammenhang entwickelt
hat: Einführung in Hegels Ästhetik, insbes. Kap. 1.1.
Von Ascheberg 1820/21, 49.
Dies wäre die klassische platonische Auffassung. Den Aufstieg über eine „Stufenleiter“ von den
„schönen Leibern“ zur Idee des Schönen als dem „Urschönen“ schildert Platon im Symposion, St.
210-212.
57
Seyn; denn erst durch dieses Hervortreten an die Äußerlichkeit erhält das
Wesen ein Seyn, d.h. es scheint; also ist die Wahrheit selbst dies Scheinen“211.
Die Begründung dafür, warum das Scheinen „höher“ zu stellen sei als das
Sein, ist nur dann zu verstehen, wenn die für die Philosophie des sog.
„Deutschen Idealismus“ maßgebliche transzendentalphilosophische Wende
auch hier beachtet wird. Das unvermittelte „Sein“, also die unvermittelte
Realität gibt dem Menschen aus sich selbst heraus keinerlei Auskunft darüber,
was es wesentlich sei. Dies ist erst durch Vollzug der Realität, d.h. durch
Denken,
Erkennen
und
Handeln
möglich.
Wendet
man
diesen
transzendentalphilosophischen Grundgedanken auf die Kunst an, dann ist der
Schein statt Täuschung über die Realität vielmehr Erschließung der Realität
im Medium der Anschauung. Der Künstler „setzt“ das bloße Sein der Realität
als „Schein“, d.h. er bringt die „Idee“ als die geschichtlich vermittelte
Wahrheit an der äußeren sinnlichen Realität zur Erscheinung212.
In der Ästhetikvorlesung von 1823 definiert Hegel den Schein als
„wesentliches Moment des Wesens selbst“213, d.h. als Erscheinung des
Wesentlichen des dargestellten Inhaltes. Der Schein ist demnach das Mittel
der Darstellung der Idee in der sinnlich-anschaulichen Gestalt214 und zugleich
das Mittel der Kunst, das sie vom bloß Sinnlichen abhebt. Daher ergreift der
Künstler nicht das Sinnliche der „konkreten Materiatur“, sondern „nur die
Oberfläche des Sinnlichen“215, d.h. als Medium zur Darstellung von Sinn216.
Mit den Begriffen „Schein“ und „Wesen“ greift Hegel auf Bestimmungen
der Logik zurück, die für die Konzeption des Ideals und des Kunstwerks
insofern von zentraler Bedeutung sind, als sie den grundlegenden ästhetischen
Vollzug in und durch Kunst verständlich machen sollen. Im Gegensatz zu den
Kategorien der „Seinslogik“, die das thematisieren, was dem unbefangenen
Bewußtsein als Referenzebene des Sprechens, Wahrnehmens, Vorstellens,
211
212
213
214
215
216
58
Von Ascheberg 1820/21, 49.
In der Vorlesung von 1826 heißt es entsprechend: „Der Künstler eben ist es, der die Idee an der
Realität scheinen macht“ (Kehler 1826, 40).
Hotho 1823, 2.
So daß „die Kunst die Idee darstellt durch den Schein“, wie es 1826 heißt (Pfordten 1826, Ms. 7).
Hotho 1823, 20.
Hegel spielt an anderer Stelle mit dieser Doppelbedeutung von „Sinn“: „Sinn ist nämlich dies
wunderbare Wort, welches zwei entgegengesetzte Bedeutungen hat; denn Sinn ist einmal
unmittelbares Organ des sinnlichen Auffassens, und andererseits heißen wir Sinn: die Bedeutung,
d. h. das Andere des Sinnlichen, das Innere, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Das eine ist
die Sache als Unmittelbares, das andere der Gedanke der Sache. Und beides nennen wir Sinn“
(Hotho 1823, 59f).
Denkens gilt, seien dies nun Gegenstände, Wahrnehmungen, Abstrakta,
Vorstellungen oder Gedanken217, ergeben sich die Kategorien der
„Wesenslogik“ aus einer Reflexion auf das Vergangene. So heißt es in der
Logik: „Die Sprache hat im Zeitwort: Seyn, das Wesen in der vergangenen
Zeit: gewesen, behalten; denn das Wesen ist das vergangene, aber zeitlos
vergangene Seyn“218. Gemeint ist damit eine Besinnung auf und das
Begreifen dessen, was es eigentlich war, was im Sprechen, Wahrnehmen,
Vorstellen und Denken auf eine bestimmte Art und Weise thematisiert wurde.
Der Schein ist diejenige Bestimmung, durch die etwas für uns erschlossen
werden kann, d.h. nicht mehr in der Unmittelbarkeit bloßer Gegebenheit
(„Sein“) besteht, sondern reflektiert erscheint. Das heißt, ein unmittelbarer,
zumeist tradierter Weltzugang, eine gewöhnliche Auffassungsweise von
Dingen, Objekten, Phänomenen wird abgelöst durch eine reflektiertere
Auffassung, durch die eine Orientierung in der Welt möglich wird, die sich
allerdings in der Praxis bewähren muß, wo wir also sagen, daß etwas „nicht
so…“, sondern „in Wirklichkeit“ doch eigentlich „so…“ sei.219
Die bislang entwickelten Argumente legen scheinbar eine Interpretation
des Ideals und damit des Kunstwerks als „Scheinen der Idee“220 oder als
„Scheinen des Begriffs“221 nahe. Eine solche Definition provoziert die Frage,
ob es eine „Logik der Kunst“222 geben kann, die Hegels in der Logik
entwickelten und explizierten Scheinbegriff ins Zentrum ihrer Überlegungen
stellt. Da Hegels Logik das ambitionierte Ziel verfolgt, klassische Logik und
Ontologie (Metaphysik) zu vereinen, also eine Einheit von Logik und
Metaphysik bzw. von Denken und Sein zu explizieren, wird jeweils
unterstellt, die Kategorien der Logik determinierten die Kategorien der
217
218
219
220
221
222
Für diese Interpretation der Hegelschen logischen Kategorien stütze ich mich auf die Arbeiten von
P. Stekeler-Weithofer, der meines Wissens den bislang einzigen vollständigen Versuch vorgelegt
hat, Hegels gesamte Logik in eine Sprache zu übersetzen, die an aktuelle Diskussionen Anschluß
finden kann. Vgl. insbes. P. Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft
der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn 1992 sowie ders.: Philosophie des
Selbstbewußtseins.
GW 11, 241.
Vgl. P. Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie, 230.
Diese von Hegels Schüler H.G. Hotho in die Druckfassung der Ästhetik integrierte,
wirkungsgeschichtlich überaus folgenreiche Definition des Ideals hat A. Gethmann-Siefert in
zahlreichen Studien als Zutat Hothos aufgedeckt und gezeigt, auf welchen begrifflichen
Grundlagen sie beruht und warum sie auf einem platonistischen Mißverständnis der Hegelschen
Grundlage in dessen Ästhetikvorlesungen beruht. Vgl. hierzu zuletzt: A. Gethmann-Siefert:
Einführung in Hegels Ästhetik, 29f., 241ff. u. ö.
So der Anspruch von Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst, Hamburg
1997.
Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst.
59
Realphilosophie (Philosophie der Natur und des Geistes), diese müßten jenen
„entsprechen“ bzw. diese seien die „Anwendung“ jener. Gegen eine solche
Interpretation des Verhältnisses der logischen zu den realphilosophischen
Kategorien spricht allerdings schon aus pragmatischen Gründen, daß dieses
Verhältnis ein in der Hegelforschung umstrittenes und kaum zu lösendes
Problem darstellt.223
Um in diesem Zusammenhang unlösbare Begründungsschwierigkeiten zu
vermeiden, die wohl nur um den Preis eines dogmatischen, in ein logisches
Korsett gezwängten Systems zu umgehen wären, erscheint es sinnvoller, die
logischen Kategorien als Grundbestimmungen zu interpretieren, die einen
Rahmen setzen, innerhalb dessen der realphilosophische Sachverhalt, d.h. ein
konkretes Phänomen der natürlichen oder geistigen (kulturellen) Wirklichkeit,
philosophisch untersucht werden kann - die also gleichsam eine heuristische
Funktion haben. Dies hat zur Folge, die Realphilosophie nicht als bloße
Anwendung der Logik zu verstehen. Im Hinblick auf eine Philosophie der
Kunst erscheint es daher nicht praktikabel und nicht sinnvoll, im Ausgang von
Hegels Logik zu demonstrieren, daß und wie logische Kategorien die Struktur
und die Inhalte der Ästhetik vorausbestimmen und diese im Rahmen einer
„Logik der Kunst“ rekonstruiert werden müssen.224 Wenn Hegel den Begriff
des „Schönen“ in den Ästhetikvorlesungen anfänglich mit dem des „Scheins“
semantisch verknüpft, verfolgt er daher nicht die Absicht, aus dem in der
Logik entwickelten Begriff des „Scheins“ denjenigen des Ideals einfachhin
abzuleiten.
Dagegen spricht erstens, daß Hegel als „Gegenstand der Kunst“ nur die
„sinnliche Oberfläche, das Erscheinen des Sinnlichen als solchen“225
betrachtet. Dieses ist zwar schon ein „Ideelles“, aber noch kein „abstrakt
Ideelles“, d.h. kein Gedanke. Mit dem „Ideal“ ist demnach eine „Mittel- und
Mittlerstellung zwischen dem Sinnlichen als solchem und dem reinen
223
224
225
60
Mit D. Emundts und R.-P. Horstmann läßt sich exemplarisch sagen: „Wie die einzelnen Inhalte der
Realphilosophie sich den Hegelschen Begriffsbestimmungen genau zuordnen lassen sollen, ist
allerdings schwer einzusehen und stellt ein Problem bei der Interpretation des Zusammenhangs der
Logik und der Realphilosophie dar“ (D. Emundts/R.-P. Horstmann: G.W.F. Hegel. Eine
Einführung, Stuttgart 2002, 83).
A. Gethmann-Siefert hat in mehreren Arbeiten wiederholt auf die sich aus der Hegelschen Logik
und ihrer behaupteten Einheit von Logik und Metaphysik bzw. von Denken und Sein ergebenden
Begründungslasten hingewiesen. Vgl. z.B. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der
Geschichte, 8f. u. ö.
Hotho 1823, 20.
Gedanken“226 angesprochen, die ausschließt, daß das Schöne bzw. die Kunst
ins
Logische
fällt227.
Wenn
Hegel
das
Schöne
in
den
Berliner
Ästhetikvorlesungen von vornherein als Ideal bestimmt, dann kann dieses
gerade nicht, wie dies für die Kategorien der Logik gilt, von den
geschichtlichen Realisierungsmöglichkeiten getrennt und so zum Gegenstand
der Logik werden.228 Zweitens spricht auch die Weiterbestimmung des Ideals
durch den Begriff der „Gestalt“ und durch - neben der Kategorie des
„Scheins“ - weitere Kategorien der Logik, nämlich „Dasein“, „Existenz“ und
„Lebendigkeit der Idee“, gegen eine einfache Ableitung des Begriffs des
„Ideals“ aus dem des „Scheins“.
Festzuhalten bleibt: Der schöne Schein bringt die „Realität“ als eine
vollzogene Realität zur Erscheinung. Mit Blick auf diese Konzeption des
Scheins in der Kunst kann Hegel auch in der Ästhetikvorlesung von 1826
sagen, daß „die Kunst die Idee darstelle durch den Schein“229. Noch in der
letzten Ästhetikvorlesung von 1828/29 heißt es entsprechend: „Immer hängt
schön und scheinen zusammen, denn die Kunst hat ihr Leben im Scheine“230.
Es bleibt die Frage, in welcher konkreten Form der schöne Schein die
Realität zur Erscheinung bringt. Hegels Antwort lautet: Das Sinnliche in der
Kunst als bereits reflektierte Sinnlichkeit ist „in näherer Form die Gestalt“231.
Diese Gestalt
„(...) ist für uns als Anschauende, als sinnlich Betrachtende, und in dieser
Gestalt muß das objektiv Ideelle für uns sein − nicht also schlechthin für uns
sein, sondern in dieser Gestalt uns erscheinen; diese muß für uns zugleich als
226
227
228
229
230
231
K. Berr/A. Gethmann-Siefert: Hegels Ästhetik–Vorlesung im Sommer 1826. Zur Edition der
Mitschrift Hermann von Kehlers, in: Kehler 1826, XI-XLIX; XXXVII.
„Die Sphäre der Kunst ist somit über die Gebiete der Natur und des endlichen Geistes erhaben, sie
fällt auch nicht ins Logische, wo sich der Gedanke als Gedanke für sich entwickelt, sie ist nicht
eine der Zwecke und Taten des endlichen Geistes, sondern sie gehört wesentlich ins absolute
Gebiet“ (Kehler 1826, 32).
Vgl. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte, 292 ff. - A. GethmannSiefert erinnert an dieser Stelle daran, daß die Trennung von Ästhetik und Logik „in der
zeitgenössischen Diskussion um Hegels Ästhetik (...) noch präsent“ war, und „Hegel selbst muß –
auf dies Problem angesprochen – mehrfach (nicht nur in den Vorlesungen) die (...) anscheinenden
Widersprüchlichkeiten gerechtfertigt haben“. Gethmann-Siefert verweist auf einen Bericht von G.
Nicolin, demzufolge L. Feuerbach „im Namen Daubs an Hegel die Frage gerichtet [hat], warum
dieser die Idee des Schönen in der Logik ausgelassen habe. Hegel betont in seiner Antwort, daß das
Schöne ‚schon in das Gebiet des konkreten Bewußtseins falle. Die Grenze zum Logischen sei
schwer zu bestimmen“ (a.a.O., 292A [Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg. von G.
Nicolin, Hamburg 1970, Nr. 413: Ludwig Feuerbach an K. Daub, S. 268]).
Pfordten 1826, 64.
Anonymus 1828/29, Ms. [3 b].
Hotho 1823, 20f.
61
ein Seiendes und Scheinendes sein. Die Mannigfaltigkeit der Gestalt muß für
uns als Schein gesetzt sein“232.
„Gesetzt“ wird die Gestalt vom Künstler, sie ist insofern ein „vom Geiste
Produziertes“233, als sie nur in dieser Tätigkeit geschaffen, keineswegs in
Natur oder Welt aufgefunden werden kann. Sie ist Leistung der Subjektivität.
Den Zusammenhang zwischen Idee und Gestalt verdeutlicht Hegel nunmehr
eigens mit dem Hinweis, die Idee des Schönen müsse sogleich als Ideal
aufgefaßt werden, das Ideal wiederum sei „gestaltete Idee“234. In der
Ästhetikvorlesung von 1828/29 betont Hegel dann, das Schöne müsse
„subjektive Einheit“235 sein, die Idee habe die Wahrheit als Allgemeines zum
Inhalt, das Ideal denselben Inhalt „in Form der Subjektivität“236.
In Anlehnung an einen Kantischen Sprachgebrauch kann das Ideal vor
diesem begrifflichen Hintergrund auch als eine Idee „in concreto“237
bezeichnet werden, die Kant noch von einer Idee „in individuo“238
unterscheidet. Der Unterschied zwischen Kant und Hegel besteht allerdings
darin, daß Kant das Ideal als Idee „in individuo“ bestimmt, Hegel hingegen
den animalischen Organismus. In der Enzyklopädie bestimmt Hegel diesen
als „individuelle Idee“, d.h. als „Gestalt“.239 Wie an anderer Stelle noch
ausführlicher gezeigt werden kann240, erreicht das organisch Lebendige,
insonderheit der Mensch in seiner Lebendigkeit, zwar die Struktur der
Subjektivität.241 Aber für die menschliche Gestalt gilt, daß sie als „natürlich
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
62
Hotho 1823, 54 f.
Hotho 1823, 123.
„In Rücksicht auf die Idee ist zum Verständnis des Folgenden sogleich zu bemerken, daß die Idee
des Schönen sogleich gefaßt werden muß nicht als bloße Idee, sondern als Ideal. Die Idee für sich
ist das Wahre als solches in seiner Allgemeinheit; das Ideal ist die Wahrheit zugleich in ihrer
Wirklichkeit in der wesentlichen Bestimmung der Subjektivität. Wir können damit zwei
Bestimmungen unterscheiden: Die erste Bestimmung ist die Idee überhaupt, die andere ihre
Gestaltung. Idee und Gestalt; die gestaltete Idee ist das Ideal.“ (Kehler 1826, 26).
Libelt 1828/29, Ms. 22a.
Libelt 1828/29, Ms. 21a.
KrV, B 596.
KrV, B 596.
Die Gestalt als individuelle Idee wird bestimmt als diejenige, „die in ihrem Processe sich nur a u f
s i c h s e l b s t bezieht und innerhalb ihrer selbst sich mit sich zusammenschließt“ (Enz 1830, §
352). Hegel unterscheidet an dieser Stelle drei verschiedene Weisen der Selbstbeziehung der
natürlichen Subjektivität des animalischen Organismus: „Der Organismus ist daher zu betrachten
a) als die individuelle Idee, die in ihrem Processe sich nur a u f s i c h s e l b s t bezieht und innerhalb
ihrer selbst sich mit sich zusammenschließt – die G e s t a l t ; b) als Idee, die sich zu ihrem A n d e r n ,
ihrer unorganischen Natur, verhält und sie ideell in sich setzt, − die A s s i m i l a t i o n ; c) die Idee,
als sich zum Andern, das selbst lebendiges Individuum ist, und damit im Andern zu sich selbst
verhaltend, - G a t t u n g s p r o c e ß .“
Vgl. Kap. 4.2.1.
Der Organismus ist der „sich selbst anfachende und unterhaltende Proceß“ (Enz 1830, § 336).
existierender Mensch“ der Endlichkeit, Kontingenz und Äußerlichkeit alles
natürlich Lebendigen unterliegt. Erst das Ideal als das vom Menschen als
Kunstwerk Gestaltete erhebt sich über die „Verwicklungen des Lebendigen“
und dessen „Bedingtheiten“:
„Die Erhebung über diese Verwicklungen des Lebendigen, über diese
Bedingtheiten wird im Schönen bewirkt. Insofern es subjektive Einheit in sich
ist. Das ist das Ideal (falscher Begriff davon, was irgendwo ist, nicht erreicht
werden kann). Das Ideal ist aus dem Geiste geboren, vom Menschen
hervorgebracht. Es ist der Geist, der aus der Befangenheit es entnimmt. Hier
242
fängt das Schöne als Kunstwerk an“ .
Da Hegel spätestens in der Übergangszeit von Heidelberg nach Berlin
Religion und Kunst als zwei Formen des „absoluten Geistes“, damit
unabhängig voneinander behandelt, ist das Ideal nicht mehr an den
anfänglichen Begründungsrahmen der „schönen Religion“ gebunden, kann es
als geschichtliche Konkretion der (Vernunft)-Idee in den Ästhetikvorlesungen
als die Idee, die sich im Kunstwerk konkretisiert und damit lebendige
Wirksamkeit erreicht, weiterbestimmt werden. Das Ideal ist als Form des
menschlichen Geistes unabhängig von einer Präsenz im Kunstwerk nicht zu
fassen, weswegen es in diesem Sinne mit dem Kunstwerk gleichzusetzen ist.
3.3
Die
Das Ideal als Kunstwerk
Weiterbestimmung
des
Ideals
als
„Dasein“,
„Existenz“
oder
„Lebendigkeit“ der Idee begründet zum einen die Erhebung über die
„Verwicklungen des Lebendigen“, zum anderen die lebendige Wirksamkeit
der Idee im Kunstwerk, die zudem Hegels Begriff des Ideals mit dem des
Kunstwerks fest verknüpft. Um diese Zusammenhänge aufzuhellen, kann
nach weiterführenden Hinweisen auf Hegels Begriff der „Idee“ und den des
„Lebens“ auf einige Überlegungen von Lu De Vos243 zurückgegriffen werden.
Hegel unterscheidet drei Formen der Idee, die nicht miteinander
verwechselt werden dürfen. In den Vorlesungen über die Philosophie der
Weltgeschichte von 1822/23 „offenbart“ sich Hegel zufolge die Idee oder „das
242
243
Libelt 1828/29, Ms. 23a.
Lu De Vos: Die Bestimmung des Ideals. Vorbemerkungen zur Logik der Ästhetik. In: Die
geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. Hrsg. von A. GethmannSiefert, Lu de Vos und B. Collenberg-Plotnikov, München 2005, 41-51.
63
Wahre“ in verschiedenen Formen244: Die Idee ist erstens die bloß logische
Idee, d.h. „die sich selbst denkende“, die „speculative Idee“, die in der Logik
expliziert wird. Die zweite Form ist die, in die die Idee „sich selbst versenkt“,
nämlich die „physische Natur“, die Gegenstand der Naturphilosophie ist. Die
dritte Form ist die „Form des Geistes überhaupt“245, die Gegenstand der
Philosophie des Geistes ist. Für eine Bestimmung des Ideals entscheidend ist
diese dritte Form der Idee, denn in der Kunst als erste Form des „absoluten
Geistes“ tritt die Idee als „gestaltete Idee“246 auf, d.h. als vom und für den
Menschen produzierte sinnlich-anschauliche Gestalt. In dieser Gestalt
erscheinen Freiheit und Vernunft (im Sinne der Kantischen „Vernunftidee“),
das Bewußtsein und die Weltanschauung einer Gemeinschaft - damit ist das
Ideal „Dasein“247 der Idee. Diese Gestalt der Idee ahmt aber nicht die Natur in
ihrer vermeintlich unvermittelten Äußerlichkeit nach248, sondern es ist eine
Form reflektierten Wissens um sich, demnach „Existenz“249 der Idee. In
diesem Sinne bezeichnet Lu DeVos das Ideal als „die unmittelbare Existenz
des absoluten Geistes“250.
Um Hegels Formulierung von der „Lebendigkeit“ der Idee zu verstehen, ist
eine weitere begriffliche Differenzierung zu beachten. Hegel bestimmt neben
dem natürlich Lebendigen noch andere Formen des Lebendigen. In der Logik
unterscheidet er das „logische Leben als reine Idee, von dem Naturleben, das
in der Naturphilosophie betrachtet wird, und von dem Leben, insofern es mit
dem Geiste in Verbindung steht“, also das „logische Leben“ vom „natürlichen
Leben“ und vom „Leben des Geistes als Geistes“.251 In der Enzyklopädie stellt
er darüber hinaus die rhetorische Frage, „ob die geistige Form nicht eine
höhere Lebendigkeit enthielte (…) als die natürliche“252. Im Hinblick auf die
244
245
246
247
248
249
250
251
252
64
„Die Idee hat Hauptmomente“ (V 12, 26).
V 12, 25 f.
Kehler 1826, 26.
„Der Schein also ist die Weise der Äußerlichkeit der Kunst (…) Das Göttliche muß Sein-für-Eines,
Dasein haben“ (Hotho 1823, 2). - „Mit der Subjektivität tritt die Idee ins Dasein heraus“ (Hotho
1823, 74).
„Es erledigt sich hierdurch das Princip der N a c h a h m u n g d e r N a t u r in der Kunst, über welche
keine Verständigung mit einem eben so abstracten Gegensatze möglich ist, so lange das Natürliche
nur in seiner Aeußerlichkeit, nicht als den Geist bedeutende, charakteristische, sinnvolle Naturform
genommen wird“ (Enz 1830, § 558). - „Das Sinnliche des Kunstwerks ist nur für den Geist und soll
nur für ihn sein” (Hotho 1823, 18).
„Das Schöne ist selbst die Idee, und zwar als unmittelbar existierende“ (Hotho 1823, 47). - „Das
Schöne ist das Wahre in äußerlicher Existenz“ (Ascheberg 1820/21, 49).
Lu De Vos: Die Bestimmung des Ideals, 41.
GW 12, 180.
Enz 1830, § 248.
Bestimmung des Ideals bedeutet diese „höhere Lebendigkeit“: Das Ideal als
Gestalt der (Vernunft-)Idee präsentiert kein vom Vollzug (Produktion wie
Rezeption) unabhängiges Wissen, sondern es vermittelt anschaulich253
(ästhetisch)
als
wirksamer
Vollzug
einer
Handlungsgemeinschaft
Handlungsorientierung, und zwar (mythologisch) über eine Deutung der
eigenen historischen Situation und der Gründe des eigenen Handelns - es ist
daher die „Lebendigkeit“254 der Idee. In diesem Sinne spricht auch Lu DeVos
vom „Leben der Idee oder der Wahrheit“ als „Spezifizität der Kunst“255.
Diese Wirksamkeit im Hinblick auf Hegels frühes Programm einer
„Mythologie der Vernunft“ und der damit anvisierten ästhetischen und
mythologischen Vermittlung der Vernunftideen im Kunstwerk - mit Kant:
Kunst als „Symbol der Sittlichkeit“256, mit Schiller: Kunst als „Freiheit in der
Erscheinung“257 - ist nicht nur durch den Inhalt, sondern zugleich durch die
Gestalt festgelegt. So wie Hegel für die „Mythologie der Vernunft“ die
Einheit von Kunst (Gestalt) und Religion (handlungsstiftender und orientierender, hier: göttlicher Inhalt) forderte, so fordert er in den Berliner
Ästhetikvorlesungen die Einheit von Gestalt (Form) und Inhalt. Wirksam kann
das Kunstwerk jeweils nur sein, wenn sowohl der Inhalt wie die Form nicht
beliebig sind. Das heißt, der Inhalt muß ein solcher sein, der jedes Mitglied
der Kultur interessiert und kommunikabel, also ein verständlicher Inhalt258 ist.
Die von der menschlichen Phantasie entworfene Form muß dem Inhalt gemäß
sein.259
Zusammenfassend gesagt, erscheint ein spezifischer Weltvollzug in einer
anschaubaren, der Rezeption zugänglichen und erfahrbaren Gestalt. Der
Schein in der Kunst ist für Hegel der „rein sinnliche Schein und in näherer
253
254
255
256
257
258
259
Nochmals zur Erinnerung: Kunst ist das „anschauende Bewußtsein des absoluten Geistes“ (Kehler
1826, 33).
„Diese unmittelbare Existenz der Idee ist das Lebendige überhaupt; das Lebendige ist also das
Schöne“ (Hotho 1823, 47).
Lu De Vos: Die Bestimmung des Ideals, 43.
KU, § 59.
F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 401.
„Der Inhalt muß (…) sein ursprünglich ein solcher, der ein objektives allgemeines Interesse hat.
(…) was an sich die Menschen vereinigt, hat dargestellt zu werden, ein Heiliges. Heilig, sagt
Goethe, ist, was den Menschen dem Menschen verbindet. Ein solches Heiliges also ist der Inhalt“
(Hotho 1823, 211).
„Die Phantasie“ darf nicht „in wilder Willkür herumschweifen, sondern in ihrer wahrhaften
Bestimmung“ muß sie „die höchsten Bedürfnisse des Geistes zum Bewußtsein bringen und daher
ihre feste Bestimmung haben. Auch ihre Formen dürfen hiermit nicht eine zufällige
Mannigfaltigkeit sein, denn in ihrem Inhalt ist ihre Form bestimmt. Der würdige Inhalt bedarf einer
angemessenen Form“ (Hotho 1823, 5).
65
Form die Gestalt“260, demnach ein „Scheinen der Gestalt“261, d.h. eine
gestaltete und als solche Gestaltung vollziehbare Erscheinung des Geistes.262
Analog zu der Wendung „Vorstellung der Vorstellung“263, die sich auf die
Malerei bezieht, aber auch auf die Kunst generell bezogen werden kann, läßt
sich in diesem Sinne die Formulierung „Scheinen des Geistes“264, die Hegel
mit Blick auf die menschliche Gestalt äußert, ebenfalls generell auf Kunst
ausweiten.
Diese Auslegung hat nicht nur den Vorteil, an Hegels frühe Bestimmung
des Ideals als Vermittlung der Vernunftidee im Sinnlich-Anschaulichen und
an die Vermittlungsbedürftigkeit geschichtlicher Wahrheit, die im Ideal
erscheint, anknüpfen zu können. Die Formulierung „Scheinen des Geistes“
bringt darüber hinaus die Gebundenheit des Ideals an eine sinnlichanschauliche Gestalt im Kunstwerk zum Ausdruck und eröffnet einen Weg,
die Kunst nach Epochen und Kulturen zu differenzieren, was Hegel unter dem
Begriff der „Kunstformen“ folgerichtig entfaltet hat. Wenn das Naturschöne
durch das Kunstschöne mitfundiert bzw. als davon Abgeleitetes mitbestimmt
werden soll, dann müßte sich im übrigen zeigen lassen, ob und wie diese
Bestimmung des Ideals sich auch auf die des Naturschönen übertragen läßt.
3.4
Das Naturschöne als geistig vermitteltes Schönes
Hegel erklärt seine Ausgangsthese in den Ästhetikvorlesungen, „daß um
soviel höher der Geist als die Natur ist, so viel höher das Kunstschöne als das
Naturschöne“265, selbst dahingehend, daß das, was durch menschliches
Handeln geschaffen oder gestaltet ist, darum „höher“ stehe als die bloße
Natur, weil es nicht bloßes empirisches Faktum sowie als Handlungsresultat
einem
Verständnis
eher
zugänglich
ist.
Durch
die
philosophische
Erschließung der Natur gewinnt Hegel einen Begriff der Natur nur über eine
Re-Konstruktion des Vollzugs von Natur. So kann auch das Naturschöne nur
260
261
262
263
264
265
66
Hotho 1823, 21.
Hotho 1823, 54.
1826 heißt es entsprechend: Jedes Kunstwerk ist „bloß eine Form, worin der Geist sich zur
Erscheinung bringt; es ist eine besondere Weise [seiner Erscheinung]“ – es ist also ein „geistige[s]
Sich-zur-Erscheinung-Bringen“ (Kehler 1826, 3).
Hotho 1823, 211.
Kehler 1826, 38; Griesheim 1826, Ms. 63.
Kehler 1826, 1.
als geistig Hervorgebrachtes bestimmt werden. Das Naturschöne ist kein
objektives Faktum, sondern indiziert eine subjektive, allenfalls im Werk
reifizierte Auffassungsweise der Natur, die die Natur unter der Perspektive
ihrer Schönheit (statt beispielsweise ihrer Gesetzesartigkeit) aufgreift.
Was daher bereits für „Natur“ im erkennenden Naturvollzug gilt, gilt erst
recht für das Resultat gestaltenden Handelns, die Vermittlung der Natur im
Kunstwerk. Natur kommt im Kunstwerk nur als „Ideelles“, d.h. als durch den
Menschen Vorgestelltes, Erkanntes und durch gestaltendes Handeln
Vermitteltes vor. Die Formen der Auffassung der Natur als „Ideal“ und
Kunst-Werk, ihr Vollzug im gestaltenden Handeln (Arbeit und Sprache)
erschließen das Naturschöne der Re-Konstruktion. Daher behauptet Hegel
auch nicht, das Naturschöne sei als ästhetisches Phänomen nicht
rekonstruierbar, sondern nur, es mache es „dem Geiste saurer“266, sich darin
wiederzuerkennen.
Paradigmatisch zeigt sich dieser an jedes Kunstwerk geknüpfte Anspruch,
daß Natürliches in der Kunst bereits ein „durch den Geist bestimmte[s], ein
Idealisiertes“267 sei, sie daher als „Ideelles, als ein Gesetztes“268 erscheint, bei
der Porträtmalerei. „Idealisierung“ in diesem Zusammenhang heißt ja nicht
einfach nur ‚Übersetzung’ der Äußerlichkeit und Materialität des natürlich
Gegebenen in die Innerlichkeit und „Geistigkeit“ des Bewußtseins.
Idealisieren heißt hier Unwesentliches weglassen und Wesentliches setzen,
d.h. hervorheben durch aktive „Konstruktion“ des Wesentlichen. Daher
erfordert die Porträtmalerei, das Oberflächliche der Gesichtsbildung mit allen
„Zeichen der Äußerlichkeit wie die kleinen Härchen und andere feine
Bestimmungen“
wegzulassen,
um
das
„Charakteristische
einer
Gesichtsbildung“, um den „Ausdruck der geistigen Eigentümlichkeit“, die
„Manier des Menschen“, d.h. das Wesentliche an ihm herauszustellen.269 Das
266
267
268
269
Hotho 1823, 3.
Anonymus 1828/29, Ms. 13b.
Pfordten 1826, 71.
Hegel setzt den Begriff der „Idealisierung“ als der Gestaltung des empirisch Vorfindlichen als
Ideal von der Nachahmung der Natur ab, und fordert: Der „Porträtmaler (…) muß an dem
vorliegenden Gesicht alle Zeichen der Äußerlichkeit wie die kleinen Härchen und andere feine
Bestimmungen, Arten der Haut, welche dem Reiche der Zufälligkeit und des bedürftigen Lebens
angehören, weglassen. Er muß ferner, damit das Porträt den Ausdruck der geistigen
Eigentümlichkeit, der Partikularität des Charakters erhalte, ein solches Gesicht nicht nur einmal
gesehen, sondern er muß mehr oder weniger die Manier des Menschen erkannt, ihn sprechen hören
und die Empfindungen desselben an ihm bemerkt haben. So erst kann er die Züge herausheben, die
das Charakteristische einer Gesichtsbildung ausmachen“ (Kehler 1826, 39).
67
bloße Nachahmen sinnlicher Gegebenheit würde gerade nicht das
Unverwechselbare dieser einen besonderen dargestellten Person, das
„Charakteristische“, ihr individuell Wesentliches zur Erscheinung bringen.
Die Gestaltung eines natürlich-vorfindlichen Sujets beschränkt sich nicht auf
die genaue Ausführung und Auffassung der sinnlichen Erscheinung und ihrer
Einzelheiten. Gestaltung, hier die Anfertigung eines Portraits, setzt als
Erfassung des Wesentlichen ein „Begreifen“ des Gegenstandes voraus. Es ist,
wie Hegel definitorisch zusammenfaßt, die sinnlich erfahrbar gemachte
„Vorstellung der Vorstellung“270. Natur im Kunstwerk wird idealisiert, indem
sie
dem
Zweck
der
Veranschaulichung
von
Geistigem
(hier:
Charakteristischem) entsprechend gestaltet wird.
Natur kann demnach in der Kunst nie bloß widergespiegelt bzw.
nachgeahmt werden. Natur, die in der Kunst dargestellt wird, ist immer im
Sinn des Resultats (Werk) eines geistigen Welt-Erfassens, also „idealisiert“
dargestellt. Das legt bereits Hegels Naturbegriff nahe. Wenn sich also die
Bestimmung des Naturschönen nach dem bislang Gesagten aus der
Bestimmung des Kunstschönen (als Werk) mitentwickeln läßt, wird mit
„Schönheit“ der Natur keine objektive Eigenschaft zugeschrieben, sondern
eine Auffassungsweise der Natur angezeigt.
Natur, insofern sie als „schön“ aufgefaßt wird, ist ästhetisch betrachtete
Natur. Sie kann als solche sowie ästhetisch als eine bestimmte, eigentümlich
strukturierte Gestalt und spezifisch als Landschaft dargestellt werden.
Naturbetrachtungen erweisen sich bei genauer Analyse als subjektive
Naturvollzüge, nämlich die Auffassung des empirisch Vorliegenden als
Gestalt, als „schöne Natur“. Was Natur als Landschaft anbelangt, so ist diese
ebenfalls kein objektiv vorgegebenes Phänomen, sondern ein reflektiert
betrachtetes (vollzogenes) und entsprechend in der Kunst dargestelltes
„Schönes“ der Natur. Für die drei genannten Vollzugsweisen von Natur
(Naturbetrachtung, Naturdarstellung, Natur als Landschaft) gilt jeweils, daß
sie ein „Reflex des Geistes“ sind, also nicht auf eine „objektive“ Qualität der
Natur referieren, sondern eine Weise des Naturvollzugs durch den Menschen
und dessen „Produkten“ oder „Werken“ indizieren. Das Naturschöne ist in
Hegels Worten „eine Weise, die selbst im Geiste enthalten ist, aber eine in
270
68
Hotho 1823, 211.
ihm nur unselbständige Weise (…) Das Naturschöne kann seinen Namen nur
erhalten in Beziehung auf das Geistige“271.
Wenn man die Bedeutung des Naturschönen durch Hegels Bestimmung
des Kunstschönen als „Scheinen des Geistes“272 mitfundieren will, so kann
diese Bestimmung - weil das Naturschöne ein Idealisiertes und im Kunstwerk
realisiert ist - auf die des Naturschönen übertragen werden. Das bedeutet, daß
Naturdarstellung wie ästhetische Naturbetrachtung und (wahrgenommene wie
dargestellte) Natur als Landschaft einen spezifischen Naturvollzug anzeigen,
der Natur als spezifische „Gestalt“ in der Wahrnehmung und in der
Darstellung konstituiert, und daß in dieser Gestalt der Naturvollzug als
geistige Leistung des Menschen nachvollziehbar zur „Erscheinung“273
kommt.
Exemplarisch läßt sich dies an der „menschlichen Gestalt“ darlegen274,
weil der Mensch die einzige geistige Naturgestalt ist: „Die menschliche
Gestalt ist die notwendige des Geistes, der im sinnlichen Dasein erscheint“275.
Nur in der menschlichen Gestalt kann „sich das Geistige offenbaren“, sie ist
gleichsam „der Spiegel des Geistes“276, eine Naturgestalt also, in der der
Betrachter sich selbst als natürlich und geistig begegnet, was diese
Naturgestalt dann gegenüber den nicht-schönen Repräsentationen des
Göttlichen in Naturformen als ein Symbol des Göttlichen und Kant als das
„Symbol der Sittlichkeit“ auszeichnet.
Im Unterschied zu Kant, der ausschließlich die menschliche schöne Gestalt
als Symbol der Sittlichkeit bestimmt, so daß er einzig die in der griechischen
Skulptur vermittelte Gestalt des Menschen als „den sichtbare[n] Ausdruck
sittlicher Ideen“277 akzeptiert, erweitert Hegel das Spektrum möglicher
Naturgestalten, die zum Symbol des Sittlichen, weil als Göttliches zur
Orientierung des Menschen bestimmt werden. Diese Naturgestalten erfüllen
aber weder die Forderung einer ungebrochenen Harmonie von Gestalt und
Inhalt - sie sind nicht schön, sondern erhaben bzw. grotesk - noch können sie
271
272
273
274
275
276
277
Kehler 1826, 2.
Kehler 1826, 38; Griesheim 1826, Ms. 63.
Vgl. nochmals Kehler 1826, 3.
Kehler 1826, 38.
Hotho 1823, 157.
Hotho 1823, 157.
KU, § 17.
69
als einzelne die Symbolisierung des Sittlichen resp. Göttlichen sein. Hegel
entwickelt dies in der „Symbolischen Kunstform“.278
Die schon von Kant eingeführte Unterscheidung von „schön“ und
„erhaben“ integriert Hegel durch sein Konzept der symbolischen Kunstform
in dessen Deutung des Kunstwerks als „Symbol des Sittlichen“ resp.
„Göttlichen“. Allerdings gelten hier zwar Naturformen als ein solches
Symbol, vermögen aber im Unterschied zur Natur-Gestalt des Menschen kein
„schönes Symbol“ zu sein. Abgeleitet von der Bedeutung der schönen
Menschen-Gestalt der Götter entwickelt Hegel dann im Kontext der
Bestimmung der romantischen Kunstform auch eine Bedeutung der
„Schönheit der Natur“ als Symbol des Sittlichen, nun aber unter Bezug auf
den Menschen selbst (nicht der Gottesvorstellung) als den „neuen Heiligen“
in der Kunst. Alles, „was sich in der Menschenbrust bewegt“279, kann nun
zum Gegenstand der Idealisierung im Kunstwerk werden, so auch die Natur,
durch deren Schönheit und Formen der Mensch die Naturgestalten als seine
„Brüder“ (Goethe)280 erfährt. Das heißt, in dem von Hegel „poetische
Anschauung“ genannten Naturvollzug wird nicht die „Natur“, sondern der
Rückbezug der angeschauten Natur auf den die Natur vollziehenden
Menschen anschaulich vermittelt.
Wenn Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen vom Kunstschönen ausgeht,
leugnet er also keineswegs die Bedeutung der Naturschönheit, sondern er
entwickelt die Bestimmung des Naturschönen im Ausgang von einer Analyse
des Kunstschönen. Umgekehrt nämlich läßt sich die Besonderheit des
Kunstwerks (als Werk des Menschen) nur ansatzweise aus der Analyse des
Naturschönen begreifen. Natur im Kunstwerk vermittelt ist auf der Basis der
bisherigen Ausführungen als „Symbol der Sittlichkeit“ im weitesten Sinne zu
verstehen, d.h. nicht nur in der klassischen Antike, in der die Kunst auch
278
279
280
70
Die Bedeutung dieser Kunstform, die Hegel bestimmten Epochen und Kulturen zuordnet und
zugleich als eine Gestaltungsmöglichkeit der „romantischen Kunstform“ ansieht, wird von J.-I.
Kwon umfassend analysiert: Hegels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der „symbolischen
Kunstform“ in Hegels Ästhetik, München 2001.
Hotho 1823, 30.
„Die Natur ist ein Ganzes für die lebendige, und wenn man es so nennen will, poëtische
Anschauung vor ihr geht das mannichfaltige der Natur, als eine Reihe Lebendiger vorüber, und
erkennt im Busche, in der Lufft und im Wasser die Brüder“ (GW 5, 372). - Hegel verwendet an
dieser Stelle ein Zitat aus der Szene Wald und Höhle in Goethes Faust: „Du führst die Reihe der
Lebendigen / Vor mir vorbey, und lehrst mich meine Brüder / Im stillen Busch, in Luft und Wasser
kennen“ (Goethe: Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt.
I. Bd. 14. Weimar 1887, 163).
hinsichtlich der harmonischen Symbolisierung des Göttlichen in einer NaturGestalt ihre „höchste Möglichkeit“ erreichte. Kunst als „Scheinen des
Geistes“ symbolisiert für Hegel grundsätzlich zwei Möglichkeiten, Natur im
Kunstwerk im Hinblick auf diese Funktion darzustellen: erstens Natur als
Symbol des Göttlichen, zweitens Natur als Symbol des Menschlichen.281
Durch diese Bestimmung der Kunst begründet Hegel seine Ablehnung der
Bestimmung der Kunst als Nachahmung der Natur. Naturdarstellung ist
Symbol des Sittlichen, Göttlichen, Geistigen, nicht hingegen Abschilderung282
der Wirklichkeit. Das - so Hegel - hat zur Folge, daß eine vorgegebene Natur
nicht Maßstab der Kunst und ihrer Gestaltungen sein kann, so daß die
traditionelle ästhetische Konzeption der „Nachahmung der Natur“ für die
Bestimmung der Kunst kaum eine Rolle spielt, weil es in der Kunst nicht um
Nachahmung eines natürlich Vorgegebenen, sondern um die Gestaltung eines
bewußt Gesetzten geht. Eine bloße „Nachahmung“ der Natur erreichte nicht
Wahrheit283, sondern bloße Richtigkeit der Gestaltung, die lediglich auf bloße
„Geschicklichkeit“ hinausläuft, „das hervorzubringen, was die Natur
hervorbringt“, wohingegen der Inhalt doch „ein Geistiges sein“ soll.284
Letztlich bliebe der Mensch dann beim Natürlichen stehen, wobei „auch die
beste Kunst hinter dem Natürlichen zurückbleiben [müsse] und bei aller
Geschicklichkeit dazu eine größere Ungeschicklichkeit des Menschen sich
zeige bei solchen Darstellungen“.285 Statt Kunstwerke zu produzieren, machte
der Mensch lediglich „Kunststücke“.286 In der Kunst kann ausschließlich im
Hinblick auf die genannte Funktion der Kunst von „Nachahmung“ des
281
282
283
284
285
286
Vgl. die Kapitel 4.4.2 und 5.2.
Das deutsche Wort „Abschildern“ stammt vom holländischen „schilderij“ ab, was soviel besagt
wie „Abbild, Wiedergabe von etwas Vorhandenem, Schilderung“ (Kurt Bauch: Anfänge der
neuzeitlichen Kunst [Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften],
Hamburg 1957, 118-139; 127).
„Im Gegensatz gegen abstrakte Wahrheiten schreiben wir der Kunst sittliche Wahrheiten zu, das
Substantielle in der Form allgemeiner Wahrheiten ist hier selbst in einer Weise der Erscheinung.
Die Allgemeinheit des Gedankens, dies Element ist der [philosophische] Gedanke; das
Substantielle ist auch der Inhalt der Kunst“ (Pfordten 1826, 65). „Endzweck“ des Kunstwerks ist
es, „die Wahrheit zu enthüllen“ (Hotho 1823, 30).
Hotho 1823, 25.
Kehler 1826, 10.
„Zu welchem Behuf ahmt der Mensch die Natur nach? [Zunächst], als daß er sich ein Kunststück
macht, auch seine Geschicklichkeit beweist und sich freut, etwas Ähnliches oder ähnlich
Scheinendes wie die Natur hervorzubringen. Das sind äußere Zwecke; man sagt: es geschehe, um
ein Abbild zu haben in der Form und dergleichen. Man kann dann stets sogleich sagen, daß das
eine sehr beschränkte Freude ist, die Natur nachzuahmen, [diese Freude ist] hingegen weit größer,
wenn der Mensch eigentümlich [hervorbringend] ist, sei es auch noch so schlecht, wenn er ein
technisches Werkzeug macht, z. B. Nagel, Stift; auf solche Erfindungen kann er weit stolzer sein“
(Pfordten 1826, 54f).
71
Natürlichen gesprochen werden, dann nämlich, wenn „um des Geistigen
willen“ die Natur nachgeahmt wird: „Es ist um des Geistigen willen die
Absicht [der Kunst], daß die Natur nachgeahmt wird“287.
Hegel setzt sich durch die gewissermaßen transzendentalphilosophische
Rekonstruktion des ästhetischen Naturvollzuges eindeutig von einem
ästhetischen Platonismus, aber auch von einem metaphysischen Verständnis
ab, wie es beispielsweise in der Annahme vorliegt, das Naturschöne sei die
„Handschrift Gottes“288, also ein „Abglanz“ göttlicher Schönheit, der durch
göttliches Handeln der Natur implementiert sei. Kunst kann in einer solchen
Konzeption nur als Nachahmung der Natur und ihre Schönheit nur als
„Gottesdienst“289 gedeutet werden. Ein solcher Ansatz führt zwangsläufig zur
Auszeichnung des „Naturschönen“ als Grundbegriff und „Bereich“ der
Ästhetik, Kunst wird konsequent definiert als Nachahmung der Natur.
Aber
auch
dann,
wenn
die
Nachahmungstheorie
durch
solche
metaphysischen oder schöpfungstheologischen Argumente gestützt wird etwa: Gott sei in der Natur eher aufzufinden als in menschlichen Werken, weil
die Natur Gottes Schöpfung, das Werk lediglich menschliche Schöpfung sei kann daraus sinnvoller Weise (d.h. philosophisch begründet) kein Vorrang des
Natur- vor dem Kunstschönen und die Nachahmungstheorie abgeleitet
werden. Hegel zeigt, daß sich auch in einer Reflexion auf den menschlichen
Gottesbezug keineswegs der Vorrang der Natur oder des Schönen der Natur
vor den Werken des Menschen begründen läßt, denn die Frage, wie Gott dem
Menschen vermittelt werden kann, verweist wiederum auf sein Vermögen von
Vernunft und Freiheit - mit Kant: auf die Fähigkeit zur Moralität als
Grundlage des Vermögens der Religion.
3.5
„Natur“ oder „Geist“ als Maßstab der Kunst?
Hegel verzichtet damit ausdrücklich auf die gängige Rechtfertigung der
Nachahmungstheorie und skizziert in den einleitenden Überlegungen seiner
Berliner Ästhetikvorlesungen kurz die Schwierigkeiten, in die ein Ansatz
287
288
289
72
Kehler 1826, 11.
Jens Kulenkampff: Metaphysik und Ästhetik: Kant zum Beispiel, in: Falsche Gegensätze.
Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, hg. von Andrea Kern und Ruth
Sonderegger, Frankfurt/M. 2002, 49-80; 78.
Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1980, 98.
beim Naturschönen führt. Letztlich erscheint es ihm philosophisch plausibler,
gleich auf das durch menschliches Handeln gestaltete (Kunst-)Schöne
zurückzugreifen, anstatt die Natur selbst als Handlungszusammenhang (Werk
gestaltenden Schöpfungs-Handelns) zu rekonstruieren. So wird weder in der
traditionellen
Nachahmungstheorie
noch
in
der
Auszeichnung
der
Naturschönheit als der ursprünglichen Schönheit berücksichtigt, daß der
„Geist (…) ein schlechthin notwendiges Moment des Kunstwerks selbst“ ist.
Ohne die Voraussetzung des rezeptiven wie produktiven Vollzugs der Natur also des Geistigen in der Kunst - erreichte Naturnachahmung lediglich reale
Gegenstände, das Natürliche „wie es ist, uns unmittelbar“ gegeben ist.290
Hegel setzt sich mit der Gegenthese und ihren Argumenten ausführlich
auseinander. Ein häufig angegebener Grund für den Vorrang des Natur- vor
dem Kunstschönen und der Favorisierung einer Nachahmungstheorie liegt
darin, daß der Mensch offensichtlich dazu neigt, „das Naturwerk Gott
[zu]zuschreiben, das Kunstwerk nur dem Menschen“291, die gesamte Natur
mit ihren Erscheinungen höher zu bewerten als die Werke menschlichen
Handelns und Gestaltens. Diese Auffassung ist fundiert durch eine
platonistische oder theologische Deutung der Natur als erste Weise der
Erscheinung der Idee (gegenüber dem Kunstwerk als „Schatten von
Schatten“292) oder als Offenbarung göttlichen Handelns in der Natur („liber
naturae“293). Jedes menschliche, einem Handeln entsprungene Werk ist dieser
Auffassung zufolge der Natur und ihren Produkten (den Werken Gottes)
unterlegen.
Selbst wenn man sich auf eine solche theologische Fundierung einließe,
bleibt es für Hegel unplausibel, Gott nur auf der Seite der Natur und nicht
auch auf der Seite des Menschlichen sehen und zudem aus einzelnen
Naturerscheinungen das Dasein Gottes erkennen zu wollen. Umgekehrt müßte
290
291
292
293
Pfordten 1826, 56.
Hotho 1823, 11.
Vgl. Politeia St. 509f (Liniengleichnis) sowie St. 597f (Wesensbildner, Werkbildner und
Nachbildner).
Gemeint ist die mittelalterliche Vorstellung, die Natur als Schöpfung Gottes gleichsam wie ein
Buch zu verstehen, aus dem man die Offenbarungszeichen Gottes herauslesen könne. Im
Mittelalter entstand eine figurativ-symbolische Naturphilosophie, die alles Seiende im Hinblick auf
seinen Verweisungscharakter auf Gott zu deuten sich bemühte. So schrieb Hugo von St. Viktor:
„Diese ganze (...) wahrnehmbare Welt ist wie ein Buch, das von der Hand Gottes geschrieben
wurde (...), und die einzelnen Geschöpfe sind den Figuren zu vergleichen. Sie sind jedoch nicht
nach menschlichem Ermessen, sondern nach göttlichem Willen eingefügt, um die unsichtbare
Weisheit Gottes kundzutun“ (zit. nach der Übersetzung in: Rosario Assunto: Die Theorie des
Schönen im Mittelalter, Köln 1963, 158).
73
auch eine theologische bzw. philosophisch entwickelte Gotteslehre von einer
Analyse des menschlichen Geistes ausgehen, da dieser das dem Göttlichen
einzig angemessene Medium sein kann. Das traditionelle Verhältnis von
Natur und menschlichem Geist ist dann aber in einer solchen Begründung
umzukehren, zumal dem Menschen seine geistigen Fähigkeiten und
Erzeugnisse weitaus zugänglicher und transparenter sind als alles Natürliche.
Diese Umgewichtung innerhalb des Natur-Geist-Verhältnisses hat dann zur
Folge, daß Hegel die Produkte (Werke) des menschlichen Geistes und damit
auch Kunstwerke als „höher“ einschätzt als die Produkte der Natur. Sie sind
als solche nicht in vermeintlicher Unmittelbarkeit „objektiv“ aufgegriffen,
sondern verweisen aus sich heraus auf ihren Ursprung im menschlichen WeltVollzug.294
Ein weiteres Argument für den Vorrang der Natur vor der Kunst bzw. des
Natur- vor dem Kunstschönen scheint nur auf den ersten Blick zwingend. Es
wird betont, daß ein Kunstwerk ein Unbelebtes, nur Oberflächliches, das
Naturwerk dagegen „ein in sich selbst Lebendiges“ sei und - da das
„Lebendige höher als das Tote“295 -, die Natur auch der Kunst überlegen sei.
Gegen dieses Argument bringt Hegel zwei Einwände vor. Zum einen hat das
lebendige
Naturwerk
den
Nachteil,
als
Lebendiges
zugleich
ein
„Vergehendes“ zu sein, das Kunstwerk dagegen sei etwas „Dauerndes“, das
dem Vergänglichen der Natur eine nicht-natürliche Form der Existenz
verleiht. Das heißt, die Künste als Werk des Menschen spiegeln die Natur
nicht bloß nachahmend wider, sondern bereits die Darstellung fügt der Natur
etwas hinzu, das sie selbst - als lebendige (also gerade durch ihre
auszeichnende
Besonderheit)
-
nicht
hat.
Naturprodukte,
Dinge,
„Begebenheiten sind [kaum, daß sie sich ereignet haben,] auch schon vorbei,
das Kunstwerk gibt ihnen Dauer“296. Ein „Kunstprodukt“ dagegen verleiht
den flüchtigen und der Vergänglichkeit ausgesetzten lebendigen Gestalten
294
295
296
74
Hegel greift mit diesen Überlegungen Schellings Bestimmung des Kunstwerks als „Organon der
Philosophie“, als jenen zugleich subjektiven wie objektiv manifesten Vollzug des Gegebenen auf.
Auch wenn er die Vermittlungsleistung der Kunst nicht wie Schelling als intellektuelle
„Anschauung des Absoluten“ auszeichnet und in der sinnlichen Vermittlung eine Einschränkung
nicht des Inhalts, sondern der Einsichtigkeit und Verallgemeinerbarkeit der Vermittlung sieht,
bleibt die transzendentalphilosophische Grundbestimmung erhalten. Zum Verhältnis der
Schellingschen Bestimmung der Kunst insbesondere zu Hegels Entwicklung eines eigenen
Konzeptes des Kunstwerks und der Ästhetikbegründung vgl. A. Gethmann-Siefert: Einführung in
Hegels Ästhetik, Kap. 2.2.
Hotho 1823, 11.
Hotho 1823, 11.
eine ihnen ‚von Natur aus’ nicht gegebene Dauer, da es diese nicht in ihrer
„konkreten Materiatur“ abschildert, sondern in ihrem „Wesen“ erscheinen
läßt. Daher folgert Hegel, daß diese in Kunst gestaltete „Natur“, die durch die
Gestaltung transformierte Materialität und die dadurch den Naturdingen
verliehene „Dauer“ sogar auf ein „höheres Interesse des Geistes“
zurückzuführen sei und diesem entspreche.297
Aus diesen Gründen wendet Hegel sich auch gegen den Versuch, das
Spezifikum des Kunstwerks auf dessen „Dingsein“ zu reduzieren. Denn „nach
dieser Seite des Dingseins ist es kein Kunstwerk, sondern [Kunstwerk] ist es
nur als Geistiges“. Das Kunstwerk „stellt ein Geistiges dar“, es ist „aus dem
Geist und für den Geist“298. Hegel weist daher z.B. in der Ästhetikvorlesung
von 1823 darauf hin, daß die Kunst nicht den Zweck haben könne, Natur
nachzuahmen, sondern vielmehr den, in jeder Darstellung eines Gegenstandes
zu ermöglichen, daß der Mensch „aus der Gestalt der Dinge sich selbst
wieder[erkennt]“299. „Endzweck“ des Kunstwerks sei es, „die Wahrheit zu
enthüllen, vorzustellen, was sich in der Menschenbrust bewegt, und zwar auf
bildliche, konkrete Weise“300.
Diese „Wahrheit“ des Natürlich-Erscheinenden ist nicht am bloßen Dasein
ablesbar, sondern ist bzw. resultiert aus dem Auslegen oder Begreifen des
Natürlichen. Dessen Grundlage, das Vermögen des Menschen, bestimmt
Hegel zusammenfassend als Geist. In genau dieser Funktion sieht Hegel das
Geistige: „Denn das Geistige ist das Wahre“, und dies darzustellen, „ist der
wahrhafte Zweck, der Endzweck (...) der Kunst“301. Prinzip und „Endzweck“
des Kunstwerks kann daher nicht die bloße Nachahmung sein, sondern eine
Auffassung der Natur und deren Repräsentation im Kunstwerk. Natur als
Gegenstand der Kunst ist nie rein Gegebenes, sondern als solche „Konstrukt“,
genauer gesagt vom Menschen Vollzogenes und dadurch Konstituiertes. Die
Besonderheit der „Konstruktion“ von Kunstgestaltung liegt in der produktiven
Zutat: Die Vorstellung der Natur durch (den) Menschen wird dargestellt, und
die Lebendigkeit der Natur wird der Vergänglichkeit enthoben. Natur in
297
298
299
300
301
Dies ließ sich bereits am Beispiel der Porträtmalerei im Zusammenhang der „Idealisierung der
Natur“ zeigen.
Hotho 1823, 11.
Hotho 1823, 13.
Hotho 1823, 30.
Kehler 1826, 24.
75
Kunst dargestellt ist damit qua Produktion die Aufbereitung der Natur für eine
bestimmte, durch künstlerische Handlungsintention festgelegte Rezeption.
Von dieser Position aus kann Hegel die theologische Begründung der
traditionellen Auffassung, jedes menschliche Werk sei der Natur und ihren
Produkten als Werk(e) Gottes unterlegen, kritisieren und zeigen, daß sich die
These vom Vorrang des Naturschönen nicht halten läßt; sie ist zumindest
keine notwendige Konsequenz. In einer philosophischen Reflexion auf den
menschlichen Gottesvollzug stellt Hegel dieser traditionellen Auffassung die
Behauptung entgegen, daß Gott „mehr Ehre von dem [hat], was der Geist
macht, als vom Naturprodukt“. Denn es sei ein „Mißverstand“, „daß Gott im
Menschen nicht wirke wie in der Natur“302. Wenn aber der Mensch durch
seine Fähigkeiten sozusagen zum höchsten Naturgegenstand (der Schöpfung)
wird, dann ist es sinnvoll, auch im Menschen die genuine Möglichkeit der
Erkenntnis und Verehrung Gottes zu vermuten. In der Natur geht Gott „durch
das Medium der Äußerlichkeit“, beim Menschen durch das Medium des
Bewußtseins. Das Bewußtsein als etwas Geistiges ist aber für Hegel ein dem
Göttlichen adäquateres Medium als die Äußerlichkeit der Natur. Demnach
wirke Gott im Menschen „auf eine wahrhaftere Weise als im Boden der
bloßen Natürlichkeit“303.
So läßt sich auch in einer Reflexion auf den menschlichen Gottesbezug
keineswegs der Vorrang der Natur oder des Schönen der Natur vorurteilsfrei
begründen. Die Frage, wie Gott dem Menschen vermittelt werden kann, weist
wiederum auf einen geistigen Vollzug der Welt/Natur, also auf das Vermögen
des Menschen zur Reflexion und Erkenntnis der höchsten Wahrheiten hin.
Daher ist es auch wenig sinnvoll, die Natur selbst zu vergöttlichen. In der
ausführlichen Diskussion dieser Frage in den Ästhetikvorlesungen, näherhin
in der Bestimmung der „Symbolischen Kunstform“, analysiert Hegel die
302
303
76
Hotho 1823, 12.
Zu Beginn seiner Vorlesung aus dem Sommersemester 1823 führt Hegel diesen Gedanken
ausführlich (und abschließend) aus: „Im Geist hat das Göttliche die Form, ein Bewußtes und vom
Bewußtsein hervorgebracht worden zu sein. Nach dieser Seite geht das Göttliche durch das
Medium des Bewußtseins durch. In der Natur ist das Göttliche auch durch ein Medium gegangen,
durch das Medium der Äußerlichkeit, welches Medium als das Sinnliche schon dem Bewußtsein
bei weitem nachsteht. Das Göttliche also im Kunstwerk ist durch ein viel höheres Medium
hervorgebracht. Das äußerliche Dasein in der Natur ist viel weniger eine dem Göttlichen
angemessene Weise der Darstellung. Diesen Mißverstand also, daß das Kunstwerk nur
Menschenwerk sei, muß man durch richtigere Bestimmung entfernen. Gott im Menschen wirkt auf
eine wahrhaftere Weise als im Boden der bloßen Natürlichkeit.“ (Hotho 1823, 12).
Schwierigkeiten, Göttliches in Naturgestalten darzustellen, zum „Symbol“ des
Göttlichen und Unendlichen eine natürliche Gegebenheit zu wählen.304
In der Enzyklopädie - und zwar durchgängig in allen Fassungen - fordert
Hegel, die Natur sei „nicht zu vergöttern“. Zumindest für die Philosophie ist
es sinnlos, Naturprodukte wie etwa „Sonne, Mond, Thiere, Pflanzen u.s.f.
vorzugsweise vor menschlichen Thaten und Begebenheiten, als Werke Gottes
zu betrachten und anzuführen“305. Der Behauptung, „daß ein Strohhalm
hinreiche, um das Seyn Gottes zu erkennen“306, hält Hegel daher - auf der
Grundlage seiner Überlegungen zur Natur- wie Geistphilosophie - entgegen,
jeder geistige Vollzug und jedes Erkennen oder Handeln des Menschen seien
„ein vortrefflicherer Erkenntnißgrund für Gottes Seyn, als irgend ein einzelner
Naturgegenstand“307.
In einer Vorlesung zur Religionsphilosophie von 1831, die D.F. Strauß in
Auszügen mitgeschrieben hat308, erläutert Hegel, warum der Versuch, Gott in
bzw. aus der Natur zu erkennen, „immer etwas Unangemessenes“ haben muß.
Wenn Natur, wie Hegel behauptet, nur „das Negative“, wenn sie „der
Unvernunft
der
Aeusserlichkeit
hingegeben,
und
die
individuelle
Lebendigkeit (…) in jedem Momente ihrer Existenz mit einer ihr andern
Einzelnheit befangen“309 ist, dann überträgt der Mensch zwangsläufig „die
Beschränktheit der Erscheinung, von welcher man ausgeht, auch auf Gott“.
Gott mag zwar „greulich“ donnern, aber er wird dessen ungeachtet „doch
nicht erkannt“. Weil Gott selbst Geist ist, muß er sich dementsprechend „auf
geistige, nicht bloß auf natürliche Weise offenbaren“310. Daher ist es
„ungeschickt, Gott nur auf der Seite der Natur <sehen> zu wollen und nicht
auf der Seite des Menschlichen. Gott ist wesentlich Geist, muß, wenn er
gewußt wird, als geistig gewußt werden, seine Taten sind wesentlich geistige
304
305
306
307
308
309
310
Vgl. zur Interpretation der Bedeutung der symbolischen Kunstform im Rückgriff auf die genuin
Hegelsche Bestimmung in den Vorlesungen die Arbeit von J.-Im Kwon: Hegels Bestimmung der
Kunst, München 2001.
Enz 1817, § 194; Enz 1827, § 248; Enz 1830, § 248.
Enz 1817, § 194.
Enz 1830, § 248.
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3. Die vollendete Religion.
Herausgegeben von Walter Jaeschke. Vorlesungen, Band 5, Hamburg 1984 (fortan zit.: V 5), 279289.
Enz 1817, § 194.
V 5, 283.
77
Taten.“311 Hegel setzt daher das „wahre Verhältnis“ zwischen Natur und
Geist als das umgekehrte an:
„Wenn der Mensch selbst denkt, in seinen Geist zurückgeht, so weiß er, daß
seine Freiheit ein weit Höheres ist als alle Gebilde und Produkte der Natur, er
weiß durch seine Freiheit, daß er erhabener ist. Der Mensch weiß seine
Freiheit, seinen Geist mit Recht als ein Göttliches in viel höherem Sinne als
alles Natürliche. Wenn der Mensch geistig ist, und der Geist frei, so ist in
allem, auch was als das Schlechteste erscheint, der Geist, die Freiheit. In allem
Menschlichen ist der unendliche Stempel des Geistes, die Freiheit,
enthalten.“312
Auf diese Überlegungen spielt Hegel zu Beginn seiner Ästhetikvorlesungen
an, wenn er provokativ Produkte und Gebilde des Menschen gegenüber
natürlichen Produkten und Naturgegenständen auszeichnet und behauptet,
selbst der „schlechteste Einfall, der durch den Kopf eines Menschen geht“, sei
höher zu achten „als irgendein Naturgegenstand, denn dieser Einfall ist etwas
Geistiges“313. Selbst „Hammer, Zange, ein Stift (...) ist mehr werth, darauf hat
er [der Mensch] viel mehr Ursache stolz zu seyn“314.
Der „Geist“ ist demnach das Wahrhafte gegenüber Natur in genau dem
Sinne, daß allererst der Natur-Vollzug Natur erschließt. Ohne Geist mag Natur
zwar sein315, aber Bedeutung erlangt sie nur durch den menschlichen NaturVollzug. Dem Kunstwerk kommt daher der Vorrang vor dem Naturprodukt
zu. Das Kunstwerk wird von ihm daher konsequent als Vermittlungsleistung
des Geistes, nicht hingegen als Nachahmung der Natur bestimmt.
Die weiteren Ausführungen werden zeigen, daß Natur entweder in
ästhetischen Naturvollzügen erschlossen oder in der Kunst so dargestellt
werden kann, daß sie jeweils symbolhaft auf Geistiges verweist. Das
„Naturschöne“
ist
Naturvollzüge,
in
letztlich
denen
das
analog
Resultat
zur
vielfältiger
Hegelschen
ästhetischer
Schönheits-
und
Kunstkonzeption dem Menschen sein Verhältnis zur Natur sinnlichanschaulich vermittelt wird.
311
312
313
314
315
78
V 13, 4.
V 13, 4. - Dies läßt sich auch als ein „Prozeß der Idealisierung von Äußerlichkeit“(Griesheim
1823/24, 30) beschreiben. In der Natur findet sich in diesem Sinne keine Freiheit, diese ist erst „im
Geiste zuhause“ (Griesheim 1823/24, 18). Erst hier, so Hegel, sei „das Reich des Göttlichen und
der Verwirklichung des Systems der Freiheit“ (Griesheim 1823/24, 19).
Aachen 1826, Ms. 1.
Aachen 1826, Ms. 9.
„Wenn kein Geist wäre, so wäre sie doch, was sie ist; sie ist für sich“ (Gies, 9).
4
Schöne Natur
Natur kann als schöne wahrgenommen oder dargestellt werden - das ergibt die
vorläufige Analyse der Bedingungen der Möglichkeit des Naturvollzuges. Vor
der genauen Analyse der im Kunstwerk dargestellten Natur wird im
Folgenden die ästhetische Anschauung der Natur näher untersucht, um zu
zeigen, unter welchen Voraussetzungen ästhetische Anschauungen Natur als
schöne auffassen können. Insbesondere in der Ästhetikvorlesung von 1823
führt Hegel eine entsprechende Vollzugsanalyse des Naturschönen durch.
Als Quellen-Grundlage der folgenden Rekonstruktion dient daher die von
Heinrich Gustav Hotho mitgeschriebene Ästhetikvorlesung von 1823, die an
Umfang und Detailliertheit alle anderen verfügbaren Mitschriften deutlich
übersteigt.316 Hothos Nachschrift eignet sich auch deswegen als Leitfaden,
weil Hegel sich gerade in dieser Vorlesung an Ergebnissen seiner
Naturphilosophie orientiert, die er in seinen Ästhetikvorlesungen überhaupt
als bekannt voraussetzt, gelegentlich en passant auf sie aufmerksam macht317.
Ähnlich überliefert Aschebergs Nachschrift im Wintersemester 1820/21 mehr
Äußerungen Hegels über das Naturschöne als die überlieferten Mitschriften
des Sommersemesters 1826 und des Wintersemesters 1828/29, wobei die
letztgenannte Vorlesung den geringsten Umfang dieser Diskussion aufweist.
Obwohl die Rekonstruktion der beiden entscheidenden Abschnitte des ersten
Kapitels des „Allgemeinen Teils“ der Vorlesung von 1823 gelegentlich
Hinweise auf und Querverbindungen zu den sachlich entsprechenden
Textstellen der anderen Vorlesungsjahrgänge enthält, kann sie auch als
fortlaufender Kommentar dieser für die Diskussion um das „Naturschöne“
entscheidenden Passagen verstanden und gelesen werden.
Als methodischer Leitfaden dienen drei miteinander zusammenhängende
Probleme. Die erste Aufgabe besteht darin, trotz der These Hegels, die Natur
bzw. das Naturschöne mache „es dem Geiste saurer“, sich als den
zugrundeliegenden Vollzug, also als die Bedingung der Möglichkeit der
Betrachtung „schöner Natur“ zu erkennen, die Kritik an der Ästhetik zu
316
317
Hotho 1823, 47-82.
So z.B. in der Vorlesung von 1820/21 (Ascheberg 1820/21, 41f) oder in der von 1826 (Kehler
1826, 35).
79
entkräften, die sich gerade an dieser Überlegung orientiert. Denn der
zugrundeliegende Vollzug, der zur Vermittlung der Natur als schöne führt,
bleibt intransparent, die Konstitutionsleistung des „subjektiven Geistes“ bleibt
unmittelbar unerkannt, ein „Geheimes für die Anschauung“318. Was
erforderlich ist und was Hegel im einzelnen durchführt, ist eine entsprechende
Re-Konstruktion der Konstitution des Naturschönen aus dem menschlichen
Vollzug. Das bedeutet, der Konstruktcharakter des Naturschönen ist nicht
unmittelbar, sondern erst in der Re-Konstruktion nachträglich einsehbar.
Damit unterscheidet sich das Naturschöne vom Kunstschönen, das von
vornherein als vom Menschen Gestaltetes und eigens für einen Nachvollzug
Hergestelltes erscheint.
Es stellt sich zweitens die Frage, ob sich die Besonderheit des Kunstwerks
(als Werk des Menschen) aus der Analyse des Naturschönen begreifen läßt
oder ob ein solches Unternehmen nicht auf unüberwindliche Schwierigkeiten
stoßen muß. Auf diese Schwierigkeiten weist beispielsweise B. Hilmer in
ihrer Behauptung hin, Hegel erörtere das Naturschöne nur deshalb, „um daran
die quasiorganische Struktur des Kunstwerks diskutieren zu können“319. Denn
„das organische Leben“ soll „das Paradigma zur Erläuterung des
Kunstschönen abgeben“320. Es zeigt sich allerdings - so Hilmer -, „daß Hegel
versucht, mit dem ‚Naturschönen’ (...) Kriterien des Organischen zu
erarbeiten, die für die Erläuterung von ‚Schönheit’ im Sinne der Einheit des
Kunstwerks
tauglich
321
vorankommt“
wären,
aber
bei
diesem
Unternehmen
nicht
. Geht man von der umgekehrten These aus, daß Hegel zeigen
will, daß sich die Besonderheit des Kunstwerks gerade nicht aus der Analyse
des Naturschönen begreifen läßt, wohingegen das Spezifische des
Naturschönen tatsächlich aus einer Analyse des Kunstvollzugs abgeleitet
rekonstruiert werden kann, so läßt sich diese Schwierigkeit vermeiden, wie
sich an der spezifischen Vermittlung der Natur im Kunstwerk zeigen wird.
Eine
dritte,
mit
einem
ästhetischen
Naturvollzug
verbundene
grundsätzliche Schwierigkeit gründet in der Art der Beziehung zwischen dem
Naturbetrachter und den betrachteten Naturphänomenen. Diese Beziehung,
318
319
320
321
80
Hotho 1823, 56.
Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst, Hamburg 1997, 79.
Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs, 80.
Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs, 18.
die zur Betrachtung „schöner“ Naturphänomene führt, wird als unvermittelte
Gegenüberstellung eines „Subjekts“ und eines „Objekts“ der Wahrnehmung
erfahren. Die Wahrnehmung der Natur als schöne führt infolgedessen
entweder zu einem Subjektivismus oder zu einem Objektivismus der
Wahrnehmung. Zwar steht der Naturbetrachter in einer Kultur, in der sich
spezifische
Wahrnehmungsgewohnheiten
und
Deutungsmuster
der
natürlichen wie kulturellen Umwelt entwickelt haben. Aber statt Einsicht in
die individuelle Bedingtheit des ästhetischen Naturvollzugs durch diese
kulturellen Vorgaben zu gewinnen, bleibt die Vermitteltheit der individuellen
Wahrnehmungsgewohnheiten undurchschaut. Dies hat zur Folge, daß die
wahrgenommenen
Naturphänomene
gleichsam
wie
etwas
„objektiv“
Vorgegebenes aufgefaßt werden und ihre Vermitteltheit vergessen wird.
Da dieser Vorgang dem Naturbetrachter verborgen bleibt, ergeben sich
zwei gegenläufige Konsequenzen. Die eine Konsequenz besteht in einem
stimmungs- und empfindungsinduzierten Zugang zur Natur. Dieser Aspekt
spielt bei der ästhetischen Betrachtung der Landschaft eine entscheidende
Rolle. Die andere besteht darin, daß die ästhetisch angeeignete Natur zur
Unterstellung einer falsch verstandenen Objektivität führt, was Hegel mit dem
Begriff des „objektiven Idealismus“ zu fassen versucht. Gemeint ist damit die
Idealisierung der Natur als eine Auffassungsweise, die aber irrigerweise zu
einem „Objektivismus“ der Gegenstände dieser Auffassungsweise führt. Statt
zu einer Betrachtung der Phänomene „schöner Natur“ führt der unbewußte
Idealismus des Naturvollzuges zu einer Betrachtung „schöner Gegenstände“
der Natur.322
4.1
Das Konzept einer „gebildeten Anschauung“
Das Verständnis der Besonderheit der Betrachtungsweisen der Natur wird
durch das Konzept einer „gebildeten Anschauung“ vermittelbar. Dieser
Ausdruck stammt nicht von Hegel selbst, sondern wird verwendet in
Anlehnung an das Konzept einer „gebildete[n] Empfindung“, das Hegel im
§ 447 der Enzyklopädie definiert. Diese „gebildete Empfindung“ wird im
322
„Nach dieser Seite werden wir nicht sagen, daß wir uns zum Gegenstande als einem Schönen
verhalten, sondern wir werden sagen, die Betrachtung sei schön“ (Hotho 1823, 58f).
81
übrigen bei der Analyse des ästhetischen Naturvollzuges von Landschaft eine
Rolle spielen. Die Formulierung „gebildete Anschauung“ hat zudem den
Vorteil, nicht nur Anschluß zu finden an dieses Konzept der „gebildete[n]
Empfindung“, sondern auch an die Konzepte eines „gebildeten Gefühls“ und
eines „gebildeten Geistes“.323 Der entscheidende Vorteil des Konzepts einer
„gebildeten Anschauung“ besteht darin, mit dem darin enthaltenen Begriff der
Anschauung einen umfassenden Begriff heranzuziehen, der sich in anderen
Äußerungen Hegels wiederfindet und engere Begriffe in sich faßt.
Beispielsweise verwendet Ch. Halbig im Hinblick auf das Problem der
holistischen Struktur des Geistes bei Hegel die auch umgangssprachlich und
außerphilosophisch gebräuchliche Formulierung „gebildeter Blick“324, die
aber auf den Aspekt eines gezielten Blickens fokussiert bleibt, der im Begriff
der Anschauung zu integrieren wäre. Um dieses Konzept der „gebildeten
Anschauung“
zu
plausibilisieren,
sei an Hegels Hinweis auf die
Eigentümlichkeit des menschlichen „Geistes“ erinnert, nicht eine mechanisch
Ansammlung325
funktionierende
326
„Aggregatwesen“
einzelner
„Vermögen“:
327
, sondern eine „lebendige Einheit“
ein
zu sein, die auf
einen gemeinsamen „Endzweck“328 hin organisiert ist. Der die verschiedenen
kognitiven,
emotiven
und
voluntativen
Fähigkeiten
des
Menschen
organisierende „Endzweck“ ist der „Begriff des Erkennens“. Mit Erkennen ist
nicht ein Vermögen neben den anderen Vermögen gemeint, sondern die
bereits angesprochene (Selbst-)erkenntnis bzw. Einsicht des Menschen, daß er
in allen Bestimmungen der von ihm erkannten Welt „sich nur zu seinen
eigenen Bestimmungen verhält“329.
In der Philosophie des subjektiven Geistes demonstriert Hegel, was es für
die einzelnen Vermögen heißen kann, in den „Geist“ als „lebendige Einheit“
integriert zu sein. Für die hier vorrangig interessierende Anschauung heißt
dies, daß sie nicht lediglich Teil einer ‚Maschinerie des Geistes’ ist, indem sie
hereinkommende Sehinformationen abarbeitet und an andere Teile der
Maschinerie
323
324
325
326
327
328
329
82
zur
Weiterverarbeitung
V 13, 188.
Ch. Halbig: Objektives Denken, 98.
„Der Geist ist keine Sammlung“ (V 13, 183).
Enz 1830, § 445.
Enz 1830, § 379.
Enz 1830, § 442.
Enz 1830, § 440.
weiterleitet,
sondern
bereits
„erkennendes Anschauen“ ist.330 Hegel will zum Ausdruck bringen, daß die
Anschauung von Voraussetzungen zehrt, die sie anderem verdankt, wie etwa
wissenschaftlichen Kenntnissen, kulturell erworbenen Sehgewohnheiten,
Erinnerungen an zuvor Gesehenes, moralischen Prinzipien, ästhetischen
Geschmacksurteilen, religiösen Überzeugungen oder auch philosophischen
Einsichten. Am Vergleich eines wissenschaftlich gebildeten Naturbeobachters
mit einem Ungebildeten („Wilden“) demonstriert Hegel, welche (hier:
wissenschaftlichen) Voraussetzungen in dessen Naturvollzug einfließen:
„Der Wilde ist fast auf nichts aufmerksam; er läßt alles an sich vorübergehen,
ohne sich darauf zu fixieren. Erst durch die Bildung des Geistes bekommt die
Aufmerksamkeit Stärke und Erfüllung. Der Botaniker zum Beispiel bemerkt
an einer Pflanze in derselben Zeit unvergleichlich viel mehr als ein in der
Botanik unwissender Mensch. Dasselbe gilt natürlicherweise in bezug auf alle
übrigen Gegenstände des Wissens. Ein Mensch von großem Sinne und von
großer Bildung hat sogleich eine vollständige Anschauung des Vorliegenden;
bei ihm trägt die Empfindung durchgängig den Charakter der Erinnerung.“331
Übertragen auf den ästhetischen Naturvollzug, der Naturphänomene als
„schön“ betrachtet, heißt dies, daß der Naturbetrachter ebenfalls mehr sieht
als jemand, der nicht über die gleichen kulturell vermittelten Voraussetzungen
verfügt.
Innerhalb derselben kulturellen Rahmenbedingungen bedeutet dies, daß
die Betrachtung von Naturphänomenen als Naturschönheiten nur unter
Voraussetzung bereits vermittelter Inhalte des subjektiven, objektiven und
absoluten
Geistes,
etwa
bestimmten
gesellschaftlich
überlieferten
Anschauungs- und Gefühlserwartungen, etablierten Bearbeitungs- und
Nutzungsweisen der Natur, wissenschaftlichen Erfahrungen oder in
Kunstwerken
oder
medial
inszenierten
Naturbildern
begründeten
Seherwartungen und -gewohnheiten möglich ist. Hegel diskutiert solche
Vorgänge zum einen unter dem Titel „Verleiblichung“332, zum anderen unter
dem der „Gewohnheit“333. Jeweils handelt es sich um Vorgänge, die
330
331
332
333
„Die w a h r e B e f r i e d i g u n g aber, gibt man zu, gewähre nur ein von Verstand und Geist
durchdrungenes Anschauen, vernünftiges Vorstellen, von Vernunft durchdrungene, Ideen
darstellende Produktionen der Phantasie usf., d.i. e r k e n n e n d e s Anschauen, Vorstellen usf. Das
W a h r e , das solcher Befriedigung zugeschrieben wird, liegt darin, daß das Anschauen, Vorstellen
usf. nicht isoliert, sondern nur als Moment der Totalität, des Erkennens selbst, vorhanden ist“ (Enz
1830, § 445).
TWA 10, 249 (Enz 1830, § 448).
Enz 1830, § 401. - Vgl. hierzu näher Kap. 5.1.3.
Enz 1830, §§ 409 und 410.
83
komplementär
zur
Idealisierung
der
Natur
-
welche
Sinnesdaten
„verinnerlicht“ und damit durch Sinnesorgane vermittelte Inhalte („das
natürliche Unmittelbare“) dem Menschen „ideell und (…) zueigen“334 macht gleichsam umgekehrt Innerliches wie Empfindungen, Vorstellungen, Wissen
„veräußerlicht“
bzw.
„verleiblicht“
(„zur
natürlichen
335
bestimmt“), d.h. in die Form des „Gefundenseins“
Leiblichkeit
und damit in die Form
einer vom Menschen selbst gesetzten Unmittelbarkeit bringt. Komplementär
zur Idealisierung der Natur ließe sich insofern von einer Naturalisierung von
„Geistigem“ sprechen, wenn beachtet wird, daß diese Naturalisierung von
Hegel
ausdrücklich
als
„gesetzt“336
verstanden
wird,
damit
den
„Dogmatismus“ eines vermeintlich unvermittelten Naturzugangs vermeidet.
Allerdings ist „ein von Verstand und Geist durchdrungenes Anschauen“ im
besonderen bzw. der „gebildete Geist“ im allgemeinen kein zwangsläufig sich
ergebendes Resultat einer gleichsam automatisch ablaufenden Genese der
„lebendigen Einheit“ des Geistes. Bildung ist vielmehr ein Ziel in der
Entwicklung des Geistes, das von vielen Voraussetzungen abhängt. Bildung
kann daher auch verfehlt werden, der gebildeten Persönlichkeit steht eben
darum die ungebildete gegenüber; d.h. mancher begnügt sich aus Unbildung
oder Willkür mit „geistlosem Anschauen“ und findet darin seine
„Befriedigung“.337
4.2
Mit
Betrachtung schöner Natur
„Natur-Schönheit“
wird
-
für
ein
unbefangenes
Bewußtsein
möglicherweise kontraintuitiv - der Natur keine objektive Eigenschaft
zugeschrieben, sondern eine Auffassungsweise der Natur angezeigt. Das ist
der Sinn der Hegelschen Bemerkung zu Anfang der Ästhetikvorlesungen,
Natur mache es dem „Geist saurer“, sich zu erkennen, also die Bedingungen
der Möglichkeit dieser Auffassung, nämlich den zugrundeliegenden Vollzug
334
335
336
337
84
Enz 1830, § 401.
Es gibt „eine andere Sphäre der im Geiste entsprungenen ihm angehörigen Bestimmtheiten, die um
als gefundene zu seyn, um empfunden zu werden, v e r l e i b l i c h t werden“ (Enz 1830, § 401).
Enz 1830, § 410.
„Auch isoliertes, d.i. geistloses Anschauen, Phantasieren usf. kann freilich Befriedigung gewähren;
was in der physischen Natur die Grundbestimmtheit ist, das Außersichsein, die Momente der
immanenten Vernunft außereinander darzustellen, das vermag in der Intelligenz teils die Willkür,
teils geschieht es ihr, insofern sie selbst nur natürlich, ungebildet ist“ (Enz 1830, § 445).
eines
Naturbetrachters
zu
durchschauen.
Vermeintlich
scheint
die
Wahrnehmung von Natur, die zu dem Urteil führt: „Dieser Baum (dieses Tier,
diese Blume, diese Landschaft) ist schön“, etwas „objektiv Schönes“
wahrzunehmen, eben das Naturschöne. Tatsächlich erweist sich bei genauer
Analyse der Grundlagen solcher Urteile, daß der vermeintlich rein rezeptive
Vollzug, d.h. die Anschauung bzw. Betrachtung der Natur, selbst schon in
dem Sinne produktiv ist, als der subjektive Vollzug „gestaltet“ bzw.
„gebildet“ wird.
4.2.1
Organisiertheit der Natur als Grund ihrer Schönheit
Bereits am Organismus lassen sich Strukturen aufweisen, die sich als
Subjektivitäts-, also als Selbstbezüglichkeits- oder Reflexivitätsstrukturen
rekonstruieren lassen.338 Im Anorganischen streben die Körper aufgrund der
Schwerkraft zu einem ihnen äußerlichen Zentrum, wohingegen der Körper im
Organischen die Struktur der Subjektivität339 erreicht, die sich als Gliederung
des Organismus präsentiert. In Analogie zur Subjektivität des subjektiven
Geistes340 stellt Hegel in der Vorlesung zur Naturphilosophie von 1819/20
eine Verbindung her zwischen Lebendigkeit und Subjektivität: „Lebendig ist
Subjektivität, in der die Unterschiede nur als Glieder sind, getragen durch
diese ihre Form, in der sie ideell sind.“341 Im Gegensatz zur unorganischen
Natur ist der gegliederte Organismus kein Aggregat von Teilen (wie z.B. beim
Gold).342 Bei einem Stein als Unlebendigem ist es gleichgültig, ob er in einer
Gartenmauer oder in einem Dom verwendet wird. Die Hand als Glied eines
Lebendigen hingegen verliert ihre Funktion, wenn sie vom Körper und dessen
Ganzheit abgetrennt wird. Sie fällt wieder ins Anorganische zurück und
verwest.343 Hegel nennt diese Stufe der Natur „Stufe des Idealismus“344. In
338
339
340
341
342
343
344
W. Jaeschke sagt in diesem Sinne, „Leben“ lasse „sich nicht anders deuten denn als natürliche
Form von Reflexivität, die wir im Selbstbezug eines Organismus erkennen können“ (W. Jaeschke:
Hegel-Handbuch, 182).
Der Organismus ist der „sich selbst anfachende und unterhaltende Proceß“ (Enz 1830, § 336).
Vgl. Kap. 2.2.3.
Gies, 11.
Das „Lebende des Ganzen äußert sich in jedem Gliede, und hört auf, wenn das Glied getrennt vom
Ganzen gesetzt wird; die einzelnen Theile sind nur etwas in Beziehung auf das Ganze“ (Ascheberg
1820/21, 41 f).
Kehler notiert 1826: „Den Steinen ist es gleichgültig, ob sie einen Herd oder einen Dom
ausmachen. – Sie bleiben Steine in einer zertrümmerten Mauer oder in einem Prachtgebäude. Im
Lebendigen hingegen ist der Begriff die immanent eigene Bestimmung, und die Glieder, wenn sie
vom Körper losgetrennt sind, können nicht mehr bestehen“ (Kehler 1826, 36).
V 16, 10.
85
der Ästhetikvorlesung von 1823 bezeichnet er diese Form der Idealität als
„Idealismus der Lebendigkeit“ bzw. als „objektiver“ oder „praktischer“
Idealismus“345. 1826 spricht er davon, „das lebendige Leben ist das
Idealistische“346. Die Frage ist nun, auf welche Weise diese Idealität sich zur
Erscheinung bringt.347
Der Organismus ist für Hegel eine idealisierte Realität348, d.h. die Glieder
sind
nur
Erscheinung
oder
Äußerung
eines
einheitsstiftenden
Organisationsprinzips, das die „Macht, das Bestimmende, Bildende, die
unendliche
Form“349
des
Organismus
als
Erscheinung
ist.
Unter
„Erscheinung“ versteht Hegel in diesem Zusammenhang eine Realität, die als
unselbständig gesetzt (negiert) ist – man denke an die Hand, die abgeschlagen
werden kann und dann verwesen muß –, wobei diese Negation zugleich
affirmiert wird, also die notwendige Integration des Teils in das organische
Ganze indiziert. Diese Affirmation nennt Hegel „Seele, welche am Leiblichen
erscheint“350. In diesem Sinne gibt es in der unorganischen Natur kein
Scheinen der Körper, sie existieren nur351; denn im Unorganischen ist der
„Begriff noch nicht zur Seelenhaftigkeit gekommen“ und bleibt „darum ein
bloßes Abstraktum“352. Erst im lebendigen Organismus erscheint die
„Subjektivität des Lebendigen“, und zwar in einem „Scheinen der lebendigen
Seele“353 oder als „empfindendes Subjekt“354.
„Beseelung“ zeigt sich in der Empfindung. Ein beseelter Körper ist mit
Hegel in diesem Sinne ein Ganzes aus Teilen, wobei an jeder Stelle einer
möglichen Empfindung, etwa einer Schmerzempfindung, der Empfindende
nur einer ist, unabhängig davon, an welcher Stelle des Körpers die
Empfindung auftritt: Der Empfindende „ist nicht unterschieden von seiner
345
346
347
348
349
350
351
352
353
354
86
Hotho 1823, 51 und 53.
Pfordten 1826, 75.
1823 heißt es entsprechend: „(…) woran man das Dasein dieser Idealität in einem Individuum
erkennt, oder wodurch das Individuum als subjektive Einheit sich kundgibt, als ein Gegliedertes“
(Hotho 1823, 51).
Mit Bezug auf das Lebendige der Natur heißt es 1826: „Dies ist die höhere Realität, daß sie da ist,
aber immer idealisiert“ (Pfordten 1826, 76).
Kehler 1826, 36.
Pfordten 1826, 76.
„Im Unorganischen scheinen die Körper nicht, sie existieren“ (Kehler 1826, 37). Am Beispiel des
Goldes heißt das: „Das Gold scheint nicht, sondern ist“ (Pfordten 1826, 76).
Kehler 1826, 37. - Auch das Sonnensystem als Beispiel für natürliche Systeme scheint nicht,
sondern es existiert lediglich (vgl. Libelt 1828/29, Ms. 43).
Pfordten 1826, 76, 77.
Pfordten 1826, 76.
Realität; allenthalben ist Empfindung, und wo Empfindung ist, ist der
Empfindende“355.
„Idealität“ zeigt sich also als Einheit von „Beseelung“ und Körperlichkeit.
Die vermeintliche Selbständigkeit der „Teile“ eines Organismus ist
„Schein“356 im Sinne von „Erscheinung“357 eines zugrundeliegenden
Organisationsprinzips. Idealität zeigt sich ferner in der „Selbstbewegung“,
d.h. der selbständigen, sich von der Umgebung lösenden Beweglichkeit des
Organismus, über die die Pflanze noch nicht verfügt358. In dieser
Selbstbewegung wird auch der Raum negiert und ebenfalls zum Schein
herabgesetzt. Auf diese Weise kommt - so Hegel - der „objektive Idealismus“
zur Erscheinung, „erscheint seine Freiheit, seine Idealität“359.
Obwohl der animalische Organismus auf diese Weise als eine reflexive
Selbstbeziehung360 rekonstruiert wird, ist der Selbstbezug noch keine sich
selbst erfassende Selbstbeziehung361. Eine Betrachtung des Lebendigen „in
seinem praktischen sich Hervorbringen und Erhalten“ ist daher nicht das, was
Hegel unter Kunst versteht362. Der sinnlichen Betrachtung erscheint das, was
sich dem Anblick präsentiert, nämlich die Bewegungen des Organismus, als
willkürlich, zufällig, abstrakt. Die Vernunft hingegen kann diese Bewegungen
im Hinblick auf die Funktionalität des Organismus als etwas in sich
Zweckmäßiges, d.h. als „Naturzweck“ im Kantischen Sinne betrachten - wie
für Kant ist auch für Hegel der für den Organismus wesentliche Begriff der
des Zwecks363 bzw. der der Zweckmäßigkeit. In diesem Fall kommt allerdings
nicht mehr der Organismus qua Sinnlichkeit zur Anschauung, sondern der
Organismus als ein Gedachtes. So kann zwar das Lebendige „Erscheinen
355
356
357
358
359
360
361
362
363
Kehler 1826, 35 f.
„Dies ist die Hauptseite, nach welcher die Idealität vorhanden ist, daß das lebendige Subjekt das
natürliche Bestehen seiner Teile zum Schein herabsetzt“ (Hotho 1823, 52).
„(…) Idealität, die (…) sich immer als Erscheinung zeigt“ (Hotho 1823, 52).
Enz 1830, § 344.
Hotho 1823, 53.
„Gestalt ist das animalische Subjekt als ein Ganzes n u r i n B e z i e h u n g a u f s i c h s e l b s t “ (Enz
1830, § 353).
Vgl. hierzu Klaus Düsing: „Diese nicht mehr einfache, sondern reflektierte Selbstbeziehung aber
ist noch nicht geistig, noch nicht denkend, sondern bedarf noch der Äußerlichkeit des organischen
Körpers oder des Leibes, damit die Seele, die in ihm waltet, zu sich selbst findet und in ihm sich
fühlt. Leben ist damit nicht die eigentliche Bestimmung, sondern eine natürliche Vorform von
Subjektivität; diese ist eigentlich als Ich, als Selbstbewußtsein, zuhöchst als Denken seiner selbst
existent“ (Klaus Düsing: Die Idee des Lebens in Hegels Logik, 289).
Hotho 1823, 53.
„Der Organismus ist Selbstzweck“ (V 16, 140).
87
dieser Zweckmäßigkeit“364 sein, nicht aber das spezifische Scheinen, um das
es in der „Kunstbetrachtung“ geht. Dieses Erscheinen der Zweckmäßigkeit ist
zwar „für uns“ als Betrachter gegeben, aber - so Hegel - nur „schlechthin“
gegeben, es ist nicht eigens für uns gesetzt. Was das heißt, sei nochmals im
Kontrast zur Bestimmung des Kunstwerks erläutert.
Der Schein im Kunstwerk ist eigens „für uns als Anschauende, als sinnlich
Betrachtende“365 gesetzt, also ein vom Menschen selbst gesetzter Schein,
damit ein „Scheinen des Geistes“366, eine gestaltete und als solche Gestaltung
vollziehbare Erscheinung des Geistes, die sich entsprechend als „Scheinen der
Gestalt“367 präsentiert. Diese Gestalt ist an idealisierte („vergeistigte“)
Gegenständlichkeit („Seiendes“) gebunden, sie „muß für uns zugleich ein
Seiendes und Scheinendes sein“368. Das bedeutet, der Schein der Kunst ist
vom und für den Menschen gestalteter (im Kunstwerk produzierter) Schein,
der durch sich selbst auf Geistiges hindeutet369. Produzent wie Rezipient ist
der Mensch selbst, der nicht durch Sinnlich-Äußerliches, Natürliches in
diesem Hindeuten behindert wird370. Die empirische Mannigfaltigkeit
natürlicher Vorgaben in ihrer Kontingenz muß der Funktion der Kunst
entsprechend „vergeistigt“ werden - in Hegels Worten: „Die Mannigfaltigkeit
der Gestalt muß für uns als Schein gesetzt sein“371, d.h. dem Zweck
untergeordnet werden, als Ausdruck für Geistiges zu fungieren.
Das organisch Lebendige kann dann aber nicht der Maßstab für das
Kunstschöne sein. Nur umgekehrt kann die Beziehung zwischen dem
Organismus und dem Kunstschönen im Hinblick auf die Frage, ob das
Naturschöne als „Paradigma“ für das Kunstschöne fungieren kann, sinnvoll
gestellt und beantwortet werden. Das Lebendige wird von Hegel − wie Klaus
Düsing gezeigt hat − „vom Modell der Subjektivität her bestimmt“, und die
„Erfüllung der Subjektivitätsstruktur, der gemäß Leben von Hegel gedacht
wird, findet sich erst im Geist und dessen selbstbewußtem Wissen von
364
365
366
367
368
369
370
371
88
Hotho 1823, 54.
Hotho 1823, 54.
Kehler 1826, 38; Griesheim 1826, Ms. 63.
Hotho 1823, 54.
Hotho 1823, 54.
„Die Kunst in ihrem Scheinen deutet durch sich selbst auf ein Höheres, auf den Gedanken hin“
(Hotho 1823, 3).
„Aber die unmittelbare Sinnlichkeit für sich deutet nicht auf den Gedanken hin, sondern
verunreinigt ihn und verbirgt ihn“ (ebd.).
Hotho 1823, 55.
sich“372. Dieses selbstbewußte Wissen von sich findet eine erste Form im
Kunstwerk, insofern dieses anschaubare Selbstobjektivierung menschlicher
Subjektivität ist.
Die Betrachtung des Lebendigen führt demnach zu einer Betrachtung der
schönen Organisiertheit der Natur - dies ergibt die bisherige Analyse -,
insofern die Glieder des Organismus „einen beseelten Zusammenhang“
anzeigen. Die Form des Organismus „wohnt der Materie in[ne], ist die
eigentliche Natur dieses Materiellen. Dies ist die Bestimmung der Schönheit
überhaupt.“373 In der Ästhetikvorlesung von 1820/21 erklärt Hegel daher, daß
„auch die Natur, das Lebendige (…) schön [ist]; denn gerade das Lebendige
in seiner körperlichen Erscheinung ist das Schöne, d.h. der in der Realität
immanente Begriff, die durch den Begriff belebte, beseelte Körperlichkeit.
Deßhalb ist nun die lebendige Natur schön“.374 1826 erklärt Hegel ebenfalls,
man könne lebendige Naturgestalten, in denen die Seele „zur Erscheinung
kommt“, als schön bezeichnen.375 Und in der letzten Ästhetikvorlesung im
Wintersemester 1828/29 sagt er: „Das Leben und das Schöne ist eins und
dasselbe“376. Voraussetzung dieses ästhetischen Naturvollzugs ist ein
Vernunftbegriff, der einen „Naturzweck“ (Kant) bzw. das „Erscheinen der
Zweckmäßigkeit“ (Hegel) in der Natur unterstellt und diese wegen der
zweckmäßigen Organisiertheit als schön empfindet.
Die Betrachtung der Natur in ihrer Organisiertheit hat folglich eine
kulturell
vermittelte
und
bewährte
Praxis-
und
Wissensform
zur
Voraussetzung, nämlich lebendige Naturphänomene als in sich zweckmäßig
organisierte Gestalten zu betrachten. In anderen Kontexten, zum Beispiel in
utilitären
Nutzungs-
und
Verwertungspraxen,
kann
eine
solche
Betrachtungsweise dazu dienen, Natur leichter, weil berechenbarer, zum
Objekt einer Verwertung im Rahmen der Zweck-Mittel-Rationalität zu
machen.377 Die ästhetische Wahrnehmung wird durch die Intention auf
372
373
374
375
376
377
Klaus Düsing 1986, 289.
Hotho 1823, 61.
Ascheberg 1820/21, 65.
Pfordten 1826, 76: „Das Lebendige ist schön, insofern die Seele in ihm zur Erscheinung kommt“.
Libelt 1828/29, Ms. 41.
Hier ist mit Blick auf Hegels Philosophie des „objektiven Geistes“ an das „System der
Bedürfnisse“ innerhalb der „Bürgerlichen Gesellschaft“ zu denken (Rph, § 189ff.; Enz 1830, §
524ff.). - Erinnert sei an das „praktische Naturverhältnis“, das die Naturphänomene als
unselbständig Seiende und damit unfreie vernutzen will, dies aber nur kann, wenn es zugleich
unterstellt, daß Natur eigenen Gesetzen folgt. Erst dann kann der Mensch für seine von ihm
89
Zweckmäßigkeit, die lebendigen Organismen zugesprochen werden kann,
konstituiert. Im weiten Sinne des Wortes verdankt sich diese ästhetische
Erfahrung von Naturschönheit also einer spezifischen Betrachterperspektive
auf der Grundlage habitualisierter Seherwartungen378.
4.2.2
Anschauungsgewohnheiten als Grundlage der
Schönheit des Natürlichen
Diese Grundlage liefert Hegel die Argumente dafür, daß es bei der Schönheit
von Naturphänomenen nicht um Widerspiegelung eines vorliegenden
„objektiven“ Schönen, sondern wiederum um die Konstitution einer
spezifischen Schönheitserfahrung als Erfahrung einer Realität geht. Hegel
analysiert daher weitere Betrachterperspektiven (Vollzüge), aufgrund deren
Naturphänomene als „schön“ oder – bei entsprechender Abweichung von
vertrauten Rezeptionsgewohnheiten – als „unschön“, „häßlich“ oder „bizarr“
beurteilt werden können.
Auch hier wird die Frage mitbedacht, ob und auf welche Weise die
Besonderheit des vom Menschen eigens gestalteten Kunstschönen sich aus
der Analyse des Naturschönen entwickeln läßt. Dazu muß entschieden
werden, was die Gestalt, die „für uns als Schein gesetzt“ ist, zu einer Einheit
und Ganzheit und dadurch zum Ausdruck des Geistigen macht. Anders
gewendet: Kann die Einheit dieser Gestalt naturgegeben sein? Gefordert ist
daher, daß die Mannigfaltigkeit der Gestalt
„sich als Scheinendes, d.h. als Beseeltes, uns kundtun [soll], d.h. als eines, das
in dieser Mannigfaltigkeit seine wahrhafte Existenz nicht hat. (…) daß die
verschiedenen Teile, Formen (…) obgleich uneins, unharmonisch, doch
379
zusammenstimmen.“
Hegel erwähnt drei Möglichkeiten einer solchen objektiv vorgegebenen, in der
äußerlichen (Natur-)Gestalt liegenden Einheit, die allerdings nicht den Status
der Notwendigkeit erreicht.
378
379
90
gesetzten Verfügungszwecke objektiv-allgemeine und dadurch in ihrer Verfügbarkeit berechenbare
und antizipierbare Mittel vorfinden, kann Natur seinen subjektiven Zwecken willfährig sein. Vgl.
Kap. 2.3.
Der Sinn des Sehens steht hier als pars pro toto für die Anschauung. Selbstverständlich gehören zur
ästhetischen Erfahrung der Natur auch das Hören und Riechen sowie die Summe aller
Sinneseindrücke in ihrer Gesamtwirkung. Ein Problem des Begriffs Anschauung ist
bekanntermaßen die häufig undurchschaute Reduktion auf das Sehen als den wichtigsten Sinn
ästhetischer Erfahrung.
Hotho 1823, 55.
Eine erste Möglichkeit ist die abstrakte Regelmäßigkeit. Hier sind die
Teile nicht zufällig gegeneinander (wie beim sinnlich betrachteten
Organismus), sondern „der eine hat sie des anderen wegen“, der
Zusammenhang wird äußerlich-anschaulich gesetzt. Eine solche serielle
Einheit entspricht nicht der Forderung Hegels, daß das äußerlich-Einheitliche
sich als „Beseeltes“, also als Kunstwerk auffassen läßt. Ein Regiment gleich
gekleideter Soldaten ist noch kein Kunstwerk.
Eine weitergehende, zweite Möglichkeit der Einheitserfahrung an einem
objektiv Gegebenen liegt daher im lebendigen Organismus. Beim Organismus
ist aber die Einheit „nicht sinnlich vorhanden, sondern sie ist Innerliches, ein
Geheimes für die Anschauung“. Diese verborgene Einheit bezeichnet Hegel
als „innere Notwendigkeit“, als „Seele“, als „Idealität“ des Organismus, die
das „subjectum“, d.h. das Einheitsprinzip der organischen Gliederung ist.380
Diese innere Notwendigkeit kann aber, soll sie „als innere für uns“ erfaßt
werden, nur gedacht werden. Hegel betont daher: „Aber als Inneres allein soll
der Zusammenhang für uns nicht sein, sondern er soll auch selbst erscheinend
sein“381. Mit anderen Worten, diese Form natürlich gegebener Einheit wird
nicht im Kunstwerk erreicht, da dieses nicht im Denken, sondern über die
Anschauung Geistiges vermittelt.
Eine beseelte, notwendige Struktur, die selbst erscheinen kann, nennt
Hegel „subjektive Einheit“382. Im organisch Lebendigen kommt diese
subjektive Einheit als Empfindung vor. Damit ist eine dritte Möglichkeit
genannt, eine Zusammenstimmung der Teile zu erreichen. Die Empfindung
des animalischen Organismus ist in die gesamte Körperlichkeit ausgegossen,
ohne selbst räumlich zu sein; sie ist rein ideell. Doch ist in dieser Empfindung
qua „Selbstgefühl“383 der Zusammenhang der organischen Gliederung noch
nicht als Notwendigkeit gesetzt, da die Empfindung keine notwendige
Beziehung zwischen der äußerlichen Vielfalt des gegliederten Organismus
und dessen Organisationsprinzip („Seele“) stiftet. In der Kunst soll aber die
Anschauung der Gestalt für den Betrachter als eine Einheit erscheinen, „die in
380
381
382
383
Hotho 1823, 56.
Hotho 1823, 56.
Hotho 1823, 56.
Enz 1830, § 356.
91
notwendigem inneren Zusammenhang stehen soll“384. Dieser notwendige
Zusammenhang liegt also weder im zufälligen räumlichen Zusammenhang
der Regelmäßigkeit noch in der Empfindung des organischen Selbstgefühls.
Die Frage, ob sich von der Naturgestalt ausgehend gleichermaßen eine
Mannigfaltigkeit als harmonische Einheit eines Beseelten über die
Anschauung erreichen läßt, muß daher negativ beantwortet werden. Die Natur
als äußerlich in ästhetischer Kategorie (Regelmäßigkeit) oder als innerliche
organische Einheit erschlossen, läßt sich nur in philosophischer Analyse (im
Denken, durch den Begriff der Natur) als notwendige Einheit erschließen. Die
Möglichkeit der Konstitution der Natur als schön wird zwar eingeräumt, aber
die Notwendigkeit dieser Betrachtung läßt sich nicht aus der Naturanschauung
herleiten. In anderen Worten: In der bislang analysierten Naturbetrachtung
erschließt sich über eine schematisierte Erfahrung nicht die Einheit des
Naturphänomens, sondern die Syntheseleistung eines Vollzuges. Das heißt
zugleich, die Einheit der Naturgestalt kann nicht naturgegeben sein.
Obwohl die Anschauung des Natürlichen keinen „notwendigen inneren
Zusammenhang“ vermittelt, sucht Hegel einen ästhetischen Naturvollzug, der
im betrachtenden Subjekt eine notwendige Einheitsstiftung ermöglicht und
unterstellt dadurch die Möglichkeit einer, wie er es nennt, „subjektiven
Notwendigkeit“, die sich einer spezifischen Betrachterperspektive verdankt.
Er erörtert daher weitere Möglichkeiten, Naturphänomene unter diesem
Gesichtspunkt zu betrachten. Zuerst geht er auf die „Gewohnheit“385 ein. Als
spezifische Form der Gewohnheit nennt Hegel des weiteren die „Gewohnheit
durch eine einzelne Gedankenbestimmung“ als das „Leitende“ der
Betrachtung. Außerdem kommt Hegel auf die „sinnvolle Anschauung“, die
ihren Vollzugscharakter bereits „erahnt“, und auf Landschaft zu sprechen, die
einen stimmungsinduzierten Naturvollzug anzeigt. Schließlich erfaßt Hegel
unter den Begriffen „abstrakte Form“ und „abstrakter Stoff“ eine letzte
Anschauungsgewohnheit.
In der Analyse der ersten „subjektiven Notwendigkeit“ der besonderen
Fähigkeit des subjektiven Geistes, der Gewohnheit, greift Hegel auf einen
Begriff seiner Anthropologie im Abschnitt über die „fühlende Seele“
384
385
92
Hotho 1823, 55.
Dieser und die folgenden in Anführungszeichen gesetzten Ausdrücke dieses Abschnitts sind vom
Verfasser kursiv hervorgehoben.
zurück.386 Durch Gewohnheit können Gefühle, kognitive Leistungen der
Intelligenz und des Willens sowie moralische, ästhetische und philosophische
Einsichten von der menschlichen „Seele“ so in Besitz genommen werden, daß
sie sich in ihnen „empfindungs- und bewußtlos“ bewegen kann. Über diesen
„Mechanismus“ der Gewohnheit ist die Seele von einer notwendigen
Konzentration
auf
immer
wiederkehrende
Prozesse
(wie
z.B.
Bewegungsabläufe, das Sehen und sogar das Denken) entlastet, die
„Bestimmtheit des Gefühls, auch der Intelligenz, des Willens u.s.f“ wird zu
einem „natürlichseyenden, mechanischen“, zu einer „zweite[n] Natur“
gemacht. Zweite Natur ist Gewohnheit deshalb, weil sie „ein unmittelbares
Seyn der Seele“ ist; zweite Natur ist sie, weil sie eine „von der Seele
gesetzte Unmittelbarkeit“ ist.387
Für den Rückgriff auf die Kategorie der Gewohnheit in der
Ästhetikvorlesung von 1823 ist die weitere Bestimmung entscheidend, daß
die „Form der Gewohnheit (...) alle Arten und Stufen der Thätigkeit des
Geistes“ umfaßt. So ist auch das Sehen „die concrete Gewohnheit, welche
unmittelbar die vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseyns,
der Anschauung, des Verstandes u.s.f. in Einem einfachen Act vereint“388.
Damit ist erstens gesagt, daß es Sehgewohnheiten geben kann, in die auch
kategoriale Bestimmungen anderer Formen des Geistes einfließen können,
wie etwa Inhalte des objektiven und absoluten Geistes, also „das Religiöse,
Sittliche u.s.f.“.389 Zweitens bedeutet dies, daß in das Sehen von
Naturphänomenen qua Gewohnheit Bestimmungen einfließen, die zuvor qua
Verleiblichung in die Form des ‚Gefundenseins’390 gesetzt wurden und auf
diese Weise eine Unmittelbarkeit vortäuschen können, obwohl sie sich der
Vermittlung anderer Formen wie Inhalte des Geistes verdanken. Dieser
‚Schein der Unmittelbarkeit’ mag dem Natürlichen „wohl zu leihen“391 sein,
wiewohl er diesem selbst keineswegs zukommt. Auch hier erschließt sich
386
387
388
389
390
391
Vgl. hierzu Enz 1830, §§ 403ff.
Enz 1830, § 410.
Enz 1830, § 410.
Enz 1830, § 380.
„Hienach unterscheidet sich eine Sphäre des Empfindens, (...) die dadurch Empfindung wird, daß
sie im Fürsichseyn der Seele i n n e r l i c h gemacht, e r i n n e r t wird, − und eine andere Sphäre der
im Geiste entsprungenen ihm angehörigen Bestimmtheiten, die um als gefundene zu seyn, um
empfunden zu werden, v e r l e i b l i c h t werden“ (Enz 1830, § 401).
Hotho 1823, 80.
93
über eine schematisierte Erfahrung nicht die Einheit des Naturphänomens,
sondern die Syntheseleistung eines Vollzuges.
Was der Betrachter bestimmter Naturgestalten aufgrund eingeübter392
Sehgewohnheiten
„empfindungs-
und
bewußtlos“
sehen
kann,
ist
beispielsweise das vertraute spezifische Nebeneinander der Glieder eines
Organismus. Werden solche Sehgewohnheiten durch eine ungewohnte
Organisation des Körperaufbaues verletzt, indem diese „von unserem
geläufigen Bilde abweichen“393, dann können Tiere wie z.B. Fische mit einem
„ungeheurem Kopf“ und einem „kleinen Schwanz“ als häßlich oder bizarr
beurteilt werden, bestimmte exotische Pflanzen wie etwa Kakteen können uns
„verwundern“. Hegel spricht hier zwar nicht davon, daß wir etwas, insofern es
unserer Gewohnheit entspricht, als schön bezeichnen. Diese Beurteilung läßt
sich aber im Umkehrschluß dadurch begründen, daß die Harmonie der Teile
quasi „bewußtlos“ zur Schönheitserfahrung führt.
Was uns berechtigt, Naturphänomene als „schön“ zu bezeichnen, ist die
undurchschaute Sehgewohnheit, die einen äußerlichen Zusammenhang als
Einheit faßt, ohne dessen Notwendigkeit, d.h. dessen Einheitsprinzip angeben
zu können. Diese Sehgewohnheiten entstehen durch Wiederholung394 immer
wiederkehrender Sehvollzüge, die von unterschiedlichsten inhaltlichen
Voraussetzungen,
die
Rahmenbedingungen
wiederum
abhängen,
von
geprägt
den
jeweiligen
sein
können.
kulturellen
Welche
Voraussetzungen jeweils in einen solchen qua Gewohnheit konstituierten
Naturvollzug eingegangen sind, ist im Einzelfall allerdings nur schwer
auszumachen. Genau dies wäre aber die Aufgabe einer ‚Phänomenologie des
ästhetischen Naturvollzugs’. Obwohl Hegel dies teilweise gelingt - wie sich
bereits zeigen ließ und im folgenden an anderen Beispielen gezeigt werden
kann - verhindert es die „Unmittelbarkeit“ der Gewohnheit, die Tatsache,
daß alle unterschiedlichen Bestimmungen des Sehens „in Einem einfachen
Act vereint“395 sind, diese phänomenologisch präzise zu unterscheiden. Das
heißt, die Komplexität und Dynamik der in der Praxis der Wahrnehmung
392
393
394
395
94
„Dieses Sich-einbilden des Besondern oder Leiblichen der Gefühlsbestimmungen in das S e y n der
Seele erscheint als eine W i e d e r h o l u n g derselben und die Erzeugung der Gewohnheit als eine
U e b u n g “ (Enz 1830, § 410).
Hotho 1823, 57.
Vgl. Enz 1830, § 410.
Enz 1830, § 410.
zusammenspielenden Voraussetzungen läßt sich in einer nachträglich
beschreibenden und klassifizierenden Theorie nicht vollständig einholen.
4.2.3
Teilaspekte als Leitfaden der Betrachtung
Eine zweite subjektive Notwendigkeit ergibt sich dann, wenn eine einzelne
Gedankenbestimmung oder eine einzelne Eigenschaft das Leitende für die
Betrachtung der Naturphänomene abgibt, die „dann ein Gesetz für die
Organisation der übrigen Teile ausmacht“396. Das heißt, es findet hier ein
(Fehl-)Schluß von einem Teil(-Aspekt) auf das „Ganze“ statt. Dieser Schluß
wird gezogen, ohne das „geistige Band“397, also ohne das notwendige
Einheitsprinzip zu kennen, das alle Teile zu einem Ganzen zusammenbindet.
Hegel erwähnt an dieser Stelle Georges Baron de Cuvier398, der aus der
Kenntnis vieler „Typen“ − also vor dem Hintergrund wissenschaftlicher
Erfahrungsgewohnheiten, die nahelegen, welche Einzelteile bei welchem
Gestalttypus auf welche Weise zusammengehören −, aus einem einzelnen
Knochen eines Fossils die gesamte Gestalt dieses Tieres rekonstruieren
konnte. Cuvier verfüge, so Hegel, über solche Erfahrungsgewohnheiten im
Umgang mit Fossilien, daß er die „feste Gewohnheit solcher Gestalten“ habe,
obwohl er „keinen inneren Zusammenhang sich anzugeben weiß“, nicht in der
Lage sei, das organisierende Prinzip, die „Seele als solche“, bewußt und klar
zu fassen. Der Zusammenhang, der hier als Einheit auftritt, wird nur durch
eine einzelne, beschränkte Eigenschaft gestiftet, die den Leitfaden für die
Betrachtung bzw. Rekonstruktion der Naturgestalt abgibt.
Obwohl
diese
einzelne
Bestimmung
zwar
das
selbständige
Außereinandersein der Teile in eine Einheit bringt, ist diese Eigenschaft
beschränkt und bringt noch nicht das Ganze zum Bewußtsein, „sondern nur
eine einzelne Seite, die wir als Herrschende, als Seele festsetzen. Die Seele als
solche wird uns dadurch noch nicht klar“.399 Zwar lernt ein Betrachter durch
396
397
398
399
Hotho 1823, 58.
„Wer will was Lebendig’s erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben, dann
hat er die Teile in seiner Hand, fehlt leider! nur das geistige Band.“ (Goethe, Faust I).
Der französische Naturforscher Georges Baron de Cuvier (1769-1832) untersuchte insbesondere
die Anatomie von Mollusken, Fischen und Fossilien und verglich Ähnlichkeiten und Unterschiede
im Körperaufbau. Es gelang ihm, aus wenigen ihm vorliegenden Knochen die gesamte Gestalt
eines Tierkörpers abzuleiten. Hegel bezieht sich auf: Georges Baron de Cuvier: Recherches sur les
ossemens fossiles de quadrupèdes, où l'on rétablit les caractères de plusieurs espèces d'animaux
que les réductions du globe paroissent avoir détruites. 4 Bde. Paris 1812.
Hotho 1823, 59.
95
diese Weise der Anschauung eine Gestaltbildung kennen, die immerhin „sich
nicht einförmig wiederholt, sondern die Glieder verschieden läßt, aber sie
dennoch in eine Einheit bringt“.400 Wenn aber das „Ganze“, die äußerliche
Einheit der Glieder und das beseelende Zentrum zur Vorstellung kommen
soll, so könnte es „nur als Begriff, als Gedachtes in dieser Sphäre uns zum
Bewußtsein kommen, denn im Natürlichen kann sich die Seele als solche
nicht erkennbar machen, da sie noch nicht für sich ist, soll sie für uns werden,
kann sie es nur durch den Begriff“.401
Was daher die Frage anbelangt, inwiefern eine solche durch Seh- und
Erfahrungsgewohnheiten vermittelte Einheit das Prädikat „schön“ rechtfertigt,
so muß auch diese - im Sinne Hegels - negativ beantwortet werden. Hegel
kritisiert, daß man in diesem Falle der Einheitsstiftung nicht sagen könne, daß
wir uns dabei „zum Gegenstand als einem Schönen verhalten, sondern wir
werden sagen, die Betrachtung sei schön“402. Dennoch glaubt der
Naturbetrachter oder -wissenschaftler, der Gegenstand seiner Betrachtung sei
schön.
4.2.4
Sinnvolle Anschauung
An dieser Stelle steht Hegel erneut vor dem Problem, daß nur über das
Denken ein Zugang zum „subjectum“, d.h. dem Einheitsprinzip der
organischen Gliederung gefunden werden kann. Diese Möglichkeit hat er aber
bereits vorher verworfen, weil das Naturschöne, soll es als Vorbild für das
Kunstschöne dienen können, nicht über das Denken, sondern über
Anschauung Natur als schöne Natur erschließen muß. Damit die Anschauung
nicht auf Begriffe zurückgreifen muß, bleibt für Hegel vorläufig nur der Weg
offen, „daß wir eine sinnvolle Anschauung eines Naturgebildes erhalten“403.
Darunter versteht er die Verschränkung von rezeptiver sinnlicher Auffassung
und begrifflicher Bedeutung: Das „eine ist die Sache als Unmittelbares, das
andere der Gedanke der Sache“404. Einerseits ist eine „sinnvolle
Naturbetrachtung“ demnach sinnlich-anschaulich, andererseits an Begriffe
geknüpft. Der Kunstgriff dieses Konzepts besteht darin, daß der Begriff nicht
400
401
402
403
404
96
Hotho 1823, 58.
Hotho 1823, 59.
Hotho 1823, 59.
Hotho 1823, 59.
Hotho 1823, 60.
als solcher, sondern nur als Ahnung „ins Bewußtsein kommt“. Hegel zufolge
„ahnt man einen inneren Zusammenhang, der keine bloß äußerliche
Zweckmäßigkeit ist, sondern ein solcher, der die Ahnung gibt, daß er ein
Begriffsmäßiges, Wesentliches sei (...) eine äußere Verschiedenheit, die eine
innere Notwendigkeit habe (...) [so] daß ein innerer Zusammenhang heimlich
durchleuchtet“405. Als Beispiel für eine solche Naturbetrachtung erwähnt
Hegel Johann Wolfgang von Goethes naturwissenschaftliche Abhandlung
Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären406, in der die
Metamorphose von den ersten Samenblättern bis zur Fortpflanzung auf einer
„geistigen Leiter“ hinaufsteige. Goethe habe damit, so Hegel, seine
Naturbetrachtung „naiverweise“ sinnlich, aber zugleich mit der „Ahnung
eines begriffsmäßigen Zusammenhangs“407 betrieben.
Was die Frage anbelangt, inwiefern aus einer Betrachterperspektive und
einer damit verknüpften Erwartungshaltung heraus Naturgestalten als „schön“
erscheinen können, gibt Hegel die Antwort: insofern man in ihnen eine
„Notwendigkeit des Begriffs ahnen“ könne, mit der Einschränkung aber, daß
es weiter „als bis zu dieser Ahnung“ bei der „Kunstbetrachtung der
natürlichen Gebilde“408 nicht gehen kann. Der innere Zusammenhang, der auf
diese Weise erahnt wird, muß aber, da er nur erahnt ist, unbestimmt bleiben;
die „bloß innere Einheit“409 kann nicht erkannt werden. Hegel stellt nun
ausdrücklich klar, daß der Mensch diese als „Einheit der Glieder“ erahnte
Lebendigkeit als Form-Materie-Einheit410, als spezifische Identität von
ideeller Form und Materie, schön „nennen“ kann.
Nicht nur das organisch Lebendige erscheint einem Betrachter als schön,
sondern bereits der unorganische Kristall „verwundert“ durch seine
„regelmäßige Gestalt“. Zwar verfügt der natürliche Kristall über keine
organische Gliederung, gleichwohl ist er „durch nichts Mechanisches
äußerlich so geworden“, sondern er ist so geformt, „daß diese Form der
Materie angehört, es ist die freie Kraft der Materie, die sich so formt; sie
405
406
407
408
409
410
Hotho 1823, 60.
Johann Wolfgang von Goethe: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, Gotha 1790,
Einleitung § 6, 3.
Hotho 1823, 60.
Hotho 1823, 61.
Hotho 1823, 61.
Die Glieder des Organismus haben „einen beseelten Zusammenhang, die Materie ist mit ihm
identisch, die Form wohnt der Materie in[ne], ist die eigentliche Natur dieses Materiellen. Dies ist
die Bestimmung der Schönheit überhaupt“ (Hotho 1823, 61).
97
selbst betätigt sich, ist aktiv, nicht passiv“.411 Noch schöner ist freilich das
organisch Lebendige, „überhaupt alles, was die freie innere Regsamkeit
ankündet“, wiewohl auch diese Schönheit noch unbestimmt bleibt.
Jedenfalls ergibt sich aus dieser Form des Naturvollzugs mit der damit
verbundenen Erwartungshaltung die Möglichkeit, einen „Unterschied in der
Lebendigkeit“ feststellen zu können. Auch hier kommen Sehgewohnheiten
zum Tragen, die sich im Verbund mit dem Vorgang des Ahnens zur
Habitualisierung bestimmter Seh-Vorstellungen verfestigen. So kann ein
Betrachter eine feste „Vorstellung“ dessen in sich haben, „nach welcher wir
ein Lebendiges nicht schön finden“. Eine solche Vorstellung kann
beispielsweise die „Regsamkeit“ eines lebendigen Organismus zum Maßstab
der ästhetischen Beurteilung erheben, was „schön“ bzw. „nicht schön“ sei.
Eine solche nur auf Gewohnheit und auf der Ahnung einer freien inneren
Regsamkeit beruhende Vorstellung kann dann aber zu der problematischen
Konsequenz führen, etwa das Faultier nur wegen seiner beobachtbaren
Langsamkeit
als
unschön
zu
betrachten.
Übergangsformen
bzw.
„Zwittergeschöpfe“ zwischen verschiedenen Tierarten, wie z.B. das
Schnabeltier als „Gemisch von Vogel und vierfüßigem Tier“412, werden
einem Betrachter ebenfalls als unschön vorkommen. Einesteils liegt dies an
dem bereits erwähnten Vorgang der Gewöhnung, anderenteils an der bloßen
Ahnung
einer
notwendigen
Gestaltbildung,
in
der
eine
„innere
Zweckmäßigkeit stattfinde, so daß solche Vermischungen unserem Sinn
fremdartig vorkommen und als ein Unschönes erscheinen“413. Für eine
eindeutige (notwendige) ästhetische Beurteilung reicht also auch die
„sinnvolle Anschauung“ nicht zu - was sie müßte, sollte die ästhetische
Naturanschauung, die Erfahrung der Naturschönheit, die Grundlage und das
Prinzip der Kunst-Gestaltung vorgeben.
In der Kunst fallen Vollzug und Vollzugsresultat zusammen, weil
Produktion und Rezeption des Werks im gelingenden intersubjektiven NachVollzug
einer
Handlungsgemeinschaft
oder
eines
Mitglieds
dieser
Gemeinschaft in der (Selbst-)Anschauung des Kunstwerks miteinander
verknüpft sind. Bei der ästhetischen Naturbetrachtung führt die unvermittelte
411
412
413
98
Hotho 1823, 61.
Hotho 1823, 62.
Hotho 1823, 62.
Beziehung zwischen dem Subjekt (Vollzug) und Objekt (Vollzugsresultat) der
Naturbetrachtung
zu
einem
„Objektivismus“
der
Gegenstände
des
Naturvollzuges, die mit objektiven „schönen“ oder „häßlichen“ Eigenschaften
ausgestattet sind414, statt als Auffassungsweise des Natürlich-Objektiven
durchschaut zu werden.
4.2.5
Abstrakte Form und abstrakter Stoff
Analog zu den bereits beschriebenen Zuschreibungen qua Ahnung und
Wahrnehmungsgewohnheiten untersucht Hegel einen weiteren Naturvollzug,
der bestimmte äußerliche - in ihrer Einseitigkeit aber - abstrakte Aspekte bei
der Naturbetrachtung übergewichtet. Auch hier kann die Art des
Naturvollzuges dazu führen, das Schöne als objektiv Gegebenes anzusehen,
denn die einseitigen Aspekte werden als objektive Eigenschaften der
wahrgenommenen Naturphänomene ausgegeben. Die unreflektiert wirksamen
Voraussetzungen des jeweiligen Naturvollzuges, die Hegel analysiert, sind
spezifische Sehgewohnheiten bzw. Seherwartungen, die am betrachteten
Naturgegenstand (Tier, Blume, Baum, Mineral usw.) einseitig (abstrakt)
bestimmte Gegenstandsqualitäten hervorheben. Hier werden nicht Teile oder
Gestalttypen
zur
Grundlage
der
Bestimmung
des
Naturphänomens
genommen, sondern ihm werden metaphorische Eigenschaften eines
intentional handelnden Subjekts zugeschrieben.
So lassen sich beispielsweise einem Tier Eigenschaften wie „Stärke“ oder
„List“ zuschreiben. Der Grund dieser Zuschreibungen verdankt sich in diesen
Beispielen sowohl der Vorstellung eines Naturbetrachters als auch einer
414
F. Iannelli hat in ihrer Dissertation gezeigt, daß Hegel das Schöne wie Häßliche nicht als objektive
Eigenschaften der Naturphänomene auffaßt, sondern für den Bereich der Kunst reserviert:
„Folglich wird bei Hegel das Häßliche als mögliche Darstellungsweise der Kunst und nicht als rein
natürliches Phänomen analysiert. Hegel interessiert sich für die Häßlichkeit in der Natur nur im
Rahmen seiner Darstellung des Charakteristischen, wo z. B. im Portrait Unschönes mit
aufgezeichnet wird. So kann in das Portrait natürlich Häßliches eingehen, wird in diesem Fall aber
nicht als natürlich, sondern als Kunst zu betrachten sein. Hotho hingegen faßt das Naturschöne als
das zweite Moment der Dialektik der Idee des Schönen (die Objektivierung der Idee des Schönen)
und läßt in seinem ästhetischen System das Phänomen des Häßlichen in der Natur zu. Die Natur
kann sich in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer Häßlichkeit zeigen, bemerkt Hotho. Dies ist
möglich, weil das Naturschöne sich einer ‚bewußtlose[n] Tätigkeit der Idee des Schönen’ verdankt.
Wenn die Natur also in der Tat schön ist, ist sie es dennoch in einer noch völlig unbewußten Weise,
weil sie sich als solche weder weiß noch will. Die Häßlichkeit ist ebenso nicht gewußt und
intendiert, sondern zufällig.“ (F. Iannelli: Das Siegel der Moderne, 194 f). - Im Gegensatz zu Hegel
konzipiert also dessen Schüler H.G. Hotho das Schöne und Häßliche als Makel und damit als
Eigenschaft der Natur. Vgl. hierzu Immanuel Hegel 1833, 39ff; zusammenfassend sagt Hotho in
dieser Passage: „Daher die Natur ebenso schön als häßlich ist“ (Immanuel Hegel 1833, 40;
Hervorhebung vom Verf.).
99
einseitigen Betonung eines Aspekts „des Tierlebens“: „Ebenso nennen wir ein
Tier schön als Stärke habend, als listig. Diese Ausdrücke sind dann ebenfalls
Bestimmungen, die teils unserer Vorstellung angehören, teils nur eine Seite
des Tierlebens darstellen“415. Dadurch zeigt uns das Tier „den trüben Schein
einer Seele nur in besonderem Charakter“416. Es kommt daher nur eine je
besondere Eigenschaft, nicht aber das „Ganze“ der beseelenden Innerlichkeit
zum Ausdruck. Zwar belebt die erahnte Beseelung die gesamte Gestalt und
zeigt sich im Habitus, „in der Idealisierung der Teile“. Allerdings kann sich
diese Idealität keinen eigenständigen Ausdruck ihrer selbst verschaffen417, sie
ist Hegel zufolge noch nicht die konkrete „Einheit ihres Seins und ihrer
Manifestation“418, d.h. die äußere Gestalt als Form ist nicht frei gesetzter
Ausdruck ihrer Bedeutung.419 Diese Einheit tritt daher für einen
Naturbetrachter als abstrakte „äußerliche Einheit“ in Erscheinung420, d.h. als
Einseitigkeiten, die unvermittelt in Form und Stoff auseinanderfallen. Innen
und Außen, Begriff und Realität bleiben zwei unvermittelte „Seiten“ des
Naturphänomens. Beide Aspekte fallen somit lediglich in die „äußerliche
Seite des Schönen“421 und lassen sich isolieren422, und zwar ebenso an
Naturgestalten, wie an Kunstwerken.
Analog zur Kritik an der Bedeutung der abstrakten Form und des
abstrakten Stoffs für die Naturbeurteilung entwickelt Hegel denselben
Gedanken
auch
für
die
Betrachtung
bzw.
den
Gewinn
von
Beurteilungskriterien für die Kunst. Auch hier kann der menschliche Verstand
am Kunstwerk äußere, an Materialität und Sinnlichkeit geknüpfte Gestalt
einerseits und immaterielle Bedeutung andererseits trennen. Ein solches
„Verstandesdenken“ bestimmt die isolierte Äußerlichkeit in ihrer Sinnlichkeit
und Materialität im Unterschied zur Bedeutung, zergliedert sie in weitere
415
416
417
418
419
420
421
422
100
Hotho 1823, 62.
Ebd.
„Diese Manifestation hat das Tier nicht, sondern seine Seele ist nur der Hauch, der das Ganze
belebt, zeigt sich im habitus, in der Idealisierung der Teile; diese Idealität aber erscheint noch nicht
frei für sich“ (Hotho 1823, 63).
Hotho 1823, 63.
„Erst das Bewußtsein ist das Ich, das für das Ich ist: der Begriff, der sich gegenübertritt, für sich ist,
und so sich auch für Andere manifestiert“ (Hotho 1823, 63).
„Aber im Naturschönen erscheint die Seele nur abstrakt. Die abstrakte Erscheinung (…) ist eine
Erscheinung, ein Dasein, das ein bestimmtes ist und dessen Einheit selbst aber nur unbestimmt ist,
nur die äußerliche Einheit, abstrakt“ (ebd.).
Pfordten 1826, 82 (Hervorhebung: K.B.).
„So haben wir einerseits hier die Seite der Form – der Begriff als bloß abstrakter – und andererseits
die Seite des sinnlichen Stoffs. Beide Seiten unterscheiden sich, fallen auseinander; oder es sind
zwei Gesichtspunkte, die wir hier zu betrachten haben“ (Hotho 1823, 64).
Teil-Bestimmungen und untersucht äußerliche Attribute des Materials und der
Gestalt qua materialer Gestalt (wie beispielsweise Proportionen und
Maßverhältnisse oder Farb- und Klangharmonien). Der Verstand bleibt dann
bei der „festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen
andere stehen“ und betrachtet zudem „ein solches beschränktes Abstraktes“
als „für sich bestehend und seiend“423. Wenn „Schönheit“ aber lediglich an
den
genannten
abstrakten
Einseitigkeiten
−
an
dieser
Stelle
sei
vorausgeschickt: bestimmter mathematisch analysierbarer Maßverhältnisse
und/oder angenehm auf die Empfindung wirkender sinnlicher Einheiten −
festgemacht wird, dann wird der Begriff der Schönheit zu einer abstrakten
Einheit, die „ohne lebendigen Inhalt“424 bleibt.425
Auch in der Ästhetikvorlesung von 1820/21 entwickelt Hegel diesen
Gedanken, daß die „beiden Ingredienzien des Schönen, Begriff und Realität,
für sich abstract“ seien und daß sie „so isoliert auch im Kunstwerk
vorkommen, aber nur als abstracte, elementarische Seiten desselben, die seine
Natur nicht erschöpfen, auf die aber auch reflectirt werden muß“426. Wie auch
sonst betont Hegel, daß solche Einseitigkeiten nicht per se zu kritisieren sind,
sondern nur dann, wenn diese bereits als das „Ganze“ einer Sache aufgefaßt
werden. Der Begriff „isoliert für sich“ sei die „Regelmäßigkeit“, die Realität
bzw. das Sinnliche „isoliert für sich“ das „Angenehme“. In der von Hotho
mitgeschriebenen Vorlesung im Jahre 1823 und den Vorlesungen von 1826
und 1828/29 greift Hegel dann zwar nicht mehr auf den Ausdruck
„Angenehmes“ zurück, doch der Sache nach verweisen häufige Wendungen
wie: „das Gefällige und Ansprechende“, „erfreulich“427, „empfindet man die
Wirkung“428, „befriedigender Anblick“429 oder „wohlklingende“ Vokale430
423
424
425
426
427
428
429
In der Enzyklopädie unterscheidet Hegel bekanntlich „drei Seiten“ des Logischen, nämlich das
abstrakte Verstandesdenken sowie die dialektische und die spekulative Vernunft. Zum
Verstandesdenken heißt es: „Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der
Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstractes gilt ihm als
für sich bestehend und seyend“ (Enz 1830, § 80).
Pfordten 1826, 79.
Hegel macht an dieser Stelle daher ausdrücklich klar, daß man im Hinblick auf diese beiden
abstrakten Einseitigkeiten zwar umgangssprachlich von „Schönheit“ sprechen kann, daß eine
solche Ausdrucksweise aber strenggenommen eine uneigentliche Rede, ein unrichtiger Gebrauch
dieses Terminus ist – heute würde man wohl von einem Kategorienfehler sprechen: „Bei beiden
kann man von Schönheit sprechen, aber der Ausdruck Schönheit ist dann eigentlich nicht richtig
gebraucht“ (Hotho 1823, 64).
Ascheberg 1820/21, 57.
Hotho 1823, 72.
Pfordten 1826, 82.
Kehler 1826, 43.
101
ebenfalls auf diesen Aspekt des „Angenehmen“ (im Sinne der Kantischen
Kritik der Urteilskraft)431.
In den Vorlesungen von 1826 und 1828/29 prüft Hegel dann sowohl die
Bedeutung der Regelmäßigkeit als auch die des „Angenehmen“ nur noch im
Hinblick auf Kunstwerke. In diesem Zusammenhang diskutiert er die
Bedeutung der abstrakten Form und des abstrakten Stoffs im Kontext der
Behandlung des Kunstschönen in seiner Objektivität, deren erste „wesentliche
Seite“ „der formelle Begriff ohne lebendigen Inhalt“, d.h. die „Einheit
überhaupt“ ist. Regelmäßigkeit wird nun als „die abstrakte Einheit von
Mannigfaltigkeit“ bezeichnet, und das 1820/21 und 1823 als „Angenehmes“
Bestimmte wird nunmehr als „Einheit als Einfachheit“432 bestimmt. 1828/29
betont Hegel dann ausdrücklich, daß die Regelmäßigkeit als die „Form der
Äußerlichkeit am Kunstwerk“ und damit als „das Abstrakte an demselben
(…) sich von der Ganzheit des Kunstwerks in sich“ unterscheidet und diese
Äußerlichkeit dementsprechend „mit dem Kunstwerk als lebendigem vereint
sein“ muß.433 Die Regelmäßigkeit sei lediglich „das Regulativ, die abstrakte
Bestimmung der Einheit“, und zwar „zum schnellen Übersehen“.434 Das
Angenehme bezeichnet Hegel als „Beziehung auf sich“, als die „Einheit des
Äußerlichen, z.B. eine einzelne Farbe in sich“435. Wie weit dadurch die
Tragweite der ästhetischen Naturerfahrung in ihrer „Urbildlichkeit“ für die
Konstitution des (dann über die Nachahmung gewonnenen) Kunstschönen
weiter eingeschränkt wird, zeigt sich in den weiteren Bestimmungen der
abstrakten Form und des abstrakten Stoffs in den Ästhetikvorlesungen.
4.2.5.1 Die abstrakte Form
Bei der Regelmäßigkeit handelt es sich um eine Einheit von Mannigfaltigem,
das
„auseinanderfallend“
ist
und
qua
Gleichheit
nur
äußerlich
zusammengehalten werden kann. Gleichheit stellt für Hegel aber lediglich
eine Identität des Unterschiede unvermittelt fixierenden Verstandes dar, nicht
hingegen der Unterschiede synthetisierenden Vernunft. Insofern hat
430
431
432
433
434
435
102
Libelt 1828/29, Ms. 45 [90].
Vgl. KU, § 3.
Pfordten 1826, 79f.
Libelt 1828/29, Ms. 44 [87].
Libelt 1828/29, Ms. 44a [88].
Libelt 1828/29, Ms. 45 [89].
Gleichheit als Identität des Verstandes „nichts Speculatives in sich, sie ist die
Wiederholung eines und desselben“436, sie ist als Regelmäßigkeit die „Einheit
der äußerlichen Bestimmungen“437.
In der Ästhetikvorlesung von 1823 bezeichnet Hegel die abstrakte Form
allgemein als „Regelmäßigkeit überhaupt“ oder als Symmetrie. Er
unterscheidet drei Formen: Die Regelmäßigkeit ist abstrakte „Gleichheit,
Wiederholung derselben Gestaltung“, in anderen Worten serielle Einheit; die
Symmetrie ist „abstrakte Wiederholung ungleicher Gestaltungen“438 bzw.
„Ungleichheit in der Gleichheit“439 – wobei der Unterschied zwischen beiden
Formen von Hegel als „von keiner großen Wesentlichkeit“ eingestuft wird −;
die Gesetzmäßigkeit ist ein „abstrakt innerer Zusammenhang“440. Jeweils
werden zahlreiche Beispiele sowohl für Naturphänomene als auch für
Kunstwerke genannt, in denen diese Formen zu finden sind.
Beispiele für Regelmäßigkeit und Symmetrie sind in der Geometrie die
gerade Linie und der Kubus, in der unorganischen Natur die Mineralien und
das Sonnensystem, in der organischen Natur die Pflanze, der animalische und
der menschliche Organismus. Je „höher“ die lebendige Stufe der Natur ist,
desto unbedeutender sind Regelmäßigkeit und Symmetrie. Sie finden sich
stets da, wo „das Objektive überhaupt seiner Bestimmung nach das sich selbst
Äußerliche ist, wo die Gegenstände die Seite der Äußerlichkeit als solche
ausmachen“441. Da Natur überhaupt äußerliches Sein ist, herrscht die
Regelmäßigkeit insbesondere da vor, wo Äußerlichkeit das Dominierende ist.
Das betrifft Mineralien entsprechend mehr als die Pflanze, die schon
gegliedert, damit ‚innerlicher’ ist. Aber ihr unaufhörliches Wachstum und
Reproduzieren nach Außen, dessen Streben zum Licht als seiner „Seele“
bleibt im bloß Äußerlichen befangen und damit überwiegend an die
Regelmäßigkeit als „Einheit in der Äußerlichkeit“442 gebunden. Der
animalische Organismus ist in einen „inneren“ (Leber, Herz, Hirn usw.) und
„äußeren“ Organismus (Sinnesorgane, Arme und Beine) verdoppelt. Der
innere Organismus enthält die lebensnotwendigen Organe und weist daher
436
437
438
439
440
441
442
Ascheberg 1820/21, 58.
Ascheberg 1820/21, 61.
Hotho 1823, 64.
Hotho 1823, 68.
Hotho 1823, 68.
Hotho 1823, 65.
Hotho 1823, 66.
103
qua Lebendigkeit und Innerlichkeit keine Regelmäßigkeit auf; nur im äußeren
Organismus findet sich diese.
Beispiele aus der Kunst erörtert Hegel am Gedicht („Gleichförmigkeit des
Tons“), am Drama (gleiche Länge des Akts), in der Architektur, der Musik
und der Poesie. Insbesondere die Architektur ist durch Regelmäßigkeit
geprägt, weil sie „die Kunst der Äußerlichkeit ist und in ihr die unmittelbare
Äußerlichkeit, die unorganische Natur, um das Seelenvolle umhergestellt
wird“443. Das „Seelenvolle“ ist die geistige Naturgestalt des lebendigen Gottes
in der Skulptur; der griechische Tempel ist die Umschließung des Gottes, wie
schon die ägyptische Pyramide die Umhüllung des toten Geistes des
verstorbenen Pharao. Hegel spricht aber sehr deutlich aus, daß dann, wenn die
Regelmäßigkeit in der Kunst Überhand vor dem dargestellten Gehalt
(Bedeutung) gewinnt, dieses unlebendig wirken muß: „Was nun die
Kunstwerke betrifft, so hat auch in ihnen die Regelmäßigkeit einen Platz. Will
sie an die Stelle der lebendigen Seele treten, so wird das Kunstwerk tot“444.
Im Gegensatz zu den Formen der Regelmäßigkeit und Symmetrie
bezeichnet die Gesetzmäßigkeit schon den Übergang „zu der Freiheit des
Lebendigen überhaupt“, ohne allerdings „die Freiheit des Subjektiven“ und
ohne bereits „subjektive, geistige Einheit“, sondern statt dessen „noch
verständig“ zu sein.445 Sie ist zwar eine für die Anschauung nicht offen zu
Tage liegende Einheit, sondern nur ein „verborgener Zusammenhang“. Aber
sie kann indirekt durch die Vollzugsformen der Gewohnheit und teilweise der
Ahnung zur Anschauung kommen. So ist ein möglicher Betrachter von
Gemälden aufgrund habitualisierter Seherfahrungen so sehr an die Präsenz der
Grundfarben „gewohnt“, daß er darin „eine Befriedigung“446 findet. Fehlt eine
der Grundfarben, kann diese „Befriedigung“ ausbleiben. Gesetzmäßigkeit ist
somit für Hegel eine Einheit, in der die unterscheidbaren „Teile eine
verschiedene Bestimmtheit zeigen, diese Verschiedenheiten aber ihren Grund
in der einen Bestimmtheit des Gesetzes haben (...), die keine bloß regelmäßige
Wiederholung der einen Bestimmtheit ist“447. So sind die einzelnen Farben je
verschieden bestimmt, haben aber ihren Grund in der „Totalität“ der
443
444
445
446
447
104
Hotho 1823, 68.
Hotho 1823, 67.
Hotho 1823, 68.
Hotho 1823, 69.
Hotho 1823, 69.
Grundfarben als ihrer Gesetzmäßigkeit und sind nicht lediglich eine
Wiederholung der einen Bestimmtheit dieser Grundfarben, da es eine große
Anzahl von Mischfarben geben kann. Zwar „muß [sie] allem zugrunde liegen,
ist das Substantielle; aber ihr fehlt noch die höhere Freiheit der
Subjektivität“448. Die Seite der abstrakten Form findet somit am Gesetz „ihre
Grenze und geht schon der freien Subjektivität zu“449.
4.2.5.2 Der abstrakte Stoff
Als zweite Einseitigkeit kann sich die abstrakte äußerliche Einheit einem
Betrachter als „sinnliche[r] Stoff in seiner abstrakten Einheit“450 präsentieren,
und zwar als ein „bloßes Zusammenstimmen zu dem Sinnlichen der
Empfindung“451, was dann als angenehm empfunden werden kann. Das
Äußerliche ist hierbei – wie Hegel 1826 formuliert – „Einheit als Einfachheit
– aber (…) Einfachheit einer besonderen reellen Seite“452, und es „drückt die
Beziehung auf sich aus, die Einheit des Äußerlichen“453, wie es dann in der
Vorlesung von 1828/29 heißt. Hegel denkt hierbei zum einen an die Einheit
von sinnlichen Extremen, wie etwa die „für unser Auge angenehme
Zusammenstimmung“ der beiden reinen unterschiedlichen Farben blau und
gelb zur Mischfarbe grün, „wo die Uebergänge in einander fließen, wo die
einzelnen Theile sich nicht hart in ihren Unterschieden fest halten“454. Zum
anderen diskutiert Hegel aber auch das „Reine“, bei dem das Sinnliche ganz
abstrakt gesetzt wird, und zwar als Übereinstimmung mit sich selbst. So kann
und muß beispielsweise eine Farbe auch „rein für sich seyn, mit sich
übereinstimmen, wie das reine Blau, Gelb ETC.“455.
Was einen Betrachter „erfreut“, was hier ein „unendlich Gefällige[s] und
Ansprechende[s]“456 sein kann, was also als schön empfunden werden kann,
sind beispielsweise „rein gezogene gerade Linien oder Wellenlinien“, „die
Reinheit des Himmelsblaus oder [das] reine Sonnenlicht“, ein „spiegelheller
See, die Meeresglätte“, „der reine Klang der Stimme“ sowie „reine Farben“
448
449
450
451
452
453
454
455
456
Hotho 1823, 69f.
Hotho 1823, 71.
Hotho 1823, 64.
Ascheberg 1820/21, 63.
Pfordten 1826, 80.
Libelt 1828/29, Ms. 45[89].
Ascheberg 1820/21, 63.
Ascheberg 1820/21, 64.
Hotho 1823, 72.
105
und „reine Töne“. Hegel verwendet in diesem Zusammenhang tatsächlich den
Ausdruck „Schönheit“, wenn er beispielsweise in der Vorlesung von 1826
seinen Zuhörern mitteilt, die „Schönheit der Farbe“, sei „ihre Einfachheit,
Reinheit, so das Rosenrot“457.
Bei beiden abstrakten Einseitigkeiten geht es demnach jeweils um eine
spezifische
Einheit
im
sinnlich
wahrnehmbaren
Äußerlichen
der
Naturphänomene oder Kunstwerke, die von einem Betrachter aus der
erscheinenden Wirklichkeit isoliert werden können. Die solcherweise
isolierten äußerlichen Aspekte der Natur wie Kunst bleiben abstrakt, weil sie
aus ihrem Bestimmungszusammenhang gelöst und in ihrer unvermittelten
Äußerlichkeit festgehalten werden. Sowohl der abstrakte Inhalt als auch der
abstrakte Begriff sind und bleiben „unlebendig und unwirklich“458.
4.2.6
Fazit
Das Ergebnis der bisherigen Analysen läßt sich in drei Thesen
zusammenfassen. Erstens zeigt sich, daß das analysierte „Naturschöne“,
insofern Naturphänomene als „schöne Natur“ angeschaut werden, jeweils ein
bereits Vermitteltes ist. Zweitens kann das Naturschöne daher jeweils nicht als
bloße Gegebenheit aufgegriffen werden, weil es dann noch nicht eine
Erscheinung des „Geistes“ (i. S. der „ästhetischen und mythologischen“
Vermittlung der Idee) im Kunstwerk ist, in dem die Natur „bis zu der Grenze“
zurückgeführt werden kann und muß, wo sie „Manifestation der geistigen
Freiheit“459
wird.
Drittens
können
bestimmte
Seh-
und
Rezeptionsgewohnheiten zu einer „zweiten Natur“ auf der Ebene des
subjektiven Vollzugs führen, so daß das ästhetisch Erfahrene wie eine
„objektiv“ vorliegende Natur mit Gestaltqualitäten aufgefaßt wird. Insofern ist
das Naturschöne Ergebnis eines produktiven Vollzugs, da in das Sehen bzw.
in die Anschauung kulturell vermittelte Inhalte als formende Voraussetzung
integriert sind, damit die Anschauung gleichsam „bilden“. Diese „Bildung“
oder „Formung“ der Anschauung ließ sich in Anlehnung an Hegels Konzept
einer „gebildete[n] Empfindung“460 und in Anknüpfung an Hegels Konzept
457
458
459
460
106
Pfordten 1826, 82.
Hotho 1823, 73.
Hotho 1823, 82.
Enz 1830, § 447.
des
Anschauen[s]“461
„erkennenden
beschreiben.
Die
Schönheit
der
als
Natur
„gebildete
resultiert
Anschauung“
hier
aus
dem
Betrachterstandpunkt, da nicht die Natur für einen Nachvollzug eigens
gestaltet und dargestellt, sondern der Vollzug, konkret die Betrachtung oder
Anschauung gestaltet ist.
Diese Gestaltung der Anschauung ist analog zum Kunstwerk nur möglich
und verständlich vor dem Hintergrund einer spezifisch entwickelten Kultur,
die ein Hintergrundwissen bereitstellt in Form moralischer und religiöser
Überzeugungen, Naturverhältnissen und Naturnutzungsweisen, Technik und
Wissenschaft, ästhetischen Sehgewohnheiten und Bildern, der Gesamtheit der
Praxis- und Erkenntnisformen, kurz: das Ensemble aller Möglichkeiten
geistiger Erfassung der Wirklichkeit, mit Hegel: der „Idee“. Insofern basiert
die Naturschönheit im Rahmen der - metaphorisch gefaßten - „schönen
Betrachtung“462 der Natur „wesentlich auf der vom Betrachter an die Natur
herangetragenen Erwartungshaltung“463, während diese sich wiederum dem
allgemeinen kulturellen Hintergrund verdankt. Da für den ‚naiven’
Naturbetrachter
wie
den
Wissenschaftler
die
einzelnen
integrierten
Voraussetzungen, die unmittelbar „in Einem einfachen Act“464 des Sehens
„vereint“ sind, theoretisch nicht genau unterschieden werden können, bleibt
das solcherweise konstituierte Naturschöne letztlich „unbestimmt“465.
Im Gegensatz zu Kant kann für Hegel das Naturschöne demnach nur dann
ein „Symbol der Sittlichkeit“ sein, wenn es im Kunstwerk vermittelt oder
analog zu Kunstvollzügen mit „gebildeter Anschauung“ betrachtet und
wahrgenommen wird. Auch wenn das Naturschöne angesichts dieser
Ergebnisse im Vergleich zum Kunstschönen in der Begründung der Ästhetik
eine nur marginale Rolle spielen kann, gewinnt es im Kontext der
Kunstbetrachtung
seine
eigene
Relevanz.
Denn
die
Natur-
und
Landschaftsbetrachtung beruht auf einem historisch und kulturell situierten
461
462
463
464
465
„Die w a h r e B e f r i e d i g u n g aber, gibt man zu, gewähre nur ein von Verstand und Geist
durchdrungenes Anschauen, vernünftiges Vorstellen, von Vernunft durchdrungene, Ideen
darstellende Produktionen der Phantasie usf., d.i. e r k e n n e n d e s Anschauen, Vorstellen usf.“ (Enz
1830, § 445).
Hotho 1823, 58.
Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus, Wiesbaden 1983, 209f.
Enz 1830, § 410.
„Doch so viel auch von den Naturschönheiten die Rede ist, so hat doch Niemand eine
systematische Beschreibung der Naturschönheiten zu machen gewagt. Einzelne Gesichtspunkte hat
man da herausgehoben, wie den der Nützlichkeit (materia medica). Wir sind bei den
Naturschönheiten zu sehr im Unbestimmten“ (Libelt 1828/29, Ms.1).
107
Naturverhältnis, das nicht „falsch“ oder „richtig“ sein kann, da es dem
„Zeitgeist“ und damit dem Gesamt aktueller Praxis-, Lebens- und
Wissensformen entspricht, das erst im Nachhinein466 bestenfalls als
angemessen oder unangemessen bewertet werden kann, und zwar im Hinblick
auf nachträglich identifizierte Probleme oder Herausforderungen einer Kultur.
Die Philosophie hat die Aufgabe, diese Naturverhältnisse aufzudecken und
damit zu einer Selbstaufklärung des Menschen über sein gegenwärtiges
Verhältnis zur Natur beizutragen, ohne in Belehrung zu verfallen. Hegels
Philosophie der Kunst zeigt demnach, daß das „Naturschöne“ Naturvollzüge
und Naturverhältnisse indiziert, die vorrangig in Kunstwerken, aber auch im
Medium einer „gestalteten“ (kulturell „vorbereiteten“467) Naturbetrachtung
aufscheinen können.
Exkurs: Hegels Kritik ästhetischer Kriterien im Kontext der
Ästhetikentwicklung
Die beschriebenen Möglichkeiten, Natur- und Kunstphänomene auf eine
abstrakte Betrachterperspektive zu reduzieren, sind wesentliche Elemente der
abendländischen Ästhetik- und Kunsttheorie. Die Geschichte der Theorien,
die „Schönheit“ in Natur und Kunst auf eine Maß- und in Konsequenz dessen
auf eine Regelästhetik reduzieren, ist lang und verwickelt. Immer wieder
wurde Schönheit verstanden als auf Harmonie basierendes Schönes im
Rahmen einer „Ästhetik des Maßes, der Symmetrie und der Proportion“468.
Diese Geschichte469 ist im Prinzip geprägt durch eine Konzentration auf eine
466
467
468
469
108
Das ist mit der berühmten Metapher der „Eule der Minerva“ in der Vorrede zu den „Grundlinien
zur Philosophie des Rechts“ gemeint, die erst „mit der einbrechenden Dämmerung“ ihren Flug
beginnt: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu
ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit,
nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was
der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das
Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in
Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist
eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern
nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“
(Philosophische Bibliothek, Felix Meiner Verlag, Bd. 483, Hamburg 51995, 17).
Vgl. nochmals die Hinweise Kants zu den kulturellen Voraussetzungen eines Naturvollzuges am
Beispiel der Erfahrung des Erhabenen: KU, § 29.
Jörg Zimmermann: Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, in: ders. (Hg.): Das Naturbild
des Menschen, München 1982, 118-154; 120 (Hervorhebung im Original).
Einige Hinweise mögen hier genügen: Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike,
Köln 1980; Wilhelm Perpeet: Antike Ästhetik, Freiburg/München 1988; Rosario Assunto: Die
Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963; Wilhelm Perpeet: Ästhetik im Mittelalter,
Freiburg/München 1977; Paul O. Kristeller: Humanismus und Renaissance II, München 1980;
Wilhelm Perpeet: Das Kunstschöne. Sein Ursprung in der italienischen Renaissance,
Freiburg/München 1987; Robert Zimmermann: Geschichte der Ästhetik als philosophische
mathematisch zu erschließende Regelmäßigkeit bzw. Symmetrie. Gemeinsam
ist
diesen
Theorien
der
„mathematisch
präzisierte
harmonikale
Schönheitsbegriff [als] Auszeichnung des Regulären, Typischen, Konstanten
gegenüber dem Abweichenden, Individuellen, Veränderlichen“470.
Die Pythagoreer glaubten, in bestimmten Zahlen und Zahlenverhältnissen
eine alles auszeichnende Harmonie als Urform alles Schönen entdeckt zu
haben471. Platon korreliert im Philebos472 „Maßhaftigkeit“ (μετριότης) und
Symmetrie (συμμετρία) mit Schönheit und Tugend. Im Mittelalter473 war
„Schönheit“ ein Attribut des Seins. Alles, was ist, hatte den mittelalterlichen
Theorien zufolge seinen Ursprung im Schöpfungsakt Gottes und damit teil an
dessen Vollkommenheit und Schönheit. Gott ist der Weltbaumeister (Deus
artifex), der die schöne Natur aus dem Nichts schafft (creatio ex nihilo) und
jedem Ding, jeder Pflanze, jedem Tier, jedem Menschen dessen
vorherbestimmten Platz in dieser Schöpfungsordnung zuweist. Gott als
Baumeister hat das Universum nach Maß und Zahl geordnet.474 Die
Theoretiker und Künstler der Renaissance bemühten sich dementsprechend, in
den Naturerscheinungen mathematische Gesetzmäßigkeiten im Sinne
harmonikaler Strukturen, etwa als „Zusammenstimmung (concinnitá) und
Verhältnismäßigkeit (proporzionalitá) aller sichtbaren Qualitäten, der Formen
und
Farben“475,
aufzufinden.
Die
in
der
Renaissance
entwickelte
Zentralperspektive erfaßt Natur und Welt in einem geometrischen Gitternetz,
das vom Sehpunkt des Subjekts aus ein Beziehungsgefüge aus Raumstellen
über alles Sichtbare ausbreitet. Auf diese Weise wird die dreidimensionale
Raumillusion erzeugt und alles, was ist, wird nach mathematischen Gesetzen
470
471
472
473
474
475
Wissenschaft, Wien 1858 (Repr. New-York/London 1972); Jörg Zimmermann (Hg.): Das
Naturbild des Menschen, München 1982; G. Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie von
der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986; Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische
Ästhetik, Darmstadt 1997; Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Opladen
1993, Bd. 1: Von Kant bis Hegel; Norbert Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung
bis zur Postmoderne, Stuttgart 1996; Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung,
Stuttgart-Bad Cannstatt 1996.
Jörg Zimmermann: Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, 119f.
Vgl. beispielsweise Hans Schavernoch: Die Harmonie der Sphären: die Geschichte der Idee des
Welteneinklangs und der Seeleneinstimmung, Freiburg/Breisgau u.a. 1981; Bartel Leendert van der
Waerden: Die Pythagoreer: religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft, Zürich u.a. 1979.
Platon: Philebos, 64e.
Vgl. insbesondere Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963.
Sehr schön läßt sich diese mittelalterliche Vorstellung Gottes als „Deus artifex“ in der bekannten
Miniatur aus einer französischen Bibel betrachten, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstand
(Wien, Österreichische Nationalbibliothek. Cod. 2354, fol. IV).
Michael Hauskeller: Was das Schöne sei: klassische Texte von Platon bis Adorno, München 1995,
104.
109
in dieses Raumgefüge eingeordnet. In der Philosophie des französischen
Denkers René Descartes entspricht dem Sehpunkt als Fokus der
Zentralperspektive das „cogito“ als Ursprung einer lückenlosen linearen
Deduktionskette
konstruierten
Wissens.
Damit
verbunden
ist
die
Selbstermächtigung des Menschen und dessen Herrschaft über die Natur
sowie das rationalistische Ideal einer mathematisch konstruierten Schönheit
und Ordnung. Alles Ungerade, Krumme, Unproportionierte, alles bloß
Gewachsene und nicht rational Geplante widerspricht der „Absicht
vernünftiger Menschen“476. Vernünftig und schön zugleich ist das
mathematisch Konstruierte, das große geplante Ensemble geordneter Teile,
das Gerade, das Ebene, das Lineare. Was das konkret bedeutet, läßt sich am
französischen Barockgarten der damaligen Zeit ablesen: Hier gibt es einen
vollständigen Triumph des menschlichen Geistes über die Natur, die
geometrisch zu Hecken und zu in unterschiedlichsten Formen beschnittenen
Bäumen zurechtgestutzt wurde. Ernst Haeckel hat in seinem bekannten Werk
Kunstformen der Natur477 insbesondere die Radiärsymmetrien niederer
Wirbelloser untersucht und beschrieben und den Weg bereitet für die
neuerdings
mit
biologistischen
Reduktionsansprüchen
auftretende
„Evolutionäre Ästhetik“478. Deren Vertreter glauben, die überall in der Natur
und
in
der
Kunst
anzutreffenden
mathematisch
rekonstruierbaren
Symmetrien, Proportionen und Maßverhältnisse aus natürlichen, evolutionär
sich entwickelnden Strukturen und Prozessen herleiten und auf diese
reduzieren zu können.
So ist in der Geschichte der Philosophie und Kunsttheorie überall und
immer „das Schöne auf Symmetrie zurückgeführt worden, auf ‚geometrische’
Regelmäßigkeit als gleichmäßige Abfolge desselben, auf Symmetrie (im
engeren Sinne) als die spiegelbildliche Wiederholung von Gleichem und
Ungleichem, auf Harmonie (Analogie, Proportion) als Übereinstimmung der
Teile untereinander und mit dem ganzen nach einem mittleren Maß (vgl. den
476
477
478
110
René Descartes: Discours de la méthode. Übersetzt und herausgegeben von Lüder Gäbe.
Französisch-Deutsch, Hamburg (Meiner) 1990 (Philosophische Bibliothek Band 261), 21.
Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. Hundert Illustrationstafeln mit beschreibendem Text,
allgemeine Erläuterung und systematische Übersicht. Mit einem Prolog von Jochen Martens. Neu
gesetzte und überarb. Ausg. nach der Orig.-Ausg. Leipzig 1904. Wiesbaden 2004.
Vgl. z.B. Klaus Richter: Die Herkunft des Schönen. Grundzüge der evolutionären Ästhetik, Mainz
1999; Eckart Voland/Karl Grammer (Hrsg.): Evolutionary Aesthetics, Berlin u.a. 2003; Winfried
Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt am Main 2003.
Kanon des Polyklet, die Theorie der sectio aurea, die Hogarthsche
Schönheitslinie usw.)“479.
Lehrreich im Hinblick auf die Unterschätzung der Bedeutung menschlicher
Naturvollzüge
für
eine
naturwissenschaftlich
orientierte
theoretische
Erfassung eines ästhetischen Phänomens ist ein Blick auf die Begründung der
Vertreter der „Evolutionären Ästhetik“ für ihre These, die „Auszeichnung des
Regulären, Typischen, Konstanten“480 als Grundlage der Schönheit von
Naturphänomenen sei aus biologischen Mechanismen zu erklären. Stark
vereinfacht läßt sich die Begründung dieser Reduktion so beschreiben, daß
angeborene biologische Auslösemechanismen auf bestimmte Schlüsselreize
reagieren, deren Berücksichtigung und Verarbeitung (als Reaktion und
Handlung) sich im Zuge der Evolution bewährt haben. Karl Eibl hat in einer
Rezension481
aktueller
Publikationen
zur
„Evolutionären
Ästhetik“
herausgearbeitet, daß sich in der Vielfalt der theoretischen Erklärungen drei
Ansätze identifizieren lassen, die sich unter die Stichworte „Nützlichkeit“,
„Handicap-Prinzip“ und „Gestalt“ gruppieren lassen.
Stellt man diese Ansätze in eine Verbindung mit Hegels Differenzierung
von „Regelmäßigkeit“ und „Angenehmen“, so läßt sich die „Regelmäßigkeit“
angeborenen
Gestalt-,
Symmetrie-,
Wiederholungserwartungen,
also
Gleichheits-
und
Seh-
und
letztlich
Wahrnehmungserwartungen zuordnen. Eibl spricht von „phylogenetische[n]
Abstraktionen,
mittels
derer
wir
die
Komplexität
unserer
Sinneswahrnehmungen nach evolutiv bewährten Maßgaben reduzieren“ und
nennt als Beispiele „Augen- und Gesichtsattrappen oder das bekannte
Kindchenschema“. Hier lassen sich leicht viele traditionell bekannte und als
„schön“
bezeichnete
Symmetrien,
Regelmäßigkeiten
und
Harmonien
einordnen. Andere Autoren sprechen in diesem Zusammenhang auch von
„Ordnungen“482. Das von Hegel als „Angenehmes“ Bezeichnete läßt sich dem
479
480
481
482
Wolfgang Janke, Das Schöne, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. v. H. Krings, H.
M. Baumgartner, Chr. Wild, München 1974, 1260-1277, hier 1270.
Jörg Zimmermann: Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, 119f.
Karl Eibl: Evolutionäre Ästhetik. Gedruckter Text in: KulturPoetik 4 (2004), H. 2, 278-287.
Online-Version unter www.kulturpoetik.de. Die Online-Version ist auch angezeigt im Portal LirezLiteraturwissenschaftliche Rezensionen.
Vgl. Klaus Richter: Die Herkunft des Schönen.
111
evolutionär reproduktiv Nützlichen zuordnen, der „Fitness“ also.483 Hierzu
zählen die Ästhetik der Farben, der Klang der Stimme, das Blau des Himmels,
der bunte Schmuck eines balzenden Pfaus, aber auch Symmetriephänomene
wie der immer wieder als Argument bemühte „Body-Maß-Index“. Solche
Phänomene verursachen Wohlgefallen, bereiten „Genuß“, werden als
angenehm empfunden.
Letztlich - so läßt sich an Hegel anschließen - führt dieser gesamte Ansatz
zu einer Reduktion der Schönheit auf Zweckmäßigkeit. Damit stehen die
Vertreter der „Evolutionären Ästhetik“ bei einer Organisiertheit der Natur,
die sich als „Erscheinen der Zweckmäßigkeit“ erwies. Damit unterliegt dieser
Ansatz zugleich der Hegelschen Kritik an der „Objektivität“ des
Naturschönen, die eine ästhetische Auffassung der Natur als schöne Natur mit
einem Verständnis von Natur mit „objektiven“ schönen und häßlichen
Eigenschaften verwechselt.
4.3
Von der Betrachtung zur Darstellung schöner
Natur
Im Hinblick auf die Leitfrage, ob und inwieweit das Naturschöne als Maßstab
für das Kunstschöne dienen könne, muß die Tatsache, daß das Naturschöne
als Vollzugsresultat einer Betrachtung der Natur stets durch einen Rest
phänomenologischer Intransparenz gekennzeichnet ist, dazu führen, Hegel in
seinem methodisch motivierten Ansatz beim ursprünglich zugrundeliegenden
und umfassenden Kunstschönen gegenüber dem nur mittelbar interessanten
Naturschönen zu folgen. Das Naturschöne läßt sich zwar analog zum
Kunstwerk aus dem menschlichen Vollzug und analog zum Ideal als eine
Weise
der
„gebildeten“
oder
„gestalteten
Anschauung“
der
Natur
mitbegründen. Die phänomenologische Intransparenz des Naturschönen kann
dagegen für das Kunstwerk nicht vorbildhaft sein, dessen „Endzweck“ es ist,
„die Wahrheit zu enthüllen, vorzustellen, was sich in der Menschenbrust
bewegt, und zwar auf bildliche, konkrete Weise“484. Die Darstellung von
483
484
112
„Im Sinne der Evolutionsbiologie wäre das Schöne also schlicht das reproduktiv Nützliche, so weit
wir quasi automatisch eine Vorliebe dafür empfinden, und diese Vorliebe, der Schönheitssinn,
wäre Bestandteil der Fitness“ (Karl Eibl: Evolutionäre Ästhetik).
Hotho 1823, 30. – Daß „Zweck“ hier nicht mit (utilitärem) „Nutzen“ verwechselt werden darf,
macht Hegel sogleich selbst deutlich: „Die Frage nach dem Zweck in diesem Sinn hat die
Natur in Kunst muß dann aber die generelle Funktion der Kunst erfüllen, der
Selbstverständigung des Menschen über sich selbst im Medium der
Anschauung zu dienen. Diese Anschauung gelingt nur, wenn das Kunstwerk
tatsächlich Erscheinung des Geistigen in anschaulicher Gestalt, wenn es also
„Scheinen des Geistes“ ist.
In diesem Zusammenhang bringt Hegel die Augenmetapher ins Spiel. Das
menschliche Auge als genuiner Ausdruck der Seele, d.h. des Geistigen, wird
zum Symbol der Funktion des Kunstwerks: Es ist ganz Auge. Da das
Naturschöne im Rahmen der „Betrachtung schöner Natur“ infolge
mangelnder Transparenz gleichsam nicht an jeder Stelle seiner Erscheinung
„Auge“, d.h. Erscheinung des Geistigen ist, fällt der Kunst die Aufgabe zu,
das „Erscheinende an allen Punkten der Oberfläche zum Auge zu erheben (...)
welches der Sitz der Seele ist, den Geist erscheinen läßt“485. Die Kunst gibt
sozusagen dem „Gegenstand tausend Augen, um überall gesehen zu werden“;
denn das Auge ist das Organ, in dem „der Geist als sichtbarer konzentriert
ist“486. Die Kunst macht die Erscheinung „zu einem solchen, daß sie überall
sei als Organ der Seele, als Manifestation derselben“487. Denn der „wahrhafte
Gehalt des Schönen ist der Geist“488, nicht etwas Natürliches, auch wenn
dieses bereits - wie im tierischen oder menschlichen Organismus - qua
Empfindungsfähigkeit,
Selbstgefühl
und
organischer
Gliederung
ein
„Beseeltes“ ist. Es ließ sich aber längst zeigen, daß diese „Beseelung“ als
natürliche
Vorform
der
Subjektivität
nicht
an
die
anschaubare
Selbstobjektivierung menschlicher Subjektivität im Kunstwerk heranreicht.
Hegel betont immer wieder, daß erst „die Geistigkeit“ die „Grundlage“ des
„eigentlich Schönen“ ist; das Scheinen der Seele genügt nicht, solange nicht
„auch das Geistige darin“489 ist. Daher auch das Insistieren Hegels darauf, das
Natürliche könne nur dann Gegenstand der Kunst sein, wenn „ihm ein
485
486
487
488
489
Nebenbedeutung der Frage nach dem Nutzen. (...) Diese Frage (...) hat ein Schiefes in sich. (...) Der
Umweg also, ein Anderes als Wesentliches außer dem Kunstwerk als Endzweck zu setzen, ist ein
überflüssiger. Es gibt freilich Dinge, die bloß Mittel sind und ihren Zweck außer sich haben, und
zu diesen kann das Kunstwerk auch in gewissem Sinn gehören als z.B. Geld und Ehre und Ruhm
zu bringen, aber diese Zwecke gehen das Kunstwerk als solches nichts an“ (a.a.O., 31).
Hotho 1823, 79.
Hotho 1823, 79.
Hotho 1823, 80.
Pfordten 1826, 69.
Pfordten 1826, 76 f.
113
Geistiges eingehaucht ist, der Geist irgendeine seiner Bestimmungen darin
findet, dadurch angeregt ist, sich erkennt“490.
Was
hier
mit
der
Augenmetapher
angesprochen
wird,
ist
die
phänomenologische Transparenz des Kunstwerks, das eine anschauliche
Gestalt ist, „worin der Geist sich zur Erscheinung bringt“491. Die
Augenmetapher verweist somit auf das „Scheinen des Geistes“, das Hegel
prototypisch in der menschlichen Gestalt realisiert sieht.492 Allerdings
unterliegt auch die menschliche Gestalt als „natürlich existierender Mensch“
den Mängeln, denen alles natürlich Lebendige verhaftet ist. So kann man am
Lebendigen
nur
„die
Mannigfaltigkeit
493
Einheitspunkt seines Lebens“ erblicken.
des
Organismus,
nicht
den
Beim Menschen ist zwar dessen
Lebendigkeit im überall durchschimmernden Blut des pulsierenden Herzens
und der empfindenden Haut zu sehen.494 Andererseits zeigt er an der
Hautoberfläche, an den Härchen und Poren, die „Bedürftigkeit der Natur“, die
Haut als „Bedeckung für die Notwendigkeit der Selbsterhaltung“495. Zudem
ist alles Lebendige einschließlich des Menschen als einzelnes Individuum
unfrei, abhängig von anderen, verschlungen mit Kontingentem. Hegel spricht
in diesem Zusammenhang von der „Prosa der menschlichen Welt“.496 Diese
Abhängigkeiten stehen aber im Widerspruch zur Freiheit des Geistes.
Außerdem ist die Natur „wesentlich immer in einer bestimmten Art“, d.h. in
einer „Beschränktheit“.497 Auch der menschliche Charakter ist vielfach
beschränkt und „partikularisiert“.
Aus diesem Grund ist die natürliche Gestalt des Menschen nicht bereits als
solche ein Ideal. Wenn beispielsweise ein Porträtmaler sich genau an die
natürliche Vorgabe hielte, würde er nicht den „Ausdruck des Geistigen“,
sondern lediglich den des „nur Natürlichen“ erreichen.498 Überhaupt ist „im
gemeinen Leben“ das Geistige „nicht so enthalten“, wie es ein Künstler
darzustellen hat. Daher hat er „alle Zeichen der Äußerlichkeit“ wegzulassen,
um den „Ausdruck der geistigen Eigentümlichkeit“ des Porträtierten zu
490
491
492
493
494
495
496
497
498
114
Hotho 1823, 82.
Kehler 1826, 3.
„Das Scheinen des Geistes ist nun in der menschlichen Gestalt vorhanden“ (Kehler 1826, 38).
Hotho 1823, 75.
„Der menschliche Körper in seiner Erscheinung zeigt sich also als empfindend“ (Hotho 1823, 76).
Hotho 1823, 76.
Hotho 1823, 78.
Hotho 1823, 78.
Kehler 1826, 38.
erfassen und darzustellen.499 An diesem Punkt trennt sich das Schöne vom
Lebendigen, die subjektive Einheit des Schönen ist das Ideal.500 Das Ideal
erhebt sich über die „Verwicklungen des Lebendigen“ und dessen
„Bedingtheiten“, es ist vom menschlichen Geist hervorgebracht. Erst hier und
in diesem Sinne kann vom Schönen im eigentlichen Sinne gesprochen
werden, dann nämlich, wenn das Schöne als Ideal und als Kunstwerk
verstanden wird.501
Mit
der
letzten
Überlegung
ist
ein
Übergang
zu
den
Darstellungsmöglichkeiten von Natur in der Kunst angebahnt. Statt von
„Betrachtung schöner Natur“ wird daher im folgenden von „Darstellung
schöner Natur“ zu sprechen sein. In den Mittelpunkt der Untersuchung rückt
nunmehr die eigens im Kunstwerk vermittelte, d.h. die dargestellte Natur.
4.4
Darstellung schöner Natur
Hegel
definiert
das
Kunstwerk
als
eine
menschlicher
Gestaltung
entspringende Form des sich „zum Werke werdenden Geistes“. Er knüpft
damit an seine frühe Bestimmung des Ideals als Vermittlung der Vernunftidee
im Sinnlich-Anschaulichen an. Die Bestimmung des Ideals als „gestaltete
Idee“ und damit als zur Erscheinung- bzw. zur Anschauung-Bringen des
Geistes („Scheinen des Geistes“) betont die Notwendigkeit, daß die
Vernunftidee, damit die integrative spätere Definition als „Geist“, im
Kunstwerk jeweils an eine sinnlich-anschauliche Gestalt gebunden ist. Hegel
eröffnet sich durch diese strukturell identische Bestimmung die Möglichkeit,
unterschiedliche Gestaltungsweisen nach Epochen und Kulturen zu
differenzieren, d.h. er fundiert seine Theorie der Kunstformen durch diese
Grundlage der Bestimmung des Ideals und des Kunstwerks. Außerdem kann
die in der Kunst dargestellte schöne Natur ebenfalls als „Scheinen des
Geistes“ und damit als Version des Kunstschönen rekonstruiert werden.
499
500
501
Kehler 1826, 39.
„Das Schöne muß aber subjektive Einheit sein. Das Schöne trennt sich hier vom Lebendigen, seine
subjektive Einheit ist Ideal“ (Libelt 1828/29, Ms. 22a).
„Die Erhebung über diese Verwicklungen des Lebendigen, über diese Bedingtheiten wird im
Schönen bewirkt. Insofern es subjektive Einheit in sich ist. Das ist das Ideal (falscher Begriff
davon, was irgendwo ist, nicht erreicht werden kann). Das Ideal ist aus dem Geiste geboren, vom
Menschen hervorgebracht. Es ist der Geist, der aus der Befangenheit es entnimmt. Hier fängt das
Schöne als Kunstwerk an“ (Libelt 1828/29, Ms. 23a).
115
4.4.1
Kunst als Symbol des Geistes und die Kunstformen
Die geschichtliche Vermittlung der Idee in der Kunst-Gestalt erfordert per
definitionem unterschiedliche „Beziehungen der Idee auf ihre Gestalt“502, die
Hegel historisch differenziert in seiner Theorie der „Kunstformen“ entfaltet.
In diesen unterschiedlichen historischen Gestaltungsformen findet die
„(Vernunft-)Idee“ auf je andere Weise ihre anschauliche Präsenz im
Kunstwerk. Hegel rekurriert auch hier auf die prinzipielle Bestimmung des
Kunstwerks, daß es das jeweilige Bewußtsein einer Gemeinschaft,
unterschiedliche Weltanschauungen stiftet oder ersichtlich macht, erweitert
diese aber um die geschichtliche, nach Epochen und Kulturen (im Sinn
Herders) unterschiedenen Bestimmungen der „Form“ der Kunst. Durch
Kunstgestaltung wird das natürliche Material zum Ausdruck der Idee „in der
Form des Geistes“503. Das heißt, das gestaltete Material wird zum „Symbol
der Idee“504. Die nicht in der Natur vorgefundene, sondern eigens von einem
Künstler geschaffene Gestalt eines Kunstwerks verweist auf eine Bedeutung,
einen Inhalt, der in eine sinnlich-anschauliche Gestalt gefaßt wird. Die
spezifische Fassung dieser Darstellung nennt Hegel „Symbol“.
In Auseinandersetzung mit und im Anschluß an Friedrich Creuzers
Symbolbegriff in der Abhandlung über Symbolik und Mythologie505 und im
Gegensatz zu Schellings Symbolbegriff, der von einer Synthesis des
Allgemeinen (Bedeutung) und Besonderen (Gestalt) ausgeht, „wo beide
absolut eins sind“506, ist für Hegel das Hauptcharakteristikum des Symbols in
den Berliner Ästhetikvorlesungen507 die Inadäquatheit von Bedeutung (Inhalt)
und Gestalt (Form). Im Gegensatz zum Zeichen508, dessen Bedeutung einer
äußerlichen Form beliebig zugesprochen werden kann, enthält die äußerliche
502
503
504
505
506
507
508
116
Pfordten 1826, 66; Kehler 1826, 27.
V 12, 25.
A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 246. - A. Gethmann-Siefert zeigt in dieser
Abhandlung im Zusammenhang auf, daß Hegel nicht das besondere „Sein“ der Kunstwerke
gegenüber dem „Sein“ alltäglicher Dinge herausstellt. Nicht das Dingsein, sondern der
Symbolcharakter, also das, was es darstellt, bestimmt das Kunstwerk.
Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. 6 Bde.
Leipzig/Darmstadt 21819ff (11810-12; 31837ff).
F.W.J. Schelling: Philosophie der Kunst, Darmstadt 1974, 51.
Jeong-Im Kwon hat in ihrer Dissertation Hegels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der
„symbolischen Kunstform“ in Hegels Ästhetik, München 2001 eine ausführliche Rekonstruktion
sowohl der zeitgenössischen Diskussion um den Symbolbegriff als auch der Hegelschen Fassung
desselben in dessen Schriften, insbesondere in den Berliner Ästhetikvorlesungen vorgelegt. Vgl.
dort insbesondere Kapitel 1.
Hegel greift hier auf seine Zeichentheorie zurück. Vgl. Enz 1817, § 379; Enz 1830, § 458; V 13,
207ff.
Form des Symbols bereits die darzustellende Bedeutung in sich selbst - wenn
auch gegebenenfalls in unzureichender Weise. Ein Symbol muß „in seiner
Äußerlichkeit zugleich den Gehalt der Vorstellung“ in sich enthalten,
„welchen es darstellen soll“509. So ist der Löwe tatsächlich stark, wie er auch
die Bedeutung der Stärke symbolisiert; er „ist stark; er enthält in sich selbst
das, dessen Bedeutung er erscheinen macht“510. Das heißt aber auch, daß die
symbolische Gestalt immer noch etwas anderes vorstellt als die Bedeutung,
bzw. die Bedeutung kann nicht in der Darstellung aufgehen. Der Löwe ist
nicht ausschließlich stark, sondern auch mutig, schnell, imposant usw. Das
Symbol ist daher „wesentlich zweideutig“511, und es ist nicht beliebig
wählbar, wie dies beim Zeichen der Fall ist. Dieser Aspekt spielt bei der
Würdigung der Landschaft als Symbol menschlicher Naturverhältnisse eine
wichtige Rolle, insofern Landschaft nur dann einer beliebigen Ästhetisierung
entgehen kann, wenn sie nicht nur auf eine Bedeutung hinweist (Landschaft
ist geistig vermittelte Natur), sondern diese auch in sich enthält (Natur als
Landschaft ist Natur und zugleich „Wirksamkeit des Geistigen, und zwar eine
Institution der weitreichendsten Folgen“512).
Faßt man Kunst als Symbolisierung der Idee, dann wird – den
unterschiedlichen Kunstformen entsprechend – Geistiges in unterschiedlichen
Gestalten und Gestaltungen dargestellt. Da Kunst eine Vermittlung des
Göttlichen bzw.
der
geschichtlichen
Vernunft
unter
kulturvariablen
Bedingungen (historisch und geographisch unterschiedlichen Kulturen), aber
mit
invariabler
Funktion
(Vermittlung
des
Selbstbewußtseins
als
Handlungsbewußtsein einer Gemeinschaft) ist, geschieht diese Vermittlung
durch unterschiedliche Formen und in unterschiedlicher Vollendung. Alle
Gestaltungen der Kunst sind symbolische Gestaltungen, d.h. jedes Kunstwerk
ist mehr oder weniger Symbol der Idee, wobei die endlichen „Natur“Gestalten jeweils in unterschiedlicher Weise zum Symbol des unendlichen
Göttlichen umgeformt werden.
509
510
511
512
Hotho 1823, 119.
Hotho 1823, 119.
Hotho 1823, 119.
Hegel entwickelt diesen Gedanken am Beispiel des Ackerbaus: „Der Ackerbau ist noch kein
Geistiges, aber auch kein Natürliches, denn er kommt dem Menschen zu und ist eine Wirksamkeit
des Geistigen, und zwar eine Institution der weitreichendsten Folgen“ (Hotho 1823, 126).
117
So greift die „morgenländische Kunst“513 generell auf natürliche Gestalten
zurück, die als Symbol des Göttlichen aber letztlich unangemessen sind und
„wesentlich zweideutig“514 bleiben müssen, so daß es „immer eine Seite“ gibt,
„welcher die Bedeutung nicht adäquat ist“515. Entweder verweisen die aus der
Natur gegriffenen Gestalten auf eine undurchschaute Einheit von Geist und
Natur oder auf Göttliches in einer Naturgestalt, die - nach Hegel - zu einem
Symbol des Unendlichen im Sinne abstrakter oder „schlechter“ Unendlichkeit
wird durch die Übertreibung endlicher Naturgestalten ins Maßlose. In der
griechischen Antike wird Göttliches in der dem geistigen Gehalt einzig
angemessenen Naturgestalt des Menschen dargestellt, die „nicht symbolisch,
sondern für sich klar und deutlich“516 ist (Klassische Kunstform). In der
Kunst, die für Hegel mit dem Eintritt der geoffenbarten Religion des
Christentums beginnt und die noch die Gegenwart - durch die Aufklärung
bestimmte Kultur (der Romantischen Kunstform) - bestimmt, wird das
Geistige als das Menschliche in Formen dargestellt, die durch den geistigen
Gehalt
überschritten
werden
oder
ihn
nur
in
der
Vielfalt
von
Symbolisierungen und Gestaltungsweisen - vom Schönen bis zum Häßlichen erfassen.517
Da die Kunst den Inhalt der ganzen Natur nur „als den Geist bedeutende,
charakteristische, sinnvolle Naturform“518 gebraucht, also Naturgestalten als
Symbole für Geistiges nimmt, stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit der
jeweils intendierten Bedeutung (des Inhalts) mit der Form bestimmter
Naturphänomene. Da Hegel das Ziel der Kunst in dem Adäquat-Machen von
Form und Inhalt sieht519, kann die unmittelbar angeschaute Naturgestalt
diesem nicht genügen. Der Inhalt der Kunst „ist ein geistiger, er ist das
513
514
515
516
517
518
519
118
Hotho 1823, 120.
Hotho 1823, 119.
Hotho 1823, 121.
Hotho 1823, 121.
Diesen Zusammenhang hat A. Gethmann-Siefert in ihrer Einführung in Hegels Ästhetik im
Zusammenhang dargestellt; zur hier nicht weiter zu beachtenden Bedeutung des Häßlichen vgl. A.
Gethmann-Siefert: Hegel über das Häßliche in der Kunst (in: Hegels Ästhetik. Die Kunst der
Politik – Die Politik der Kunst. II. Teil. Hrsg. von Andreas Arndt, Karol Bal, Henning Ottmann.
Hegel-Jahrbuch 2000. Berlin 2002, S. 21-41) sowie die umfassende Darstellung der Bedeutung des
Häßlichen bei Hegel und den Hegelianern bei F. Iannelli: Das Siegel der Moderne.
Enz 1830, § 558.
„Das Schöne, sagten wir, sei die Einheit des Inhalts und der Weise des Daseins dieses Inhalts, das
Angemessen-Sein und –Machen der Realität dem Begriffe. Die Weisen der Kunst können sich nur
gründen auf das Verhältnis des Begriffs in betreff seines In-die-Realität-Eingebildetwerdens“
(Hotho 1823, 34).
Substantielle, das äußerlich erscheint und nicht in unmittelbarer Naturgestalt
gegeben, sondern ein vom Geiste Produziertes ist“520.
Durch die Darstellung der Natur im Kunstwerk wird sie nicht
abgeschildert, sondern die „Natur erscheint im Geist als Ideelles, als ein
Gesetztes“, und „ihre Wahrheit ist eben diese ihre Idealität.“521 Die in Kunst
dargestellte Natur ist ein Inhalt, der „hier nicht mehr natürlich im schlechten
Sinne [ist], sondern das Natürliche heißt hier das an und für sich durch den
Geist bestimmte, ein Idealisiertes.“522 Insofern ist die dargestellte Natur stets
eine Form der Selbstverständigung des Menschen über sich selbst, vermittelt
über sein Verhältnis zur Natur.
Die erste Darstellungsweise „schöner Natur“ im Kunstwerk ist an
diejenigen Kulturen gebunden, denen Hegel die „Symbolische“ und
„Klassische Kunstform“ zuordnet. In diesen Epochen vermitteln insbesondere
Architektur und Skulptur auf je eigene Weise das Göttliche im Natürlichen.
Die zweite Darstellungsweise ist der „Romantischen Kunstform“ zugeordnet.
In der romantischen Kunstform spielt als eine der relativ späten Varianten der
Kunst die Landschaft und die Darstellung der Natur als Landschaft eine
besondere Rolle. Nun ist nicht mehr das Göttliche der ausgezeichnete Inhalt
und Gegenstand der Kunst, sondern der geschichtliche Mensch wird zu ihrem
Mittelpunkt. In der Kunst wird „der Humanus, die allgemeine Menschlichkeit,
das menschliche Gemüt in seiner Fülle, seiner Wahrheit“ vermittelt.523 Alle
Facetten der inneren und äußeren Welt des Menschen können nun zum
Gegenstand der Kunst werden, „im Romantischen haben alle Gegenstände
Platz“.524 In dieser Phase der Kunstentwicklung wird insbesondere in der
Landschaftsmalerei, der Gartenkunst und der Idyllendichtung die Natur zum
Gegenstand der Kunst.
520
521
522
523
524
Hotho 1823, 123.
Pfordten 1826, 71.
Anonymus 1828/29, Ms. 13b.
Hotho 1823, 204. Hegel bezieht sich an anderer Stelle auf Goethes Epos Die Geheimnisse (Goethe:
Sämtliche Werke, Bd. 1, 263) und zitiert: „Heilig, sagt Goethe, ist, was den Menschen dem
Menschen verbindet“ (Hotho 1823, 211). - Zur Interpretation vgl.: A. Gethmann-Siefert: Die
Funktion der Kunst in der Geschichte, insbes. 319ff; M. Donougho: Remarks on „Humanus heißt
der Heilige…“. In: Hegel-Studien 17 (1982), 214-225; Oskar Walzel: Die Dichtung Schleier aus
der Hand der Wahrheit. In: Euphorion. 33 (1932), 83-105, bes. 99 f; O. Pöggeler: Dichtungstheorie
und Toposforschung. In: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 5 (1960), 89201, bes. 118. - Allerdings kann dieses Zitat auch im Hinblick auf die allgemeine
Vermittlungsfunktion der Kunst gelesen werden, wie dies in dieser Arbeit in Abschnitt 3.3
geschehen ist.
Hotho 1823, 198.
119
4.4.2
Natur als Symbol des Göttlichen
In den Werken, die Hegel in der Symbolischen Kunstform strukturell
zusammenfaßt, wird jeweils eine Naturgestalt als Symbol des Göttlichen
dargestellt. Diese Variante hat Hegel bereits in der Phänomenologie des
Geistes im Kontext der Naturreligion bestimmt. In den Ästhetikvorlesungen
behandelt er Werke der Architektur und der symbolischen orientalischen
Skulptur als Exempel der Darstellung der Natur in Kunst. Die Kunstreligion
der Griechen bildet das systematische Zentrum der Ästhetik, weil in dieser
antiken Kultur die Gottesvorstellung in der schönen menschlichen Gestalt als
der „Naturgestalt“ des Göttlichen ihren adäquaten Ausdruck fand. Die
Formen der Symbolisierung des Göttlichen in endlichen, entsprechend
übersteigert
dargestellten
Götterbildern
der
vorgriechischen
(der
orientalischen) Zeit erreichen die Anschauung des Göttlichen in einer
schönen, harmonischen Gestalt noch nicht; sie sind nicht schön - wie die
griechischen Götterbilder der Skulptur - sondern „erhaben“. Der Inhalt der
geoffenbarten Religionen (Judentum und insbesondere Christentum) sowie
das Selbstbewußtsein des aufgeklärten Menschen der modernen Welt lassen
sich nicht mehr vollständig sinnlich-anschaulich in der harmonischen Gestalt
der Schönheit vermitteln. Hier wird auch die „geistige Naturgestalt“ des
Menschen durch Gestaltung Gottes als des geschichtlich handelnden
Menschen aufgegeben.525
4.4.2.1 Erhabene Naturgestalten des Göttlichen
Hegel bestimmt die „symbolische Kunstform“ als erste Stufe der Darstellung
des Absoluten als des Göttlichen, die das Göttliche und damit das Geistige
noch nicht als Göttliches, als Geistiges erfassen526, sondern lediglich durch
eine ins Unendliche gesteigerte Formung der Natur entlehnter Gestalten
symbolisch veranschaulichen kann. Eine Trennung von Natur und Geist und
eine klare Bestimmung beider Bereiche ist noch nicht erreicht, der Mensch
befindet sich noch in einem „Mittelzustande zwischen Natur-Weise und freier
525
526
120
Diesen Übergang hat A. Gethmann-Siefert u.a. in ihrer Einführung in Hegels Ästhetik genauer
analysiert; vgl. insbes. 290ff.
„Der erste Ausgangspunkt kann noch nicht in sich haben, daß geistiger Inhalt als solcher und näher
die substantielle Subjektivität sich für sich erfaßte und sich bildlich machte. Solchen freien Inhalt
kann die erste Stufe nicht haben. Die freie Geistigkeit ist nicht das erste, sondern ist Resultat“
(Hotho 1823, 124).
Weise des Geistes“527. So faßt Hegel diesen Gedanken zusammen: „Das
Offenbare ist nur der freie Geist; zu diesem Geiste, zum Erfassen des
Selbstbewußtseins, sind [z.B.] die Ägypter noch nicht gekommen“528.
Da in den Werken der symbolischen Kunstform der geistige Gehalt noch
„unbestimmt, unklar, abstrakt, in der Weise der Substantialität“ und „noch
nicht Subjektivität“529 ist, hat die Idee bzw. hat der Mensch für die Idee ihre
endgültige „Gestaltung und Form“ noch nicht erreicht;
„die Gestalt ist noch außer ihr, der sinnliche Stoff überhaupt ihr noch nicht
adäquat. Die Idee in ihrer Unruhe, sie hat noch nicht die absolute Form, sucht
sich in allem diesem Stoff, der noch nicht ihr eigen ist, und sucht, sich ihm
angemessen zu machen. Weil sie aber das Maßlose ist, so kann sie sich die
natürliche Gestalt nicht wahrhaft angemessen machen, sondern steigert den
natürlichen Stoff bloß, behandelt ihn negativ. Dies also ist der Charakter der
Erhabenheit. (...) Die andere Seite hierbei ist, daß hier von natürlicher Gestalt,
wie sie unmittelbar vorhanden ist, ausgegangen ist, aber daß in diese
natürlichen Gestaltungen die substantielle Idee hineingelegt, daß sie
interpretiert wird. Dies kann der Pantheismus des Schönen, der Kunst des
Morgenlandes genannt werden; aber diese Abstraktheit ist die unendliche
Freiheit. Diese Kunst ist die symbolische, d.h. eine Darstellung, die eine
Bedeutung hat, aber so, daß diese noch nicht in den Ausdruck vollkommen
eingebildet ist.“530
Für einen noch abstrakten, „trübe[n]“ und noch nicht „wahrhaft in sich selbst
bestimmt[en]“ Inhalt wird die jeweilige Form „noch aus der unmittelbaren
Natur genommen“531. Ein „noch nicht wahrhaft in sich bestimmter Gedanke“
benötigt also noch „den äußerlichen natürlichen Stoff“532, ohne daß es gelingt,
diesen als adäquaten und endgültigen Ausdruck der Bedeutung zu gestalten:
„In der symbolischen Kunst ist der Inhalt nicht frei und die Gestalt auch nicht,
die nur bedeutsam sein soll, Seiten hat, die dem Begriff gemäß sind, aber
andere, die ihm nicht entsprechen. Damit es bedeutend sei, muß es verzerrt
527
528
529
530
531
532
„Die Prosa in Betrachtung der Welt ist verständig, ist äußerliche Betrachtung und setzt voraus, daß
der Mensch für sich schon frei ist. Wo diese Trennung noch nicht gemacht ist, ist der Mensch in
einem Mittelzustande zwischen Natur-Weise und freier Weise des Geistes. Erst mit der absoluten
Freiheit und der absoluten Religion tritt die eigentliche Prosa ein, denn zu ihr gehört die freie
Subjektivität des Individuums. (…) beides, die Ahnung eines Höheren und das Bewußtsein eines
Äußerlichen, ist noch nicht geschieden. Die Prosa der Geschiedenheit ist erst ein Späteres“ (Hotho
1823, 125).
Hotho 1823, 139.
Pfordten 1826, 67.
Pfordten 1826, 67.
Hotho 1823, 35.
Hotho 1823, 35.
121
werden; damit man dem Stoff ansehe, daß er bedeutend sei, muß ihm Gewalt
533
angetan werden“.
Die Kunstgestaltungen der symbolischen Kunstform sind insofern dadurch
charakterisiert, daß hier die „Idee in ihrer Allgemeinheit, Maßlosigkeit und
Unbestimmtheit erscheint“ und dieses Maßlose gestaltet werden soll, ohne
daß eine Gestaltung existiert, „welche dem Maßlosen entsprechen könnte“534.
Da die noch abstrakte Idee als Inhalt die natürlichen Gestalten „verzerrt“, also
Macht über dieselben hat, bestimmt Hegel diese Werke durch die ästhetische
Kategorie der Erhabenheit, nicht der Schönheit.535
Natur wird in der Symbolisation des Göttlichen einmal unmittelbar in ihrer
Existenz, zum anderen als eine „vom Geist erfundene Gestalt“ als Inhalt
genommen.536 Dementsprechend findet sich das Göttliche in der Kunst, die
Hegel der „symbolischen Kunstform“ zuordnet, zum einen noch in der
unvermittelten Natur. So beten z.B. die Parsen das Licht537 und die Inder und
Ägypter Tiere als göttlich an538. Überhaupt erscheint die Natur dem sich noch
entwickelnden, d.h. nach einem Bewußtsein seiner selbst suchenden
Menschengeist als ein mit Geistigem qua Göttlichem Beseeltes, d.h. als eine
„Vermischung des Geistigen mit dem Natürlichen“539. Als wichtigstes
Beispiel für eine eigens im symbolischen Kunstwerk „vom Geist erfundene“,
d.h. geschaffene Gestalt sei im Folgenden die Architektur gewählt.
In der Architektur540 wird die äußere unorganische Natur zu Pyramiden,
Türmen, Obelisken, Säulen, Tempeln, Häusern, Kirchen und Domen gestaltet.
Die schwere Materie bleibt in ihrer Schwere und Massigkeit. Wie beim
Symbol schlechthin wird eine äußere Form aus der Natur genommen. In der
533
534
535
536
537
538
539
540
122
Hotho 1823, 154.
Pfordten 1826, 112.
„Dieser Kunst gehört also wohl die Erhabenheit, aber nicht die Schönheit an“ (Hotho 1823, 35).
„In Ansehung des Bedürfnisses der Gestaltung ergeben sich zwei Gestalten: [Das eine ist] die
natürliche Existenz, in der die Bedeutung vorhanden ist. Z.B. die Sonne ist einmal als existierend,
dann in ihrer Bedeutung [genommen]; und ebenso der Nil. Das andere aber ist die vom Geist
erfundene Gestalt“ (Hotho 1823, 129).
Hotho 1823, 126.
Hotho 1823, 161.
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Die bestimmte Religion. In
zwei Bänden: Textband (a), Anhang (b) Mit einem Begriffs- Realien- und Personenverzeichnis
zum Gesamtwerk. Herausgegeben von Walter Jaeschke. Vorlesungen, Band 4. Hamburg 1985; hier
V 4a, 417.
„Wir sagen: Die Architektur mache den Anfang dem Begriffe nach, und sie tut es auch
geschichtlich. Sie muß aber da betrachtet werden, wo sie wirklich als Anfang schöner Kunst
auftritt. Eine Hütte, eine Höhle sind keine architektonischen Anfänge“ (Hotho 1823, 208). - Hegel
stützt sich in seinen Äußerungen zur Architektur im wesentlichen auf Aloys Hirt: Die Geschichte
der Baukunst bei den Alten. 3 Bde., Berlin 1821-1827.
Architektur innerhalb der symbolischen Kunstform bleibt diese äußerlich
nach
dem
Maßstab
der
„abstrakten
Verstandesverhältnisse
des
Symmetrischen“541 gestaltet in ihrer Dreidimensionalität erhalten, wobei das
Bauwerk auf die noch unbestimmte geistige Bedeutung nur hinweisen kann.
Das hat zur Folge, daß die Architektur dem Gott (in der klassischen
Kunstform: der Skulptur) lediglich einen Tempel baut. Dieser Gott ist noch
abstrakt, da er noch nicht als Geistiges gewußt wird. Dementsprechend haben
sich die Ägypter das „Reich des Geistes“ nur als Negatives, als „Reich des
Todes“ in einem Totenkult vorstellen können, der mit der Annahme einer
„Unsterblichkeit der Seele“ der „Freiheit des Geistes“ bereits nahe kommt,
„indem das Ich sich hält als für sich beruhend, der Natürlichkeit
entnommen“542. Die Pyramide wird somit zum „Gehäuse“ für den noch nicht
als Geist gewußten Geist543, damit zum Symbol für den noch nicht zum
Bewußtsein seiner selbst erwachten Geist. Auch in anderen von Hegel
erwähnten Werken werden Naturformen aufgegriffen, um durch diese
Naturformen Geistiges als Göttliches zu symbolisieren. Die Phallus- und
Lingamsäulen beispielsweise bleiben durch ihre Form an natürlichen
Vorbildern orientiert, in diesem Falle Zeugungsorganen. In diesen Werken
scheint die absolute Lebenskraft auf.
Die Kunst kann so (ebenso wie Religion und Philosophie) „den Gedanken
(...) das Göttliche, die höchsten Forderungen des Geistes aus[…]sprechen“544.
Denn in der Kunst haben - so führt Hegel in den Ästhetikvorlesungen aus „die Völker ihre höchsten Vorstellungen niedergelegt, und sie [ist] oft der
einzige Schlüssel, die Religion des Volkes zu erkennen“545. Durch Kunst
deuten die Menschen ihre Welt demnach nicht nur, sondern sie gewinnen
zugleich eine anschaulich vermittelte Handlungsorientierung über die im
Kunstwerk vermittelte „Weltanschauung“. Denn das „Interesse“ der Kunst ist
es insbesondere, die „substantielle Weise des Bewußtseins eines Volkes
darzustellen (...) Dies sind Weltanschauungen, Religionen eines Volks“546.
541
542
543
544
545
546
Hotho 1823, 40.
Hotho 1823, 138.
„Bei den Ägyptern sehen wir die Feststellung der Subjektivität in der Bestimmung des
abgeschiedenen Geistes, der nicht als freier seine Gestalt gewinnt, sondern im Gehäuse der
Pyramide ruht, das er nicht durchdringt, nicht bewegt“ (Hotho 1823, 138f.).
Hotho 1823, 4.
Hotho 1823, 4 f.
Hotho 1823, 203.
123
Pyramiden, der „Tempel des Bel“547 oder der im Alten Testament erwähnte
Turm zu Babel548 sind „Werke der Nation“549. Der Turmbau wird für Hegel
zum Exempel dafür, wie durch die gemeinsame Arbeit an einer Wohnstatt für
den Gott eine Handlungsgemeinschaft entstehen kann, die sich im Vollzug
dieser Arbeit ein gemeinsames Bewußtsein und eine Orientierung des
Handelns erringt.550 Der Vollzug dieser gemeinsamen Anstrengung geschieht
noch als ein „instinktartige[s] Arbeiten“551 des Geistes, der auf unbewußte
Weise Viele zu einer organisierten Gemeinschaft zusammenbindet. Die
vorgegebene
äußerliche
Natur
wird
also
zu
Kultur
gestaltet,
die
Verschiedenartigkeit der unterschiedlichen Interessen einzelner Individuen
und Völker zu einer durch die gemeinsame Arbeit an einem Kunstwerk
gestifteten Gemeinschaft verbunden. Die Idee des Geistes - hier als
„substantielle Weise des Bewußtseins eines Volks“, d.h. als die „orientalische
Weltanschauung“552 - wird somit in der Gestalt des gemeinsam errichteten
Bauwerkes zum „Vereinigungspunkt“553 der Menschen und damit zur Stiftung
der „Sittlichkeit eines Volkes“ (im Sinne des frühen „Ideal[s] der
Volkserziehung“). Architektur kann daher als „Symbol der Sittlichkeit“
(Kant) gefaßt werden.
Den Übergang von der Wahl beliebiger Naturgestalten zu einer
eindeutigen charakterisiert Hegel an einem bestimmten in der Kunst
dargestellten Symbol, der Sphinx, die den „Rätsel“-Charakter des
Symbolischen schlechthin vorstellt554. Das Rätsel, das die Sphinx den
Griechen gab, lautete: „Was geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf
547
548
549
550
551
552
553
554
124
Vgl. hierzu Herodot: Historien. Griechisch-Deutsch, hrsg. von Josef Feix, 2 Bde., München 1963,
3
1980, Bd. 1, 164ff, 500f.
Vgl. hierzu I. Mose. 11, 1-9.
Hotho 1823, 217.
„Die Gesamtheit damaliger Völker hat an ihm gearbeitet; und wie sie alle sich vereinten, das eine
Werk zu vollbringen, war dieses das Band, das sie, wie uns die Gesetze, aneinander knüpfte“
(Hotho 1823, 212).
Hotho 1823, 218.
Hotho 1823, 203.
Hotho 1823, 213.
„Als den Mittelpunkt, wo unmittelbar die symbolische Natur des Ägyptischen vorgestellt ist,
können wir die Sphinx nennen. Rätsel sind die ägyptischen Darstellungen; das Symbolische ist ein
Rätsel. Es sind Gestaltungen, die nicht sich selbst bedeuten, sondern auf eine andere Bedeutung an
ihnen selbst hindeuten; dazu gehört eine gewisse Verzerrung der bloß unmittelbar gegebenen
Gestalt, wenn sie anders als die menschliche selbst ist. – Das Symbol ist durch die Sphinx
bezeichnet, [durch eine] Aufgabe, die gelöst werden soll; die Bedeutung [des Rätsels der Sphinx
herauszufinden, ist die] Aufgabe, aber das Innere ist noch nicht an ihm selber heraus, so daß das
Äußere nicht für sich selbst, für etwas gilt“ (Kehler 1826, 88).
zweien und am Abend auf dreien?“ Nur Ödipus555 weiß die Antwort und
gelangt zum Lösungswort: der Mensch. Damit gerät die Gestaltung des
Göttlichen in Naturgestalten durch die Wahl der „geistigen Naturgestalt“ an
ihr Ende.
4.4.2.2 Menschliche Gestalt als Naturgestalt des Göttlichen
Durch die Wahl der geistigen Naturgestalt des Menschen zum Symbol des
Göttlichen wird die „absolute Einheit des Inhalts und der Form“, die „freie
adäquate Einbildung der Gestaltung in den Begriff“556 erreicht. Ein
„wahrhafter Inhalt“, nämlich „der Geist in seiner Freiheit“557, ist in
Übereinstimmung mit seiner „wahrhaften Form“558, der menschlichen Gestalt,
„in der er selbst erscheint, kein anderes“559. Diese Gestalt ist zwar
„Naturgestalt“, aber sie „allein ist die Gestalt des Geistigen“560. Die schöne
Göttergestalt ist die vollkommene Synthese von göttlichem (geistigen) Inhalt
und schöner Form, die vollendete Darstellung des Göttlichen in der Schönheit
einer natürlichen, d.h. der menschlichen Gestalt.561 Die Werke, die der
klassischen Kunstform zugehören, erreichen daher durch eine Harmonie von
Inhalt und Form die Schönheit, d.h. „die adäquate Einbildung der Idee oder
des Begriffs in die Äußerung, Erscheinung, Manifestation“562.
Eine
entscheidende
historische
Voraussetzung
hierfür
war
die
„Herabsetzung“ des in der vorangehenden Kulturepoche als göttlich verehrten
Tieres zum Attribut des Göttlichen (z.B. Jupiter mit Adler)563. Das Göttliche
selbst wird in der Gestalt des Menschen dargestellt. Dadurch hat der Künstler
„aus dem Seinigen die Götter genommen“564, gestaltet er als „Lehrer des
555
556
557
558
559
560
561
562
563
564
Hegel führt die spätantiken Hypotheseis zu Ödipus Tyrannos an (Vgl. Sophokles: Tragödien und
Fragmente. Griechisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Wilhelm Willige. München 1966, 900-903.)
Vgl. dazu die Bezugsstelle im Drama: Prolog. V. 35 f (Sophokles: Tragödien. Hrsg. und mit einem
Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt, Zürich/Stuttgart 1968, 171). – Vgl. auch die
Passage einer Mitschrift der Ästhetikvorlesung von 1826: „Die Sphinx gibt ihm [d.h. Ödipus] ein
Rätsel: Was das sei, das zuerst auf vier, dann auf zwei, dann auf drei [Beinen] gehe? Ödipus sagt:
‚Der Mensch’, und stürzt die Sphinx vom Felsen. Spaltet ihren Kopf mit einem Messer“ (Aachen
1826, Ms. 101).
Hotho 1823, 36.
Hotho 1823, 154.
Hotho 1823, 36.
Hotho 1823, 154.
Hotho 1823, 36.
„In der klassischen Kunst ist der Begriff des Schönen realisiert; schöner kann nichts werden“
(Hotho 1823, 179).
Pfordten 1826, 67.
Hotho 1823, 163.
Hotho 1823, 97.
125
Volkes“565 aus einem „Instinkt der Vernünftigkeit“566 heraus die Götter. Über
die schönen Göttergestalten der Skulptur und der Poesie, die vom Handeln der
Götter (und Heroen) erzählt, also durch die Kunst, werden dem Volk die
Götter gegeben, durch sie die „Sittlichkeit“, der „absolute Geist eines Volkes“
gestiftet.
In die Umgebung des Gottes, die die Architektur gestaltet (den Tempel)
schlägt gleichsam der „Blitz der Individualität, der Gott steht in ihr da“567,
d.h. die aus natürlichem Material (Stein, Marmor) gefertigte, nicht natürliche,
sondern geistige568 Naturgestalt des individuellen Gottes in Form der
Skulptur. Weil Gott als Geist, nicht als Natur erscheinen soll569, gehört zu
Gott das „Erscheinen als Mensch“570. Der Mensch ist vorrangig Geist571, aber
er ist zugleich ein Naturwesen. Das Geistige kann in der an sinnliches
Material gebundenen Kunst nur in einer solchen natürlichen Gestalt
vollkommen dem sinnlichen Natürlichen entsprechen, deren „Leib kein
Symbol mehr“ ist, wo der Leib „kein anderes aus[drückt]“, „kein Fremdes“
bedeutet, sondern seine Bedeutung „auf der Oberfläche selbst“ erscheint572.
Hier ist der „Ausdruck unmittelbar das Geistige“573. Das Natürliche der
menschlichen Gestalt
„ist nur ein Aussprechen des Geistes. Das ist das Ideal. Die menschliche
Gestalt als solche ist tierische Gestalt, aber eine Gestalt, in der ein Geist
wohnt, und damit ist das, was diese Gestalt zeigt, das Geistige selbst zugleich.
Die Gestalt stellt nicht noch etwas anderes vor, wie [es] im Symbolischen der
Fall ist. In der menschlichen Gestalt erscheint unmittelbar das Geistige; das ist
die wahrhafte Durchdringung des Geistigen durch das Natürliche.“574
Diese Gestaltung erreicht die Schönheit, weil in ihr der geistige Inhalt mit
einer Form übereinstimmt, die selbst schon in sich geistig ist. An die Stelle
565
566
567
568
569
570
571
572
573
574
126
Libelt 1828/29, Ms. 29.
Aachen 1826, Ms. 126.
Hotho 1823, 40.
„Das Sinnliche, Bildliche gilt hier nicht mehr als Sinnliches, ist kein Naturwesen; zwar
Naturgestalt, aber [eine] solche, die, der Dürftigkeit des Endlichen entnommen, ihrem Begriff
vollkommen adäquat ist“ (Hotho 1823, 36).
Weil Gott selbst Geist ist, muß er sich dementsprechend „auf geistige, nicht bloß auf natürliche
Weise offenbaren“ (V 5, 283). - „Gott ist wesentlich Geist, muß, wenn er gewußt wird, als geistig
gewußt werden, seine Taten sind wesentlich geistige Taten“ (V 13, 4). - Vgl. auch Kap. 3.5.
„Aber zum Gott als Geist gehört das Erscheinen als Mensch, sonst ist er nicht Geist. Das
Anthropomorphistische ist also ein wesentliches Moment im wahrhaften Begriff der göttlichen
Natur“ (Hotho 1823, 158).
„Der Mensch ist wesentlich Geist“ (V 4a, 423).
Hotho 1823, 158.
Pfordten 1826, 146.
Pfordten 1826, 146.
der für die Symbolische Kunstform charakteristischen „Vermischung des
Geistigen mit dem Natürlichen“575 tritt in der klassischen Skulptur die
„wahrhafte Durchdringung des Geistigen durch das Natürliche“576. Das
Kunstwerk erfüllt die (von Kant unterstellte) Funktion des „Symbols des
Sittlichen“.
4.4.3
Von der Natur als Symbol des Göttlichen zur Natur als
Symbol des Menschlichen
Eine weitere Darstellungsweise „schöner Natur“ im Kunstwerk - nach der
Vermittlung des Göttlichen durch „Natur“(-Gestalten) in Architektur und
Skulptur in der „Symbolischen“ und „Klassischen“ Kunstform - ist der
„Romantischen Kunstform“ zugeordnet. Insbesondere wird die Natur
nunmehr in der Landschaftsmalerei, der Gartenkunst und der Idyllendichtung
zum Gegenstand der Kunst, weil jetzt die Darstellung der Natur als
„Landschaft“ eine besondere Rolle in der Kunst spielt. Nicht mehr das
Göttliche ist der hervorragende Inhalt und Gegenstand der Kunst, sondern der
geschichtliche Mensch mit allen Facetten seiner inneren und äußeren Welt.
Natur ist nicht länger „Symbol des Göttlichen“, sondern Natur als
„Landschaft“ ist fortan „Symbol des Menschlichen“. Die Frage, warum die
Natur bzw. Naturschönheit in der „Romantischen Kunstform“ die zentrale
Bedeutung als „Symbol des Göttlichen“ verliert, statt dessen die Darstellung
der Natur als „Landschaft“ nunmehr als „Symbol des Menschlichen“ diesen
Stellenwert gewinnt, verlangt eine kurze Rekonstruktion des Übergangs von
der „Klassischen“ zur „Romantischen Kunstform“.
In der „klassischen Kunstform“ erreicht die Darstellung des Göttlichen in
der Schönheit einer menschlichen Gestalt - d.h. einer geistigen Naturgestalt die Harmonie von Form und Inhalt. In der „geoffenbarten“ Religion des
Christentums sprengt die Vorstellung des einen, als Mensch leidenden und
mit anderen Menschen in Situationen handelnden Gottes die schöne Form der
klassischen Kunst. Dies hat zur Folge, daß die schöne Gestalt als endliche
Gestalt an der Gottesvorstellung der Offenbarung zerbricht. Ist der
griechische Gott noch „an die Anschauung gebunden“, wird in ihm noch „die
575
576
V 4a, 417.
Pfordten 1826, 146.
127
Einheit der menschlichen und göttlichen Natur angeschaut und die einzig
wahrhafte Weise dieser Einheit“577, so zerbricht im Christentum diese Einheit,
da hier der Inhalt über die sinnliche Form hinausgeht. Die in unbeweglicher
„seliger Ruhe“ erstarrte schöne Göttergestalt der klassischen Kunstform kann
kein Symbol des Göttlichen im Sinne der geoffenbarten Religion des
Christentums sein. Der christliche Gott ist nicht durch die Kunst gestiftet,
sondern durch die Religion geoffenbart und der Kunst vorgegeben. Dieser
Gott handelt mit den Menschen seiner Gemeinde in Situationen, die ebenfalls
durch die Kunst dargestellt werden müssen. Handlungen aber sind durch
Skulpturen
nicht
mehr
darstellbar.
Die
in
sich
ruhende,
schöne
Götterdarstellung muß deshalb an diesem neuen Inhalt zerbrechen.
Zudem begnügt sich die aufgeklärte Vernunft der „Moderne“ nicht mit
unreflektiert tradierten und übernommenen und durch die Kunst gestifteten
Handlungsorientierungen. Schon im Abschnitt über die Tragödie weist Hegel
auf den Widerstreit vielfältiger, im Polytheismus als letztgültig vorgestellter
Handlungsorientierungen hin, den die Kunst nicht zu versöhnen vermag.578 In
der geoffenbarten Religion ist nicht das Medium der Anschauung, sondern
das der Vorstellung eine adäquatere Vermittlung des Göttlichen. So realisiert
sich die Idee nunmehr nicht mehr in der „sinnlichen Einheit“ von Idee und
Gestalt, sondern in der menschlichen „Subjektivität“, der subjektiven
Innerlichkeit.
Dies hat für die Kunst einerseits zur Folge, daß der Inhalt für sich frei
wird579, andererseits wird dadurch in letzter Konsequenz auf der „letzten
Stufe“ der romantischen Kunst auch das Sinnliche „in seiner Sphäre“580
frei581. Hegel konstatiert daher eine „Auflösung des Inhalts und der
Gestaltung“582. Zugleich stiftet das Geistige als Geistiges die „Bedeutung des
Sinnlichen“, die „Gestalt wird so wieder symbolisch“.583 Es kommt also zu
577
578
579
580
581
582
583
128
Hotho 1823, 36.
Vgl. Otto Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie. In: Heidelberger Hegel-Tage 1962. Hrsg.
von H.-G. Gadamer. Bonn 1964, 285-305 (Hegel-Studien. Beiheft 1).
Der Geist ist aufgefordert, „i n s i c h selbst zu leben und in keinem A n d e r e n seiner. Der Geist
muß sich selbst zum Boden seines Daseins haben, sich eine intellektuelle Welt erschaffen“ (Hotho
1823, 179).
Hotho 1823, 37.
Der „Stoff ist aus dem Selbst getreten, das Raisonnement frei geworden, der Stoff äußerlich, so daß
die Kunst freie, subjektive Geschicklichkeit [wird], der der Stoff gleichgültig [ist]“ (Hotho 1823,
204).
Hotho 1823, 36.
Kehler 1826, 29.
einer Wiederholung der Struktur der symbolischen in der romantischen
Kunstform. Beide Kunstformen verbindet nämlich die Unvereinbarkeit des
Form-Inhalt-Verhältnisses mit der Schönheit der Darstellung. In der
symbolischen Kunst erscheint die Vielfalt der Formen als Beleg für die noch
lediglich ahnenden Versuche, den unendlichen (göttlichen) Inhalt geistig zu
erfassen und entsprechend zu gestalten. In der romantischen Kunst ist dieser
unendliche Inhalt dann der Grund, die schöne Form zu zerstören oder zu einer
Vielfalt von Formen zu erweitern.
Das Göttliche läßt sich also nicht mehr in der schönen menschlichen
Gestalt darstellen. Wollte man Gott oder Christus portraithaft darstellen, wäre
dies
keine
schöne,
sondern
eine
nicht-mehr-schöne
Darstellung.
„Christusköpfe“, so Hegel in den Ästhetikvorlesungen, sind „kein klassisches
Ideal“, es wäre unangemessen, ihnen die Schönheit griechischer Skulpturen
zu geben: „Christusköpfe sind hiermit kein klassisches Ideal. Die Schönheit
Apolls ihnen einzubilden, würde als höchst unpassend erscheinen“.584
Überhaupt läßt sich der Inhalt der christlichen Religion nur in nicht-mehrschönen Darstellungsformen angemessen ausdrücken. Das gilt insbesondere
für die Darstellung der Geschichte Gottes mit den Menschen. Martern und
Greuel können nicht schön, sondern müssen häßlich dargestellt werden. Diese
Gestaltungen lassen sich nicht über ästhetische Kriterien, sondern nur durch
den religiösen Kontext, und zwar reflexiv erschließen. Hegel erörtert in den
Ästhetikvorlesungen nur zwei „schöne“ Sujets, die ein Symbol der
christlichen
Gottesvorstellung
sein
können:
die
Darstellungen
der
Muttergottes und der Maria Magdalena. Beide Gestaltungsweisen dieser
Darstellungsgegenstände erreichen je die Einheit von schönem Inhalt und
schöner Form.585
Eine Konzentration der Kunst auf Schönheit wird demnach obsolet, sie
kann
584
585
586
zum
„Charakteristischen“,
„Interessanten“
und
„Häßlichen“586
Hotho 1823, 186.
Vgl. hierzu ausführlich: A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 286ff.
„Am Ende des 18. Jahrhunderts [hat] die Kategorie der Schönheit als Konstituens der Künste ihre
uneingeschränkte Geltung verloren (…) und kann nun anderen Begriffen wie dem Interessanten,
Charakteristischen und Romantischen Platz gewähren“ (Gunter Scholtz, Der Weg zum Kunstsystem
des Deutschen Idealismus, 22). Vgl. dazu die umfassende Untersuchung Das Siegel der Moderne
von F. Iannelli, die den Begriff des Häßlichen bei Hegel im Sinne einer neuen Einheit von Inhalt
und Form deutet; sowie auch A. Gethmann-Siefert, die diese neuen Formen, die das Ideal nach
Hegels Aussagen in der Enzyklopädie und in den Ästhetikvorlesungen annehmen muß, als Formen
129
fortschreiten. Die Kunst gewinnt aber nicht nur neue Formen oder
Darstellungsweisen, sie gewinnt auch einen neuen Inhalt, und zwar die Welt
des Menschen und seines Alltags. Dadurch ist die Kunst zudem nicht mehr
zwangsläufig an den göttlichen Inhalt gebunden; alles „Substantielle“ kann
nun der Willkür subjektiver Ansichten anheimfallen (paradigmatisch im
Humor). Kunst vermittelt nun den „Humanus, die allgemeine Menschlichkeit,
das menschliche Gemüt in seiner Fülle, seiner Wahrheit“587. Alle Facetten der
inneren und der äußeren Welt des Menschen können nun Gegenstand der
Kunst werden: „Im Romantischen haben alle Gegenstände Platz“.588 Die
Kunst stellt alles dar, was „die Menschenbrust bewegt“, ihr „neuer Heiliger“
ist der vernünftige und freie Mensch selbst. Kunst symbolisiert nicht mehr das
Göttliche, sondern das Menschliche.
Die Darstellungsmöglichkeiten der Kunst werden damit gegenüber denen
der symbolischen und klassischen Kunstform erweitert. Kunst ist nicht mehr
an die Religion und deren darstellungswürdige Gegenstände gebunden,
sondern sie thematisiert den geschichtlichen Menschen und dessen Welt und
Wirklichkeit. Je mehr der Einfluß der Religion in der modernen Gesellschaft
abnimmt, desto bedeutsamer wird dieser neue Inhalt.
Werden nun Naturgegenstände in ihrer Unmittelbarkeit aufgegriffen und
dargestellt, so ist dies deswegen möglich, weil der Mensch sich mit dieser
Unmittelbarkeit wieder „versöhnt“589 hat. Dies geschah in mehreren Schritten.
Im Symbolischen war das unmittelbar Natürliche „an ihm selbst das
Göttliche. Der Gedanke ist nicht frei in sich, sondern in natürlicher
Existenz“590.
Im
Klassisch-Griechischen
ist
die
Weltlichkeit
„noch
affirmativ“. Das Romantische hingegen ist über weite Strecken das „geistige
Insichsein, wogegen die Weltlichkeit als ein Nichtiges gesetzt ist“591. Zuerst
war im „religiösen Kreis“ die unmittelbare Gegenwart der inneren und
äußeren Welt zugunsten einer bloß an-sich-seienden Versöhnung mit einem
Jenseits aufgeopfert worden. Schließlich konnte im „weltlichen Kreis“ des
Rittertums die Unmittelbarkeit allmählich als ein Affirmatives zurückerobert
587
588
589
590
591
130
der Kunst in der modernen Welt deutet: A. Gethmann-Siefert: Hegel über das Häßliche in der
Kunst.
Hotho 1823, 204.
Hotho 1823, 198.
Hotho 1823, 199.
Hotho 1823, 203.
Hotho 1823, 203.
werden. Nach dieser Wiederversöhnung des Geistes mit Naturgegenständen in
ihrer Unmittelbarkeit wird es jetzt möglich, daß auch mit „der gemeinen
Gegenwart vorlieb genommen“592 werden kann. Das Portrait wird notwendig
und die Dichtkunst nimmt Szenen des gewöhnlichsten Lebens auf.
Insbesondere stellt die Malerei „die Gegenwärtigkeit dar“. Ausdrücklich
bringt Hegel hier die Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts ins Spiel.
Wenn also überhaupt begründet von Natur bzw. von Naturdarstellung in
der Kunst gesprochen werden soll, so kann und muß dies nur im Rahmen der
Bestimmung der Kunst als „Symbol des Menschlichen“ geschehen. Zur
Debatte steht, ob durch die Marginalisierung des „Schönen“ in der
Romantischen Kunstform die Kunst - wie in der Symbolischen und
Klassischen Kunstform - die Kantische Forderung erfüllen kann, ein „Symbol
der Sittlichkeit“ zu sein.
592
Hotho 1823, 199.
131
5
Naturdarstellung als schöne „Landschaft“
Es gibt nur wenige Äußerungen von Hegel zu „Landschaft“, und zwar sowohl
in den Ästhetikvorlesungen als auch in der Druckfassung der Ästhetik. Eine
ebenfalls häufig vorgebrachte Kritik gegen Hegels Konzeption des
Naturschönen stützt sich daher auf diese stiefmütterliche, ja „schnöde“593
Behandlung des Themas „Landschaft“. Es sei kaum zu verstehen, daß Hegel
sich in einer Zeit, in der Natur als Landschaft „längst entdeckt war“594, nur
mit
wenigen
dürren
Worten
zur
Landschaft
und
mit
geradezu
„Lieblosigkeit“595 zur Landschaftsmalerei äußert. Dies scheint um so
erstaunlicher, als die Zeit um 1800 die Zeit ist, in der die durch Künstler,
Literaten und Reiseschriftsteller vermittelte Entdeckung und Begeisterung für
europäische Landschaften einem Höhepunkt zustrebt.596 Die Ausstellung
„Entdeckung der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800“597
dokumentiert eine Entwicklung der Kunst, die Hegel auch zu seiner Zeit
wahrnahm, aber nur in einer knappen, dennoch differenzierten Argumentation
in seiner Ästhetik zu begreifen suchte. Im Zuge dieser Argumentation
entwickelt Hegel ein Konzept der Natur als Landschaft, das die
Naturdarstellung im Sinne einer „Landschaft“ zu einem Thema der
philosophischen Ästhetik erhebt.
Hegel rekonstruiert die Konstitution der Landschaft aus einem produktiven
Vollzug des subjektiven Geistes qua Empfindung bzw. qua Stimmung.
Letztlich verläuft diese Rekonstruktion in Analogie zur Rekonstruktion der
„Betrachtung schöner Natur“, da die Bedeutung von „Landschaft“ ebenfalls
im Kontext der Analyse einer „gebildeten Anschauung“ gewonnen werden
muß. In diesem Zusammenhang muß deutlich werden, ob ein in einem
Stimmungsbezug
593
594
595
596
597
132
gegründeter
Naturvollzug
„Landschaft“
zur
Hartmut Scheible: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, Hamburg 1988, 308.
Ebd., 309.
Konrad Schüttauf: Die Kunst und die bildenden Künste. Eine Auseinandersetzung mit Hegels
Ästhetik, Bonn 1984, 173.
Vgl. hierzu die beispielhaft rekonstruierten Entdeckungsgeschichten europäischer Landschaften,
die Antonia Dinnebier in einem instruktiven Aufsatz versammelt hat: Antonia Dinnebier: Zur
Zukunft der ästhetischen Landschaft, in: Neue Kulturlandschaften, hg. von Hans Friesen und
Eduard Führ, Cottbus 2001, 55-69.
Vgl. insbesondere die im Ausstellungskatalog Wasser, Wolken, Licht und Steine. Die Entdeckung
der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800 (hg. von Klaus Weschenfelder und Urs
Roeber [Ausstellung Mittelrhein-Museum Koblenz, 25. August bis 3. November 2002], Heidelberg
2002) publizierten Aufsätze von Helmut Börsch-Supan: Die künstlerische Entdeckung der
Landschaften Europas in der Epoche der Aufklärung und der Romantik, 11-26 sowie Oskar
Bätschmann: Reflexionen über die Landschaftsmalerei um 1800 in Deutschland, 27-44.
Stimmungskulisse reduziert und welche Kritik Hegel gegen eine naive
Berufung auf Empfindungen und Stimmungen und eine damit einhergehende
subjektiv-substanzlose Landschaftsanschauung bringt (5.1).
In einem zweiten Schritt ist die „Darstellung schöner Landschaft“ in
unterschiedlichen Kunstgattungen zu untersuchen und zu zeigen, wie diese als
„Symbol des Menschlichen“ einen spezifischen Naturvollzug zur Darstellung
bringt. Dies geschieht in Analogie zur „Darstellung schöner Natur“ als
Symbol des Göttlichen. Hegel diskutiert in diesem Zusammenhang die
niederländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts. Hier wird Natur
nicht als bloße Natur, sondern als gestaltete Natur aufgegriffen und
dargestellt, d.h. als Landschaft, in der Natur und menschliche Naturnutzung
(„objektiver Geist“) und seine subjektive Vermittlung in der schönen
Darstellung eine historisch vermittelte Einheit bilden und zudem eine Form
des „absoluten Geistes eines Volkes“ sind. Kunst ist immer diese Einheit von
durch Produktion wie Rezeption des subjektiven Geistes objektiviertem und insbesondere
bei
der
niederländischen
Landschaftsmalerei
des
17.
Jahrhunderts - zudem „absoluten Geist eines Volkes“: nämlich Symbol der
eigenen Gestaltung der Welt durch Arbeit und der Orientierung durch eine in
der „Befreiung“ von der spanischen Grandezza gewonnenen eigenen
religiösen Auslegung (Protestantismus). Damit wird dem Umstand Rechnung
getragen, daß Natur überhaupt nur geschichtlich, also als vermittelte
zugänglich ist. Ein vermeintlich unvermittelter Zugang zu Natur führt nicht zu
dieser selbst, sondern verweist eher auf einen Vollzug des Betrachters, der
lediglich das in Natur projiziert, was seiner subjektiven Innerlichkeit
entstammt (5.2).
5.1
Anschauung schöner Landschaft
Die Frage, die sich im Hinblick auf eine „Anschauung schöner Landschaft“ in
Analogie
zur
„Betrachtung
schöner
Natur“
stellt,
lautet:
Welche
Voraussetzungen hat die „gebildete Anschauung“, wenn ein Betrachter im
Anschauen der Landschaft zum Urteil, sie sei „schön“598 veranlaßt wird.
598
Mit Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 108, der sich undifferenziert zu dem Ausruf „Oh
wie schön“ veranlaßt sieht. Diesen Ausruf entnimmt Adorno einem Vers von Friedrich Hebbels
„Herbstlied“, auf das er in der entsprechenden Anmerkung hinweist.
133
Hegel redet an einer Stelle in den Berliner Ästhetikvorlesungen ausdrücklich
über die „Schönheit einer Landschaft“599, er spricht also „Schönheit“ einem
Wahrnehmungsausschnitt der den Menschen umgebenden Natur zu. Als
Grund dieses Geschmacksurteils identifiziert Hegel einen spezifischen
Naturvollzug, der seinerseits von Voraussetzungen abhängt, die historisch
vermittelt sind und erst am Ende einer langen und verwickelten
Vermittlungskette stehen. Welche Voraussetzungen in die „gebildete
Anschauung“ der Natur integriert sind und gleichsam dazu führen, Landschaft
qua Naturanschauung ästhetisch zu ‚erzeugen’, läßt sich am besten durch
einen Blick auf die Vorgeschichte der „Landschaftsanschauung“600 zeigen.
Diese Rekonstruktion wird zudem Hinweise geben können, daß und wie
Hegel mit der Beschreibung und Kritik dieses Naturvollzuges auf
zeitgenössische Strömungen der Kunst und der Kunsttheorie reagiert und
diese Auseinandersetzung in seine „Kritik der Romantik“601 integriert.
5.1.1
Zur Vorgeschichte der Landschaftsanschauung
Natur
als
Landschaft
zu
sehen,
ist
historisch
gesehen
keine
Selbstverständlichkeit. Es bedurfte einer jahrhundertelangen Entwicklung, bis
das für eine ästhetische Landschaftsanschauung notwendige „landschaftliche
Auge“602 entsprechend gebildet war. Hier mögen einige Hinweise zur
Entwicklung und zum besseren Verständnis der Hegelschen Kritik an der
Darstellung der Landschaft als Form der „substanzlosen Subjektivität“ dienen.
Zum anderen muß eine genauere Bestimmung der Naturanschauung
entwickelt werden, die die Natur als „Landschaft“ erfaßt. In der
Rekonstruktion der Hegelschen Kritik an einer weltlosen empfindsamen
Landschaftsanschauung wird eine Komponente des Begriffs „Landschaft“
aufgegriffen, die neben anderen Bedeutungen steht.
Eine undifferenzierte Verwendung des Begriffs „Landschaft“ kann dazu
führen,
daß
Landespfleger,
599
600
601
602
134
dann,
wenn
Landschaftsökologen,
Landschaftsästhetiker,
Landschaftsplaner,
Geologen,
Geographen,
Hotho 1823, 62.
Dieser Begriff der „Landschaftsanschauung“ wird in dem wohl ersten Entwurf einer Geschichte
der Landschaftsästhetik entwickelt, die Wilhelm Heinrich Riehl 1850 mit der inzwischen
berühmten Studie über „Das landschaftliche Auge“ vorgelegt hat: In: Culturstudien aus drei
Jahrhunderten, Stuttgart 1862, 57-79.
Vgl. grundlegend zu dieser Kritik: Otto Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik, München 1999.
Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Das landschaftliche Auge.
Kunsthistoriker, Landschaftsarchitekten und Philosophen über „Landschaft“
reden, sie je über etwas anderes sprechen603. Vor allem in der Geographie
wurde der Begriff „Landschaft“ einer ausführlichen semantischen Analyse
unterzogen, derzufolge sich im deutschen Sprachgebrauch drei HauptBedeutungen
herauskristallisierten604:
(1)
Landschaft
als
territoriale,
politische und räumliche Bedeutungsvariante, (2) Landschaft als Bezeichnung
für die „künstlerische Darstellung eines so aufgefaßten Naturbildes“605, (3)
Landschaft als „ästhetisch und emotional aufgefaßtes Naturbild“606.
Die erste Bedeutung fächert sich auf in eine siedlungsräumliche, politische
und (abgeleitete) personenkollektive Bedeutungsvariante (die „Vornehmen“
einer Landschaft, „Landstände“, „Ständeversammlung“, „Ostfriesische“ oder
„Oldenburgische Landschaft“)607. Aus der primären Bedeutung von „größerer
Siedlungsraum mit gewissen historisch-sozialen Gemeinsamkeiten“ wurde
zum einen ein „streng politisch definiertes Raumwort (Landschaft,
Territorium, Provinz, Machtbereich eines Landesherrn u.ä.)“. Zum anderen
wurde „unter Wegfall der alten Bedeutungskonstituente ‘Siedlungsraum’ im
Spätmittelalter“ das Wort „Landschaft“ als Bezeichnung naturräumlicher
Einheiten ausgegliedert608 − eine zunehmende Verwendung dieses Wortes zur
Bezeichnung räumlicher Einheiten also. Indem schließlich immer häufiger
Landschaft mit Gegend − in der Bedeutung von „sinnlich, vor allem optisch
erfaßbare Umgebung“609 − gleichgesetzt wurde, konnte mit „Landschaft“
auch an kleinere und überschaubare Raumeinheiten gedacht werden610.
603
604
605
606
607
608
609
610
Ein erstes „Panorama der verschiedenen Landschaftsbegriffe“ ergibt sich aus den
Literaturhinweisen von Werner Flach: Landschaft. Die Fundamente der Landschaftsvorstellung,
in: M. Smuda (Hg.): Landschaft, Frankfurt am Main 1986, 11-28, hier 27, Anmerkung 16;
Hinweise zu den begriffsformierenden Beiträgen der Künste und Künstler im Hinblick auf
„Landschaft“: a.a.O., 26, Anmerkung 13; zum „geschichtlichen Wandel des Landschaftsbegriffs“:
a.a.O., 25, Anmerkung 1.
Vgl. hierzu G. Hard: Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der Geographen.
Semantische und foschungslogische Studien, Bonn 1970; zu den drei Bedeutungen: B. Kortländer:
Die Landschaft in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in:
‘Landschaft’ als interdisziplinäres Forschungsproblem. Hrsg. von A. H. von Wallthor und H.
Quirin, Münster 1977, 36-44, hier 36.
B. Kortländer, Die Landschaft in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19.
Jahrhunderts, ebd.
G. Hard, Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der Geographen, 34.
Vgl. G. Hard: Zu den Landschaftsbegriffen der Geographie. In: ‘Landschaft’ als interdisziplinäres
Forschungsproblem, 13-23, hier 13 f.
Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft, in: ‘Landschaft’ als interdisziplinäres
Forschungsproblem, 4-12; 9.
Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft, 9.
Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft, 9.
135
Die dritte Bedeutung von „Landschaft“ als „ästhetisch und emotional
aufgefaßtes Naturbild“ bzw. als ein optisch erfaßter Naturausschnitt ist auch
gegenwärtig
die
entscheidende
umgangs-,
vor
allem
aber
gebildetensprachliche Variante − abgesehen von der seit den 1970er Jahren
aufgekommenen ökologischen Bedeutung. Die geschichtlichen Wurzeln
dieser dritten Bedeutungsvariante liegen in der spätmittelalterlichen
Tafelmalerei des 15. und 16. Jahrhunderts und damit in der zweiten
Bedeutungsvariante. Dort galt „Landschaft“ als „Terminus technicus für das
einen Naturausschnitt darstellende Gemälde“611. Dieser Fachbegriff der Maler
bedeutete
„Landschaftsbild“,
„gemaltes
Konterfei“612,
„‘malerische
Darstellung eines Naturausschnitts’“613. Vom deutschen Südwesten gelangte
diese Bedeutungskomponente in die Niederlande614 („landschap“) und von
dort noch am Ende des 16. Jahrhunderts nach England. Das englische
„landscape“ bedeutet „‘Bild, das eine Landschaft darstellt’“ und ist, wie das
deutsche Wort „Panorama“, dem niederländischen „landschap“ entlehnt615.
Dieses sondersprachliche Fachwort wird dann gegen Ende des 18. und
Anfang des 19. Jahrhunderts in die „allgemeine Gebildetensprache“616
übernommen, vermittelt durch gehobene „Schöne Literatur“617.
Jakob Burckhardt hat in seinem bekannten Werk zur Kultur der
Renaissance in Italien618 gezeigt, wie für die italienische Renaissance ein
neues Naturverhältnis prägend wurde, das mit dem Konzept der Landschaft
verknüpft ist. Klassischer Topos für dieses neue Naturverhältnis ist die
berühmte Bergbesteigung des Mont Ventoux am 26. April 1335 durch
611
612
613
614
615
616
617
618
136
Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft, 9. Der entscheidende Text der
Sekundärliteratur zu diesem Nachweis, auf den sich dieser und andere Autoren stets berufen,
stammt von R. Gruenter: Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte, in: A.
Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975, 192-207. Vgl. auch B.
Kortländer, Die Landschaft in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19.
Jahrhunderts, 36 f.
G. Hard: Zu den Landschaftsbegriffen der Geographie, 14.
Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft, 9.
Vgl. hierzu auch: Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und
Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000.
Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft, 9.
Gerhard Hard: Zu den Landschaftsbegriffen der Geographie, 14; Gunter Müller: Zur Geschichte
des Wortes Landschaft; R. Gruenter: Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und
Bedeutungsgeschichte.
Vgl. zum Thema „Literatur und Landschaft“: B. Kortländer, Die Landschaft in der Literatur des
ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, ebd.
Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. (1859), Stuttgart 1976.
Francesco
Petrarca619,
mit
der
der
„im
christlichen
Kulturkreis“
wirkungsgeschichtlich entscheidende Schritt zur Entdeckung einer „Aussicht“
auf und über die Landschaft „als ästhetischen Wert“620 getätigt wurde.621
Entscheidend für die Ausbildung dieser neuzeitlichen Landschaftsanschauung
ist aber nicht nur die Entdeckung der Landschaft als Landschaft, sondern auch
und in eins damit „die Bedeutung der Landschaft für die erregbare Seele“622 −
d.h. der empfindsame Naturbetrachter623, der in einer Anschauung einen
Ausschnitt der den Menschen umgebenden Natur mit dessen einzelnen
aspekthaften Naturphänomenen allererst als Landschaft synthetisiert und
619
620
621
622
623
Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. Übersetzt und herausgegeben von Kurt
Steinmann, Stuttgart 1995.
Clemens Alexander Wimmer: Zur schönen Aussicht. Typologie und Genese einer ästhetischen
Erfahrung, in: Wege zum Garten. Gewidmet Michael Seiler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von der
Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Potsdam
2004, 30-36; 32.
Der Streit um die tatsächliche Bedeutung des Berichtes von Petrarca wird exemplarisch
ausgefochten zwischen den Autoren Ruth und Dieter Groh (Ruth und Dieter Groh: Petrarca und
der Mont Ventoux, in: Merkur, 46. Jahrgang (1992), 290-307 sowie dies.: Die Außenwelt der
Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur 2, Frankfurt am Main 1996) und den Thesen von
Joachim Ritter in dessen berühmten, wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Aufsatz über Landschaft
(Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1963),
in: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze, FaM 1974, 141-190). - In dem Aufsatz von Ruth und
Dieter Groh wird „das Bild des die Welt von oben betrachtenden Dichters“ letztlich „zu einem
wissenschaftlichen Trugbild, einem Phantasma“ (306) degradiert und der gesamte Briefbericht
Petrarcas als „Bekehrungsgeschichte“ (293) in der Tradition eines Antonius und Augustinus
interpretiert. Zudem werden die Beschreibungen als Metaphern und Allegorien in mittelalterlicher
Manier gedeutet. Wir schließen uns hier der Gegenkritik Viettas (S. Vietta: Die vollendete
Speculation führt zur Natur zurück, Leipzig 1995) an, derzufolge Epochenumbrüche stets mit
vielen alten und wenigen neuen Elementen und Figuren arbeiten. Entscheidend ist jener
„panoramatische Blick (…) auf die und über die Landschaft“ (Vietta, a.a.O., 217), der eben
tatsächlich spezifisch neuzeitlich und keineswegs mittelalterlich ist. – Der genannte Streit kann
auch als Fortsetzung eines älteren Streites verstanden werden, nämlich dem zwischen Ludwig
Friedländer und Heinrich Motz in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. In diesem Streit ging
es um die ästhetische Bedeutung der Bergbesteigungen in der Antike in ihrer Differenz zu und
ihrem Zusammenhang mit der neuzeitlichen Erfahrung von Natur als Landschaft. Vgl. hierzu
Reinhard Falter: Natur als Landschaft und als Gott. Fluß- und Berggötter in der Spätantike, in:
Rolf Peter Sieferle / Helga Breuninger (Hrsg.): Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und
Umwelt in der Geschichte, Frankfurt am Main / New York 1999, 137-179. − Zu dem Streit um die
Bewertung der Bergbesteigung Petrarcas gibt es eine instruktive Stellungnahme von Thomas Gil:
„Trotz der gegensätzlichen Standpunkte, die in dieser Debatte um die Entstehung der ästhetischen
Naturerfahrung vertreten worden sind, läßt sich folgendes Konsensfähiges festhalten. Die
ästhetische Naturerfahrung, die als ein Erlebnis von ‚Landschaft’ begrifflich gedeutet worden ist,
ist eine sehr voraussetzungsreiche Erfahrung, die nicht immer, d.h. nicht zu jeder Zeit, zu haben ist.
Sie setzt vieles voraus. Sie setzt eine Reihe von subjektiven Leistungen voraus, die mentaler Art
sind. Diese subjektiven Leistungen sind bestimmte Vorstellungen und Affektlagen, die individuellkollektiver Natur sind. (…) Die Realerfahrung von Natur, von Landschaft ist nicht eine primäre
Erfahrung. Sie ist durch Ideen, Vorstellungen, ja durch Weltbilder oder durch die Rezeption von
Kunstwerken aus Dichtung und Malerei präformiert und vermittelt“ (Thomas Gil: Der Begriff der
ästhetischen Erfahrung, Berlin 2000, 56f).
Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, 277.
Diesen Vorgang hat Joachim Ritter mit folgendem Satz zusammengefaßt: „Landschaft ist Natur,
die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist“
(Joachim Ritter: Subjektivität, 150). Vgl. auch Rainer Piepmeier: „Zum Sehen von Natur als
L[andschaft] gehört so korrelativ ein Subjekt, das Natur in einem besonderen Akt des Sehens zur
L[andschaft] macht“ (R. Piepmeier: Artikel: Landschaft, III.: Der ästhetisch-philosophische
Begriff, in: J. Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff.,
Bd. V, Spalte 17).
137
damit konstituiert624. Diese Synthetisierung ist aber nur möglich, wenn die
Betrachtung von Landschaft ohne Nützlichkeitserwägungen vollzogen wird.
J. Ritter weist auf diesen nutzzweckfreien Naturvollzug ausdrücklich hin,
wenn er betont: „Nicht die Felder vor der Stadt, der Strom als ‚Grenze’,
‚Handelsweg’ und ‚Problem für Brückenbauer’, nicht die Gebirge und die
Steppen der Hirten und Karawanen (oder der Ölsucher) sind als solche schon
‚Landschaft’. Sie werden dies erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne
praktischen Zweck in ‚freier’ genießender Anschauung zuwendet“625. Dann
aber - so Ritter - verändert „die Natur ihr Gesicht. Was sonst das Genutzte
oder als Ödland das Nutzlose ist und was über Jahrhunderte hin ungesehen
und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war, wird zum
Großen, Erhabenen und Schönen: es wird ästhetisch zur Landschaft“626.
Unschwer erkennt man die Kantische Idee eines „interesselosen
Wohlgefallens“ wieder, das als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“627 ebenfalls
von utilitären, zudem von moralisch-praktischen Erwägungen sowie von der
Frage nach der Wahrheit entlastet ist. Es wird sich aber in den weiteren
Überlegungen erweisen, daß eine Ästhetisierung der Landschaft, die den
Menschen in eine unvermittelte Opposition von genutzter (gesellschaftlich
bearbeiteter) Landschaft einerseits und von (nutz-)zweckfreier, durch
„interesseloses Wohlgefallen“ betrachteter Landschaft andererseits stellt, in
der
Gefahr
steht,
in
einen
substanz-,
d.h.
weltlosen
ästhetischen
Subjektivismus zu münden. Diese Gefahr und die Kritik daran hat Hegel in
seiner „Kritik der Romantik“ geahnt und antizipiert, weswegen es im Hinblick
auf diese Gefahr sinnvoll und erfolgversprechend sein könnte, an Hegel
anzuschließen.
Kants
ästhetisches
„Spiel
der
Erkenntniskräfte“
(Verstand
und
Einbildungskraft) steht wie jedes Spiel in der Gefahr, letztlich in Beliebigkeit
624
625
626
627
138
So behauptet etwa Georg Simmel, in diesem Konstitutionsakt werde es mit Hilfe spezifischer, an
eine besondere Betrachter- und/oder Deutungsperspektive gebundene Wahrnehmungsmuster
möglich, „ein Stück Boden mit dem, was darauf ist, als Landschaft anzusehen“, d.h., es werde
„eine in sich geschlossene Anschauung als selbstgenugsame Einheit empfunden“ (Georg Simmel:
Philosophie der Landschaft. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte,
Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susman hrsg. von Michael Landmann.
Stuttgart 1957, 141-152; hier 142). Dadurch, daß wir in diesem Konstitutionsakt „wirklich
Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen“ (147), entsteht somit
allererst Landschaft und stellt Landschaft „selbst schon ein geistiges Gebilde“ (150) dar.
Joachim Ritter: Landschaft, 150 f.
Joachim Ritter: Landschaft, 151.
KU, § 10.
und Unverbindlichkeit abzugleiten, ohne „die Sache selbst“628 (Hegel), d.h.
den als schön beurteilten Gegenstand zu erreichen. Dies ergibt sich aus dem
formalen Charakter der Geschmacksurteile, die nicht einen schönen
Gegenstand, sondern eine schöne Wirkung eines Gegenstandes im Subjekt
beurteilen. Das freie „Spiel der Erkenntniskräfte“ ist zwar „mit einem
Anspruche auf jedermanns Beistimmung, als ob es objektiv wäre“629
verbunden, aber die Intersubjektivität, d.h. die allen anderen potentiellen
Landschaftsbetrachtern
angesonnene
Allgemeinverbindlichkeit
des
Geschmacksurteils beruht lediglich auf der Verallgemeinerbarkeit der
Bedingungen der Möglichkeit des Naturvollzuges des Landschaftsbetrachters.
Obwohl das Geschmacksurteil (hier: „Diese Landschaft ist schön“) in diesem
Sinne intersubjektive Gültigkeit beanspruchen kann, ist es keineswegs
objektiv gültig. Es bleibt aufgrund seines formalen Charakters an einen
individuell-subjektiven Naturvollzug gebunden.
Wenn das Ästhetische solcherweise aber nur das individuell-Subjektive ist,
darauf hat beispielsweise J.H.J. Schneider gegen Ritter hingewiesen, dann
führt dies zur „Auflösung, Zersplitterung bis hin zu nicht mehr vermittelbaren
individuellen Sichtweisen auch noch des ästhetischen Naturverständnisses“630.
Statt eines solchen individuell-subjektiven, zumeist über Empfindungen
vermittelten und häufig weltlosen, weil um sich selbst kreisenden
Naturbezuges gilt es dann aber, den Naturvollzug im Sinne eines substantiellsubjektiven Naturbezuges zu fassen, der die Landschaft nicht zum Spiegel
individueller,
an
Stimmungen
und
Empfindungen
geknüpfter
Betrachtungsweisen depotenziert, sondern als Teil menschlicher Kultur,
nämlich als „Kulturlandschaft“ begreift.
„Kulturlandschaft“ in diesem Sinne ist „objektiver Geist“, sie gehört zu
einer vom Menschen gestalteten, auf humane Ziele abgezweckten Umwelt.
Hegel sieht in der Niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts
einen in Kunst vermittelten Naturvollzug, der Landschaft als gestaltete Natur,
damit als „objektiven Geist“ aufgreift und gleichzeitig dementsprechend als
628
629
630
Hotho 1823, 15.
KU, § 32.
J.H.J. Schneider in einer Diskussion mit Rolf Peter Sieferle und Jean-Pierre Wils über „Hat es
einen Sinn, über den Sinn von Natur zu reden?“, in: Natur als Erinnerung? Annäherung an eine
müde Diva, hg. von Jakob Hans Josef Schneider, Rolf Peter Sieferle und Jean-Pierre Wils,
Tübingen 1992, 159-200; 185.
139
Form der Weltdeutung („absoluter Geist eines Volkes“) darstellt. Das heißt, in
den Bildern der Niederländer wird deren „Weltanschauung“ vermittelt.631 Die
Niederländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts hat demnach das
„Interesse“, die „substantielle Weise des Bewußtseins eines Volkes
darzustellen“632.
Diese
„substantielle
Weise“
633
Ästhetikvorlesungen „Weltanschauungen“
nennt
Hegel
in
den
. In ihnen vermittelt sich die
spezifische Sicht der Welt eines historischen Volkes auf dem Boden einer
spezifischen Erfahrung von Welt. Diese Weltanschauung verdankt sich dem
künstlerischen Vollzug einer subjektiven Rekonstruktion von Welterfahrung,
die zur Konstruktion einer geschichtlichen Welt im Bild führt. Mit Hegel: Der
„Stoff“ dieser Bilder „ist aus ihrem Leben“634. Die Niederländer haben „das
Ihrige zum Zweck ihrer Darstellung gemacht, ihre Freude davon gehabt“635.
In diesem Naturvollzug manifestiert sich demnach ein geschichtliches,
politisches und sittliches Selbstbewußtsein in der Darstellung des Äußerlichen
und Natürlichen, das sich zugleich in diesem Äußerlichen wiederfindet. In
den Landschaftsbildern der Niederländer manifestiert sich ein affirmatives
Weltverhältnis neuzeitlicher Subjektivität, die die bearbeitete und angeeignete
Natur zu einer humanen Zwecken untergeordneten Landschaft als Umwelt
gestaltet hat.
Bereits die bloße Wahrnehmung von „Landschaft“ erfordert also einen
einzelne
Naturphänomene
zu
einer
Anschauungseinheit
formenden
Naturvollzug, im Sinne Hegels im Rahmen einer „gebildeten Anschauung“.
Um einen Ausschnitt aus dem einen Betrachter umgebenden Naturraum als
„Landschaft“ wahrzunehmen, bedarf es eines speziellen auswählenden,
kombinierenden und bedeutungsstiftenden Blickes auf diesen Raum.
Entscheidende Voraussetzung hierfür ist die Befreiung der Wahrnehmung aus
der Distanzlosigkeit zur Natur. Erst als „Freigelassene der Natur“ (Herder) auf
631
632
633
634
635
140
Dieser Aspekt wurde ausführlich untersucht in K. Berr: Hegels Bestimmung der
Landschaftsmalerei. In: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste.
Hrsg. von A. Gethmann-Siefert, B. Collenberg-Plotnikov und Lu de Vos. München (Fink Verlag)
2004, 189-209; vgl. dort insbes. Kap. 4.2 „Landschaftsmalerei als Vermittlung einer
Weltanschauung“. - Vgl. auch die weiterführenden Hinweise in Kap. 5.2.1.3. „Niederländische
Landschaftsmalerei als ‚Symbol der Sittlichkeit’“ in vorliegender Arbeit.
Hotho 1823, 203.
Hotho 1823, 203. - In der Ästhetikvorlesung von 1823 spricht Hegel allgemein von
„Weltanschauungen“ und speziell von „orientalischer Weltanschauung“ (Hotho 1823, 203). In der
Ästhetikvorlesung von 1826 spricht Hegel von „ägyptischer Weltanschauung“ (Pfordten 1826,
125), „jüdischer Weltanschauung“ (a.a.O., 128) und „äußerlicher Weltanschauung“ (a.a.O., 195).
Libelt 1828/29, Ms. 59.
Libelt 1828/29, Ms. 59.
dem Boden kulturell errungener Freiheit von Naturzwängen ist eine gewisse
Distanz zur Natur und damit die Erfassung der Natur als Landschaft möglich.
Der entscheidende Prozeß fortschreitender Distanzierung von Natur setzte
mit den mittelalterlichen europäischen Städtegründungen insbesondere im
Zeitraum zwischen 1150 und 1500 ein.636 Bedeutsam für diesen Prozeß war
die Verschmelzung des Dorfes mit der Landschaft im Gegensatz zur
ummauerten Stadt. Vor diesem Prozeß lebten die Menschen noch in
distanzloser Nähe zur Landschaft und zum und mit dem dörflichen Leben.637
Im Mittelalter gab es demnach noch keine ästhetische Erfahrung von realen
Landschaften, weil diese erst gar nicht ins ästhetische Blickfeld eines
Naturbetrachters geraten konnten. Einzig der allegorische Garten in Dichtung,
Minnesang und Malerei sowie der „Baumgarten“ des höfischen Rittertums
treten an die Stelle dessen, was erst später ausdrücklich als „Landschaft“
erfahren werden konnte.
Der „Baumgarten“ ist ein umzäunter oder umbauter Wiesenplatz mit
einigen Bäumen, der zumeist innerhalb der Burg lag. Wesentliche
Gartenelemente sind Bäume, Rasen (Gras) und ein Brunnen oder eine Quelle.
Werden in Dichtung oder Bild zusätzlich Blumen wie Rosen, Veilchen und
Lilien sowie Vögel genannt oder dargestellt, dann sind das die klassischen
Elemente der antiken Ideallandschaft638 bzw. des antiken Lustortes („locus
amoenus“).639 Wichtige weitere Elemente sind Rasenbänke und Gartenlauben.
Lauben boten Schutz vor Sonne und unerwünschten Blicken und waren
häufig mit Rosen oder Wein berankt. Rasenbänke bestanden aus sitzhohen
Mauern, die mit Rasensoden bedeckt waren. Auch Holz- oder Steinbänke sind
636
637
638
639
Als begrenzte Auswahl an Forschungsliteratur zur deutschen und europäischen Stadtgeschichte im
ausgehenden Mittelalter seien genannt: H. Planitz: Die Deutsche Stadt im Mittelalter - Von der
Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen. Graz/Köln 1954; H. Boockmann: Die Stadt im späten
Mittelalter, München 1987; F. Irsigler: Stadt und Umland in der historischen Forschung. Theorien
und Konzepte, in: Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft. Stadt-Land-Beziehungen in
Deutschland und Frankreich. 14.-19. Jahrhundert, hg. von Neithart Bulst, Joachen Hoock und
Franz Irsigler, Trier 1983, 13-38; A. Heit: Die mittelalterlichen Städte als begriffliches und
definitorisches Problem, in: Die Alte Stadt 5 (1978), 350-408; Die Stadt des Mittelalters, Bd. 1, hg.
von Carl Haase (Wege der Forschung 243), Darmstadt 1969; L. Benevolo: Die Stadt in der
europäischen Geschichte, München 1993.
„Erst im Zuge der Verhofung und Urbanisierung wurden Felder und Dörfer, Wiesen und Berge zu
einem Gegenbild“ des in städtischen Räumen lebenden Menschen (Norbert Elias: Die höfische
Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1969, 342).
Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, zweite,
durchgesehene Auflage Bern 1954, Kapitel 10: Die Ideallandschaft, 191-209.
„Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese
und einem Quell oder Bach. Hinzutreten können Vogelgesang und Blumen“ (Ernst Robert Curtius:
Die Ideallandschaft, § 6. Der Lustort, 202.
141
überliefert. Einfriedigungen aus verschiedensten Materialien sowie Gartentore
als Binnen- und Außentore spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Wege
waren nicht vorhanden. Man ging einfach über die Rasenflächen.
Dem Baumgarten ähnelt in Anlage und Nutzung die baumbestandene
Blumenwiese (Anger). Es ist eine gartenähnliche Fläche, die auch wie ein
Garten genutzt wurde und meistens nicht eingefriedet war. Der wesentliche
Unterschied zwischen Baumgarten und Anger besteht darin, daß der
Baumgarten etwas von vornherein Geschaffenes ist. Der Anger befand sich
am Fuß oder am Bergabhang der Burg. Er wird beschrieben und dargestellt
als schlichtes, von Waldstücken umgebenes Wiesenstück oder als natürlicher,
aber mit allen Elementen des Baumgartens ausgestatteter und mit Mauern
umbauter Landschaftsteil. Für das Naturgefühl der ritterlichen Gesellschaft
waren Garten und Landschaft demnach teilweise austauschbar und fast
gleichrangig. Unter Landschaft verstand man eine gartenhafte Landschaft,
nicht aber die ‚wilde’ Natur. Diese wurde zumeist als etwas Fremdes oder gar
Feindliches empfunden.640
Ein
Landwirt,
der
in
Überlebensnotwendigkeiten
die
Teilnehmerperspektive
der
landwirtschaftlichen
einer
an
den
Naturaneignung
orientierten Lebensweise eingespannt ist, sieht nur das zu bestellende Feld,
den Acker, die Wiese, den Hain, den Heuschober, nicht aber die Landschaft.
Landschaft hingegen ist „mehr“ als die Nutzzwecken unterstellte Summe von
Äckern, Feldern und Wiesen. Die Voraussetzung für dieses „Mehr“, die die
angesprochene Synthese einzelner Naturphänomene zu Landschaft in der
Neuzeit ermöglicht und befördert, ist die Stimmung bzw. Empfindung des
Naturbetrachters.641
Die Möglichkeiten des neuen Naturverhältnisses wurden dann vorerst
weiterentwickelt durch die Landschaftsmalerei642, und zwar wiederum im
Italien der Renaissance. Einige „Künstler“ erahnten und antizipierten bereits,
daß es „außer dem Forschen und Wissen (...) noch eine andere Art [gab], der
640
641
642
142
Vgl. hierzu insbesondere Dieter Hennebo: Gärten des Mittelalters, München 1987 sowie
ergänzend Karsten Berr: Lustgärten und allegorische Gärten im hohen Mittelalter, in: Der
Gartenbau, Solothurn (Schweiz), Heft 9/2001, 32-34.
Nochmals mit J. Ritter: „Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und
empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist“ (Joachim Ritter: Subjektivität, 150).
Der entscheidende Durchbruch gelang Ambrogio Lorenzetti in den Jahren 1338-40 mit seinen die
Landschaft um Siena darstellenden Fresken „Die Folgen des guten Stadtregimentes“.
Natur nahezutreten“643, d.h. der Natur als Landschaft. In Italien entwickelte
sich daraufhin eine naturgetreuere Darstellung von Landschaft, die die
mittelalterliche
symbolisch-allegorische
Darstellung,
bei
der
etwas
Dargestelltes auf etwas anderes, nämlich zumeist auf einen religiösen
Bedeutungsgehalt verweist644, allmählich ablöst. Vermittelt über die
spätmittelalterliche
Südwestdeutschland
Tafelmalerei
und
über
des
die
15.
und
16.
holländische
Jahrhunderts
und
in
englische
Landschaftsmalerei des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts
ergibt sich eine Entwicklungslinie bis hin zur für Hegel relevanten
niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts.
„Landschaft“ im Sinne der oben genannten zweiten Bedeutungsvariante als
Landschaftsbild gelangt im Zuge der erwähnten Verbreitung und dem
„verallgemeinerten Interesse an der Landschaftsmalerei (...) im späten 18. und
frühen 19. Jahrhundert aber in die allgemeine Gebildetensprache“645, nämlich
auf eine gehobene literarische Sprachebene. Die Dichtung bedurfte also der
Vorarbeit der Landschaftsmalerei, um sich zuerst den in Bildern dargestellten,
erst später den realen Landschaften zuzuwenden. Die zuerst entstehenden
dichterischen Beschreibungen dienten letztlich dem Bestreben, „die Realität
mit den Augen des Malers und so auch die Natur mit den Augen des
Landschaftsmalers zu sehen“646. So kam es letztlich dazu, daß „auch der mit
landschaftlichem Auge wahrgenommene Wirklichkeitsausschnitt (und nicht
nur sein künstlerisches Abbild) Landschaft genannt“647 wurde. Überall dort
also, wo wir „auf dichterische Landschaftsbilder stoßen, handelt es sich (...)
um Übernahmen der vom Maler formulierten Landschaft in die Dichtung.
Über das Wort ist auch die Sache aus der Malerei in die Dichtung
eingedrungen. Die Landschaft ist in der Geschichte des Gebens und Nehmens
643
644
645
646
647
Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, 274.
Norbert Schneider hat in seinem Buch über die Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom
Spätmittelalter bis zur Romantik, Darmstadt 1999, zahlreiche Beispiele für symbolisch-allegorische
Darstellungen in der Landschaftsmalerei angeführt. Exemplarisch seien hier Giovanni Bellini:
Allegoria sacra, um 1480 (a.a.O. 30ff) für das Quattrocento sowie Lorenzo Lotto: Allegorie, 1505
(a.a.O. 38ff) für das Cinquecento genannt.
Gerhard Hard: Zu den Landschaftsbegriffen der Geographie (1. Die Herkunftsbeziehungen zur
„Gemeinsprache der Gebildeten“), in: ‘Landschaft’ als interdisziplinäres Forschungsproblem,
Münster 1977, 13-23, hier 14.
Ebd.
Ebd.
143
zwischen Dichtung und Malerei auf der Seite der Malerei zu buchen“648. So
könnte
man
also
mit
Rainer
Gruenter
sagen,
„dichterische
Landschaftsschilderung (...) beginnt mit der literarischen Entdeckung des
Landschaftsgemäldes“649. Natürlich ist das nur eine Seite des Problems,
selbstverständlich schöpft die Dichtung über Landschaft aus einem tradierten
Formenschatz der antiken und mittelalterlichen Poetik, in deren Einwirkung
die Dichtung stets verbleiben muß und der ihr „zum mindesten thematische
Grenzen zieht“650.
In einem weiteren Entwicklungsschritt wird die dichterische Landschaft in
der Romantik schließlich „zum großartigen Seelensymbol erhoben wie bei
Heinse, Goethe, Jean Paul, Hölderlin, Eichendorff und Stifter. Für die
Romantik (...) ist in der ‘subjektiv einmaligen Stimmung die Anschauung der
Landschaft’ begründet. Landschaftsdarstellung ist ‘Stimmungskunst’“651. Das
Musterbeispiel für diese Stimmungskunst, die die reale Landschaft
zunehmend zum bloßen Spiegel subjektiver Empfindungen depotenziert und
als „Stimmungslandschaft“652 ins Innere des empfindsamen Subjekts verlegt,
ist Goethes Werther653. Im Sturm und Drang und insbesondere im
romantischen Kult der Empfindsamkeit654 führt diese Entwicklung dann zu
einer Natursehnsucht, die kaum noch zwischen der eigenen empfindsamen
Beseelung und der Projektion seelischer Zustände in Naturerscheinungen
unterscheiden kann. Die Folge ist ein Pantheismus, eine gesuchte
naturmythische Verschmelzung von „Subjekt und Objekt“, von „Ich und
648
649
650
651
652
653
654
144
R. Gruenter: Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte, 203f.
(Hervorhebungen im Original).
Ebd. (Hervorhebungen im Original).
A.a.O., 206. - Vgl. auch Ernst Robert Curtius: Die Ideallandschaft.
A.a.O., 207 (Hervorhebungen: K.B.).
„Eines der wichtigsten Kapitel im Naturgefühl des 18. Jahrhunderts ist das Eindringen des
Subjektivismus in die Landschaftsschilderung, das Durchseeltwerden der Landschaft, die
seelenhafte Beziehung des Menschen zur umgebenden Natur, das also, was man später als
‚Stimmungslandschaft’ zu bezeichnen pflegt“ (August Langen: Verbale Dynamik in der
dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts. In: Landschaft und Raum in der
Erzählkunst, Darmstadt 1975, 112-191; 152).
„Der neue Seelenmensch in der neuen Seelenlandschaft, das ist wie im Werther die Grundhaltung“
(August Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18.
Jahrhunderts, 160). − J.W. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, Stuttgart 1985.
Als eine kleine Auswahl der Forschungsliteratur zu diesem Thema seien genannt: Wolfgang
Doktor: Die Kritik der Empfindsamkeit. Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und
Literaturwissenschaft, Reihe B, Untersuchungen 5, Frankfurt am Main 1975; Gerhard Sander:
Empfindsamkeit, Band I. Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974; Renate Krüger: Das
Zeitalter der Empfindsamkeit, Leipzig 1972; W. Huschke/W. Vulpius: Park um Weimar, o.O.
1965.
Welt“ in einer ‚Unio mystica’.655 Es entstand ein Empfindsamkeits- und
Gefühlskult, der eine Übereinstimmung von Natur und menschlicher
Empfindung gewährleisten sollte.
Im Blick auf diese Entwicklungen erweist sich die Landschaftsmalerei als
historische Voraussetzung für eine an Empfindungen und Stimmungen
geknüpfte ästhetisch-emotionale Betrachtung der Landschaft in der Neuzeit.
Allerdings steht - nach Hegel - dieser empfindsame Naturvollzug in der
Gefahr, sich in einem substanzlos-subjektiven, d.h. in einem in sich selbst
kreisenden weltlosen Verhältnis des Menschen zur Landschaft zu erschöpfen.
Dies gilt sowohl für eine ästhetische Betrachtung von Landschaft als auch für
die Darstellung der Landschaft in verschiedenen Künsten. Es bleibt zu prüfen,
ob Hegel ein solches Verhältnis zu Landschaft auch in der Darstellung von
Landschaft zurecht unterstellt bzw. diese aus nachvollziehbaren Gründen
kritisiert.
5.1.2
Landschaftsanschauung als gestaltete Anschauung
Bei der Rekonstruktion der verschiedenen Weisen der „Betrachtung schöner
Natur“ ließ sich bereits zeigen, daß die unorganische Natur als schön
erscheinen kann, insofern in ihr die Regelmäßigkeit der Gestalten den
Betrachter „verwundern“656 kann. Gestalten der organischen Natur gefallen
als
„schön“
oder
mißfallen
als
„unschön“
durch
habitualisierte
Sehgewohnheiten und durch die bloße Ahnung des Vorhandenseins oder des
Fehlens eines notwendigen einheitsstiftenden Zusammenhangs in der
Organisation, d.h. in der Bildung der Gestalt.
Handelt es sich bei diesen Phänomenen jeweils um Einzelgestalten der
Natur, haben wir - so Hegel - mit der „Landschaft“ „keine organischen
Gebilde vor uns (...), sondern eine Mannigfaltigkeit, die zusammenkömmt“657.
Die „Schönheit einer Landschaft“658 verdankt sich nicht der verborgenen,
erahnten oder durch Gewohnheit antizipierten Zusammenstimmung der Teile
655
656
657
658
So zeigt August Langen, wie Natur und Mensch den romantischen Dichtern gleichermaßen
„beseelt“ erscheinen. Der Mensch ist demzufolge „durch nichts mehr von ihr [der Natur]
geschieden, ihr Gewächs und Geschöpf wie Blume und Tier, ein Teilchen des Alls, von seinem
Atem durchweht und von seiner Seele beseelt“ (August Langen: Verbale Dynamik in der
dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts, 170).
Hotho 1823, 61.
Hotho 1823, 62.
Hotho 1823, 62.
145
eines Ganzen. Hier ist die Zusammenstimmung vielmehr „äußerlich
imponierend oder zufällig“. Was den Betrachter an der Landschaft interessiert
und diese als schöne beurteilen läßt, sind „Bestimmungen, die ganz die
Bezüglichkeit solcher Gegenstände auf das Gemüt betreffen“. Hegel nennt als
Beispiele für solche Bestimmungen die „Stille“ der Mondnacht und die
„Erhabenheit“ des Meers.
Im
Falle
der
Landschaftsanschauung
ist
der
zugrundeliegende
Naturvollzug demnach an Voraussetzungen gebunden, die ausdrücklich „in
der erweckten Gemütsstimmung“ liegen. Eine solche Gemütsstimmung
„gehört diesen Gebilden der Natur selbst nicht mehr an, sondern ist in einem
anderen zu suchen“659, und zwar in der „Empfindung“, einer von Hegel
ambivalent eingeschätzten Vollzugsform des subjektiven Geistes. Nur durch
einen solchen Bezug auf das „Gemüt“ qua Empfindung kann Natur zu
Landschaft idealisiert, d.h. im und durch den Naturvollzug konstituiert und in
der Anschauung als schön erfahren werden. Die unmittelbar wahrgenommene
Landschaft, d.h. die noch nicht stimmungsmäßig aufgefaßte Landschaft, ist
dem menschlichen Geiste gleichgültig. Erst über Empfindungen weckt
Landschaft
ästhetisches
Wohlgefallen
(mit
Kant:
„interesseloses
Wohlgefallen“), indem nutzzweckfreie Stimmungen, Empfindungen, Affekte
und Gefühle den Naturvollzug bestimmen. Landschaft kann damit aber auch,
was zu zeigen sein wird und was Hegel kritisiert, von vornherein als bloße
Stimmungskulisse gestaltet und rezipiert werden.
Mit einigen in die gleiche Richtung zielenden Überlegungen, die Hegel im
Malereikapitel der Ästhetikvorlesung von 1823 vorträgt, läßt sich der Bezug
zum „Gemüt“ näher bestimmen. Auch die Malerei - so Hegel - hat
grundsätzlich eine „Beziehung auf das Gemüt“660. Die Malerei tritt nämlich,
weil
sie
zur
661
Geistigkeit“.
Subjektivität
fortschreitet,
„in
die
Besonderheit
der
Dementsprechend haben die Besonderheit und „das
Vorüberfliehende der Charaktere“ Platz in der Malerei, so daß sie
„unbestimmtere Vorstellungen“ hervorbringt, „die in die Empfindung
659
660
661
146
Hotho 1823, 62.
Hotho 1823, 249.
„Die Malerei jedoch geht zur Subjektivität fort, denn der Geist ist wesentlich Subjektivität als fürsich-seiend, wodurch sie jener substantiellen [Kunst] gegenübertritt und in die Besonderheit der
Geistigkeit tritt“ (Hotho 1823, 248).
fallen“662. Das bedeutet: „In der Malerei wird die empfindende Subjektivität
frei. Es ist also auf die Empfindung, daß die Malerei sich bezieht“663. Die
Malerei kann nun in den Kreis der möglichen Darstellungsgegenstände „alles
aufnehmen“, wodurch sie zum einen „viel anthropomorphistischer“ wird, da
der Bezug auf das Gemüt bzw. auf die Subjektivität die Wahl der
Gegenstände insbesondere in die Darstellung des Prosaisch-Menschlichen
führt. Aber auch das Natürliche, und dies ist der entscheidende Punkt, „findet
in ihr [der Malerei] eine Stelle“.664
Da die Malerei Hegel zufolge alle Gegenstände darstellen kann, stellt sich
ihm die Frage, „welche wahrhafte Bestimmung vorzüglich von der Malerei
aufgenommen werden könne, oder welcher Charakter des Idealen in der
Malerei stattfinde“665. Seine Antwort definiert als Ideal der Malerei „das
Romantische“, in dem die Subjektivität die „Grundbestimmung“ ausmache,
d.h. die „geistige Innigkeit“666. Diese geistige Innigkeit differenziert Hegel
nach ihrem „verschiedenen Inhalt“. „Höchster Gegenstand“ ist die
„begierdelose, religiöse Liebe667. Die „Innigkeit“ kann sich aber auch „bei
bloß natürlichen Gegenständen einfinden“668 sowie drittens „bei für sich ganz
unbedeutenden Gegenständen“669, was Hegel insbesondere am Beispiel der
Niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts erörtert.670
Entscheidend für die Frage nach dem Bezug auf das „Gemüt“ ist der
Hinweis
auf
die
„geistige
Innigkeit“
als
Charakteristikum
des
„Romantischen“. Damit ist der kulturelle Hintergrund angesprochen, der in
jedem neuzeitlichen Naturvollzug als Grundlage der Landschaftskonstitution und zwar in der Landschaftsanschauung wie in der Landschaftsdarstellung wirksam ist.
662
663
664
665
666
667
668
669
670
Die Malerei „hat Beziehung auf das Gemüt, denn ihre Objektivität ist nicht die der Substantialität,
und so stellt sie mehr das Subjektive nicht auf das objektiv Bestimmte des Geistes, bringt nicht so
bestimmte Anschauungen des Göttlichen hervor, sondern unbestimmtere Vorstellungen, die in die
Empfindung fallen“ (Hotho 1823, 249).
Hotho 1823, 249.
Hotho 1823, 249.
Hotho 1823, 252.
„Das Ideal der Malerei ist das Romantische, wo die Subjektivität, die für sich ist, die
Grundbestimmung ausmacht, geistige Innigkeit“ (Hotho 1823, 253).
Hotho 1823, 253.
Hotho 1823, 255.
Hotho 1823, 256.
Vgl. A. Gethmann-Siefert: Hegel über Kunst und Alltäglichkeit. Zur Rehabilitierung des
ästhetischen Genusses. In: Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen
Ästhetik. Sonderheft des Jahrgangs 2005 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine
Kunstwissenschaft. Hrsg. von Ursula Franke und Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 2005,
37-63.
147
Berge und Täler, der Himmel, Mond- und Sonnenschein müssen also
„nach irgendeinem Bedürfnis erfaßt werden; nach der Unmittelbarkeit werden
sie nur wahrgenommen, nicht empfunden“671. Erst dadurch gewinnen der
„Mondschein, das ruhige Meer (…) ein Verhältnis zur Seele“. Erst dann
nimmt der Mensch „in ihnen einen Charakter wahr, der ihr [sc. der Seele]
entspricht“672. Es ist dieses Entsprechungsverhältnis zwischen Landschaft und
Subjekt (ob es als Landschaftsmaler oder als Betrachter von Landschaft
aufgefaßt wird) qua Empfindung, das Hegel dazu führt, Natur als Landschaft
in seiner Ästhetik zu berücksichtigen. Vermittels eines Naturvollzuges unter
der Voraussetzung integrierter und den Vollzug bestimmender Empfindungen
und Stimmungen kann Landschaft zum Gegenstand einer Anschauung wie
Darstellung werden. Der Gegenstand der Betrachtung wird nicht als solcher,
sondern als ein den genannten Voraussetzungen (Interessen des Betrachters)
‚anverwandelter’ (in Hegels Sprache: „idealisierter“ bzw. „vergeistigter“)
Gegenstand angeschaut.
Wie auch immer der Mensch „die vorgefundene Äußerlichkeit und sich
selbst als ein Natürliches zu verändern, ihnen sein Siegel aufzudrücken“
versucht – ob direkt durch Schmuck, Bildung, Dekoration und Kunstwerke
oder indirekt durch die Erfahrung der Natur in Empfindung, Gefühl,
Stimmungen und Gedanken – stets tut er dies, „um aus der Gestalt der Dinge
sich selbst wiederzuerkennen“673. Das heißt − um das bereits genannte
Beispiel Hegels von der „unendlich ruhige[n] Tiefe des Meers“ wieder
aufzugreifen –, die „Ruhe“ des Meeres ist eine Stimmung, die ein Betrachter
in die Natur projiziert, um dann in ihr ebendiese Stimmung wiederzuerfahren.
Diese „Wiedererkenntnis“ des Geistes im Anderen seiner selbst durch die
‚Anverwandlung’ der Natur an die in den Naturvollzug integrierten
Voraussetzungen gewährt eine „Befriedigung“, trifft also ein Interesse des
Geistes (hier: des Menschen, insofern er Landschaft betrachtet oder
reproduziert).
Festzuhalten ist an dieser Stelle, daß für Hegel bereits die anscheinend
voraussetzungslose
Anschauung
von
Landschaft
Resultat
eines
an
Stimmungen, Empfindungen und Gefühle geknüpften Naturvollzuges ist. Um
671
672
673
148
Hotho 1823, 255.
Hotho 1823, 255.
Hotho 1823, 13.
einen Ausschnitt aus dem einen Betrachter umgebenden Naturraum als
„Landschaft“ wahrzunehmen, bedarf es eines speziellen auswählenden,
kombinierenden und sinnstiftenden Blickes. „Landschaftsanschauung“ läßt
sich in diesem Sinne als „gestaltete Anschauung“ definieren, in Analogie zum
Konzept einer „gebildeten Anschauung“. Das Moment der Gestaltung im
Begriff einer „gestalteten Anschauung“ liegt im produktiven Naturvollzug im
Sinne einer in der Anschauung erreichten Synthese von Einzelnem
(Naturgegenstände) zu einer Einheit (Landschaft). Landschaft ist ein Bild, sie
verdankt sich dem Blick eines Betrachters, sie entsteht – metaphorisch
ausgedrückt – „im Kopf“674. „Gestalte Anschauung“ von Natur zu Landschaft
ist in diesem Sinne die wahrnehmungsästhetische „Vorform“675 eines
Kunstwerks.
5.1.3
Hegels Kritik an der Landschaft als Stimmungskulisse
Die Empfindung „als die erste unmittelbarste Weise, in der etwas erscheint“,
ist eine Form des subjektiven Geistes, deren Inhalt zwar noch nicht „zur
Freiheit vernünftiger Geistigkeit bestimmt ist“, wiewohl aller Inhalt des
Geistes seine „Quelle und Ursprung“ in der Empfindung hat676. Da in der
Empfindung „nicht die Sache selbst betrachtet“ wird, „sondern das Subjekt in
seiner Besonderheit (…) darin erhalten“677 ist, handelt es sich bei einem
ausschließlich empfindsamen Vollzug der Natur qua Landschaftsbetrachtung
oder Landschaftsmalerei um eine Form der „substanzlosen Reflexion seiner in
sich selbst“678. Hegel unterzieht diesen Naturvollzug daher seiner Kritik der
„substanzlosen Subjektivität“ der Romantik.
Der Bezug oder gar eine Berufung auf „Empfindung“ führt also zu einem
Folgeproblem. Es besteht die Möglichkeit, daß ein in einem solchen
Stimmungsbezug gegründeter Naturvollzug Landschaft gleichsam zur
Stimmungskulisse – im Sinne einer „Stimmungslandschaft“679 – reduziert und
674
675
676
677
678
679
O. Löfgren: Die wahre Landschaft ist im Kopf, in: Topos. European Landscape Magazine,
Kulturlandschaft Heft 6/1994, 6.
Georg Simmel: Philosophie der Landschaft, 148. Vorher schon heißt es: „Wo wir wirklich
Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein
Kunstwerk in statu nascendi“ (a.a.O. 147).
Enz 1830, § 400.
Hotho 1823, 15.
GW 9, 12.
August Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18.
Jahrhunderts, 152.
149
sich die Betrachtung der Landschaft lediglich in einer an Stimmungen,
Empfindungen, Affekte und Gefühle geknüpften Sicht erschöpft. Der Bezug
auf Empfindung führt zu einer Rückspiegelung des Ich in sich im Durchgang
durch eine Natur qua Gemütserregung, ist in diesem Fall durch einen Mangel
an Substantialität, d.h. Sachhaltigkeit gekennzeichnet. Der Naturvollzug qua
Empfindung zielt zwar auf inhaltliche Vermittlung mit Natur ab, aber die
erhoffte inhaltliche Vermittlung mit Sachhaltigem kann dennoch verfehlt
werden, wenn und insofern der vermeintliche Natur- qua Landschaftsbezug
ausschließlich in einer subjektiv-individuellen Betrachtung besteht. Es droht
bei einem solchen Naturvollzug die Gefahr, in eine ‚leere Träumerei‘
abzusinken.
Eine ähnliche Gefahr besteht im Übrigen Hegel zufolge bei der
Instrumentalmusik sowie in der Lyrik, insbesondere der „Idylle“680, die sich
seines Erachtens meistens auf einen „Privatzustand“681 beschränkt. Was die
Instrumentalmusik anbelangt, so kann auch diese – insbesondere den „Laien“
– „möglicherweise zu einem Schwelgen im Gefühl“682 verleiten. Solche
Musik kann und sollte eher als „Kunst des leeren Träumens“683 bezeichnet
werden.
Um
ein
solches
substanz-,
d.h.
weltloses
Schwelgen
in
Empfindungen und Gefühlen zu vermeiden, bedarf es einer geistigen Lenkung
der musikalisch erregten Gefühle, die mittels des Wortes zu erfolgen hat.684
Auch an anderen Stellen innerhalb der Ästhetikvorlesungen sowie innerhalb
der Phänomenologie des Geistes und der Enzyklopädie hat Hegel auf die
Ambivalenz und damit Problematik eines durch Empfindung vermittelten
Bezuges auf Inhalte überhaupt hingewiesen. Das, was Hegel in seiner Kritik
an der Romantik anspricht, kehrt im gegenwärtigen Landschaftserlebnis in
ähnlicher Weise wieder. Hier läßt sich eine Ästhetisierung von Natur bzw.
Landschaft feststellen, die durch jene romantische Innerlichkeit und
Rückspiegelung des Ich in sich im bloßen empfindsamen Durchgang durch
680
681
682
683
684
150
Die Idylle wird am Ende des nächsten Kapitels (5.2.3) ausführlicher erörtert.
Hotho 1823, 297.
A. Gethmann-Siefert: Das „moderne“ Gesamtkunstwerk: die Oper, in: Phänomen versus System.
Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen
über Ästhetik oder Philosophie der Kunst, Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1992
(Hegel-Studien. Beiheft 34), 174.
A. Gethmann-Siefert: Das „moderne“ Gesamtkunstwerk, 214.
So heißt es im Musikkapitel der Ästhetikvorlesung von 1823: „Die Musik hat mit der Architektur
die Gleichheit, daß sie ihren Inhalt nicht in sich selbst hat; und wie die Architektur einen Gott
erfordert, so die Subjektivität der Musik einen Text, Gedanken, Vorstellungen, die als bestimmter
Inhalt nicht in ihr sind“ (Hotho 1823, 270).
Natur qua Gemütserregung gekennzeichnet ist. Dem aktuellen „Erlebnis“ von
Landschaft mangelt es ebenfalls an Substanz. Natur dient nur der ästhetischen
Form der Selbstinszenierung eines „gestimmten“ Subjekts, ohne inhaltliche
Vermittlung mit Natur.685
In der Ästhetikvorlesung von 1820/21 kritisiert Hegel die traditionelle
Ansicht, die Kunst diene der „Erregung der Leidenschaften“. Er sieht zwar,
daß diese Ansicht durchaus etwas Richtiges anspricht, nämlich die Tatsache,
daß Kunst die „Macht“ hat, verschiedenste, sogar einander widersprechende
„Empfindungen in der menschlichen Brust“686 zu wecken und damit beliebige
Inhalte zu vermitteln. Diese Macht ist allerdings nur eine „formelle“, weil sie
„alle Empfindungen in uns erregen kann“, unabhängig davon, welcher Art der
Inhalt ist. Gegenüber den Inhalten bleibt die Empfindung indifferent.687 Sie
kann sich für das Gute und Schöne wie für das „Gräßliche, uns
Widerstrebende interessiren“688. Auch 1823 kritisiert Hegel diese Vorstellung,
die Kunst habe „angenehme Empfindungen zu erregen“. Dieser Vorstellung
stellt er die These entgegen, die Empfindung sei lediglich die „dumpfe,
unbestimmte Region des Geistes“. Das, was empfunden werde, sei
„verdumpft, eingehüllt und subjektiv“. Der „Unterschied in der Empfindung“,
beispielsweise zwischen Furcht, Zorn, Mitleid und religiösen Gefühlen, sei
daher „ganz abstrakt und kein Unterschied der Sache“689. 1826 markiert Hegel
diese Indifferenz der Empfindungen gegenüber Inhalten auch als die
„Sophisterei der Kunst“.690 Im Wintersemester 1828/29 macht er deutlich, daß
es auf den Inhalt der Empfindungen und Gefühle ankomme, nicht auf die
Form der Empfindung/des Gefühls691 allein; Empfindungen und Gefühle
685
686
687
688
689
690
691
Einige empirische Beispiele aus seiner Forschungstätigkeit zur Kulturlandschaft der Alpen bringt
Werner Bätzing: Postmoderne Ästhetisierung von Natur versus ‚schöne Landschaft’ als
Ganzheitserfahrung – Von der Kompensation der ‚Einheit der Natur’ zur Inszenierung von Natur
als ‚Erlebnis’, in: Hegel-Jahrbuch 2000, Berlin 2000, 196-201.
Ascheberg 1820/21, 23.
1826 führt Hegel dementsprechend aus: „Die Macht der Kunst ist formell, für welche der Inhalt
gleich sei“ (Pfordten 1826, 57).
Ascheberg 1820/21, 24.
Hotho 1823, 14.
Pfordten 1826, 57; Kehler 1826, 12.
Hegel sieht in seiner diesen Überlegungen zugrunde liegenden Philosophie des (subjektiven)
Geistes keinen gravierenden Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl: „Es ist kein großer
Unterschied zu machen zwischen Empfindung und Gefühl. Empfindung drückt dasselbe mehr nach
der subjektiven Seite aus, Gefühl mehr dies in seiner Bestimmtheit, nach seinem Inhalt“ (V 13, 69).
In der Enzyklopädie heißt es, „daß die Empfindung mehr die Seite der Passivität, des F i n d e n s , d.i.
der Unmittelbarkeit der Bestimmtheit im Fühlen, hervorhebt, das Gefühl zugleich mehr auf die
Selbstischkeit, die darin ist, geht“ (GW 20, § 402), d.h. beim Gefühl wird ein höherer Grad an
Reflexivität erreicht. Überhaupt ist „Empfinden = In sich f i n d e n “ (V 13, 69).
151
seien nur die Form der Subjektivität692, denn bei „der Betrachtung mit der
Empfindung wird nicht die Sache selbst betrachtet, sondern das Subjekt in
seiner Besonderheit ist darin erhalten, und deshalb hat diese Betrachtung ein
Langweiliges durch die Aufmerksamkeit auf seine kleinliche Besonderheit;
solche Anschauung hat ein Widriges“693.
In der Malerei können daher für Hegel „Naturformen“ nur dann sinnvoll
dargestellt werden, wenn irgendeine „Anspielung auf ein Geistiges sie dem
Gedanken näher verbindet“694. Gedanken verweisen auf das Denken und
damit auf Allgemeinheit: „indem ich denke, muß ich den Gegenstand zur
Allgemeinheit erheben“695. Die subjektiven Gefühle und Empfindungen
dagegen erhalten immer nur „meine Besonderheit“. Ein Kunstwerk indessen
„muß die Besonderheit vergessen lassen“, muß „ein Allgemeines, Objektives
[zum Inhalt] haben“; bei seiner Betrachtung „soll ich mich darin vertiefen,
mich darüber vergessen“696. Bei der Betrachtung der Landschaft kann
allerdings das genaue Gegenteil vorkommen. Nicht vertieft sich das Subjekt
in die „Sache selbst“, sondern es vertieft sich in sich selbst, in seine subjektive
Innerlichkeit qua Empfindung.
In der Phänomenologie des Geistes hatte Hegel bereits angedeutet, welche
Konsequenzen
undurchschaute,
in
sich
selbst
kreisende
weltlose
Empfindungen, jenes „Extrem der substanzlosen Reflexion seiner in sich
selbst“697, haben kann. So werden etwa das „Schöne, Heilige, Ewige, die
Religion und Liebe“ beschworen. Nicht der Begriff, sondern „die Ekstase,
nicht die kalt fortschreitende Notwendigkeit der Sache, sondern die gärende
Begeisterung soll die Haltung und fortleitende Ausbreitung des Reichtums der
Substanz sein“698. Für Hegel ist es jedoch ein „Widermenschliches“,
„Tierisches“, „im Gefühle stehen zu bleiben und nur durch dieses sich
692
693
694
695
696
697
698
152
„Das Gefühl ist etwas Subjektives. Wenn ich den Inhalt vor sich habe, und er ganz der meinige ist,
so habe ich ihn in meinem Gefühle. So muß Religion im Gefühle sein. Das ist ganz richtig aber in
dem angegebenen Sinne. Moralische Dogmen, wenn das mein Wille auf immer ist, dies meinem
Charakter angehört, dann habe ich es in meinem allgemeinen Selbstgefühle, im Herzen auf immer.
Das ist die Subjektivität. Darin kann aber alles Mögliche sein. Die religiösen Gefühle können ganz
und gar falsch sein, es kommt auf den Inhalt des Gefühles an. Der Verbrecher hat auch Gefühle.
Das Gefühl ist also nur die Form der Meinigkeit, der Subjektivität, die jeden Inhalt in sich
aufnehmen kann“ (Libelt 1828/29, Ms. 21a).
Hotho 1823, 15.
Hotho 1823, 42.
GW.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders.: Werke in 20 Bänden,
FaM 19954, Bd. 12, S. 520.
Hotho 1823, 15.
GW 9, 12.
GW 9, 13.
mitteilen zu können“699. Allerdings liegt hier die Betonung auf dem „nur“.
Gefühl und Empfindung sind nicht grundsätzlich zu verurteilen, sondern nur
dann, wenn der Mensch in Gefühl und Empfindung stehen bleibt. Gefühl und
Empfindung sind notwendige Momente der Entwicklung des Geistes, die
keineswegs übersprungen werden können. Hegel weist allerdings auf die
Gefahr hin, daß das Subjekt dem Glauben aufsitzt, sich in einem zwar
notwendigen, aber keineswegs hinreichenden Entwicklungsstadium des
Geistes einrichten zu können. Das ist die bereits angedeutete Ambivalenz des
Gefühls und der Empfindung.
In der Enzyklopädie thematisiert Hegel Empfindung und Gefühl als
Bedingtheiten der noch unmittelbar in die Natur eingelassenen Seele. Diese ist
für Hegel noch der „Schlaf des Geistes“, insofern sie als fühlende und
empfindende Seele nicht nur Natur ist, sondern zur Freiheit erst erwachender,
noch nicht bewußter Geist ist. Der Geist ist hier noch wesentlich
Naturgeist700. Er hat sich noch nicht aus seiner Eingelassenheit in Natur
befreit und ist noch nicht zum vollen Bewußtsein seiner selbst erwacht. Auf
die Ambivalenz der Empfindung weist Hegel mehrfach hin, so z.B. in der
Enzyklopädie:
„Alles ist in der Empfindung, und wenn man will, Alles, was im
geistigen Bewußtseyn und in der Vernunft hervortritt, hat seine Quelle und
Ursprung in derselben; denn Quelle und Ursprung heißt nichts anderes, als
die erste unmittelbarste Weise, in der etwas erscheint. Es genüge nicht, daß
Grundsätze, Religion u.s.f. nur im Kopfe seyen, sie müssen im Herzen, in der
Empfindung seyn“701.
Die Empfindung als Form ist zwar notwendiges Moment jeder Vermittlung,
aber noch nicht „zur Freiheit vernünftiger Geistigkeit bestimmt“.702 Denn „die
Empfindung (…) ist das bloß Einzelne“703. Mit Hegel: „Daß aber die
Empfindung und das Herz nicht die Form sey, wodurch etwas als religiös,
sittlich, wahr, gerecht u.s.f. gerechtfertigt sey, sollte für sich nicht nöthig
699
700
701
702
703
GW 9, 48.
GW 20, § 387.
GW 20, § 400.
GW 20, § 400; vgl. auch: „Der Inhalt des Empfindens ist eben damit b e s c h r ä n k t und
vorübergehend, weil er dem natürlichen, unmittelbaren Seyn, dem qualitativen also und endlichen
angehört“ (ebd.).
V 13, 72.
153
seyn erinnert zu werden“704. Eine naive rechtfertigende Berufung auf
Empfindungen hält Hegel daher für ein bloßes „Gerede“, für ein
„Schulgeschwätz“, denn tatsächlich lasse man es „in der Wirklichkeit“
ohnehin „nirgends gelten“ - beispielsweise untersucht ein Richter die
„Objektivität der Sache“.705 Das „Objektive“ im Beispiel des Richters ist „der
Verstand“706, nicht die Empfindung oder das Gefühl. So insistiert Hegel bei
den möglichen Inhalten der Empfindung auch darauf, daß diese „für sich
selbst richtig“, daß sie also „wahrhafter Art“ sein müssen. Möglicherweise
muß
ein
solcher
Inhalt
erst
von
seiner
Unvernünftigkeit
bzw.
Unwahrhaftigkeit „gereinigt“ werden, denn erst eine „gebildete, gereinigte
Empfindung“ garantiert, daß der Inhalt „das Vernünftige, der Gedanke“ ist.707
Da Hegel Landschaft als Stimmungskulisse auf dem Hintergrund seiner
Kritik an einem unreflektierten Bezug oder einer naiven Berufung auf
Empfindungen kritisiert, ist eine Rekonstruktion seiner Analyse der
Empfindungen in den Vorlesungen über die Philosophie des Geistes und den
entsprechenden Passagen der Enzyklopädie notwendig. Von hier aus wird sich
erweisen müssen, inwiefern dieser Bezug auf Empfindungen die Gefahr in
sich birgt, daß der Empfindende sich in einer weltlosen Subjektivität
abschließt, die dann den Naturvollzug als Landschaftsanschauung zur
„Stimmungskulisse“ depotenziert.
Hegel unterscheidet äußerliche von inneren Empfindungen.708 Die äußeren
Empfindungen werden durch die fünf Sinne Sehen, Gehör, Geruch,
Geschmack und Gefühl vermittelt. Die „Totalität“ dieser äußeren, den Sinnen
angehörigen Empfindungen nennt Hegel auch „System der Sinne“709. Die
inneren Empfindungen wie etwa Zorn, Scham oder Haß machen analog zum
„System der Sinne“ ein System des Inhalts der inneren Empfindungen als ein
„System des Geistigen“ aus. Der Inhalt der inneren Empfindungen kommt nur
„vom Geiste her, Recht, Sittlichkeit, Liebe ist ein Geistiges. Neid, Haß kommt
704
705
706
707
708
709
154
Enz 1830, § 400. - In den Vorlesungen über die Philosophie des Geistes von 1827/28 heißt es
entsprechend: „Es kann im Gefühl das Gute sein, der Maßstab ist aber nur die Vernünftigkeit. Das
Wahre muß die Form der Allgemeinheit haben“ (V 13, 72).
V 13, 73.
V 13, 73.
V 13, 73.
V 13, 74ff.; Enz 1830, § 401.
GW 20, § 401.
von der Vorstellung her“710. Sie können aber erst dann als wirkliche
empfunden werden, d.h. „um als gefundene zu seyn“711, wenn sie geäußert
bzw. veräußerlicht werden. Diesen Vorgang der Veräußerlichung innerlicher
Empfindungen nennt Hegel „Verleiblichung“. Er spricht in diesem
Zusammenhang
von
„einer
eigenthümlichen
Wissenschaft,
-
einer
psychischen Physiologie“, die es zwar noch nicht gibt, aber entwickelt zu
werden durchaus „würdig“ wäre.712 Als Beispiele dieser Verleiblichung seien
Zorn und Mut genannt, bei denen insbesondere das Herz und das Blut „in
Bewegung gebracht“ werden, „worin sich diese innerlichen Empfindungen
verleiblichen“. Zorn ist sogar „mit Ergießung der Galle verbunden und mit
Hervortreten des Bluts in die Extremitäten“.713 Ein weiteres Beispiel wäre die
Verleiblichung der Trauer im Weinen und der damit verbundenen
Ausscheidung von Tränen. Der menschliche Organismus mit seinen
Eingeweiden und Organen wird demnach nicht nur physiologisch betrachtet
und untersucht, sondern in der Perspektive der „psychischen Physiologie“
wird dieser Organismus zugleich als „System der Verleiblichung des
Geistigen“ betrachtet.714 Dieser Vorgang der Verleiblichung ist komplementär
zu dem der „Erinnerung“ bzw. Verinnerlichung einer „leibliche[n]
Bestimmtheit“, also der durch die Sinnesorgane vermittelten Inhalte, so daß
wir diese Inhalte „in uns finden“715. Durch Verinnerlichung wird „das
natürliche Unmittelbare“ in der Seele „ideell und ihr zueigen gemacht“716.
Stimmungen entstehen dadurch, daß „die äußerlichen Empfindungen eine
innere Bedeutung gewinnen können. Damit werden sie zu etwas
Symbolischem“717. Der Vorgang der Symbolisation ist dadurch möglich, daß
der Inhalt der äußeren Empfindungen auf die Innerlichkeit des empfindenden
Subjekts bezogen wird, und zwar in Form eines Vergleichs. Verglichen wird
eine äußere Gestalt oder Form, ein äußerlich vermittelter Inhalt, eine
unmittelbare sinnliche Empfindung „mit Neigungen und Empfindungen des
710
711
712
713
714
715
716
717
V 13, 83.
GW 20, § 401.
GW 20, § 401.
V 13, 84f.
GW 20, § 401.
V 13, 75.
GW 20, § 401.
H. Drüe: Die Philosophie des Geistes (§§ 377-577), in: Hegels ‚Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften’ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, 206-289; 225.
155
Innern, und sind so symbolisch“718. Möglich wird somit ein „Symbolisiren der
Empfindungen z.B. von Farben, Tönen, Gerüchen u.s.f.“719, indem die
äußerlichen Empfindungen mit spezifischen Stimmungen verknüpft werden.
Hegel nennt zahlreiche Beispiele für Farben und Töne, so lassen sich etwa
fröhliche, ernste, kalte und traurige Farben unterscheiden. Eine äußere
Empfindung kann Symbol für eine innere Bestimmung sein, wenn diese
„einen Charakter habe mit davon Verschiedenem (…) als eine und dieselbe
Bestimmung in Unterschiedenem enthalten ist“720, das heißt, wenn das
Äußere in dieser einen Bestimmtheit mit der Bestimmtheit des Inneren
übereinstimmt. Warum gerade diese oder jene Farbe mit dieser oder jener
inneren Bestimmung und nicht mit einer anderen zusammenstimmt, ist Hegel
zufolge „nur schwer zu sagen, da es eine ganz äußere Bestimmung der
Empfindung ist, das andere ist das ganz Innere“721. Entscheidend ist, daß in
einem solchen Symbol eine Nichtübereinstimmung zwischen Äußerlichkeit
und Innerlichkeit insofern besteht, als Außen und Innen nur in einer
Bestimmtheit zusammenstimmen, nicht aber in jeder. Auf diese Weise
überträgt Hegel den Symbolbegriff der Kunst auf Erfahrung von Natürlichem.
Im Unterschied zur Verwendung des Symbols der Empfindungen handelt es
sich bei dem Symbol in der Kunst nicht um eine Übereinstimmung zwischen
Äußerlichkeit und Innerlichkeit in einem Punkt, sondern um eine solche
zwischen Darstellung (Gestalt) und Bedeutung (geistiger Gehalt).
Da die natürliche Seele - nach Hegel - mit ihren Empfindungen noch nicht
bewußt einen Unterschied machen kann zwischen Subjektivem und
Objektivem, weil auf dieser Stufe ein „Ungetrenntsein“722 des „Seins“ des
Empfindenden und des „Eindrucks“, also des Inhalts der Empfindung723
gegeben ist, bleibt sie streng genommen weltlos. Sie ist „noch nicht für sich“,
ist noch nicht Bewußtsein, noch nicht „Ich“. Insofern ist sie aber nicht nur
weltlos, sondern auch bewußtlos, ohne ein Ich von der Welt und ohne eine
Welt vom Ich unterscheiden zu können. Hier begegnet also die
Komplementarität von Vollzug und Natur nicht nur in der Komplementarität
718
719
720
721
722
723
156
V 13, 81.
GW 20, § 401.
V 13, 81.
V 13, 81f.
V 13, 70.
In der Enzyklopädie heißt es, hier liege eine bloße „unmittelbare Einheit der Seele mit ihrer
Substanz und dem bestimmten Inhalte derselben“ vor (Enz 1830, § 400).
von Verinnerlichung und Verleiblichung, sondern auch in der von
Selbstbeziehung (Ich) und Fremdbeziehung (Natur/Welt).
Eine weitere Parallele zu einem bereits thematisierten Charakteristikum
von Vollzugsformen besteht in dem Phänomen, daß Empfindung und Gefühl
etwa sittliche und religiöse Inhalte, höherstufige Vollzugsformen (Kunst,
Religion) zuvor Empfundenes und Gefühltes aufnehmen können. Der
erstgenannte
Vorgang
führt
zu
der
bereits
beschriebenen
geltungstheoretischen Schwierigkeit, daß Inhalte ungeachtet ihrer Wahrheit
oder sittlichen Richtigkeit aufgenommen und das Subjekt sich in einem
Empfindsamkeits- oder Gefühlskult naiv auf diese berufen kann. Den zweiten
Vorgang nennt Hegel im Hinblick auf Empfundenes und Gefühltes „ein
gebildetes Gefühl“, das sich der „Reinigung“ der Inhalte der Empfindungen
und Gefühle vom Zufälligen und Unwahrhaften durch einen „gebildete[n]
Geist“ verdankt. Empfindung und Gefühl können durch „Bildung,
Nachdenken pp.“ einer „weitere[n] Verarbeitung des Geistes“ unterzogen
werden. Hegel spricht von „eine[r] Vernünftigkeit im Gefühl“, die durch die
genannten Vollzüge „zum Bewußtsein erhoben werden“ kann und muß. Nur
ein solcherweise „gebildeter Geist“ hat ein entsprechend „gebildetes
Gefühl“724 und eine „gebildete, wahrhafte Empfindung“725. Nur ein in diesem
Sinne gebildeter Mensch kann „sich ein Bewußtsein von bestimmten
Unterschieden, wesentlichen Verhältnissen, wahrhaften Bestimmungen u.s.f.
erworben“ haben, so daß es der solcherweise „berichtigte Stoff“ ist, der „in
sein Gefühl tritt, d.i. diese Form erhält“. 726
Mit diesen Ausführungen erweitert Hegel seine Kritik an der
Unmittelbarkeit von Empfindungen und Gefühlen zu einer grundsätzlichen
Kritik der Unmittelbarkeit überhaupt727. Wie Naturphänomene nicht als
Unmittelbares Gegenstände der Kunst sein können, so können Empfindungen
und Gefühle mit ihren noch unmittelbaren Inhalten nicht ohne diese Bildung,
Formung, Verarbeitung und Reinigung des Empfundenen und Gefühlten
Grundlage einer ästhetischen Zuwendung zur und Auseinandersetzung mit
724
725
726
727
V 13, 188.
GW 20, § 447.
GW 20, § 447.
Vgl. etwa das Kapitel in der Logik „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“
(GW 21, 53-65) sowie in der Enzyklopädie das Kapitel „Dritte Stellung des Denkens zur
Objectivität. Das unmittelbare Wissen“ (GW 20, 100-118 bzw. § 61-78).
157
Natur als Landschaft sein. Die mit der Symbolisierung der äußeren
Empfindungen verknüpften Stimmungen und eine daran geknüpfte ästhetischemotionale Betrachtung der Landschaft stehen in der Gefahr, sich in einem in
sich selbst kreisenden weltlosen Naturvollzug zu erschöpfen.
In der Phänomenologie des Geistes weist Hegel auf die Folgen einer
unkritischen Berufung auf Gefühle und Empfindungen hin. Diejenigen, die
sich dergestalt auf ihre Gefühle und Empfindungen wie auf ein „inwendiges
Orakel“ berufen, treten letztlich „die Wurzel der Humanität mit Füssen“728.
Diese Wurzel der Humanität besteht darin, „auf die Uebereinkunft mit andern
zu dringen, und ihre Existenz nur in der zu Stande gebrachten Gemeinsamkeit
der Bewußtseyne“729. Sie besteht in der Verständigung in „der Gemeinschaft
der Vernünftigkeit“730. Wer gar die „Unaussprechlichkeiten des Gefühls“
beschwört und glaubt, „das bloß Subjektive, das abstrakt Meinige“731 gegen
die sprachlich vermittelte „Gemeinschaft der Vernünftigkeit“ ins Feld führen
zu dürfen, verkennt die Struktur und Bedeutung der Sprache. Ihr Inhalt ist
„nur das Allgemeine, Wahrhafte, Konkrete“, und das, was wahr ist, ist
vernünftig und kann auch in und durch Sprache ausgesprochen werden.732 Das
bloß abstrakt Subjektive kann, da es nur das partikulär Einzelne ist, nicht mit
dem Anspruch auf jedermanns Zustimmung verbunden werden, der
Empfindende verweigert weitere diskursiv einholbare Gründe denjenigen, die
nicht mit ihm übereinstimmen. Er verschließt „sich in seine isolirte
Subjectivität, die Particularität“733.
Dieses Sich-Abschließen in einer von der natürlichen und geistigen
Wirklichkeit und der Intersubjektivität einer Gemeinschaft sprachlich sich
verständigender Menschen isolierten Subjektivität liegt der Reduzierung der
Anschauung von Landschaft auf eine Stimmungskulisse zugrunde, die von
zahlreichen Künstlern, insbesondere Literaten der Romantik vorgenommen
wurde. Mit Rainer Gruenter kann in diesem Sinne behauptet werden - wie
eingangs dargestellt - für die Romantik sei in der „subjektiv einmaligen
728
729
730
731
732
733
158
GW 9, 47.
GW 9, 48.
GW 20, § 447.
V 13, 189.
„Die Sprache hat zu ihrem Inhalt nur das Allgemeine, Wahrhafte, Konkrete. Was die Sprache nicht
fassen kann, ist das Geringere, Schlechtere, das bloß Subjektive, das abstrakt Meinige. Was wahr
daran ist, ist vernünftig, und das Vernünftige kann ich aussprechen“ (V 13, 189).
GW 20, § 447.
Stimmung die Anschauung der Landschaft“ begründet734. Otto Pöggeler hat in
seiner Rekonstruktion der Hegelschen „Kritik der Romantik“ drei Formen
romantischer „Subjektivität“ unterschieden, die die „Lage der Zeit“ Hegels
kennzeichnen: 1.) die „substanzlose Subjektivität der Ironie“, 2.) die
„schlechte Subjektivität“ und 3.) die „unversöhnte Subjektivität“735. Hegel
habe – so Pöggeler – an den Menschen die Forderung gestellt, „sich aus der
Tiefe der Spontaneität heraus in das Ganze des Geistes hineinzustellen und
aus dem allgemeinen, substantiellen Selbst heraus zu denken und zu handeln.
Den Romantikern aber wirft Hegel vor, daß sie ihre Subjektivität nicht in
dieses Ganze des Geistes aufgeben und aus ihm ergreifen, sondern den
Subjektivismus auf die Spitze treiben“736.
Für die Bestimmung der Landschaft als „Stimmungskulisse“ ist die dritte
von Pöggeler genannte Form relevant, die „unversöhnte Subjektivität“, die
vor
allem
für
das
„Zeitalter
der
Empfindsamkeit“737
mit
dessen
Empfindsamkeits- und Gefühlskult als Erklärungsfolie dienen kann. Nimmt
man den Symbolbegriff, der mit den äußeren Empfindungen in ihrem
Zusammenhang zur Innerlichkeit des Empfindenden und der Erweckung von
Stimmungen entwickelt wurde, als weitere Erklärungsfolie hinzu, liegt der
Schluß nahe, die Natursehnsucht als einen symbolischen Naturvollzug zu
interpretieren. Die äußeren Empfindungen von Natur als Landschaft mit ihren
Formen, Farben, Gerüchen, Gestalten, Geräuschen, Tönen und Harmonien
können
mit
innerlichen
Empfindungen/Gefühlen
in
einer
Hinsicht
übereinstimmen und dadurch Stimmungen erzeugen. Empfindungen werden
so zum Symbol, in diesem Falle zum Symbol für eine Harmonie des
Menschen mit der Natur. Hegel nennt daher die romantische Sehnsucht nach
einem „Einssein“ mit Natur- und Landschaftsschönheit ein „mehr
symbolisches Verhältnis (...) Hier ist die Bedeutung ein gläubiges, sich
sehnendes Gemüt“738. Diese romantische Sehnsucht nach einem „Einssein“
mit Natur im Medium subjektiver Stimmungen muß aber dann substanzlose
Illusion bleiben, wenn dieses „Einssein“ nur das „Einssein“ mit den eigenen
„Stimmungen“ bleibt, ohne wirkliche Vermittlung mit der Natur. Die
734
735
736
737
738
R. Gruenter: Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte, 207.
O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, 43.
O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, 218.
Vgl. Renate Krüger: Das Zeitalter der Empfindsamkeit, Leipzig 1972.
Hotho 1823, 189.
159
vorgebliche Versöhnung und Verbundenheit mit der Natur ist dann lediglich wie dies A. Langen charakterisiert - das „Durchseeltwerden der Landschaft,
die seelenhafte Beziehung des Menschen zur umgebenden Natur, das also,
was man später als ‚Stimmungslandschaft’ zu bezeichnen pflegt“739, und zwar
auf dem Grunde einer Weltflucht der Empfindsamen in eine in sich selbst
verkapselte Subjektivität. Otto Pöggeler hat gezeigt, daß Hegel kritisiert, einer
solchen Sehnsucht liege „ein Subjektivismus zugrunde (…), der nicht von
sich, von seinen Wünschen und seiner Endlichkeit lassen will“740.
Wenn Natur als Landschaft im Verbund mit der symbolisch vermittelten
Sehnsucht nach Harmonie des Menschen mit Natur als das „an ihm selbst (…)
Göttliche“ betrachtet wird, dann ist das für Hegel keine moderne, sondern
eine „orientalische Weltanschauung“741. Im Gegensatz zur christlichen und
modernen Welt, damit zu den Künsten der romantischen Kunstform, war die
„orientalische Weltanschauung“ durch Substantialität charakterisiert, die noch
nicht Subjekt geworden ist, eine sozusagen ‚subjektlose Substantialität’. So
gesehen, enthält die strukturelle Wiederholung des Naturvollzuges, wie er für
die symbolische Kunstform als Ganze kennzeichnend war, für die moderne
Welt die Gefahr, unter den geänderten kulturellen Bedingungen der modernen
Welt in das der ‚subjektlosen Substantialität’ der symbolischen Kunstform
entgegengesetzte Extrem zu fallen, nämlich in die bereits erwähnte weltlose,
um sich selbst kreisende „substanzlose Subjektivität“742.
Hegel kann also in seiner Ästhetik auf der einen Seite ein Verständnis des
Vollzugs der Natur durch die Rekonstruktion der Natur als Landschaft, d. h.
als durch subjektive Innerlichkeit vollzogene Natur, entwickeln. Andererseits
hat er diese subjektive Innerlichkeit in seiner Kritik der Romantik
problematisiert. Hegel findet andere Formen der Revitalisierung von
Elementen der symbolischen in der romantischen Kunstform, die zu einer
subjektiv vermittelten Substantialität zurückführen, so daß sich seine Kritik an
der Konzentration auf Empfindung in der Landschaftsmalerei in ein
wohldurchdachtes systematisches Konzept einfügen läßt. Solche Elemente
subjektiver Substantialität oder substanzieller Subjektivität finden sich
739
740
741
742
160
August Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18.
Jahrhunderts, 152.
O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, 68.
Hotho 1823, 203.
O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, 43.
beispielsweise im objektiven Humor und in der Reaktivierung des objektiven
Humors durch den Rekurs auf die orientalische Welt in Goethes
Westöstlichen Divan. Darauf hat erst O. Pöggeler in seinem Aufsatz Hegel
und Heidelberg hingewiesen.743 Die Weise des Vollzuges und der Darstellung
der Natur als Landschaft als durch subjektive Innerlichkeit vollzogene Natur
führt vorderhand nicht über die Konzentration auf die subjektive Innerlichkeit
– hier noch in einem vorbewußten Vollzug der Empfindung präsentiert –
hinaus.
Hegels Kritik an Landschaft als Stimmungskulisse richtet sich im Kern
gegen die mit einem empfindsamen Naturvollzug gegebene Gefahr einer
leeren Träumerei, in der ein Naturbetrachter in privaten Stimmungen weltlos
in und um sich selbst kreist. Im folgenden Exkurs über das „Atmosphärische“
in der Landschaft wird gezeigt, daß nicht nur diese, sondern zudem die
weitergehende Gefahr besteht, Stimmungen, die bei Hegel als Symbole für
menschliche Empfindungen stehen, als Stimmungen der Natur selbst zu
rekonstruieren. Hier entsteht ein philosophisches Problem nicht aus einem
abstrakten Selbstbezug des Subjekts, sondern aus einem „Objektivismus“
empfindsam wahrgenommener Natur als Landschaft. Hegel behandelt dieses
Problem in den Ästhetikvorlesungen nur marginal, so etwa, wenn er sagt, daß
die Seele bei natürlichen Gegenständen „innig sein kann, wenn sie nach
irgendeinem Bedürfnis erfaßt“, d.h. „wenn sie empfunden werden“744;
insofern
kann
zwar
nicht
745
von
„verschiedenen
Zustände[n]
746
landschaftlichen Natur“ , sondern nur von einem „Charakter“
der
der
Landschaft, der den Zuständen der Seele entspricht, gesprochen werden.747
Daß dieses Problem eines durch einen empfindsamen Naturvollzug
induzierten „Objektivismus“ nach wie vor virulent ist und bleibt, wird der
743
744
745
746
747
In: Hegel-Studien, 6 (1971), 65-133. - Näher analysiert ist diese Form der Revitalisierung
symbolischer Gestaltungsmöglichkeiten in der romantischen Kunstform bei A. Gethmann-Siefert,
B. Stemmrich-Köhler: Faust: Die „absolute philosophische Tragödie“ und die „gesellschaftliche
Artigkeit“ des West-Östlichen Divan, in: Hegel-Studien, 18 (1983), 23-64 sowie bei J. I. Kwon:
Hegels Bestimmung der Kunst, München 2001.
Hotho 1823, 255.
Ä III, 60.
Hotho 1823, 255.
Der sich in diesen Zitaten abzeichnende Widerspruch zwischen Hegels in den Mitschriften
überlieferten Äußerungen und den von seinem Schüler H.G. Hotho in die Ästhetik eingeführten
Passagen über den Landschaftsvollzug wird ausführlich in Kap. 5.2.1.4 „Landschaftsmalerei im
Kontext: Carus, Hotho, von Rumohr“ untersucht und in seinen Konsequenzen für eine Ästhetik der
Landschaft erhellt. Problematisch ist die Folge, daß von einem „Objektivismus“ der
Naturauffassung der Weg zu erneuten Varianten der von Hegel mit guten Gründen abgelehnten
Nachahmungstheorien sehr kurz ist.
161
folgende Exkurs an der gegenwärtigen Debatte über „Atmosphären“
demonstrieren.
Exkurs: Kritik des „Atmosphärischen“ in der Landschaft
In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion um „Landschaft“ wird als
Pendant zum Begriff der „Stimmung“ der Begriff der „Atmosphäre“ virulent.
Versuche, das Atmosphärische in der Landschaft zu bestimmen und dessen
erkenntnistheoretische wie ästhetische Rolle zu definieren, finden sich bei
Hermann Schmitz, Gernot und Hartmut Böhme, Michael Hauskeller sowie
Michael Großheim. Im Kern dreht sich die Debatte um die Frage, ob es sich
bei „Atmosphäre“ um Projektionen handelt oder ob diese der Landschaft
selbst angehört. Die Frage ist: „Hat die Landschaft selbst die Eigenschaft,
heiter oder schwermütig zu sein, oder schreiben wir ihr diese Eigenschaften
durch Projektion zu?“748 Vertreter eines solchen anthropozentrischen
„Konstruktivismus“ oder „Projektionismus“ sind nach Michael Großheim z.B.
Georg Simmel, Ernst Bloch, Ruth und Dieter Groh, aber auch August
Wilhelm Schlegel, Theodor Lipps, Martin Seel und Rolf Peter Sieferle.
Der Hauptvorwurf an die Adresse der sogenannten „Konstruktivisten“ und
„Projektionisten“ lautet, diese ignorierten die Gefahr eines „vollständige[n]
Objektverlust[es]“ – gemeint ist ein Objekt kultureller Konstruktionen oder
Projektionen, „über dem sich kulturelle Formen erst aufbauen können“749. Die
„historische Forschung zur Naturästhetik“, die die „Konstitutionsbedingungen
von Bildern, Symbolen, Aneignungsformen der Natur“ erforscht, würde zwar
den „subjektive[n] und objektive[n] Geist von Naturbildern“ wiedererkennen,
doch würde „zugleich auch jede Referenzebene und jeder Inhalt getilgt“750.
Großheim fordert dagegen eine „Phänomenologie der Atmosphären“751, die
gegen die Theorien, die von der historisch variablen „Konstruiertheit“ der
Landschaft ausgehen, eine „Geschichte der Wahrnehmungsfelder“752 setzen,
748
749
750
751
752
162
Michael Großheim: Atmosphären in der Natur - Phänomene oder Konstrukte?, in: Rolf Peter
Sieferle/ Helga Breuninger (Hg.), Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der
Geschichte, Frankfurt a.M./ New York 1999, 325-365; 325.
Michael Großheim, Atmosphären in der Natur, 359.
Hartmut Böhme: Materialismus oder Konstruktivismus in der Naturästhetik: Eine falsche
Alternative - aus der Sicht der Goethezeit, in: Michael Großheim (Hrsg.): Leib und Gefühl.
Beiträge zur Anthropologie, Berlin 1995, 129-140; 139.
Michael Großheim, Atmosphären in der Natur, 361.
Michael Großheim, Atmosphären in der Natur, 357.
wie sie beispielsweise Heinrich Rombach ins Spiel gebracht hat.753
Konstruiertheit wird also gegen Wahrnehmung gesetzt, so als ob
Wahrnehmung unmittelbar Atmosphären wie „Gegenstände eigener Art (…),
die nicht in Projektion aufgehen“754, also als „Entitäten“755 oder als „objektive
Gefühle“756, so ergreifen könne, wie sie unabhängig von Wahrnehmung für
die Wahrnehmung bereitliegen.
In der Entgegensetzung einer „Phänomenologie der Atmosphären“ gegen
die „historische Forschung zur Naturästhetik“ wird der Streit um die Rolle
von
Konstitutionsleistungen
menschlicher
Subjektivität
und
diesen
Konstitutionsleistungen subjektunabhängig vorausliegenden „Objekten“,
„Referenzebenen“ oder „Inhalten“ wieder aufgegriffen. Wer von Objektivität
oder gar von „objektiven Gefühlen“757 spricht, mag zwar phänomenologisch
etwas
Richtiges
beobachten,
insofern
jeder
Leistung
menschlicher
Subjektivität notwendig Objektivität gegenübersteht, will sie nicht in einen
‚transzendentalen
Solipsismus’
münden.
Die
Resultate
menschlicher
Konstitutionsleistungen in Technik, Handwerk, Wissenschaft, Kunst, Staat
und Gesellschaft sind ja mit Hegel „objektiver Geist“, die Vollzugsresultate
des subjektiven Geistes können sich zu einer „zweiten Natur“, zu einer Art
von Objektivität verfestigen, sofern ihr Setzungsursprung, d.h. ihre
unaufhebbare Bezogenheit (Relationalität) auf subjektive Leistungen des
Menschen, wenn der unhintergehbare Anthropozentrismus jedweden Weltund Naturzugangs vergessen wird. Wird dies vergessen, kommt es zu einem
undurchschauten „objektiven Idealismus“ selbst noch einer Phänomenologie
(hier: der Atmosphären). Mit Nietzsche läßt sich dies auch so formulieren:
„Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen,
Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der
Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.
753
754
755
756
757
Großheim beruft sich an dieser Stelle auf Heinrich Rombach: Phänomenologie des gegenwärtigen
Bewußtseins, Freiburg/München 1980.
Michael Großheim, Atmosphären in der Natur, 341, in Anlehnung an Gernot Böhme.
Michael Großheim, Atmosphären in der Natur, 343, in Anlehnung an Vertreter einer
„Religionsphänomenologie“.
Michael Großheim, Atmosphären in der Natur, 344 f., in Anlehnung an Otto Baensch.
H. Böhme: Gibt es objektive Gefühle? Zum Problem einer Naturästhetik aus der Sicht der
Goethezeit, in: Ästhetik und Naturerfahrung, hrsg. von Jörg Zimmermann, Stuttgart- Bad Cannstatt
1996, 13-25.
163
(…) [Der Mensch] vergißt also die originalen Anschauungsmetaphern als
758
Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst“ .
So kann man beispielsweise
„sagen: der Stein ist hart: als ob uns ‚hart’ noch sonst bekannt wäre und nicht
nur als eine ganz subjektive Reizung! Wir theilen die Dinge nach
Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als
weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! (…) Welche willkürlichen
Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener
759
Eigenschaft eines Dinges!“.
Die mit der Diskussion um Atmosphären verbundene Gegensätzlichkeit der
Ansichten und Positionen tritt aber auch in den Theorien einiger
Protagonisten dieses Diskurses selbst auf. Für den Umwelthistoriker Rolf
Peter Sieferle ist Landschaft eine Konstruktion, und jede neue Landschaft ist
eine „Neukonstruktion“, die unter dem Entscheidungsdruck steht, „wie
Landschaft konstruiert werden soll“760. Auf der anderen Seite „scheint die
Vermutung unerschütterlich zu sein, daß jenseits der mentalen Konstruktion
von Landschaft ein Stück Wirklichkeit liegt, das unabhängig von dieser
Konstruktion
existiert“761.
Sieferle
spricht
angesichts
der
Grenzen
menschlichen Handelns von einem konstruktivistischen Fehlschluß“762
derjenigen, die die Grenzen der Konstruktion von Landschaft nicht
einzusehen vermögen. Auch für Hans Lenk ist alle Landschaft einerseits
ästhetisches Konstrukt. Andererseits geht seines Erachtens das, was „Natur“
in „Natur als Landschaft“ benennt, wie diffus und unbestimmt auch immer,
keineswegs in Konstruktion auf. Eine solche Behauptung weist er als
„operationalistischen Fehlschluß“ zurück.763 Doch auch hier beginnen
Schwierigkeiten. Ist „Natur“ lediglich eine „Kopfgeburt“764 bzw. ein
„unausrottbarer“ Begriff für menschliche Orientierungsbedürfnisse765, oder
758
759
760
761
762
763
764
765
164
Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders.: Sämtliche
Werke. KSA in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1993, Bd. 1,
873-890; 879, 883.
Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, 878 f.
Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Die Geschichte des Menschen und seiner Umwelt,
München 1997, 218.
Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur, 25.
Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur, München 1997, 220.
Hans Lenk: Der Macher der Natur? Über operativistische Fehldeutungen von Naturbegriffen der
Neuzeit. In: Natur als Gegenwelt. Hrsg. von G. Großklaus und E. Oldemeyer, Karlsruhe 1983, 5986.
Ruth und Dieter Groh: Die Außenwelt der Innenwelt, 83.
Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur, München 1997, 17.
muß ungeachtet der Vermitteltheit jeden Naturzugangs nicht doch ein
Korrelat vor und außerhalb jeder Konstruktion von Natur als Landschaft
angenommen werden?
Führt man den Bogen der Argumentation wieder auf Hegels Überlegungen
zurück, dann findet man in seiner Philosophie des subjektiven Geistes einen
möglichen Anknüpfungspunkt. Hegel hat behauptet, die noch unbewußte
Seele kenne aufgrund ihrer Ungetrenntheit vom Objekt noch keinen
Unterschied von Selbst und Nicht-Selbst. Am Beispiel eines als „hart“
empfundenen Gegenstandes zeigt Hegel, daß in der Empfindung noch nicht
zwischen Subjektivem und Objektiven unterschieden ist, was erst dem
Bewußtsein möglich ist. Empfindender und „Eindruck“ der Empfindung sind
gleichsam ungetrennt. Der Empfindende spürt einmal leiblich die „Härte“,
etwa an einem Finger, zugleich kann er von einem „harten Gegenstand“
sprechen, an dem er die „Härte“ fühlt. Hier gibt es gewissermaßen nur ‚eine
Welt’, in der noch nicht deutlich zwischen Stimmungen der Objekte und
Stimmungen des Subjekts unterschieden werden kann. Erst das Bewußtsein
kennt „zwei Welten“766, da erst das „Ich“ sich von sich selbst und einer
gegenständigen Objektwelt unterscheiden kann. Hier erst entsteht so etwas
wie die Wahrnehmung eines „Gegenstandes“ mit dessen Eigenschaften, nicht
aber in der Empfindung von Natur. Der stimmungsinduzierte Naturvollzug
von Landschaft ist insbesondere deshalb weltlos, weil das leere Träumen in
Empfindungen
nicht
unterscheidet
zwischen
Vollziehendem
und
Vollzogenem. Dies ist erst dem Bewußtsein möglich, das dann aber zwischen
Subjekt und Objekt unterscheiden muß. Diese Unterscheidung ist erst die
Voraussetzung dafür, über so etwas wie einen Gegenstand und dessen
Eigenschaften reden zu können. Im Rückgriff auf das erläuterte Konzept eines
„gebildeten Geistes“, d.h. des Menschen, insofern er über ein entsprechend
766
„Um diesen Punkt zu erläutern, wollen wir daran erinnern, daß, indem die Seele Bewußtsein wird,
für sie durch die Trennung des in der natürlichen Seele auf unmittelbare Weise Vereinigten der
Gegensatz eines subjektiven Denkens und der Äußerlichkeit entsteht, - zwei Welten, die in
Wahrheit zwar miteinander identisch sind (‚ordo rerum atque idearum idem est’, sagt Spinoza), die
jedoch dem bloß reflektierenden Bewußtsein, dem endlichen Denken, als wesentlich verschiedene
und gegeneinander selbständige erscheinen.“ (TWA 10, 166). - Dieses Zitat steht im Zusatz zum §
408 der Enzyklopädie, wie sie in der TWA überliefert ist. Zwar wird dieser Zusatz in den GW nicht
mit aufgenommen und ist daher philologisch prekär; da die Redeweise von „zwei Welten“ aber
ungeachtet ihrer Metaphorik m.E. sachlich etwas Richtiges trifft, sei sie hier wiedergegeben und in
Anspruch genommen. Die Rede von der „Identität“ der „zwei Welten“ muß im Sinne jenes schon
angeführten transzendentalphilosophischen Theorietypus verstanden werden, wonach die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der
Gegenstände der Erfahrung sind.
165
„gebildetes Gefühl“767 und eine „gebildete, wahrhafte Empfindung“768
verfügt, kann ein solcherweise gebildeter Mensch „ein Bewußtsein von
bestimmten Unterschieden“769 ausbilden.
Sowohl unsere Umwelt als auch die Wahrnehmungs- bzw. Vollzugsweisen
von Natur als Landschaft unterliegen einem permanenten kulturellen Wandel.
Es ist demnach durchaus möglich, daß das, was zu einem historischen
Zeitpunkt als „häßlich“ bezeichnet wurde, zu einem späteren als „schön“ oder
„erhaben“ aufgefaßt wird und in Zukunft möglicherweise umgekehrt. Wenn
diese Annahme plausibel ist, dann müssen in der Landschaftsästhetik
weiterhin die Naturvollzüge und deren kulturelle Rahmenbedingungen, die zur
Erfahrung von „schöner“, „erhabener“ oder „häßlicher“ Landschaft führen,
berücksichtigt
und
analysiert
werden.
Dann
aber
ist
es
äußerst
unwahrscheinlich, daß die Aufgaben einer Landschaftsästhetik sich darin
erschöpfen, eine physiozentrische „ökologische Naturästhetik“770 oder eine
„ästhetische
Naturhermeneutik“771
gegen
eine
anthropozentrische
Naturästhetik772 auszuspielen. Es bedarf dann auch keiner Rehabilitierung
einer „sprechenden Natur“773 oder von „Atmosphären“ der Natur774. Eher
bedarf es dann einer weiter zu entwickelnden „anthropozentrischen“ Naturund Landschaftsästhetik. Im Kontext einer anthropozentrisch orientierten
Ästhetik der Landschaft bedarf es zudem keiner Resubjektivierung der Natur
im Sinne einer „Signaturenlehre“, die in einem „kommunikativen
Naturbegriff ihre Basis hat“775.
Statt dessen sollte insofern an Hegel angeknüpft werden, als er in der
Einleitung zu seinen Vorlesungen zur Naturphilosophie auch die Natur mit
dem Begriff der Freiheit in Verbindung bringt. So kann Hegel beispielsweise
in der ersten Berliner Vorlesung zur Naturphilosophie von 1819/20
behaupten, die Naturphilosophie könne als „verkörperte Vernunft“ betrachtet
767
768
769
770
771
772
773
774
775
166
V 13, 188.
GW 20, § 447.
GW 20, § 447.
Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt am Main 1989.
Silvio Vietta: Die vollendete Speculation führt zur Natur zurück. Leipzig 1995.
Z.B. die von Ruth und Dieter Groh: Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur.
Frankfurt am Main 1996 oder Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main 1991.
Gernot Böhme: Sprechende Natur: Die Signaturenlehre bei Paracelsus und Jacob Böhme. In:
Ders.: Für eine ökologische Naturästhetik, 121-138.
Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, 11 ff., 22 f., 148 ff. sowie ders.: Das Schöne
und andere Atmosphären. In: ders.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter
Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 192-207.
Gernot Böhme: Sprechende Natur: Die Signaturenlehre bei Paracelsus und Jacob Böhme, 122.
werden, wodurch die Natur aufhöre, „ein Fremdes, Starres gegen mich zu
sein, denn ihr Wesen ist ein Vernehmliches; darin sehen wir uns selbst“; und
in der „vernünftigen Erkenntnis lasse ich es [das Natürliche] frei und «bin»
ohne Furcht, es zu verlieren. Es ist ein in sich Geschlossenes und
Vernünftiges, dessen Freiheit für mich nichts Furchtbares hat, da sein Wesen
das meinige ist.“776 Andererseits ist der Mensch sogar „nur insofern frei, als
noch andere neben ihm frei sind. Die Naturphilosophie ist also die
Wissenschaft der Freiheit.“777 Wenn der Mensch sich von Natur befreit hat,
dann kann er zugleich Natur in ihre Freiheit entlassen, weil sie ihm nicht
mehr als etwas Feindliches, sondern als das „Meinige“ erscheint.
5.2
Darstellung schöner Landschaft als Symbol des
Menschlichen
Im Anschluß an die bislang geleistete Erörterung einer Reduktion des
Naturvollzugs auf Empfindung stellt sich die Frage, auf welche Weise der
Vollzug und die Darstellung der Natur als Landschaft über die Konzentration
auf subjektive Innerlichkeit hinausführen und die Form substanzieller
Subjektivität erreichen kann. Diese Frage zielt letztlich darauf, inwiefern die
in der Kunst dargestellte Landschaft als „Symbol der Sittlichkeit“ oder - mit
Hegel - als Vollzug des Menschen dargestellt und zum Symbol des
„humanus“, des vernünftigen und freien Menschen werden kann. Da Hegel
die Festlegung der Kunst auf Nachahmung der Natur mit guten Gründen
ablehnt, müßte der künstlerische Naturvollzug, die Darstellung der Natur oder
der Natur als Landschaft, über die bloße Empfindung der Natur hinaus diese im Sinne der Naturphilosophie - als Produkt der Freiheit, mit Schiller: als
„Freiheit in der Erscheinung“ gestalten. Hegel selbst räumt in der Diskussion
der Darstellung bzw. Gestaltung der Natur als Landschaft seine Bedenken
gegen einen bloß empfindsamen Naturvollzug in mehreren Schritten aus.
Sowohl die Landschaftsmalerei als auch die Gartenkunst und die
Idyllendichtung können als „Symbol der Sittlichkeit“ dargestellt werden.
Mit Landschaftsmalerei, Gartenkunst und Idyllendichtung verweist Hegel
auf typische Phänomene der „Romantischen Kunstform“, die die „Idee“ als
776
777
Gies, 6.
Gies, 6.
167
sich selbst als „Geist“ erfassenden „Geist“ zum Inhalt hat. Jede sinnlichmaterielle Gestalt ist fortan dem göttlichen bzw. geistigen Inhalt
unangemessen, weil das Geistige sich in sich vertieft und den äußeren Stoff zu
einer kontingenten Form depotenziert. So beobachtet Hegel eine „Auflösung
des Inhalts und der Gestaltung“778. Die Kunst stellt daher alles dar, was „die
Menschenbrust bewegt“, alle Facetten der inneren und der äußeren Welt des
Menschen können nun Gegenstand der Kunst werden.779 Dementsprechend
thematisiert Hegel in den Vorlesungen im Abschnitt über die „Romantische
Kunstform“ weitere Gestaltungsweisen der romantischen Kunst, nämlich das
„Charakteristische“,
das
„Interessante“
und
das
„Häßliche“.
Die
Kunstgattungen der „Romantischen Kunstform“ ermöglichen somit eine
umfassende Symbolisation des Menschlichen.
5.2.1
Landschaftsmalerei
Die Landschaftsmalerei ist wie die Malerei überhaupt dem Prinzip der
subjektiven Innerlichkeit verpflichtet. Der Maler findet weder einen Gott in
der Natur vor noch kann er diesen einfachhin in ein natürliches Umfeld
hineinstellen. Die Malerei „geht zur Subjektivität fort“780, d.h. der
geoffenbarte christliche Gott ist nicht mehr - wie der griechische Gott - „an
die Anschauung gebunden“781, sondern er wird „auf geistige Weise, die vom
Sinnlichen zurücktritt“782, vorgestellt und für die religiöse Andacht bildlich
dargestellt. Dieser Gott ist ein handelnder und geschichtlicher Gott, der in
Situationen seines Handelns mit den Menschen dargestellt werden muß783.
Erscheinen kann der geschichtliche christliche Gott aber nur in einer situativ
erschlossenen Welt. Diese ist aber nicht natürlich vorgegeben, sondern muß
bewußt gesetzt werden. Dies ist möglich, indem der Maler bewußt und gezielt
einen Weltausschnitt mit in Situationen handelnden Figuren setzt. Mittel für
die notwendige Eingrenzung des Blickfeldes ist der Rahmen. Die Malerei
bedient sich nicht mehr – wie Architektur und Skulptur – des Raumes „in
778
779
780
781
782
783
168
Hotho 1823, 36.
„Im Romantischen haben alle Gegenstände Platz“ (Hotho 1823, 198).
Hotho 1823, 248.
Hotho 1823, 37.
Hotho 1823, 37.
Dies ist ein wichtiger Unterschied zur Skulptur: „Das was vorgestellt wird, wird gemacht für den
Standpunkt des Zuschauers, sodaß es ihm erscheinen soll. Das Skulpturbild ist unbekümmert um
den Zuschauer“ (Libelt 1828/29, Ms. 128).
seinen drei Dimensionen zum Material der Darstellung“784, sondern der
zweidimensionalen Fläche und der Farbe als bereits „vergeistigtes“
Kunstmittel. Es kommt zu einer „Akzentuierung des Vollzugscharakters
durch den Rahmen“ und zu einer „Integration der Prozeßhaftigkeit in die
Konstitution der Form durch das Farbenspiel“785. Mit Rahmung und
Farbenspiel
sind
die
beiden
entscheidenden
Voraussetzungen
eines
produktiven (Natur)Vollzuges genannt, der hier ebenfalls, wie schon im
Zusammenhang
der
Rekonstruktion
der
Landschaftsanschauung,
als
„gestaltete Anschauung“ beschrieben werden soll.
5.2.1.1 Zur gestalteten Anschauung in der Landschaftsmalerei
Durch die mit dem Weltausschnitt, dem Rahmen angezeigte Reduktion des
dreidimensionalen Raums der Architektur und Skulptur auf die Fläche ist die
Malerei nicht wie die Skulptur und die an ihr orientierte Bestimmung der
Malerei auf den Kontur, die Linie hin entworfen, sondern sie bringt durch das
Zusammenspiel von Licht und Schatten in der Farbe, also durch einen
produktiven Vollzug, die „Rundung der Gestalt“786 selbst hervor. Eine
dreidimensionale, handgreifliche Gestalt in einer natürlichen Umwelt wird
dadurch ein „Überflüssiges“787. Hell und Dunkel dürfen demgemäß nicht dem
Zufall überlassen werden - wie dies in der Natur der Fall ist -, sondern die
Malerei muß „das Hell und Dunkel fixieren“, wodurch allerdings ein
„Hintergrund notwendig“788 wird. So entstehen Vordergrund, Mittelgrund und
Hintergrund. Die eingerahmte Fläche des Bildes vermag so, die Figur
(Skulptur) und den Hintergrund (Architektur) auf einer Ebene zu vereinigen.
Dadurch wiederum ist es möglich, das geforderte Handeln des Gottes mit den
Menschen bzw. der Menschen miteinander oder der Menschen mit ihrer
Umwelt bildlich darzustellen. Die Skulptur vermochte es bestenfalls, bis zur
Darstellung von Gruppen zu gelangen. Die Malerei hingegen „entfaltet ihren
Gegenstand“789 und bringt es dahin, „daß den Figuren Bewegung gegeben
wurde“ und „mehrere Figuren in einer Verbindung, in einer Handlung
784
785
786
787
788
789
Hotho 1823, 44.
Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 281.
Hotho 1823, 250.
Hotho 1823, 251.
Hotho 1823, 251.
Hotho 1823, 257.
169
dargestellt werden“790. Gewissermaßen wird das Handeln selbst bildlich
dargestellt.
Das Zusammenspiel von Licht und Schatten ist das Charakteristikum der
Farbe. Die Farbe ist das „Element der Malerei“791, d.h. ihre Grundlage, und
sie ist für Hegel eine „in sich bestimmte und subjektivierte Sichtbarkeit“792.
Zwar ist das Material der Architektur und Skulptur „gleichfalls ein Sichtbares,
aber nicht die abstrakte Sichtbarkeit“, d.h. die „Sichtbarkeit als solche“793.
Hegel wendet sich hier also gegen die „klassizistische“ Vorstellung, erst die
Linie, der Kontur konstituiere die Gestalt, die Form, das Räumliche, deren
Formen dann durch die Farbe nur noch eingefärbt zu werden brauchen. Es ist
dies die traditionelle Vorrangstellung des „Linearen“ gegenüber dem
„Malerischen“.794 Am Beispiel der Gemälde von Dürer und Raffael weist
Hegel darauf hin, daß die „vollkommene Kunst“ innerhalb der Malerei „die
Bestimmung der Gestalt durch unmerkliche Übergänge eines Kolorits in das
andere zuwege[bringt]“795. Die „höchsten Wirkungen“ seien hier durch „ganz
einfache Unterschiede hervorgebracht“; tritt man nämlich nahe an die
Gemälde heran, so „scheint die Fläche einfärbig, tritt man in den rechten
Punkt, sieht man, wie die Tinten in den kleinen Verschiedenheiten die
beseeltesten Gestalten hervorbringen“796. Die Farbe, präziser: das Kolorit als
formkonstituierendes Mittel ist in diesem Sinne ein „geistigeres“ Kunstmittel
als der Stein der Architektur und der Marmor (Stein) der Skulptur als der
Natur entnommene Kunstmedien.
Die Farbe als Material ist daher gegenüber den Materialien der Architektur
und Skulptur deutlich immaterialisiert. Die Malerei „befreit sich hier von dem
Vollständig-Materiellen“797, sie verläßt die „objektive Bestimmung der
Materie, die totale Räumlichkeit und Äußerlichkeit, und ist das Abstrahieren
790
791
792
793
794
795
796
797
170
Hotho 1823, 257.
Hotho 1823, 250.
Hotho 1823, 42.
Hotho 1823, 42.
Vgl. die ausführliche Darstellung von Bernadette Collenberg: Hegels Konzeption des Kolorits in
den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, 91ff., in: Annemarie Gethmann-Siefert
(Hg.): Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in
Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst, Bonn 1992 (HegelStudien, Beiheft 34).
Hotho 1823, 261.
Hotho 1823, 261.
Hotho 1823, 42.
von derselben“798. So bezieht sie sich nur noch auf „den abstrakt ideellen Sinn
des Gesichts“799, d.h. auf eine vergeistigtere, in sich reflektiertere
Sinnlichkeit. Diese ist das Sehen, also der „Gesichtssinn“ als einer der beiden
„theoretischen Sinne“. Sowohl das Material als auch die Sinnlichkeit der
Malerei verweisen demnach auf Subjektivität. Im Licht - als dem einen
Konstituens der Farbe, neben der Dunkelheit - „wird die Natur subjektiv; es
ist das physikalische Ich“800. Die Farbe ist eine „Art der Subjektivierung“801.
Dem korrespondiert auf seiten des den Bildrahmen und damit einen bewußten
künstlerischen Entwurf setzenden Künstlers mit dem Sehen eine Form der
Sinnlichkeit, die das Subjekt aus allen haptischen, d.h. noch irgendwie dem
Tastsinn verbundenen Naturzusammenhängen befreit. Man könnte sagen, die
Kunst in Gestalt der Malerei befreit sich hier endgültig von ihrer Bindung an
eine (vermeintlich) vorgegebene, objektive Natur802. Denn das, was auf der
Bildfläche als Darstellung eines Inhalts erscheint, konstituiert sich erst im
Vollzug des Sehens.
Die Konstitution der Form durch das Farbenspiel erfordert die
Vervollkommnung der technischen Mittel bei der Darstellung. Hegel nennt
diese Vervollkommnung „Magie der Farben“803, „Musikalität der Farbe“804
oder „Scheinen in andern Scheinen“805, worin nach Hegels Einschätzung die
Niederländer „eine Meisterschaft erreicht“ haben.806 Die Niederländer haben
seiner Meinung nach die Malerei, die „wegen ihrer Innerlichkeit die Kunst
des Scheines überhaupt“ ist, so vervollkommnet, daß sie die „höchsten Grade
des Scheinens“ erreichten.807 Generell ist für Hegel ein Gemälde nicht nur ein
Kunstwerk, sondern auch „zugleich ein Kunststück des Scheinens“808. Dies
trifft für die niederländischen Bilder in ausgezeichneter Weise zu. Das Mittel
für diesen Zweck des „Scheinens“ ist das souveräne „Zusammenstellen der
Farben“809. Diese Eigenart des Zusammenwirkens der Farben haben die
798
799
800
801
802
803
804
805
806
807
808
809
Hotho 1823, 250.
Hotho 1823, 42.
Hotho 1823, 249.
Hotho 1823, 42.
Vgl. hierzu: Annemarie Gethmann-Siefert: Phänomen versus System, 34.
Hotho 1823, 262.
Pfordten 1826, Ms. 56.
Libelt 1828/29, Ms. 85.
Hotho 1823, 201.
Kehler 1826, Ms. 341.
Kehler 1826, Ms. 342.
Pfordten 1826, 84.
171
Niederländer zur Vollendung fortentwickelt. Sie haben gleichsam das
„musikalische in der Farbe (...) aufs gründlichste studirt“810, d.h. die Eigenart
der Farbe, über den Vollzug des Sehens Welt zu konstituieren und zugleich
für einen Nachvollzug zu vermitteln. Die Niederländer haben diese
Entwicklung bis an ihre äußerste Grenze geführt, jenseits derer die Musik
beginnt. Auch die Musik ist an einen sukzessiven Vollzug gebunden, an den
Vollzug des Gehörs bezüglich des völlig immateriellen Tones. Hier ist eine
weiter vergeistigte Stufe der „subjektiven Innerlichkeit“ der romantischen
Kunstform erreicht. Wegen dieser Nähe zur Musik nennt Hegel jene
Besonderheit der Farbe die „Musikalität in den Farben“; die Niederländer
haben diese „gründlich studiert, durch Scheine Wirkungen hervorgebracht,
welche wenigstens frappiren“811.
Durch diese Charakteristik der Niederländischen Malerei eröffnet Hegel
sich die Möglichkeit, auch die Darstellung der Landschaft, also eine bereits
subjektiv konstituierte Natur, differenziert zu bestimmen. Der allgemeine
Charakter der Malerei wird zusätzlich akzentuiert durch eine Eigenart der
Landschaftsmalerei, die sich interessanterweise gerade aus dem Naturvollzug
via Stimmung bzw. via Empfindung bei der Betrachtung der Landschaft
ergibt. Ungeachtet der Bedenken gegen die mit diesem Naturvollzug
gegebenen Schwierigkeiten kann die Landschaftsmalerei an die spezifische
Art der malerischen Darstellung als Sehenlassen eines Gesehenen anknüpfen
und Landschaft als einen formal identischen Vollzug von Natur als Gesehene,
im Sehen konstituierter darstellen. Die für diese Darstellungsform typische
Weise der „Idealisierung“ der Natur faßt Hegel zu einer Zweckbestimmung
der Landschaftsmalerei zusammen: „Die Landschaftsmalerei faßt die Natur
mit Seele und Geist auf und ordnet ihre Gebilde nach dem Zweck, eine
Stimmung auszudrücken. Somit darf sie keine bloße Nachahmung der Natur
werden und bleiben“.812
Diese Bestimmung macht deutlich, daß es sich bei diesem Vorgang der
Darstellung von Landschaft um einen produktiven Vollzug handelt, insofern
die Anschauung der Landschaft im künstlerischen Schaffensprozeß so
gestaltet wird, daß sie eine geistig erzeugte Ordnung in die angeschaute Natur
810
811
812
172
Kehler 1826, Ms. 285.
Aachen 1826, Ms. 152.
Hotho 1823, 255 f.
bringt, die eine Stimmung auszudrücken vermag. In genau diesem Sinn läßt
sich dieser Naturvollzug als gestaltete Anschauung beschreiben.
Als gestaltete Anschauung kann Landschaftsmalerei nach allem bislang
Gesagten die Natur nicht schlichtweg abbilden. Eine solche Abbildung führte
lediglich zu einer für den menschlichen Geist unbefriedigenden und
sinnlosen, weil überflüssigen Verdoppelung des natürlich Gegebenen bzw.
Vorgegebenen.
So
wird
nicht,
wie
in
einer
Nachahmung
durch
Landschaftsmalerei, landschaftliche Natur verdoppelt, sondern der Mensch
gestaltet die Natur bewußt als von ihm angeschaute Natur unter den
Bedingungen der Ausdehnung: Farbe und Form als Konstitution der
abstrakten (zweidimensionalen) Räumlichkeit. In der dargestellten Natur
erkennt der Mensch seine „Brüder“813, wie Hegel mit Verweis auf Goethe814
feststellt. Die dargestellte Natur qua Landschaft wird zur „Freiheit in der
Erscheinung“, konstituiert durch bewußte Gestaltung:
Die „natürlichen Dinge sind nur, sind nur einfach, nur einmal. Doch der
Mensch als Bewußtsein verdoppelt sich, ist einmal, dann ist er für sich, treibt,
was er ist, vor sich, schaut sich an, stellt sich vor, ist Bewußtsein von sich; und
815
er bringt nur vor sich, was er ist“ .
Nun zeigt die Landschaft aber klare sichtbare Strukturen, die für bestimmte
Naturdinge charakteristisch sind. Blätter und Zweige weisen eine typische
Zeichnung auf, die nicht einfach von der Landschaftsmalerei übergangen
werden darf, sondern „beibehalten“ werden muß, aber nicht in jedem
vorgegebenen Detail portraitartig naturgetreu nachzumalen ist und „die
Aufmerksamkeit auf sich ziehen [zu] lassen“816 hat. Die „Hauptsache“ ist für
Hegel „die Stimmung des Ganzen (...) Ihr muß das übrige untergeordnet
sein“817. Das „Ganze“ ist eine bestimmte auszudrückende Stimmung, der sich
die Details in ihrer Charakteristik und in ihrer Auswahl unterzuordnen haben.
Diese Vorgehensweise vermag immerhin, eine einer Stimmung verpflichtete,
im Vollzug erzeugte Ordnung in die als Landschaft angeschaute Natur zu
bringen.
813
814
815
816
817
GW 5, 372.
Vgl. Anm. 280 und das dort wiedergegebene Goethe-Zitat samt Quellenangabe.
Hotho 1823, 12 f.
Hotho 1823, 256. – Hier gilt im übrigen die gleiche Kritik, die Hegel im Hinblick auf die
Portraitmalerei geäußert hat.
Hotho 1823, 256.
173
Das „Ganze“ durch Stimmung vermittelt ist folglich ein ebensolches
„Mehr“, wie dies bereits hinsichtlich des neuzeitlichen, „Landschaft“ allererst
konstituierenden ästhetischen Naturvollzuges festgestellt werden konnte.
Dieser Naturvollzug verortet nicht mehr – wie dies für das gesamte Mittelalter
typisch war – einzelne Naturgegenstände innerhalb einer Schöpfungstotalität,
um diese zu einem summarischen Gesamtbild zu bilden. Landschaft ist
vielmehr über einen an Vollzugsformen des subjektiven Geistes (Stimmung,
Empfindung, Gefühl) geknüpften Deutungszugriff vermittelt.
5.2.1.2 Kulturlandschaft als „objektiver Geist“
Kunstgestaltung ist daher auch als Darstellung der Landschaft Arbeit und
Sprache. Der Prozeß der Gestaltung von Welt ist mit einer durch Arbeit und
Gestaltung zunehmenden Be-Freiung von Natur verbunden. In den
Grundlinien der Philosophie des Rechts verbindet Hegel seine in vielen
Schriften wiederholt vorgetragene Kritik an der naiven Vorstellung eines
ursprünglichen vorzivilisatorischen „Naturstandes“ mit der Herausstellung der
Bedeutung der Arbeit für die Befreiung des Menschen von Natur:
„Die Vorstellung, als ob der Mensch in einem sogenannten Naturzustande,
worin er nur sogenannte einfache Naturbedürfnisse hätte und für ihre
Befriedigung nur Mittel gebrauchte, wie eine zufällige Natur sie ihm gewährte,
in Rücksicht auf die Bedürfnisse in Freiheit lebte, ist noch ohne Rücksicht des
Moments der Befreiung, die in der Arbeit liegt“.818
Dieser Befreiungsprozeß vollzieht sich theoretisch wie praktisch, das heißt
„durch Arbeit und materielle Produktion ebenso wie durch geistige
Weltaneignung im engeren Sinne“819. Mit Hegel:
„Der Mensch muß arbeiten. Die physischen Bedürfnisse regen die Tätigkeit
auf, geben das Gefühl der innerlichen Kraft, wonach sich auch die tieferen
Kräfte entfalten können“.820 Denn die „Bedürfnisse des Menschen sind nicht
bloß physisch, sondern von höherer, geistiger Art“821.
In diesen Zusammenhang stellt Hegel auch seine Überlegungen zum
Zusammenhang von Natur und „Landschaft“. Hier lassen sich zwei Schritte
818
819
820
821
174
Rph, § 194.
Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997, 119.
Hotho 1823, 109.
Hotho 1823, 110.
der Befreiung von bloßer Natur rekonstruieren. Der erste Schritt besteht in der
cultura, d.h. der agrarischen Bearbeitung der Natur zu Landschaft sowie in
Wissenschaft, Handwerk und Gewerbetreiben. Der zweite Schritt besteht in
der Aneignung der Landschaft mittels Kunst und Ästhetik, wodurch die
Landschaft zu einem im engeren Sinne künstlerisch-technischen und im
weitesten Sinne ästhetischen Phänomen wird. Den ersten Schritt hat J. Ritter
in den beiden Aufsätzen über „Landschaft“822 und „Die Große Stadt“823 als
Zusammenhang zwischen Befreiung von Natur durch Arbeit und der
Entstehung der Landschaft herausgearbeitet. Der zweite Schritt beschreibt den
historischen Prozeß, den wir im Abschnitt über die Vorgeschichte der
Landschaftsanschauung bereits skizzenhaft rekonstruiert haben.
Der Mensch muß sich aus dem so genannten „Naturstand“ befreien, um
überhaupt mehr zu sein als ein Objekt natürlicher Kräfte und Einwirkungen,
um seinerseits als „Subjekt“ natürlichen Phänomenen gegenüberstehen und
diese als „Objekte“ menschlicher Vollzüge rekonstruieren zu können. Der
erste Schritt der Befreiung besteht also darin, daß der Mensch, nachdem er in
der unbeherrschten und „freien“ Natur Objekt der Natur und daher unfrei war,
nunmehr frei ist und einer jetzt beherrschten unfreien Natur als Subjekt
gegenüber steht. Zivilisationsgeschichtlich manifestiert sich dieser Schritt
nach Ritter in der Entwicklung und Gegenüberstellung von Stadt und
kultivierter „Gefildenatur“ (d.h. Kulturlandschaft) einerseits und „freier“
Natur andererseits. Denn
„der ‘Mensch ohne Stadt’ [bleibt] das ‘Wildeste’: an sich und der Möglichkeit
nach Mensch, vermag er im Stande der Natur nicht actu Mensch zu sein. Die
Freiheit des Selbstseins mit allem, was zu ihr gehört, setzt daher die Befreiung
aus dem Naturstand zum ‘städtischen Leben’ voraus. Sie kann erst als Stadt
zur Existenz kommen (...) Während der ‘Urstand’ des Menschen in der
Unterwerfung unter die Macht der Natur das Nichtsein des Menschen als
Menschen ist, beginnt mit der modernen Zivilisation und ihrer Verbreitung
über die Erde die Geschichte, an deren künftigem Ende die vollständige
Unterwerfung der Natur unter den zum Menschsein befreiten Menschen stehen
wird.“824
822
823
824
Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1963),
in: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt am Main 1974, 141-190.
Joachim Ritter: Die Große Stadt (1960), in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles
und Hegel, Frankfurt am Main 1969, 341-354.
Joachim Ritter: Die Große Stadt, 350, 352.
175
Städtische Kulturleistungen wie Wissenschaft, Handwerk und Handel sind die
Voraussetzung für die allmähliche Erforschung und Objektivierung der Natur
und so für deren „Entzauberung“825 − der Mensch ‚entfremdet‘ und
„entzweit“ sich dabei aber von Natur. Diese „Entzweiung des Menschen mit
der ihn ursprünglich umruhenden Natur“ ist aber „Bedingung der Freiheit“826.
Deshalb ist für Ritter die Stadt der „Ort menschlicher Freiheit“827.
Mit Hegel kann der Mensch sich aus dieser Position errungener Freiheit
von Natur „zu einer vorgefundenen Natur (…) als ein Subjektives“828
verhalten und diese als „das Äußerliche an ihr selbst“, als „Sache“829
bearbeiten, sich aneignen und in Besitz nehmen. Für Ritter wie für Hegel
kann es „Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem
Boden der modernen Gesellschaft geben“830. Der Mensch kann Natur zu
Landschaft gestalten, zu einem Teil der Welt, die immer schon
Handlungsresultat, in Hegel Worten: „objektiver Geist“ ist. Landschaft ist
somit vor dem Hintergrund der Hegelschen Philosophie des objektiven
Geistes als „Kulturlandschaft“ aufzufassen.831 Eine (Selbst)thematisierung
dieser objektiven, vom Menschen gestalteten Welt, durch die dem Menschen
diese Objektivität als seine eigene Leistung transparent wird, wird in den
Formen des „absoluten Geistes“ vollzogen. Was das im Hinblick auf die
Kunst heißt, exemplifiziert Hegel an der niederländischen Malerei des 17.
Jahrhunderts.
Kulturlandschaft ist als Produkt freier arbeitender Menschen immer schon
intersubjektiv vermittelt, da Freiheit für Hegel ein Aufeinanderverwiesensein
825
826
827
828
829
830
831
176
Dieser Begriff stammt zwar von Max Weber, aber er trifft den Kern des hier Angesprochenen. Vgl.
Walter Jaeschke: Der Zauber der Entzauberung. In: Glauben und Wissen. Zweiter Teil. Hg. von
Andreas Arndt, Karol Bal und Henning Ottmann in Verbindung mit Klaus-M. Kodalle und Klaus
Vieweg. Berlin 2004, 11-19 (Hegel-Jahrbuch 2004).
Joachim Ritter: Landschaft, 160.
Joachim Ritter: Landschaft, 159.
Rph § 39.
Rph § 42.
Joachim Ritter: Landschaft, 162. An dieser Stelle muß sogleich auf den entscheidenden
Unterschied zwischen Hegel und Ritter hingewiesen werden. Für Hegel ist Entzweiung (z.B.
zwischen Subjekt und Objekt) der „Quell des Bedürfnisses der Philosophie“, überwindende
„Versöhnung“ ihr Ziel. Ritter hingegen sieht in der Entzweiung „die in der Gegenwart vorhandene
Vernunft“ (in: Hegel und die französische Revolution, in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu
Aristoteles und Hegel, FaM 1969, 183-255; 229). Ritter will diese Entzweiung nicht überwinden,
er will sie vielmehr als die der Moderne allein angemessene Form von Vernunft verteidigen. Das
Auseinanderfallen der klassischen substantiellen Vernunft in Subjektivität und Objektivität ist für
ihn daher kein Zerfall, sondern eine neue Vernunftform. Für Ritter ist die Entzweiung von Mensch
(Gesellschaft) und Natur die Bedingung der Freiheit des Menschen in der Moderne.
Schon vor über 50 Jahren hat ein Vertreter der traditionellen Landschaftsgeographie auf diesen
Status der Kulturlandschaft als „objektiver Geist“ hingewiesen: Martin Schwind: Kulturlandschaft
als objektivierter Geist, in: Deutsche Geographische Blätter, 46 (1951), 5-28.
frei handelnder Menschen ist, die einander anerkennen.832 Damit ist
Kulturlandschaft nicht das Produkt Einzelner, sondern das kollektive
gesellschaftliche Produkt der Arbeit von Generationen, gegen die Gewalten
der Natur Welt zu gestalten833 und in ihr heimisch834 zu werden. Daß und
inwiefern Landschaft dadurch „Symbol der Sittlichkeit“ sein kann, zeigt
Hegel ebenfalls am Beispiel der Niederländer des 17. Jahrhunderts.
In den aktuellen Auseinandersetzungen um Landschaft weisen im übrigen
einige Autoren auf diesen Status von Landschaft als Kulturlandschaft und auf
die damit verknüpften Konsequenzen für das historische, sozialpolitische,
aber auch natur- und landschaftsschutzrechtliche Selbstverständnis einer
Gesellschaft hin. Dementsprechend hat etwa der Geobotaniker Hansjörg
Küster nicht nur ein Standardwerk über „Die Geschichte der Landschaft in
Mitteleuropa“835 veröffentlicht, sondern daneben die „Geschichte des
Waldes“ und die Geschichte der Ostsee als überwiegend Kulturgeschichte
rekonstruiert und erzählt. Weitere, hier exemplarisch genannte Bücher
widmen sich dem Rhein836, den Alpen837 und dem „Ende der Wildnis“838.
Kulturlandschaft
wird
häufig
als
Naturschönheit
aufgefaßt
und
thematisiert. Um 1800 strebte die Entdeckung und Begeisterung für
Landschaften in Europa einem Höhepunkt zu. Dies gilt für Natur- wie für
Kulturlandschaften.839 Landschaft wird häufig mit Natur einfachhin
gleichgesetzt, ohne die reale wie ideelle Überformung (cultura und
ästhetische Idealisierung qua Sehhabitualisierungen) zu berücksichtigen.
832
833
834
835
836
837
838
839
L. Siep etwa betont, daß in Hegels Rechtsphilosophie der „Bestimmung von Sittlichkeit und
Freiheit ein in sich konsequenter, symmetrischer Anerkennungsbegriff zugrunde liegt“ (L. Siep:
Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie - Untersuchungen zu Hegels Jenaer
Philosophie des Geistes, Freiburg/München 1979, 288). Vgl. hierzu auch W. Jaeschke: HegelHandbuch, 369. - Im Übrigen ist mit dieser Position, der ich mich hier anschließe, eine
Gegenstellung zu V. Hösle verbunden, der ein zweibändiges Werk dem Versuch gewidmet hat,
dem vermeintlichen „Problem der Intersubjektivität“ in „Hegels System“ Herr zu werden (V.
Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2
Bde., Hamburg 1987).
Vgl. Enz 1830, § 484.
„Der Mensch muß zu Hause in der Welt sein, frei in ihr haushalten, heimisch sich finden“ (Hotho
1823, 105).
Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart,
München 1995.
H. J. Tümmers: Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte, München 1999.
W. Bätzing: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft, München
2003.
R. Beck: Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003.
Vgl. A. Dinnebier: Zur Zukunft der ästhetischen Landschaft, in: H. Friesen/E. Führ (Hg.): Neue
Kulturlandschaften, Cottbus 2001, 55-69.
177
Diese Schwierigkeit hat beispielsweise Th. W. Adorno nicht bewältigt.840
Hegel scheint in diesem Punkt eine differenziertere Sichtweise gehabt zu
haben, insofern er die damals noch vorhandenen Naturlandschaften eher
gering einschätzt; statt dessen „strebte er in eine städtisch geprägte Kultur“841
und die dazugehörigen Kulturlandschaften.
Äußerungen in Hegels Werk, die auf nur wenig Sympathie für
Naturlandschaft schließen lassen, finden sich etwa in dem bekannten Bericht
über eine Alpenwanderung842 von 1796, in dem Hegel über die
Naturlandschaft des Berner Oberlandes spricht. Bei dem Anblick der
Felsmassen, Gletscher und Wasserfälle kann er weder etwas Schönes sehen
noch ein Gefühl der Erhabenheit feststellen, sondern der „Anblick dieser ewig
todten Massen gab mir nichts als die einförmige und in die Länge langweilige
Vorstellung: es ist so 843. Die engen Täler haben eher „etwas Einengendes,
Beängstigendes“, sie sind in gewisser Weise menschenfeindlich, abweisend.
In diesem Sinne hat Otto Pöggeler die Vermutung geäußert, „mit Friedrich die
menschenfeindlichen Landschaften des Riesengebirges zu suchen, kam Hegel
wirklich nicht in den Sinn“844. Einzig das „freie Spiel“ beweglichen Wassers
von Fließgewässern hat „etwas Liebliches“845, weist also eine ästhetische
Qualität auf.846 Martin Bondeli hat zudem darauf hingewiesen, daß Hegel „in
der Ästhetisierung der Berglandschaft relativ nüchtern bleibt“, weil dies „auch
etwas mit seinem Verhältnis zum bernischen Geistesleben zu tun“ habe, so
daß Hegels Bericht über eine Alpenwanderung „sozusagen ein Gegenstück zu
Albrecht von Hallers überschwenglicher Alpenverehrung“847 ist.
840
841
842
843
844
845
846
847
178
Vgl. insbesondere N. Schneider: Adornos Theorie des Naturschönen, 62: „Was das Naturschöne
sei, wird aus Adornos aphoristischen Argumentationen nicht recht deutlich. Zuweilen ist es mit
Natur identisch, dann wieder unterscheidet er es davon (…). Bis zu einem gewissen Grade
konvergiert der Begriff des Naturschönen mit dem des ‚Naturgefühls’ (…) mindestens ist es dessen
auslösender Gegenstand. (…) Aber [da]neben (…) werden von Adorno vor allem Erscheinungen
der Kulturlandschaft dem Naturschönen zugerechnet“.
O. Pöggeler: Hegel und Caspar David Friedrich, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und
die Bestimmung der Künste, 227-243; 237.
G.W.F. Hegel: Bericht über eine Alpenwanderung, in: GW 1, 381-398.
GW 1, 392.
Otto Pöggeler: Hegel und Caspar David Friedrich, 237.
GW 1, 383.
Hegel beschreibt diese Naturphänomene unter dem Eindruck der Lektüre von Friedrich Schillers
„Über Anmut und Würde“. Vgl. Martin Bondeli: Hegel in Bern (Hegel-Studien. Beiheft 33), Bonn
1990, 213, Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, 74.
M. Bondeli: Hegel in Bern, 214, Anm. 79. - Bondeli weist auch auf einen weiteren Aspekt hin, der
in Hegels Reisebericht anklingt, nämlich auf dessen Kritik an der Physikotheologie. Vgl. M.
Bondeli: Hegel in Bern, 217f. sowie Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, 75.
Diesem
frühen
Beschreibungen
Bericht
der
mit
Berner
seinen
überwiegend
Naturlandschaft
prosaischen
stehen
andererseits
Briefäußerungen über eine Reise in die Vereinigten Niederlande entgegen, die
fast ‚poetisch’ klingen. Während der Hinreise schwärmt Hegel über einen Ort
wie Weilburg, der „eine romantische Lage“, ein „schönes vegetationsreiches,
enges Tal, angenehme Krümmungen der Lahn“848 habe. In den Niederlanden
habe er „viele schöne Städte, Gegenden und Gemälde und Kirchen gesehen“;
Utrecht beispielsweise sei „eine schöne Stadt mit Universität und anmutigen
Umgebungen“849.
Auf
seiner
Rückreise
durchquert
er
deutsche
Heidelandschaften und beklagt sich wehmütig mit einem „adieu schönes
Holland und Brabant, − von hier alles Heiden“; und dann leider „gings Tag
und Nacht durch öde Heiden“850. Sind die „Umgebungen von Osnabrück“
noch „recht anmutig“, bedauert Hegel es, bei Diepholz bei schönstem
Sonnenschein über einen Weg fahren zu müssen, auf dem die Sonne „solche
Steppen bescheinen“ muß. „Doch gegen Bremen“ entdeckt er dann fast
erleichtert wieder „holländische grüne Wiesen“851, wie er am Ende des
Briefes an seine Frau notiert. Die niederländische städtische Kultur mit ihren
„anmutigen Umgebungen“, ihren „grünen Wiesen“, ihren „schönen
Gegenden“ ist demnach für Hegel der Inbegriff einer geistig-kulturellen
Auseinandersetzung mit Natur, in denen die Städte in eine umgebende
schöne, ja anmutige Kulturlandschaft eingebettet sind.
Der Unterschied, um den es Hegel offensichtlich geht, ist derjenige
zwischen
einer
städtisch
geprägten
Kultur,
die
von
„schöner“
Kulturlandschaft umgeben ist, und einer menschenfeindlichen Natur, die
einem Betrachter nichts als das Urteil „öde“ (angesichts der Heidelandschaft)
abringt oder den öden „Anblick dieser ewig todten Massen“ (angesichts der
Berner Alpen) vermittelt. Diesen Naturlandschaften kann Hegel kaum
ästhetische Reize abgewinnen, Hegels Naturbetrachtung wirkt daher in diesen
Beschreibungen „sehr prosaisch“852. An keiner Stelle spricht er der Natur
„Schönheit zu, ja nicht einmal Erhabenheit“853. Zuschreibungen solcher Art
848
849
850
851
852
853
Briefe, Bd. II, 348f.
Briefe, Bd. II, 363.
Briefe, Bd. II, 365.
Briefe, Bd. II, 366.
M. Bondeli: Hegel in Bern, 214.
W. Jaeschke: Hegel-Handbuch, 75.
179
finden sich nur in den Äußerungen über Kulturlandschaften, die er in
Deutschland, vor allem aber in den Niederlanden vorfindet.854
Eine an dieser Stelle aufkeimende Debatte darüber, was noch tatsächlich
Natur- oder bereits Kulturlandschaft sei, könnte vielleicht durch folgenden
Vorschlag
unterlaufen
werden.855
Wenn
sowohl
die
letzten
Naturlandschaftsreste als auch alle Kulturlandschaft auf den Menschen und
seine Kultur verweisen, dann sollte Landschaft als Symbol gefaßt werden.
Landschaft
hat
enttheologisierte,
in
der
damit
Neuzeit
allein
ihre
Bedeutung
menschlichen
als
entzauberte,
Aktivitäten
oder
Wahrnehmungen zugängliche Natur. Selbst die letzten noch verbliebenen
Reste von Naturlandschaft in Mitteleuropa können verstanden bzw. angesehen
werden als „Teil unserer Kultur, insofern sie uns als Symbol für unsere
Träume, unsere Ängste etc.“ dienen856. Überhaupt ist die Unterscheidung
zwischen „Naturlandschaft“ und „Kulturlandschaft“ „hinfällig, da jede
Landschaft zur Kulturlandschaft wird, sobald sie ein Mensch wahrgenommen
hat“857. In eine ähnliche Richtung zielen Überlegungen von Rolf Peter
Sieferle, allerdings mit einer Warnung vor einem Folgeproblem. Einerseits
gesteht er zu, daß es „Naturlandschaften in striktem Sinne (…) allerdings –
vielleicht abgesehen von einigen Hochgebirgen, Wüsten, Eisflächen oder
Resten von Urwäldern – schon lange nicht mehr“858 gibt. Andererseits warnt
er davor, den Unterschied von „Kulturlandschaften“ und „Naturlandschaft“
gänzlich aufzugeben.859
Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es ratsam, die Unterscheidung
zwischen Natur- und Kulturlandschaft als Produkt menschlicher Setzung
aufzufassen, d.h. als an bestimmten Zwecken orientierte Auffassung von
854
855
856
857
858
859
180
Allerdings übersieht Hegel, daß die „öde Heide“ ebenfalls eine Kulturlandschaft ist, insofern sie
Produkt menschlicher Bearbeitungsformen ist.
Einen solchen Vorschlag habe ich auch andernorts in einem umfassenderen Zusammenhang
gemacht. Vgl. K. Berr: Carus und Hegel über Landschaftsmalerei. Landschaftsästhetik nach dem
„Ende“ der Landschaftsmalerei, in: Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte. Hrsg. von A.
Gethmann-Siefert und B. Collenberg-Plotnikov, München 2008, 243-256.
A. Muhar: Fragen zur Identität einer Landschaft und ihrer Bewohner am Beispiel der IBA-Region
„Fürst-Pückler-Land“, in: H. Friesen/E. Führ (Hg.): Neue Kulturlandschaften, Cottbus 2001, 117128; 120.
A. Muhar: Fragen zur Identität einer Landschaft, 120.
R. P. Sieferle: Rückblick auf die Natur, München 1997, 27.
„Wenn alle Landschaftstypen (...) als ‚Kulturlandschaften‘ gelten, verliert dieser Begriff jede
konkretere Bedeutung. (...) Um dieses Einerlei zu vermeiden, scheint es sinnvoll, auch nach dem
Auftreten des Menschen unter bestimmten Umständen noch von Naturlandschaften zu reden, und
zwar dann, wenn sich seine Wirkung auf den Aufbau der Landschaft nicht prinzipiell von der
anderer Spezies unterscheidet“ (R. P. Sieferle: Rückblick auf die Natur, 28).
Natur, die je nach Zwecksetzung (wissenschaftlicher, ästhetischer oder
technischer Art) unterschiedlich ausfallen und gewichtet werden kann.
Blendet man den naiv realistischen Anspruch auf „Objektivität“ aus und
verortet diese Unterscheidung in einem ästhetischen Vollzugsrahmen, dann
kann Landschaft, ob Natur- oder Kulturlandschaft, als Symbol für
menschliche Wahrnehmungen und kulturelle Aktivitäten verstanden werden.
Zwar unterscheidet sich bearbeitete, also kultivierte Natur von unbearbeiteter,
von menschlichen Eingriffen unveränderter Natur. Aber die Unterscheidung
zwischen Natur- und Kulturlandschaft kann nur durch die Angabe eines
zweckorientierten menschlichen Vollzugs getroffen werden, der darüber
entscheidet, was „objektiv“ vorliegt oder nicht. Auch der Begriff
„Naturlandschaft“ ist durch bestimmte Zwecke und damit verknüpfte
Deutungen motiviert. Es ist eine spezifische Deutung, die an Urwälder, Berge,
Gletscher oder Wüsten den Begriff der Unversehrtheit oder Unberührtheit
heranträgt. Diese Naturphänomene sind zwar nicht real, d.h. agrikulturell oder
gestalterisch
bearbeitet.
Aber
menschliche
Wahrnehmungsmuster,
Deutungsvorleistungen und Erwartungshaltungen idealisieren das Phänomen.
Damit verdankt sich die Wahrnehmung der Natur als Natur bzw. der Natur als
Naturlandschaft einer Deutung.
Nimmt man diesen Vorschlag an, wäre Kulturlandschaft als Symbol für die
aktuelle
Auseinandersetzung
des
Menschen
mit
Natur
aufzufassen.
Naturlandschaft wäre zum einen Symbol für Sehnsüchte nach Zonen, die vom
Kulturzwang noch unberührt blieben, insofern mit Hegel ein „sich sehnendes
Gemüt“ eher ein „symbolisches Verhältnis“860 des Menschen zur Natur
anzeigt. Zum anderen wäre sie als mahnendes Symbol für das „Substratum“
von Kultur anzusehen, um dessen Erhalt man sich gegenwärtig politisch
bemüht.
Um zu verstehen, warum und wie Hegel Kulturlandschaft zum
Darstellungs-Gegenstand der Kunst erheben kann, ist ein kurzer Blick seiner
Deutung der niederländischen städtischen Gesellschaft und Kultur vonnöten.
Die Welt der Holländer war eine von ihnen selbst erarbeitete und der Natur
abgetrotzte Welt, ihre Freiheit hat sich die bürgerliche Gesellschaft dieses
Volkes im Kampf gegen fremde Mächte erworben. Hegel hebt diesen
860
Hotho 1823, 189.
181
Befreiungskampf gegen Fremdherrschaft und gegen die Unbilden der Natur in
den Ästhetikvorlesungen eigens heraus:
„Die niederländischen Städte hatten sich freigemacht von weltlicher und
geistlicher [Herrschaft]. Ihre politische Freiheit, ihren Unterhalt, alles haben
sie durch sich selbst, durch Bürgertugend und protestantische Frömmigkeit
[erworben]. Hier ist das Prinzip, in der gemeinen Wirklichkeit sich befriedigt
zu wissen“.861
An anderer Stelle heißt es:
„Das Ihrige ist der Boden, auf dem sie stehen, den haben sie sich selber
gemacht und erhalten ihn noch gegen das Anstürmen des Meeres; sie haben
sich von spanischer Herrschaft befreit. Die Bürger und Bauern haben sich
politische und religiöse Freiheit erworben und erhalten, alles durch ihre
Tätigkeit und Unternehmungsgeist im Kleinen und Großen, die Wohlstand zur
Folge hat[ten].“862
Aus diesen Zitaten wird ersichtlich, daß Hegel auch bei den Niederländern als
den „Ort der Freiheit“863 die Stadt ansieht. Die Niederländer haben ihre
Freiheit zum einen in der Unterwerfung der Natur durch Arbeit gefunden,
zum anderen im politischen und religiösen Kampf gegen geistliche und
weltliche Bevormundung von Kirche und Fremdherrschaft. Ihre Welt ist ihre
Welt, d.h. eine von ihnen erkämpfte freie bürgerliche Gesellschaft. Ihre
Landschaften sind ihre Landschaften, d.h. von ihnen der Natur, insbesondere
der Nordsee abgerungenes Land864, auf dem sie leben, arbeiten und
Landwirtschaft betreiben können. Ihre Welt und Umwelt sind in diesem Sinne
„objektiver Geist“.
Wie schon im Zusammenhang der Diskussion um das Verhältnis von Natur
und Geist bei Hegel gezeigt werden konnte, daß der „Geist“ die „Natur“ nicht
- wie die Kritiker behaupten - „usurpiert“, so gilt auch im Hinblick auf die
Frage nach dem Verhältnis von Natur (hier: Kulturlandschaft) und
Naturaneignung (hier: Bearbeitung der Landschaft), daß „Natur“ nach Hegel
nicht schrankenlos der Willkür menschlicher Eingriffe ausgeliefert sein darf.
So wird in der Interpretation darauf hingewiesen, daß die Tatsache, daß der
861
862
863
864
182
Hotho 1823, 200.
Libelt 1828/29, Ms. 59.
J. Ritter: Landschaft, 159.
Die „schwachen Holländer“ haben nicht nur gegen die mächtigen Spanier „sich ihre Freiheit
erkämpft. Ebenso haben sie vom Meer sich die Existenz ihres Landes errungen“ (Kehler 1826,
153).
Mensch „als ein Subjektives“ sich „zu einer vorgefundenen Natur“865
verhalten und diese als „das Äußerliche an ihr selbst“, als „Sache“866
bearbeiten, sich aneignen und in Besitz nehmen kann, nicht bedeutet, „daß es
nicht auch von Hegel her Restriktionen der Naturaneignung geben kann“867.
So ist Natur zwar „zum einen legitimes Objekt privater Aneignung, sie ist
aber zum anderen auch unverfügbarer Hintergrund dieser Aneignung“868.
Diese Unverfügbarkeit besteht im Kontext der Diskussion über den Status von
Landschaft beispielsweise darin - das hat Fritz Reusswig gezeigt - daß
„elementarische
Gegenstände“
im
Sinne
der
Rechtsphilosophie
„Umweltmedien“ sind, zu denen Wasser, Boden und Luft zählen. Diese
Umweltmedien umschreiben „physische Aneignungsbedingungen und grenzen“.869 Umwelt in diesem Sinne ist „kein stofflich-dingliches Ensemble,
sondern ein stofflich-energetisches Prozeßgefüge, das jeder dinglichen
Aneignung und Transformation immer vorausliegt“870.
Vor einer überzogenen Instrumentalisierung der Naturkräfte und daraus
sich
möglicherweise
871
Menschen
ergebenden
negativen
Konsequenzen
für
den
hat Hegel selbst in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über
die Philosophie der Natur872 indirekt gewarnt. Er unterscheidet dort zwischen
einem theoretischen und einem praktischen Verhältnis zur Natur.873 Die am
Ende dieser Vorlesungen angestrebte Versöhnung von Mensch und Natur
besteht darin, „daß, indem [man] die Natur der Natur kennt, dies Versöhnung
des Geistes mit der Natur ist“874. Diese Versöhnung kann weder einseitig in
einer Unterwerfung der Natur unter die Herrschaftsansprüche des Geistes
865
866
867
868
869
870
871
872
873
874
Rph, § 39.
Rph, § 42.
F. Reusswig: Natur und Geist. Grundlinien einer ökologischen Sittlichkeit nach Hegel, Frankfurt
am Main/New York 1993, 162.
F. Reusswig: Natur und Geist, 163.
F. Reusswig: Natur und Geist, 163. - In Hegels Rechtsphilosophie heißt es: „Die Benutzung
elementarischer Gegenstände ist, ihrer Natur nach, nicht fähig, zu Privatbesitz partikularisiert zu
werden“ (Rph, § 46).
F. Reusswig: Natur und Geist, 163.
An anderer Stelle habe ich diese Konsequenzen zum Zwecke einer Kontrastierung mit Hartmut
Böhmes polemischer Formel von einem „Triumph des im Anderen [der Natur] sich vollendenden
Subjekts“ (H. Böhme: Natürlich/Natur, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in
sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Bd. IV, Stuttgart 2002, 432-498; 493) als „Triumph der
Natur über Kultur“ bezeichnet (K. Berr: Landschaft – Die Rehabilitierung des verschmähten
Naturschönen in der Kunst, in: Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen
Ästhetik. Sonderheft des Jahrgangs 2005 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine
Kunstwissenschaft. Hrsg. von U. Franke und A. Gethmann-Siefert, Hamburg 2005, 119-142; 136).
V 16, 3ff.; Enz 1830, § 245.
Vgl. Kap. 2.3.
V 16, 189.
183
noch in einer Abdankung des Geistes zugunsten der Natur bestehen. Es geht
um
eine
Gratwanderung
zwischen
Respektierung
der
Natur
und
Respektierung des Menschen (Geistes), um eine philosophische Einstellung
zur Natur, die die jeweils defizitären Einstellungen des praktischen und
theoretischen Naturverhältnisses zu korrigieren hat.
5.2.1.3 Niederländische Landschaftsmalerei als „Symbol der
Sittlichkeit“
In den Berliner Ästhetikvorlesungen hat Hegel im Abschnitt über die
„Wirklichkeit
des
Ideals“
die
Vorstellung
der
„modernen
Zeit“
zurückgewiesen, die Innerlichkeit des Subjekts sei „das Letzte“, vielmehr
gehöre zum Subjekt „eine umschließende Welt“875. Erneut kommt an dieser
Stelle die bekannte Kritik an einer weltlosen Subjektivität zum Tragen, „wo
die Sehnsucht des Gemüts, die Innerlichkeit, das Letzte ist, und die selbst sich
hoch Wissenden nur nach dem Himmel sehen und alles Erdenwesen
verschmähen, sich darüber erheben“876. Dem setzt Hegel entgegen, der
Mensch müsse „zu Hause in der Welt sein, frei in ihr haushalten, heimisch
sich finden“877. Dann auch sei es möglich, „daß zwischen der Subjektivität
und
ihrer
Welt,
von
der
sie
umgeben
wird,
eine
wesentliche
878
Zusammenstimmung vorwalte“ . Zudem sei es „vernünftig, daß der Mensch
sich erarbeitet, was er für das physische Bedürfnis nötig hat“. Aber die Arbeit
darf nicht das Hauptinteresse ausmachen, sondern der Mensch „muß mit
Zufriedenheit arbeiten, Wohlhabenheit zeigen“879. Die niederländischen
Bürger des 17. Jahrhunderts haben nach Hegels Deutung dieses „Größte sich
errungen; sich das Gefühl der Behaglichkeit, das durch Tapferkeit, frommen
rechtschaffenen Sinn erworben wurde, in diesem Sinne haben sie das Gefallen
und die Liebe gehabt zu den mittelbarsten Gegenständen ihrer Umgebung,
ihres Gewerbes, ihrer Familie“880.
Dementsprechend zeigen die Genre-, aber auch die Landschaftsbilder
dieser Zeit zwar „keinen großen Sinn, aber es zeigt sich in ihnen der Sinn der
875
876
877
878
879
880
184
Hotho 1823, 105.
Hotho 1823, 105.
Hotho 1823, 105.
Hotho 1823, 106.
Hotho 1823, 110.
Aachen 1826, Ms. 152.
Behaglichkeit, Bequemlichkeit“881. „Im Genusse dieser Behaglichkeit“ sei es,
daß die Stadtbürger und Bauern „diese Liebe haben zu den äußerlichsten,
unmittelbarsten Gegenständen“.882 Hegel spricht von der „Prosa des Lebens“
mit ihren alltäglichen Dingen, die nun auch Gegenstand der Kunst sein
können. Insbesondere die „niederländische Schule“ habe nun, so Hegel, „die
Gegenwärtigkeit“ dargestellt und sei „darin ausgezeichnet“883. Es ist nun
möglich, „das tägliche Leben in seiner Täglichkeit“884, also bis dahin
belanglose Gegenstände und Landschaften als schön darzustellen. So haben
die niederländischen Künstler den „Stoff“ für diese Bilder „aus ihrem Leben“
genommen, sie haben „das Ihrige zum Zweck ihrer Darstellung gemacht, ihre
Freude davon gehabt“885. Bei dieser Freude handelt sich um einen „Frohsinn,
der aus dem Selbstgefühl, es sich verschafft zu haben, hervorgeht“.886
Mit diesem „Frohsinn“ ist ein reflektierter Genuß angesprochen. Das heißt,
die Niederländer betrachten ihre Welt und ihre Landschaften nicht als ein
Fremdes, sondern als das „Ihrige“. Das Bewußtsein dieser errungenen
Selbständigkeit gegenüber einer ungebändigten menschenfeindlichen Natur
kommt entsprechend in ihren Landschaftsbildern zur Anschauung. Wie bei
den Genrebildern stammt auch der „Stoff“ dieser Bilder „aus ihrem Leben“887,
diese Bilder vermitteln die „substantielle Weise des Bewußtseins eines
Volkes“888. Diese Kunst greift Landschaft nicht als bloße Natur, sondern als
bereits kulturell bearbeitete und gestaltete Natur auf, um sie entsprechend
darzustellen; darin sieht Hegel die „Rechtfertigung, diese Gegenstände für
würdig der Kunstbehandlung zu halten“889. Neben Genre und Stilleben
entspringt für Hegel auch aus der Niederländischen Landschaftsmalerei des
17. Jahrhunderts eine Weltanschauung; die im Bild dargestellte Landschaft ist
Symbol
eines
Weltverhältnisses,
eines
spezifischen
Geist-Natur-
Verhältnisses. Die niederländische Landschaftsmalerei ist „Symbol der
Sittlichkeit“.
881
882
883
884
885
886
887
888
889
Kehler 1826, 152.
Kehler 1826, 153.
Hotho 1823, 200.
Aachen 1826, Ms. 151.
Libelt 1828/29, Ms. 59.
Libelt 1828/29, Ms. 59.
Libelt 1828/29, Ms. 59.
Hotho 1823, 203.
Kehler 1826, Ms. 285.
185
Formal ähnelt die Funktion der Malerei in der Welt des niederländischen
Bürgertums der Rolle der Skulptur in der Antike. Wie für die Antike gilt aber
auch hier, daß sich diese umfassende Rolle der Kunst auf eine vergangene,
kurze historische und politische Phase der Geschichte eines besonderen
Volkes beschränkt. Hegel spricht daher einerseits von Kunstwerken, obwohl
der Inhalt dieser Bilder kein göttlicher, sondern ein weltlicher Inhalt ist. Die
geschichtliche Bedeutung des Niederländischen (Landschafts-)Bildes beruht
darauf, daß im Werk ein sittlicher Weltzustand, das Bewußtsein der
bürgerlichen Welt dieser Epoche seinen Ausdruck findet. Die „Partialität“ der
Bedeutung liegt darin, daß - so Hegel - für uns diese Bedeutung nicht
unmittelbar ersichtlich und erfahrbar ist, sondern nur vermittelt durch die
Reflexion der Philosophie der Kunst.
5.2.1.4 Landschaftsmalerei im Kontext: Carus, Hotho, von
Rumohr
Ein stimmungs- bzw. empfindungsinduzierter Naturvollzug kann dazu führen
- dies ließ sich in den vorangehenden Analysen nachweisen -, daß ein
Naturbetrachter nicht über die Konzentration auf subjektive Innerlichkeit
hinausgelangt. Eine weitere Folge empfindsamer Naturvollzüge besteht darin
- dies zeigte der kurze Hinweis auf Hotho und der daran anschließende
Exkurs über „Atmosphären“ -, subjektive Stimmungen als Stimmungen der
Natur selbst zu rekonstruieren. Ein damit verbundenes Folgeproblem besteht
darin, im Verbund mit einer objektivierenden Naturauffassung unterderhand
wieder eine Nachahmungstheorie zu vertreten, und zwar mit der impliziten
oder expliziten Forderung, scheinbar objektive „Naturstimmungen“ im
Kunstwerk abzubilden. Positionen dieser Art werden im Umkreis Hegels oder
im Anschluß an ihn explizit vertreten. Als Beispiel für eine ‚naiv-realistische’
Naturauffassung kann C.G. Carus, für eine ‚unterschwellig platonistische’
H.G. Hotho und für eine ‚sentimental-objektivistische’ Naturauffassung kann
C.F. von Rumohr genannt werden. Die genannten Kunsthistoriker waren in
den 1820er oder 1830er Jahren maßgeblich an den Diskussionen um den
Status der Landschaftsmalerei beteiligt. Im folgenden geht es weniger um den
Status
der
Landschaftsmalerei
im
Gefüge
der
akademischen
Gattungshierarchie, sondern um die Bedeutung des Naturbezuges (Carus, von
186
Rumohr) und um die Rolle und das Gewicht von sogenannten
„Gemütsstimmungen“ und deren Beziehung zu „Naturstimmungen“ (Carus,
Hotho).
In der letzten Ästhetikvorlesung von 1828/29 geht Hegel direkt und
kritisch auf den ersten Band der Italienischen Forschungen von Rumohrs ein.
Auf Carus geht er zwar nicht selbst ein, aber Hegels Schüler Hotho wurde
durch die Lektüre von Carus’ Briefen über Landschaftsmalerei890 angeregt,
das Kapitel über das Naturschöne in der Druckfassung der Ästhetik nicht nur
systematisch aufzuwerten, sondern auch inhaltlich zu erweitern. Carus sieht
einen spezifischen Zusammenhang zwischen Natur- und Gemütsstimmungen,
den Hegel zwar abgelehnt hat, Hotho aber übernimmt und in die
Druckfassung der Ästhetik integriert.
Carus war in erster Linie Arzt und Naturwissenschaftler und versuchte sich
erst in zweiter Linie als „Dilettant“ auf dem Gebiet der Landschaftsmalerei.891
Stets war die Abfassung der einzelnen Briefe begleitet von seiner Tätigkeit als
Arzt
und
Naturforscher,
von
naturwissenschaftlichen
Studien
und
Publikationen. Hieraus erklärt sich letztlich auch die enge Verquickung von
Wissenschaft und Kunst, die in den Briefen den Fokus der Überlegungen
bildet. Künstlerisch-ästhetisch orientierte sich Carus zuerst an den mit ihm
befreundeten Caspar David Friedrich, weshalb er zuweilen einseitig als
Romantiker bezeichnet wurde. Später bekannte er sich zu Goethe und dessen
Natur- und Kunstbegriff und damit zum „Ideal einer wissenschaftlich
fundierten Kunst“892 bzw. einer „Wissenschaft in poetischer Verklärung“893.
Stimmungen, die sich in der Landschaft zeigen, sind für Carus „Stadien
des Naturlebens“. Die Formen des Naturlebens sind veränderlich und lassen
890
891
892
893
Carl Gustav Carus‘ (1789-1869) Neun Briefe über Landschaftsmalerei wurden erstmalig 1831 mit
Beilagen veröffentlicht, nachdem er bereits 1815 mit der Niederschrift begonnen hatte. 1835
erschien eine zweite Auflage, die um einen zehnten Brief und fünf weitere Beilagen erweitert war.
Zitiert wird nach der Ausgabe von: Carl Gustav Carus. Briefe über Landschaftsmalerei. Hrsg. und
mit einem Nachwort von Gertrud Heider. Leipzig und Weimar 1982 (fortan zitiert als BLM).
Einige der im folgenden genannten Aspekte werden ausführlicher dargestellt in K. Berr: Carus und
Hegel über Landschaftsmalerei. Landschaftsästhetik nach dem „Ende“ der Landschaftsmalerei, in:
Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte, hrsg. von A. Gethmann-Siefert und B. CollenbergPlotnikov, München 2008, 243-256.
Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche
Weltaneignung bei Carl Gustav Carus (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und
Kunstgeschichte. Hrsg. von Ernst Osterkamp und Werner Röcke. Bd. 1), Berlin/New York 1995,
168.
Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Teil 1-4. Leipzig. Nach der
zweibändigen Originalausgabe von 1865/66 neu hrsg. von Elmar Jansen. Weimar 1966, Teil 1,
197.
187
sich auf „vier Stadien“ reduzieren: 1. „Entwicklung“, 2. „vollendete
Darstellung“, 3. „Verwelkung“, 4. „völlige Zerstörung“894. Die Vielfalt
möglicher Zustände entsteht durch Verbindung der Ursprungsstadien. In
Korrespondenz zu diesen Stadien des Naturlebens zeigen sich auch in der
Innerlichkeit des Menschen „Erstehen und Vergehen einzelner Äußerungen
des Gemütslebens“. Auch hier gibt es „vier [ursprüngliche] Stadien“ mit
vielen Kombinationsmöglichkeiten895.
Carus geht von einer absoluten Entsprechung jener Naturstimmungen und
dieser Gemütsstimmungen aus. Sein Ansatz läuft konsequent auf eine
Verschmelzung von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt in einer „unio
mystica“ hinaus. Er glaubt, daß sich „in Natur und Gemüt die verwandten
Regungen (...) hervorrufen“896 und nennt konkrete Beispiele, wie einzelne
landschaftliche Gegenstände auf das Gemüt zu wirken vermögen: Ein
abgestorbener Baum beispielsweise löst eine „schwermütige Stimmung“ aus.
Nackter Fels läßt uns „erhärtet“ fühlen. Verwitternder Fels mildert und
erwärmt unser Gefühl. Sich verflüchtigende Wolken löschen die „innere
Trübheit“ aus. Rauschendes Wasser „erregt und belebt“ das Gefühl. Im
Gegensatz zu Hegel, der, wie gezeigt, menschliche Stimmungen aus einem
unmittelbaren Naturbezug als Symbole menschlicher Empfindungen, diese als
Ergebnis einer mangelnden Trennung von Vollzug („Subjekt“) und
Vollzogenem („Objekt“) rekonstruiert, entwickelt Carus den Zusammenhang
von Naturvollzug und Stimmungen letztlich aus einer religiös fundierten,
damit ‚realistisch’ orientierten Naturauffassung und entsprechend ‚naiven’
Naturbetrachtung heraus.
Carus greift in diesem Zusammenhang auf den Topos von der „Sprache der
Natur“ zurück und geht davon aus, daß allererst die Kunst „eigentliche
Naturerkenntnis, [d.h.] die Naturwissenschaft“897 vorbereitet und fördert, und
zwar deswegen, weil die Kunst die Sprache der Natur zu entschlüsseln hilft.
Der Künstler überhaupt, insbesondere der Landschaftsmaler muß die Sprache
der Natur lernen, muß in „dem Sinne der Natur zu empfinden vermögen“ und
894
895
896
897
188
BLM, 30.
Carus nennt beispielsweise das Gefühl des Aufstrebens und der Ermutigung; innere Klarheit und
Ruhe; Hinwelken und Schwermut; Apathie (BLM, 31).
BLM, 31.
BLM, 39.
schließlich „in dieser Sprache“898 darstellen bzw. malen. „Die „innere
Naturwahrheit“ darf nicht anderen Zwecken, vor allem nicht einer
„poetischen Idee“899 oder subjektiven Gefühlen, geopfert werden. Letztlich
opfert Carus, in vermeintlicher ‚Rettung der Phänomene’ vor der „Idee“, den
ästhetischen Naturvollzug und dessen Idealisierungsleistung zugunsten des
Versuchs einer naiven Naturabschilderung. Er übersieht dabei gerade den
Voraussetzungsreichtum
noch
eines
vermeintlich
unmittelbaren
Naturbezuges, verschenkt die Möglichkeit, etwa in Landschaften die
menschliche Kulturtätigkeit, denen Landschaften ihre Existenz und schöne
Gestalt verdanken, darzustellen. Letztlich können dann nur - in Analogie zur
naturgetreuen Darstellung von Personen im Portrait - gleichsam ‚Natur- oder
Landschaftsportraits’ entstehen. Von Rumohr vertritt eine ähnliche Ansicht,
die Hegel, wie wir unten sehen werden, ausdrücklich kritisiert.
In
diesem
Sinne
erscheint
Carus
„die
Kunst
als
Gipfel
der
Wissenschaft“900. Die aus dem einen Wissenschaftlichkeitsanspruch und
Kunst kombinierenden Zugriff entspringende Erkenntnis soll den Vorgang
eines naiven, unmittelbaren, unbewußten Einblicks in die Geheimnisse der
Natur und damit der göttlichen Wahrheit ersetzen. So fordert Carus eine
„Richtung auf das Urwahre der Natur selbst, alles Zurückstellen
mitgebrachter Ansichten, vielmehr das reine, unschuldige Wiedergeben der
Natur, ganz in dem Geiste, wie sie als göttliche Offenbarung vor uns liegt“.901
Die „ältesten naiven Landschaftsmaler“902 konnten nach Carus‘ Ansicht noch
898
899
900
901
902
BLM, 50.
BLM, 51.
BLM, 62.
BLM, 55.
Im fünften Brief konstruiert Carus eine Geschichte und Deutung der Landschaftsmalerei.
Ausgangspunkt für diese Konstruktion ist Carus‘ Beobachtung, daß „erst im Beginn des
siebenzehnten Jahrhunderts mit einem Male“ (BLM, 47) die jetzt erst selbständige
Landschaftsmalerei hervortritt. Als „Stammväter echter Landschaftskunst“ (BLM, 53) nennt Carus
Claude Lorrain und Ruysdael. Sie vermögen es seiner Meinung nach noch, „in der Sprache der
Natur zu uns zu reden und als klare, reine Spiegel die urschönen Bildungen zurückzustrahlen“
(ebd.). Sie können noch die Natur ohne „mitgebrachte Ansichten“, d.h. ohne präformierende
Vorbilder „rein“ und „unschuldig“ auffassen und wiedergeben. Carus‘ Dekonstruktion führt nicht
nur zu einer Auszeichnung eines „naiven“, unmittelbaren Zugangs zu Naturwahrheiten, sondern
auch zu einer Auszeichnung und Hochschätzung des „Ursprünglichen“ im Sinne einer ersten
Entfaltung der Gattung, die in der Kunst des 17. Jahrhunderts verortet wird. Die höchste Entfaltung
einer jeden Kunst sei nach ihrer Blütezeit aber auch schon unwiderruflich dahin, so wie auch ein
Erwachsener niemals „die ganzen Gesinnungen, Neigungen und sonstigen Eigentümlichkeiten des
Kindes wieder in sich aufnehmen wird“ (BLM, 59). Letztlich führt der fünfte Brief in eine Aporie.
Die Auszeichnung einer unwiederholbaren Vergangenheit läßt keine angemessenen Möglichkeiten
für die Gegenwart und Zukunft erhoffen. Im sechsten Brief kommt Carus nochmals auf seine
Überlegungen darüber zurück, „wie ein landschaftliches, bedeutendes Kunstwerk in jetziger und
künftiger Zeit, trotz der Menge von Vorbildern (...) entstehen könnte“ (BLM, 60). Dies scheint nur
189
unbewußt Bedeutungsvolles darstellen, weil sie genau die Natur kopierten.
Genau so könne nunmehr „dem Maler, dem die Erkenntnis des Naturlebens
aufgegangen wäre, der reinste und erhabenste Stoff von allen Seiten
zufließen“903. Für Hegel sind Stimmungen ein Begleitphänomen der
Symbolisation äußerer Empfindungen, die sich auf die Innerlichkeit eines
empfindenden Subjekts beziehen, das noch nicht ausdrücklich zwischen sich
und der Natur/Welt unterschieden hat. Für Carus sind Stimmungen
„Naturwahrheiten“, die der Künstler oder Betrachter von Landschaft in Natur
aufzufinden hat. Bei Carus hat die Natur also selbst Stimmungen, denen dann
Gemütsstimmungen entsprechen können. Empfindungen als Symbole zu
nehmen, die mit Stimmungen verknüpft sind, lehnt Carus im Gegensatz zu
Hegel ab. Eine Kunst, die so vorgeht, nennt er „sentimentale“ Kunst, „in
welcher die Natur als Symbol, als Hieroglyphe nur geachtet wird“904. Für
Hegel zerbricht in der romantischen Kunstform die klassische Einheit von
Sinn und Sinnlichkeit. Das Geistige als Geistiges wird frei vom Sinnlichen
und auf höherer Stufe zur „Bedeutung des Sinnlichen“, die „Gestalt wird so
wieder symbolisch“.905
Im Mai 1831 erscheint in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik
eine Rezension der Briefe über Landschaftsmalerei von Heinrich Gustav
Hotho. Diese Rezension ist im Hinblick auf die Verbindung zwischen Hothos
Carus-Lektüre und dessen Kapitel über das Naturschöne in der Ästhetik sehr
aufschlußreich. „In den wesentlichen Punkten“ gehört Hotho nach eigenem
Bekenntnis „mit Vergnügen zu den Anerkennenden“906. So lobt er an Carus‘
Konzept, „daß die Naturgegenstände in der Landschaft durchaus als
Selbstzweck erscheinen“, nicht aber nur „in den Dienst subjectiver
903
904
905
906
190
möglich zu sein, wenn die bislang konzipierte Geschichte der Landschaftsmalerei in eine neue und
weiterführende Perspektive gerückt, also letztlich neu konstruiert wird. Diese neue Perspektive
verdankt sich einer Lektüre von Goethes naturwissenschaftlichen „Betrachtungen über die
Wolkenformen“ und einem angefügten Gedicht (Howards Ehrengedächtnis) und besteht in einem
konsequenten naturwissenschaftlichen Zugang zur Natur. - Vgl. hierzu auch Werner Busch:
Landschaftsmalerei, Berlin 1997 (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und
Kommentaren. 3); Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft.
BLM, 63.
BLM, 53.
Kehler 1826, 29.
H.G. Hotho: Neun Briefe über die Landschaftsmalerei, geschrieben in den Jahren 1815-1824.
Zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung. Zum Beginn des Jahres 1831 herausgegeben von C.G.
Carus (Rezension). In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. 93-94 (Mai 1831) (fortan zitiert
als: Rez), Sp. 737-748.
Gemüthsstimmungen“907 gestellt werden sollen. Insofern erkennt und
anerkennt Hotho Carus als einen Theoretiker, der nicht einseitig in die
empfindsamen Fallstricke romantischer Kunsttheoretiker gerät. Vielmehr
entsprächen den Naturzuständen auf harmonische Weise bestimmte
Gemütszustände. Diese Harmonie habe das Kunstwerk zu gestalten und „in
Form der Naturgegenstände dies Entsprechen aus[zu]prägen“. Genau
hiergegen hat Hotho „nichts Wesentliches einzuwenden“908. Was Hotho
allerdings kritisiert, ist weniger die Entsprechung zwischen den Stimmungen
der Natur und denen des Gemüts überhaupt als vielmehr die Unbestimmtheit
und Formalität jener von Carus abstrahierten vier „Stadien des Naturlebens“
und den entsprechenden vier „Stadien des „Gemüthslebens“909. Zwar sind
seiner Ansicht nach diese „allgemeinen Formen“ durchaus „die Grundformen,
(...) aber in diese Formen läßt sich für Landschaftsmalerei noch eine Fülle
bestimmteren Inhalts hineinverlegen“910. Er verweist hierzu exemplarisch auf
die von ihm hochgeschätzte Holländische Landschaftsmalerei und betont, die
„innere Bedeutung“ dieser Bilder könne nur demjenigen zuteil werden, der
„mit Liebe und Theilnahme unter dem Himmel geathmet, den sie
wiederspiegeln“911 und erwähnt zu diesem Zweck einige Beispiele aus der
beobachtbaren Landschaft.
Interessanterweise werden diese Beispiele (Bäume, Wiesen und Kanäle,
Mühlen und Kirchturmspitzen) zwar in den Kontext einer von Menschen
gemachten Kulturlandschaft gestellt, aber das Spezifikum von Natur als
Kulturlandschaft,
ihre Vermittlung
des
geschichtlichen
Standes des
Selbstbewußtseins eines Volkes – wie dies bei Hegel in dessen Vorlesungen
der Fall ist – wird nicht konsequent ausgesprochen. Auch kritisiert Hotho
heftig Carus‘ Höherstellung der Naturschönheit als göttlicher gegenüber der
Kunstschönheit als menschlicher912, wenn er sagt: „So weit das Licht des
Bewußtseins das natürliche Licht überstrahlt, und der Mensch das Thier, so
weit erhebt sich die schöpferische Kunst und ihre geistgeborene Schönheit
907
908
909
910
911
912
Rez, 740.
Rez, 740.
BLM 30f.
Rez, 741.
Rez, 741.
BLM 38.
191
über die erschaffene bewußtlos gestaltende Schönheit der Natur“913. An
anderer Stelle hingegen stimmt Hotho dem „Referenten“ in der Einschätzung
der Bedeutung von Naturbeobachtungen und Naturstudien für die
Naturdarstellung „um so mehr“ bei, „je mehr gerade in der Landschaft die
Bedeutung der Gegenstände nur das innere Wesen der bestimmten,
natürlichen Erscheinungen, ihre Verschiedenheit, ihr Bezug und ihre Einheit
sein kann; (...) und wie dieselbe göttliche Vernunft die natürliche und geistige
Welt durchzieht, nun auch für Sinn und Gemüth einen Widerklang von den
Höhen und aus den Tiefen der Natur entgegentönen läßt“914. So wie sich z.B.
in der Historienmalerei und im Portrait „der Geist in gemäßen, leiblichen,
natürlichen Formen“ ausspreche, so „in der Landschaft die Natur und ihr
eigenes Leben in ihren eigenen natürlichen Gestalten“915.
Hothos Rezension wirft ein bezeichnendes Licht auf die Systematik der
Ästhetik und auf die dort vorgebrachten Äußerungen über Landschaftsmalerei.
Was die Systematik anbelangt, so bestärkt die Hegel-Forschung die
Vermutung, daß Hotho von Carus‘ „Briefen über Landschaftsmalerei“
angeregt wurde, die Thematik des Naturschönen umfassender als in Hegels
eigenen Vorlesungen in die Ästhetik zu integrieren916. An einer von Hegels
jüngstem Sohn, Immanuel Hegel, mitgeschriebenen Ästhetikvorlesung917
zeigt sich deutlich der Unterschied zu Hegels Vorlesungen, aber zugleich eine
größere Nähe zur Druckfassung der Ästhetik. In dieser Vorlesung konstruiert
Hotho das Naturschöne als „die Antithese zur (platonischen) Idee des
Schönen, nämlich als die Idee des Schönen in ihrer Objektivität“918. Die
Kunstschönheit synthetisiert dann die Schönheit an sich (die Idee der
Schönheit) und die Naturschönheit (Idee als Objektivität). Das erinnert
deutlich an die Systematik, die zwei Jahre später in der Ästhetik vorgelegt
wird.
913
914
915
916
917
918
192
Rez, 742.
Rez, 747.
Rez, 747.
A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte, 193, Anmerkung 30.
Heinrich Gustav Hotho: Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst
(1833). Nachgeschrieben von Immanuel Hegel. Hg. und eingeleitet von B. Collenberg-Plotnikov
(Spekulation und Erfahrung. Abteilung I: Texte. Bd. 8), Stuttgart-Bad Cannstatt 2004.
Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels Ästhetik. Stationen der Transformation der Berliner
Vorlesungen zur Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 56 (2002), 2, 132150, 149.
In
der
Ästhetik
lassen
sich
auch
in
den
Bemerkungen
über
Landschaftsmalerei Unterschiede feststellen, auch wenn diese erst bei einem
genaueren Hinsehen auffällig werden. Wie schon in der Carusrezension, so
sagt Hotho auch hier, daß die Natur „und, näher in bezug auf Malerei, die
landschaftliche Natur“, „für sich genommen, [das] ebenso Innigkeitslose als
auch Ungöttliche“919 ist. Aber in der Fortführung der weiteren Gedanken
ergibt sich eine ähnliche Inkonsequenz wie in der Carusrezension.
Naturelemente (z.B. ein Hügel) sind Hotho zufolge schon deshalb für sich von
Interesse, „insofern es die freie Lebendigkeit der Natur ist, die in ihnen
erscheint und ein Zusammenstimmen mit dem Subjekt als selbst lebendigem
bewirkt“. Außerdem „bringen die besonderen Situationen des Objektiven
Stimmungen in das Gemüt herein, welche den Stimmungen der Natur
entsprechen.“920 Bei Hegel heißt es an der entsprechenden Stelle in den
Ästhetikvorlesungen lediglich, daß die Seele bei natürlichen Gegenständen
auch „innig sein kann, wenn sie nach irgendeinem Bedürfnis erfaßt“, d.h.
„wenn sie empfunden werden“.921
Hotho faßt dadurch unterderhand die Natur doch als etwas auf, das
„Stimmungen“ hat, das eine Zusammenstimmung von Natur- und
Gemütsstimmungen „bewirkt“. Er geht zudem davon aus, daß die
„verschiedenen Zustände der landschaftlichen Natur (...) bestimmten
Gemütszuständen gemäß“ sind.922 Hegel hingegen spricht nicht von
„Zuständen“ der Landschaft, sondern von einem „Charakter“923, der den
Zuständen der Seele entspricht. Bei Hotho soll die Seele durch dargestellte
Zustände der Natur zu einem „sympathetischen Tönen“ bewegt werden. Die
Landschaft wird zum Gegenstand der Malerei nicht deshalb, um natürliche
Sujets und Naturobjekte bloß nachzuahmen, sondern um „die Lebendigkeit
der Natur (...) und die charakteristische Sympathie besonderer Zustände dieser
Lebendigkeit mit bestimmten Seelenstimmungen in den dargestellten
landschaftlichen Gegenden hervorzuheben und lebhafter herauszukehren“.924
919
920
921
922
923
924
Ä III, 60.
Ä III, 60.
Hotho 1823, 255.
Ä III, 60.
Hotho 1823, 255.
Ä III, 61.
193
Insofern spricht Hotho sich zwar gegen eine schlichte Nachahmungstheorie
aus, doch der Zielpunkt dieser Argumentation ist eher die Natur, wohingegen
die Kunst (als Darstellung) bloßes Medium zu sein scheint. Bei Hegel
hingegen ist die Kunst der Zielpunkt, Natur bestenfalls und auch nur der
Ausgangspunkt. Hegel faßt den gleichen Gedanken denn auch weitaus
präziser, wenn er sagt, die Landschaftsmalerei erfasse ihre Gebilde mit Geist
und Seele „nach dem Zweck, eine Stimmung auszudrücken. (...) Nur die
Stimmung des Ganzen ist die Hauptsache“. Die Darstellung der natürlichen
Details (Blätterzeichnung etc.) hat sich dieser Darstellung einer besonderen
Stimmung unterzuordnen. Damit zielt Hegel im Gegensatz zu Hotho – darauf
hat B. Collenberg-Plotnikov hingewiesen – nicht auf eine „Nachahmung der
idealisierten Natur“925. Vielmehr entwickelt Hegel das Naturschöne bzw. die
Konzeption
der
Natur
als
Landschaft
„aus
der
Bestimmung
der
geschichtlichen Bedeutung des Kunstschönen als eine Version des Ideals (der
Darstellung der Natur durch die Kunst)“926, an dieser Stelle konkreter als die
künstlerische Darstellung einer menschlichen Stimmung im Spiegel der
Natur. An einer anderen Stelle ist Hotho sich des tatsächlichen
Zusammenhangs zwischen Natur- und Gemütsstimmungen durchaus bewußt;
hier heißt es: „Eine eigentümliche Beziehung endlich gewinnt die
Naturschönheit durch das Erregen von Stimmungen des Gemüts und durch
Zusammenstimmen mit denselben (...) Die Bedeutung gehört hier nicht mehr
den Gegenständen als solchen an, sondern ist in der erweckten
Gemütsstimmung zu suchen“.927
Hotho schwankt demnach zwischen einer Würdigung der Landschaft als
Kulturlandschaft und einer Nachahmung landschaftlicher Natur. Hothos
selbstauferlegter Systematisierungszwang, sein Verständnis von Natur als
„Objektivität“ der (platonisch gedachten) Idee der Schönheit, läßt ihn
ungeachtet eigenen besseren Wissens an anderen Textstellen zwar nicht – wie
Carus – von göttlicher Natur sprechen – aber doch davon, daß objektive
Stimmungen der Natur subjektiven Gemütsstimmungen gemäß seien und es
925
926
927
194
Bernadette Collenberg: Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen über die
Philosophie der Kunst, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Phänomen versus System. Zum
Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über
Ästhetik oder Philosophie der Kunst, Bonn 1992 (Hegel-Studien, Beiheft 34), 143.
Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels Ästhetik. Stationen der Transformation der Berliner
Vorlesungen zur Ästhetik, 149.
Ä I, 177.
auf die Darstellung von deren Harmonie ankomme. Hotho bleibt aller eigenen
Bekenntnisse und Einsichten zum Trotz noch zu sehr dem hohen, sprich:
christlichen Inhalt gegenüber den klassisch als niedrig bewerteten Inhalten
verhaftet und er unterschätzt die Bedeutung der „Ausdruckshaftigkeit der
Kunstmittel“928. Die Lektüre von Carus‘ Briefen und sein Versuch, in Hegels
Ästhetik eine am Vorbild der Logik abgesehene mechanische Dialektik und
Systematik
hineinzubringen,
führen
zu
einer
Verkennung
des
Argumentationspotentials hinsichtlich der Bedeutung der Kulturlandschaft
und der Landschaftsmalerei sowie zu einer irreführenden systematischen
Einordnung und inhaltlichen Entfaltung der Konzeption des Naturschönen.
Hegel hat klar gesehen, daß Natur als Landschaft nicht als unmittelbar der
Wahrnehmung Gegebenes, sondern als ästhetisch Vermitteltes betrachtet
werden muß. Natur als Landschaft muß analog zum Kunstschönen aus dem
menschlichen Vollzug rekonstruiert werden. Dieser Zugang zum Phänomen
des Naturschönen qua Landschaft eröffnet einen Zugang zu den
Besonderheiten der Landschaftsmalerei, der eher angemessen ist als dies bei
Carus und Hotho der Fall ist.
C. F. von Rumohr war Kunsthistoriker, Schriftsteller und Verfasser eines
Kochbuchs, außerdem war er als Einkäufer für die Gemälde der neu
gegründeten Preußischen Museen in Berlin tätig. 1827 bis 1831
veröffentlichte er drei kunsthistorische Bände mit dem Titel Italienische
Forschungen929, auf deren ersten Teil von 1827 Hegel in seiner
Ästhetikvorlesung von 1828/29 reagieren konnte. Von Rumohr ist in unserem
Zusammenhang von Interesse, weil er einen Kunst- und Naturbegriff vertritt,
der ihn zu einem sentimentalen objektivistischen Naturbezug verleitet, der
dem Künstler der Gegenwart verlorengegangene Bedeutung im Sinne von
Originalität
zurückgeben
soll.
Wie
Carus
die
zeitgenössische
Landschaftsmalerei als Verfallskunst ehemaliger Blütezeit betrachtet, sieht
von Rumohr für die Kunst überhaupt, daß in seiner Zeit „alle wirkliche
Tradition abgerissen“ sei, der moderne Künstler zum bloßen eklektizistischen
928
929
H.G. Hotho. Vorstudien für Leben und Kunst, hrsg. und eingeleitet von B. Collenberg-Plotnikov,
Stuttgart-Bad-Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung I,5), Einleitung: Hothos Vorstudien für
Leben und Kunst als Entwurf einer ‚spekulativen Kunstgeschichte’, LXXXIII.
C.F. von Rumohr: Italienische Forschungen, 3 Bde., Berlin 1827-1831. Im folgenden zitiere ich
aus der Erstausgabe des ersten Bandes von 1827, die digitalisiert zugänglich und nutzbar ist unter
der Webadresse: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/rumohr1827bd1/. Fortan wird daraus zitiert
als: Rumohr 1827.
195
Kopieren vorbildhafter vergangener Kunst verurteilt sei. Will der Künstler
Originalität erreichen, muß er die historisch ausgeschöpften Vorbilder der
Kunst ignorieren und neue ‚unverbrauchte’ Vorbilder in der als objektiv
vorgegeben
gedachten
Natur,
also
jenseits
aller
geschichtlichen
Vermittlungen suchen. Dieser erhofften Naturunmittelbarkeit entspricht die
Forderung nach intensiver Naturanschauung, naturgetreuer Wiedergabe der
Naturphänomene und von Rumohrs Interesse an Landschaftsmalerei, vor
allem in den 1820er Jahren.930
Dieser Ansatz führt in den Italienischen Forschungen zu einer doppelten
Kritik von Rumohrs einmal an einer Konzeption der Kunst, die von einer
„Idee“ als Vorbild für Künstler oder von einem Begriff des Ideals ausgeht
sowie zweitens an einer angeblichen Abwertung der darzustellenden
„gemeinen Natur“. Wenn von Rumohr eine intensive Naturanschauung und
entsprechende Wiedergabe der Natur fordert, dann muß er zwangsläufig
gegen einen Künstler wie Raphael, der „verfahre nach einer innewohnenden
Idea“931, und gegen die vermeintliche Unbestimmtheit und Leere der Idee
polemisieren. Dieser Künstler vermeide ja gerade das „konkrete Sehen“ des
darzustellenden Gegenstandes.932 Ähnlich richtet sich die Kritik gegen das
Ideale, so als ob dieses einer „gemeinen Natur“ entgegengesetzt sei.
Hiergegen macht Hegel geltend, daß erstens die Natur bereits „durch den
Geist gebildet“, also „schon an sich das Idealisierte“933 sei. Mit Blick auf die
Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts macht er zweitens geltend, daß
das in diesen Bildern Dargestellte zwar ein der Natur und Welt Entnommenes
sei, das insofern als „gemeine Natur“ bezeichnet werden könnte, daß aber
etwa der aus diesen Bildern den Betrachter anblickende „Frohsinn“ „kein
gemeiner Stoff“ sei, sondern dieser „das Ideale“ enthalte.
Worauf Hegel mit diesen Äußerungen wohl hinweisen will, ist die von
Rumohr unterschätzte Idealisierung der Natur, dessen Verwechslung von
naiver, vermeintlich unmittelbarer Naturanschauung und idealisierender
930
931
932
933
196
Vgl. hierzu auch Pia Müller-Tamm: Rumohrs Verhältnis zur Kunst seiner Zeit, in: E. Weisser–
Lohmann/B. Collenberg-Plotnikov: Musealisierung und Reflexion. Gedächtnis - Erinnerung Geschichte (Kunst als Kulturgut. 3). München (in Vorb.)
Libelt 1828/29, 20a.
Vgl. hierzu Otto Pöggeler: Hegel und der Berliner Museumsstreit, Ms. 13, in: E. Weisser–
Lohmann/B. Collenberg-Plotnikov: Musealisierung und Reflexion. Gedächtnis - Erinnerung Geschichte (Kunst als Kulturgut. 3). München (in Vorb.).
Libelt 1828/29, 29a.
Kunsttätigkeit. Wenn von Rumohr im Hinblick auf eine Heiligendarstellung
gar glaubt, „daß die Künstler sich in die Naturformen einstudieren sollen, die
Schönheit der Natur erst suchen müssen, um sie ausdrücken zu können“934,
ein sittsames Bauernmädchen nur malen und von einem Bildhauer
modellieren lassen brauchen, dann gibt Hegel demgegenüber zu bedenken,
daß auf diese Weise nur ein Portrait, aber keine Heiligendarstellung zustande
kommen kann. Das „Heilige“ ist etwas „Geistiges“, das nur vom Künstler
produziert, nicht aber in Natur aufgefunden werden kann. Der Künstler muß
die Darstellungsformen, „in sich erschaffen, die sich nicht in der Natur
finden“935.
Auch
der
Versuch
von
Sinnesempfindungen zurückzuführen
936
Rumohrs,
das
Schöne
auf
, wird von Hegel mit dem Hinweis
abgewiesen, diese Kategorie habe „schon Kant entfernt“.937
5.2.2
Die
Gartenkunst
Gartenkunst
wird
wie
die
Landschaftsmalerei
in
Hegels
Ästhetikvorlesungen nur stiefmütterlich behandelt. Die längste Textpassage
ist in der Nachschrift der Vorlesung von 1820/21938 überliefert. Hotho notiert
1823, die Gartenkunst sei „als Ausweichung zu übergehen“939. In der
Vorlesung von 1826 erwähnt Hegel sie einmal im Zusammenhang des
Lehrgedichts, aber auch wie 1820/21 und 1823 zum Ende der gotischen bzw.
romantischen Baukunst. 1828/29 findet sie kurze Erwähnung in den
Äußerungen Hegels zur Baukunst.
Die Dürftigkeit der wenigen Äußerungen Hegels zur Gartenkunst hat ihren
Grund nicht in einer idiosynkratischen Gleichgültigkeit Hegels gegenüber
dieser Kunst, sondern in der Sache. Den grundlegenden Mangel der
Gartenkunst entfaltet Hegel mit wenigen Bemerkungen im Rahmen der
934
935
936
937
938
939
Libelt 1828/29, 31.
Libelt 1828/29, 30a.
„Bis dahin haben wir die Schönheit an sich selbst, und ohne ausschließliche Beziehung auf die
Kunst, untersucht, und, wie ich glaube, gefunden: daß Schönheit im allgemeinsten, und wenn man
so will, im modernen Verstande, alle Eigenschaften der Dinge in sich begreift, welche entweder,
den Gesichtssinn befriedigend anregen, oder durch ihn die Seele stimmen und den Geist erfreuen;
daß aber eben diese Eigenschaften in drey durchaus verschiedene Arten zerfallen, deren eine nur
auf das sinnliche Auge, deren andere nur auf den eigenen, voraussetzlich dem Menschen
eingebornen, Sinn für räumliche Verhältnisse, deren dritte zunächst auf den Verstand wirkt, dann
erst durch die Erkenntnis auch auf das Gefühl“ (Rumohr 1827, 145f.).
Dieser „ganze Kreis der Kategorien“ (Libelt 1828/29, 21), den Rumohr auflistet, ist für Hegel in
Anlehnung an Kant nur das „Angenehme“ (vgl. KU, § 3).
Ascheberg 1820/21, 207 f.
Hotho 1823, 228.
197
Erörterung des Lehrgedichts, also einer Kunstgattung, die Hegel mit dem
„Zerfallen der Bedeutung als solcher und der Gestalt als solcher“940 und damit
mit der Prosa des Verstandes in Zusammenhang bringt. Das Lehrgedicht ist
streng genommen „kein wahrhaftes Kunstwerk“. Es herrscht nur eine ganz
äußerliche Beziehung vor zwischen einer isolierten Bedeutung und einer
isolierten Äußerlichkeit. Der Inhalt ist für sich selbst bedeutsam und keiner
Gestalt bedürftig, weil bereits vom Verstand gewußt. Die Form bzw. Gestalt
kann als „poetische Form“ dem prosaischen Inhalt als Schmuck dienen.941
Wird die Natur zum Garten eingerichtet, ist die Gartenkunst am Zuge.
Gartenkunst ist für Hegel aber nur „äußerliches Arrangieren“, ein „äußerlicher
Schmuck“ für die Natur.942 Inhalt und Gestalt fallen also bei der Gartenkunst
unvermittelt auseinander. Der für sich selbst bedeutsame Inhalt bedarf nicht
der schönen Form, die schöne Form könnte auch einen anderen, sogar banalen
Inhalt aufnehmen.
Eine andere Erwähnung findet Gartenkunst jeweils am Ende der
Darstellung der gotischen bzw. romantischen Baukunst. Zur Baukunst kann
sie insofern gerechnet werden, als hier wie dort der Mensch im Mittelpunkt
steht, wenn das Gebäude oder der Garten „zur Wohnung des Menschen
bestimmt“ ist.943 Die Gartenkunst wird also „gleichsam in die Architektur
hineingezogen“944. 1820/21 sagt Hegel, Gartenkunst sei „eine Behandlung
und Bereitung der Naturgegenstände, in Beziehung auf den Genuß des
Menschen“945. Zwei wesentliche Zwecke dieser Kunst nennt Hegel, einmal
der Garten als „Vereinigungspunkt für Menschen“, und zwar sowohl für
einander Bekannte als auch für einander Unbekannte. Hier komme es auf
„Abwechselungen“ und darauf an, „einfache Anlagen, mit schönen Bäumen,
Wasser, Hügeln ETC, doch ohne Künstelei“ anzulegen. Dann sei ein
einfacher „Naturgenuß“ möglich.
940
941
942
943
944
945
198
Kehler 1826, 112.
„Wenn wir die nähere Form dieser Beziehung angeben, so ist das erstens ein Bedeutendes ohne
eigentliche Gestalt; das ist das Prosaische des Verstandes. Wird ihm poetische Form gegeben, so ist
es das Lehrgedicht. Bedeutungsvoller Inhalt, aber ohne Gestaltung“ (Kehler 1826, 112 f.).
„Dem wahrhaften Inhalt nach [ist das Lehrgedicht] prosaisch; das Schöne daran ist ein äußerlicher
Schmuck. Wie [in der] Gartenkunst; Natur ist da, was die Kunst tut, ist äußerliches Arrangieren“
(Kehler 1826, 113).
„Diese Kunstwerke sind nicht der Zweck für sich, sondern sie erwarten zuerst die Sculptur der
Göttergestalt, oder sie sind zur Wohnung des Menschen bestimmt (…) Dasselbe gilt von der
Gartenkunst, welche eine Art von Architektur ausmacht, denn in einem Garten ist der Mensch
Hauptperson“ (Anonymus 1828/29, Ms. 23a).
Pfordten 1826, 191.
Ascheberg 1820/21, 207.
Zum anderen kann der Garten auch dem Zweck dienen, „die Pracht der
Natur anzuschauen“. Hegel nennt als vorbildhaftes Beispiel die chinesische
Gartenkunst, die über englische Adlige vermittelt auch nach Deutschland
gelangte.946 Für die deutsche Gartenkunst in Gestalt des Landschaftsgartens
hat Hegel nur Verachtung übrig, sie können „nur ein elendes, kindisches
Machwerk genannt werden“. Nur die im Auftrag von Friedrich dem Großen
in Potsdam erbaute „große Terrasse zu SANS-SOUCI“ gilt ihm als
„grandios“.947
Wenn auch Hegels Äußerungen zur Gartenkunst mehr Fragen aufwerfen
als beantworten, so lassen sich gegen Hegel zwei Aspekte der Gartenkunst
herausstellen, die zu Hegels Zeit diskutiert wurden und die Hegel mit seinen
eigenen Kategorien als Form menschlicher Weltaneignung zureichend hätte
interpretieren können. Das eine ist der Hinweis auf den Garten als
„Vereinigungspunkt für Menschen“, das andere Hegels Kritik daran, daß
Inhalt und Gestalt bei der Gartenkunst unvermittelt auseinanderfallen und
beispielsweise eine ähnliche Kritik Goethes provozieren.
Was den Garten als „Vereinigungspunkt für Menschen“ anbelangt, so
waren die neben den Wallgrünanlagen im landschaftlichen Stil parallel
entstehenden Volksgärten die ersten wirklich öffentlichen Grünanlagen der
Neuzeit, die einem allgemeinen Publikum offenstanden. Die Funktion dieser
Anlagen ist daher eine andere als die des ursprünglichen Landschaftsgartens.
Ging es bei diesem eher um Bildungsideen im Sinne der Aufklärung und um
eine spezifische Verknüpfung von Kunst und Natur, so geht es nunmehr um
die
Idee
einer
die
unterschiedlichsten
Bevölkerungskreise
zusammenführenden und soziale Spannungen mindernden Parkanlage.
Bereits Lancelot Brown hatte den Landschaftsgarten auf wenige einfache,
allgemein verständliche Gartenformen reduziert. Der Philosoph und
Gartentheoretiker C.C.L. Hirschfeld hatte 1785 in seiner „Theorie der
Gartenkunst“ auch Volksgärten gefordert und behauptet, die verschiedenen
946
947
Vgl. Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten, Köln 1989; Frank Richard Cowell: Gartenkunst.
Von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart/Zürich 1979.
Ascheberg 1820/21, 208. - Otto Pöggeler hat diese Zusammenstellung von chinesischer
Gartenkunst, deutscher Gartenkunst und der Terrasse zu Sanssouci kritisiert, denn Hegel sieht
nicht, „daß die Chinesen ein ganz anderes System der Künste haben als die europäische Neuzeit.
Die Architektur ist dort nicht sakrale Steinarchitektur und nicht jene Kunst, welche auch den
anderen Künsten erst ihren Ort anweist; vielmehr stellen sich zum Garten die Malerei und die
Lyrik, so daß sich auch Bild und Schrift inniger als bei uns verbinden können“ (O. Pöggeler: Hegel
und der Berliner Museumsstreit, Ms. 23).
199
Stände würden durch Annäherung im Park an „Sittsamkeit“ gewinnen.948
Friedrich Ludwig von Sckell hatte ebenfalls Volksgärten für die
„Annäherung“ und für das „Bedürfnis aller Stände“ verlangt, die „die größte
Zahl seiner Lustwandler und ihren verschiedenen Geschmack zu befriedigen
vermögen“.949 Sowohl Hirschfeld als auch Sckell hatten zudem für alle
Bürger frische Luft und gesundheitsbefördernde Bewegung in der freien
Natur verlangt. 1789 bekam Sckell vom bayerischen Kurfürsten Karl Theodor
den Auftrag, einen Volksgarten in München anzulegen. Diesem ersten
Volksgarten folgten im 19. Jahrhundert in den sich ausweitenden
Industriestädten viele weitere. Nachdem der Landschaftsgarten von seiner
ursprünglichen Idee her bereits überholt war, entwickelten sich im 19. und 20.
Jahrhundert neben den modernen Stadtparks auch moderne Parkfriedhöfe, die
die mittelalterlichen Begräbnisstätten ablösten.
Mit Namen wie Gustav Meyer und Carl Hampel ist dann gegen Ende des
19. Jahrhunderts der endgültige Niedergang des landschaftlichen Stils
verbunden.
Meyer,
Hampel
und
ihre
Nachahmer
variierten
ein
schablonenartiges Grundmuster eines landschaftlichen Gartens für völlig
unterschiedliche
Zwecke,
ohne
städtebauliche,
architektonische
und
funktionale Gegebenheiten zu berücksichtigen. Die Gartenform schrumpfte
hier zu einer hohlen Form zusammen, ohne Rücksicht auf die neuen Inhalte.
Die Gartenidee war von dem technischen, sozialen und städtebaulichen
Wandel des 19. Jahrhunderts überholt worden.
Was Hegels Kritik an der überflüssig gewordenen Form des Gartens für
einen bedeutsamen Inhalt anbelangt, so sei an dieser Stelle ein Exkurs über
Goethe als „Gartendilettant“ nachgeschaltet, der die Wandlung eines
empfindsamen
zu
einem
eher
architektonisch
orientierten
Landschaftsverständnis nachzeichnet. Dieser exemplarische Exkurs zu Goethe
948
949
200
„Diese Volksgärten sind, nach vernünftigen Grundsätzen der Polizey, als ein wichtiges Bedürfniß
des Stadtbewohners zu betrachten. Denn sie erquicken ihn nicht allein nach der Mühe des Tages
mit anmuthigen Bildern und Empfindungen; sie ziehen ihn auch, indem sie ihn auf die Schauplätze
der Natur locken, unmerklich von den unedlen und kostbaren Arten der städtischen
Zeitverkürzungen ab, und gewöhnen ihn allmälig an das wohlfeile Vergnügen, an die sanftere
Geselligkeit, an ein gesprächiges und umgängliches Wesen. Die verschiedenen Stände gewinnen,
indem sie sich hier mehr einander nähern, auf der einen Seite an anständiger Sittsamkeit und
scheuloser Bescheidenheit, und auf der andern an herablassender Freundlichkeit und mittheilener
Gefälligkeit. Alle gelangen hier ungehindert zu ihrem Rechte, sich an der Natur zu freuen.“
(Christian Cay Laurenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. In Auszügen vorgestellt,
herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Franz Ehmke, Berlin 1990, 193).
Zitiert nach Herbert Keller: Kleine Geschichte der Gartenkunst, Berlin/Hamburg 1976, 131f.
bietet sich gerade deshalb an, weil die genannten Schwierigkeiten in Person
und Werk eines Dichters verschmelzen, mit dem Hegel sich zeitlebens
auseinandergesetzt hat.
Exkurs: Goethes Abwendung vom Landschaftsgarten
Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts griff der neue englische Gartenstil des
sentimentalen Landschaftsgartens auch auf das europäische Festland über,
und löste den immer noch dominanten französischen Gartenstil weitgehend
ab. Begünstigt wurde die Übernahme der neuen Gartenideen durch die schon
bestehenden
Rokokogärten,
in
denen
bereits
naturhafte
Elemente
Verwendung fanden und unsymmetrische Partien entstanden. Hinzu kommt,
daß es gerade in Deutschland ein gewisses Nachholbedürfnis in Sachen
Rationalismuskritik und Gefühlsästhetik gab. In England hatten sich schon zu
Beginn des 18. Jahrhunderts eine sensualistisch-empiristische Gefühlsästhetik
und ein kritischer Gegendiskurs gegen den französischen Rationalismus
entwickelt. Zentrum dieser aufklärerischen System- und Kulturkritik war der
Begriff einer „befreiten“, „paradiesischen“ oder „unberührten“ Natur, in deren
Namen insbesondere die rationalistische Mathematisierung der Natur und
deren Verquickung mit den Macht- und Herrschaftsansprüchen des
Absolutismus
angeprangert
wurden.
Für
Shaftesbury
bedeutete
das
mathematisch-architektonische Prinzip der französischen Barockgärten eine
„Vergewaltigung“ der Natur und des Individuums950; Joseph Addison
kämpfte für die Befreiung der subjektiven Einbildungskraft von äußeren
Zwängen und für die Befreiung der Natur vom formal-geometrischen
Gestaltungszwang des barocken Gartenprinzips.
Deutschland mußte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allererst
vom übermächtigen, alle Bereiche der Kultur beeinflussenden Rationalismus
Christian Wolffs lösen, um zuerst im „Sturm und Drang“, dann im „Kult der
Empfindsamkeit“ und schließlich in der „Deutschen Romantik“ sowohl die
Schattenseiten der Vernunft (Zwang, Herrschaft, Sinnverlust) als auch die
Dimensionen des Gefühls, der Empfindung und der Einbildungskraft zu
thematisieren. Ab Mitte des Jahrhunderts drangen dann auch die
950
Das entscheidende Werk ist: Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury: Characteristicks of
Men, Manners, Opinions, Times, London 1711.
201
aufklärerischen und kulturkritischen Ideen aus England und Frankreich in das
in viele kleine Staaten zersplitterte Deutschland ein. Einige Höfe nahmen
solche Ideen bereitwillig auf und wandelten sich politisch in einen
aufgeklärten Absolutismus. Auf diesem Nährboden neuer Ideen entstanden
nun auch in Deutschland zahlreiche Landschaftsgärten, häufig unter der Regie
auch heute noch bekannter Landschaftsgärtner. Vorrangig zu nennen sind hier
Friedrich Ludwig von Sckell, Fürst Hermann Pückler und Peter Joseph Lenné;
aber auch sich selbst so nennende „Gartendilettanten“ wie etwa Johann
Wolfgang von Goethe.
Goethe blies anfänglich ins Horn der literarischen Bewegung des „Sturm
und Drang“, die gegen die einseitige Verstandesbetonung der Aufklärung
polemisierte und statt dessen ihrerseits einseitig auf Gefühle, Empfindungen
und Leidenschaften setzte. Den normativen Ansprüchen und Regeln der
Gesellschaft stellte sie das freie, sich selbst Regeln gebende Genie entgegen.
In
Die
Leiden
des
jungen
Werther
beschreibt
Goethe
idyllische
Naturerfahrungen und die ganze Palette des Empfindsamkeitskultes jener
Zeit. Auch setzt er den „wissenschaftlichen Gärtner“ dem „fühlenden Herz“
entgegen, also den barocken Gartenplaner dem gebildeten „Dilettanten“, der wie Goethe selbst – ohne Fachausbildung Gärten im sentimentalen Stile plant
und ausführt. 1776 überließ Herzog Karl August von Thüringen Goethe ein
Gartenareal mit Gartenhäuschen am Ufer der Ilm. Anlaß für Goethes eigenes
Planen und Gärtnern war die Verzweiflungstat von Christel von Lassberg am
16. Januar 1778, die mit Goethes „Werther“ in der Hand aus Weltschmerz
Selbstmord in der Ilm beging. Ihr zum Gedächtnis legte er als Denkmal die
berühmte Felsentreppe an. Ebenfalls erbaute er das „Luisenkloster“ als
Staffage einer Ruine und wirkte bei der Gestaltung des Geländes zu einem
Park im englischen Stil mit. Die Arbeit im eigenen Garten galt ihm als
gleichgewichtig neben seiner Schriftstellerei.
Ende 1777 hatte Goethe die dramatische Grille „Triumph der
Empfindsamkeit“951 geschrieben, in der er den von ihm selbst mitverursachten
„Kult der Empfindsamkeit“ bereits mit Ironie und Spott überzog. Nach seiner
Italienreise von 1786 verstärkte sich seine distanzierte Einstellung nicht nur
951
202
Johann Wolfgang von Goethe: Triumph der Empfindsamkeit, in: ders.: Poetische Werke, Band 4,
Essen 1999, 557-597.
im Hinblick auf die empfindsamen Gefühlsschwärmereien, sondern auch
hinsichtlich der Idee des Landschaftsgartens überhaupt. Seine Mitwirkung an
der
weiteren
Gestaltung
des
Parks
beschränkte
sich
fortan
auf
architektonische Beiträge, wie etwa das „Römische Haus“. Zusammen mit
Friedrich Schiller und Heinrich Meyer verfaßte er 1799 das Fragment „Über
den Dilettantismus“952, in dem er die Vermischung von Natur und Kunst
sowie die mangelnde Strenge der Form als großen Nachteil der Gartenkunst
wertete.
Die Abspaltung der ohnehin unterbestimmten ästhetischen Form des
Landschaftsgartens vom Inhalt führte dazu, daß die Form sich selbst banalsten
Inhalten öffnen konnte, daß der Landschaftsgarten als ästhetische Form der
Mode und gar der Abgeschmacktheit ausgesetzt war. Das hatte Goethe
erkannt.
Einige
Ernüchterung
in
Jahre
später
gipfelte
einer
eindeutigen
Goethes
Favorisierung
gartenkünstlerische
des
französischen
Gartenstils, weil der architektonische Garten ganz klar als Kunstwerk aus der
Natur als Nichtkunst abgehoben wird. Die Landschaftsgärten im natürlichen
Stil bezeichnet er nun verächtlich als „naturspäßig“.
5.2.3
Idyllendichtung
Das Wort „Idylle“ leitet sich ab vom griechischen Wort „eidyllion“, was so
viel heißt wie „das Bildchen“, mit der weiteren Bedeutung, „ein kleines,
zierliches Gedicht, meist ländliches Inhalts“953 zu sein. Der „ländliche Inhalt“
verweist auf den Begriff des Landes und damit auf den der Landschaft.
Begriffsgeschichtlich weist „eidyllion“ zurück auf die „Idyllen“ des
griechischen Dichters Theokritos (um 270 v. Chr.), der in Hirtengedichten das
ländliche
Leben
darstellte.
In
der
Folge
entstanden
verschiedene
Dichtungstypen, die als „bukolische“ und „arkadische“ Dichtung oder als
„Schäfer-“ und „Hirtendichtung“ einen Kreis von Literaturgattungen bilden,
die ungeachtet der inhaltlichen Unterschiede im Detail allesamt um die
übergreifende Idee eines vor- oder außerzivilisatorischen Naturzustandes
kreisen, um ein „goldenes Zeitalter“, den „Traum Arkadien“, einen „locus
952
953
Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich Meyer: Über den Dilettantismus. In:
Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abt. Bd. 47. Weimar
1896, 299-326.
W. Pape: Griechisch-Deutsches Handwörterbuch. Nachdruck der dritten Auflage bearbeitet von
M. Sengenbusch. Erster Band A-K, Graz 1954, 724.
203
amoenus“ jenseits gesellschaftlicher Zwänge und Verpflichtungen, in der der
Mensch in Harmonie mit der noch nicht durch gewaltsame Eingriffe
„vergewaltigten“ Natur leben kann. Für das Verständnis der Kritik Hegels an
der Konzeption der Idylle und für die von Adorno mit der Rehabilitierung des
Naturschönen verknüpfte Hoffnung auf „Erlösung“ vom Gesellschaftszwang
ist der Hinweis darauf wichtig, daß die Idyllendichtung, aber auch der
Landschaftsgarten mit seinen idyllischen Motiven historisch betrachtet jeweils
den Versuch repräsentieren, „schöne Natur“ auch als ‚Gegenwurf’ gegen
Kultur und Gesellschaft ins Spiel zu bringen, also Kultur- bzw.
Gesellschaftskritik zu üben. So konstruierte Jean-Jacques Rousseau, einen
vorkulturellen „Naturzustand“, in dem die Menschen in Freiheit und
Harmonie mit sich selbst, ihren Mitmenschen und der äußeren Natur lebten.
Diesen Naturzustand stellte er der durch Ungleichheit und Unfreiheit
charakterisierten Gesellschaft seiner Zeit entgegen. „Zurück zur Natur“
lautete dementsprechend das Motto der von Rousseau geübten Kultur-,
Gesellschafts- und Zivilisationskritik.954
Für die weiteren Überlegungen entscheidend ist, daß die Idylle schon vom
Wortursprung her als Bild verstanden wird, also gerade nicht als unmittelbare
Wiedergabe
eines
Naturraums,
und
daß
sie
als
Landschaft
bzw.
Landschaftsteil konzipiert ist. Dieser Zusammenhang zwischen Idylle als Bild
und als Landschaft läßt sich gut an der Rekonstruktion des Zusammenhangs
zwischen der Entwicklung der Landschaft als Bild und der Entstehung des
Landschaftsgartens als Bildprogramm darstellen, dem die Idyllenkonzeption
häufig historisch vermittelte Bilder lieferte.
5.2.3.1 Landschaftsmalerei, Idylle und Landschaftsgarten
Daß und wie „Landschaft“ als Fachbegriff von Malern und Kunstverständigen
für ein Landschaftsbild galt und dieser Begriff im Zuge der Verbreitung und
dem sich durchsetzenden Interesse an der Landschaftsmalerei auch in eine
gehobene literarische Sprache eindrang, ließ sich bereits zeigen955. In der
Folge strebten auch Dichter danach, die Realität durch die idealisierenden
954
955
204
Vgl. hierzu Günter Figal: Die Rekonstruktion der menschlichen Natur. Zum Begriff des
Naturzustandes in Rousseaus „Zweitem Discours“. In: Neue Hefte für Philosophie 29 (1989), 2438.
Vgl. Kap. 5.1.1 „Zur Vorgeschichte der Landschaftsanschauung“.
Augen eines Malers und dementsprechend die Natur mit den Augen eines
Landschaftsmalers zu sehen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts vermittelten im
deutschen Sprachraum Naturdichter wie Barthold Hinrich Brockes (16801747), Albrecht von Haller (1708-1777), Salomon Geßner (1730-1788),
Johann Heinrich Voß (1751-1826) und Gottlieb Klopstock (1724-1803) in der
Tradition der Idyllendichtung literarisch ein empfindsames Naturideal. Diese
gesamte Entwicklung führte letztlich dazu, daß nicht nur die Bilder der
Landschaftsmaler,
sondern
auch
diejenigen
wahrgenommenen
Wirklichkeitsausschnitte „Landschaft“ genannt wurden, die sich einer
solcherweise präformierten Wahrnehmung verdanken. Ein technischer Begriff
der Kunst dient nun als Name für einen scheinbar der Wahrnehmung
zugrundeliegenden Naturaspekt.
Es
ist
daher
nicht
verwunderlich,
daß
die
Ursprünge
des
Landschaftsgartens mit den Ideen von Malern, Künstlern, Dichtern und
Schriftstellern verknüpft sind. Was die Malerei anbelangt, müssen einige
Maler
des
17.
Jahrhunderts
genannt
werden,
deren
idealisierte
Landschaftsmotive zu den Vorbildern der späteren Gartengestalter wurden. Es
sind dies Claude Lorrain (1600-1682), Nicolas Poussin (1593-1665), Salvator
Rosa (1615-1673) und Jan van Ruysdael (1628-1682). Ihre Bilder stifteten
und verbreiteten ein die Natur idealisierendes Wahrnehmungsmuster, das den
ästhetischen Genuß von Natur als Landschaft für die spätere Zeit vorbereitete.
Englische Aristokraten nahmen auf ihrer „Grand Tour“ durch Italien seit dem
18. Jahrhundert sogenannte „Claude glasses“ mit, durch deren Gläser sie die
Landschaft in der Stimmung der Bilder Claude Lorrains betrachten konnten.
Lorrains Bilder dienten später als direkte Vorbilder für die Gestaltung von
Tiefenwirkungen, die Anordnung aller möglichen Gartenelemente, die
asymmetrisch modellierten Bodenflächen, sorgfältig inszenierte Licht- und
Farbperspektiven und die Verwendung von Wasser und Vegetation in den neu
entstehenden Landschaftsgärten.
Der englische Schriftsteller Alexander Pope (1688-1744) war vermutlich
der erste, der einen Garten im neuen malerischen Stil auf seinem Besitz in
Twickenham schuf. Eine Devise von Pope lautete: „All gardening is
205
Landscape painting“.956 Der Garten ist gleichsam ein begehbares Bild mit
bestimmten Elementen, wie etwa Trauerweiden, ungeschnittenen Bäumen und
Sträuchern oder einem Bowling-green. Neu an diesem Garten war nicht nur
die freie Entfaltung der Pflanzen und die ungezwungene Anordnung von
Räumen und Naturmotiven, sondern auch die Vielfalt der Gartenszenen und
Ausblicke. Der Ausblick beispielsweise von einer Grotte im Sockelgeschoß
der Villa auf die Themse bot dem Betrachter ein Bild, wie es zuvor nur von
Landschaftsgemälden her bekannt war. Nicht zu Unrecht bezeichnete 1752
der Dichter Joseph Spence (1699-1788) den Landschaftsgarten als „picture
gallery“957 unter freiem Himmel.
Der neu entstehende englische Landschaftsgarten konnte überhaupt nur
deshalb zum Stimmungs- und Bedeutungsträger naturphilosophischer,
ästhetischer, religiöser, politischer und ethischer Ideen und Gefühle werden,
weil die im Landschaftsgarten vermittelte „Natur“ durch vielfach überlagerte
und
tradierte
Anknüpfungspunkte
Bedeutungsebenen
lieferte.
So
diesen
glaubt
man,
Ideen
im
semantische
Landschaftsgarten
„natürliche“ Bilder oder gar „Abbilder“ von Natur zu sehen, tatsächlich aber
sieht man das gestalterisch konstruierte Bild eines Verständnisses von Natur,
das zwischen der Sehnsucht nach dem vorzeitlichen Paradiesgarten – so wie
es z.B. John Milton in seinem „Paradise Lost“ poetisch beschrieben hatte und der utopischen Illusion nach einer wiederhergestellten Harmonie von
Mensch und Natur angesiedelt ist.958 Dieser mediale Charakter des
dreidimensionalen
Bildarrangements
führte
im
Extrem
dazu,
zweidimensionale Kulissen aufzubauen, die sogenannten „eyecatcher“, die
nur die Illusion eines realen Gebäudes als Stimmungs- oder Bedeutungsträger
zu erzeugen hatten. Lord Burlington (1695-1753) z.B. legte in Chiswick ab
1725 einen Garten im neuen Stil an, an dessen Rand Veduten angeordnet sind,
die Ansichten von prächtigen Gebäuden zeigen, die sozusagen das
Bildprogramm eines Spaziergangs durch die „Gemäldegalerie“ des Gartens
präsentieren. Zu sehen sind Pavillons, Tore, Obelisken, Säulen, Statuen, ein
956
957
958
206
Dieser Ausspruch von Pope ist von J. Spence überliefert und dokumentiert in: Joseph Spence.
Observations, Anecdotes, and Characters of Books and Men Collected from Conversation. Hrsg.
von J.M. Osborn, 2. Bde., Oxford 1966, Nr. 606.
Joseph Spence. Observations, Anecdotes, and Characters, Nr. 1134.
Vgl. Adrian von Buttlar: Zwischen Arkadia und Utopia, in: ders.: Der Landschaftsgarten.
Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989, 17-20.
Pantheon-Tempel, ein Badehaus, eine Grotte, eine Orangerie sowie Ansichten
der Villa, die Burlington nach Vorbildern des zweihundert Jahre zuvor
wirkenden italienischen Architekten Palladio umbauen ließ.
William Kent (1684-1748), der in Italien zum Maler ausgebildet worden
war, sich in England aber der Architektur und Gartenkunst zuwandte, war in
den dreißiger und vierziger Jahren verantwortlich für die Gestaltung
zahlreicher Landschaftsgärten im malerischen Stil. In Stowe ersetzte er noch
vorhandene
geometrisch-formale
Gestaltungselemente
durch
freie
Naturelemente und legte ein künstliches Flußtal mit natürlicher Uferlinie,
wallartiger Böschung und sanft geschwungener Bodenmodellierung an. In
Anspielung auf die griechische Mythologie nannte er die schöne Naturszene
„Elysische
Gefilde“.
Den
schönsten
und
auch
besterhaltenen
Landschaftsgarten im malerischen Stil schuf Kent in Stourhead in Wiltshire.
Er ließ das namengebende Flüßchen Stour aufstauen und dadurch das gesamte
Wiesental in einen See verwandeln. Um diesen See herum führte ein Weg, der
dem Wanderer an fast jeder Wegesbiegung einen neuen Anblick, d.h. ein
neues Bild präsentierte. Der Wanderer im Landschaftsgarten ist nicht mehr –
wie im Barock – an das höfische Zeremoniell inszenierter Selbstdarstellung
absolutistischer Macht gebunden, sondern er ist vorrangig der einsame, nicht
zuletzt nur seinen Stimmungen, Empfindungen und Gefühlen folgende
Spaziergänger. Nicht zufällig wird in der späteren Deutschen Romantik die
poetisch vermittelte Landschaft zum „Seelensymbol“ erhoben959, entwickelte
sich auf diesem Boden der „Kult der Empfindsamkeit“. Wie bereits der
empfindsame Naturvollzug, so unterliegt auch die Idyllenkonzeption Hegels
Kritik.
5.2.3.2 Hegels Kritik der Idylle
Hegels Einschätzung der Idyllendichtung gehört in seine Diskussion um die
Bedeutung der Poesie960, insonderheit des Epos und der Lyrik. Der
darzustellende Inhalt des Epos ist ein „objektiver Inhalt, eine äußerlich
entfaltete Welt“961, d.h. das, „was die Sache ist; der Gegenstand als
959
960
961
Vgl. Kap. 5.1.3 „Landschaft als Stimmungskulisse. Hegels Kritik an einem stimmungsinduzierten
Naturvollzug“.
Zur Bedeutung der Poesie vgl. A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 313ff.
Hotho 1823, 282.
207
Gegenstand, die Breite der Umstände“962. Im Gegensatz zur Objektivität des
Inhalts beim Epos ist der Inhalt der Lyrik die „subjektive Stimmung“963, in
der Lyrik „drückt das Subjekt sich aus“, ohne die Objektivität der Welt zu
erfassen.964 Hegel betrachtet es als grundsätzlich problematisch, daß sich in
der Lyrik überwiegend subjektive Gefühle und Empfindungen eines einzelnen
Individuums mit dessen besonderer ‚Weltsicht’ vermitteln, ohne „die
Entwickelung eines objectiven Zustands“965 darzustellen - wiewohl es in der
Lyrik
auch
möglich
ist,
„das
Höchste
zu
preisen,
das
Tiefste
auszusprechen“966. Das ist beispielsweise dann möglich, wenn ein epischer,
also objektiver Inhalt aufgenommen wird; Hegel nennt in der Vorlesung von
1823 als Beispiel den Cid.967 Überhaupt - so Hegel in der letzten
Ästhetikvorlesung von 1828/29 -: „Alle lyrischen Gedichte besonders sind
Gelegenheitsgedichte.
Da
sind
bestimmte
Situationen,
nämlich
Empfindungen. Der Dichter macht da seinem Herzen Luft durch diese
Darstellung.“968 Die Gelegenheit ist die subjektive Situation des Dichters bzw.
des ‚lyrischen Ich’, etwa bei Goethe, der „sich etwas zum Gegenstand machte,
was ihn kränkte, dann trennte er das von sich, es ist nicht mehr in ihm, er hat
es schon vor sich“.969
Wie die Lyrik beschränkt sich auch die „Idylle“ meistens auf einen
„Privatzustand“970. In Anspielung auf das deutsche (Volks)Lied ist die
subjektive Empfindung in sich konzentriert, ohne sich zu explizieren, d.h. sich
der Wirklichkeit zu öffnen.971 Dennoch wird die Idylle von Hegel vor allem
im Hinblick auf die Frage diskutiert, „ob hier ein Epos der modernen Welt
entwickelt wird, das die Funktion des alten Epos übernehmen kann“972,
nämlich
einer
Gemeinschaft
durch
Kunst
ein
geschichtliches
Selbstbewußtsein zu stiften, wie dies exemplarisch durch Homers Epen
geschah. Daher finden sich Hegels Äußerungen zur Idylle einmal zum Ende
962
963
964
965
966
967
968
969
970
971
972
208
Hotho 1823, 284.
Hotho 1823, 282.
„Im Lyrischen drückt das Subjekt sich aus. Nicht der Reichtum der Welt kann sich abspiegeln,
sondern die einzelne Empfindung, das einzelne Urteil des Gemüts“ (Hotho 1823, 297).
Ascheberg 1820/21, 314.
Hotho 1823, 297.
„Cid ist ein solches lyrisch behandeltes Episches“ (Hotho 1823, 298).
Libelt 1828/29, Ms. 74.
Libelt 1828/29, Ms. 74.
Hotho 1823, 297.
„Das deutsche [Lied] ist in sich gedrungen; [die] Empfindung [ist darin] konzentriert, sich für sich
als sich nicht explizierend könnend und wollend, darstellend“ (Kehler 1826, 220).
A. Gethmann-Siefert 1998, S. CCIV.
der Erörterung des Epos im Übergang zur Lyrik. Da die Idylle - wie die
Gartenkunst - durch ein Auseinanderfallen von Bedeutung und Gestalt
charakterisiert ist, ordnet Hegel die Idylle zudem den entsprechenden
Beispielen zu. Ist die Gartenkunst durch ein Auseinanderfallen von
idealisierter Natur (Bedeutung) und äußerlichem Arrangement (Gestalt)
gekennzeichnet, fallen bei der Idylle „die Empfindung und die Gestalt
auseinander“973. Das ist ein Grund für Hegels Skepsis, wenn nicht gar
Ablehnung der „Idylle“ gegenüber974, auch für die Idyllendichtung gilt Hegels
Kritik an einem empfindungsinduzierten Naturvollzug. Insbesondere bei den
Deutschen sei es „die allergeläufigste Manier, Gedichte zu machen. Sonne,
Mondschein und dergleichen, und der und das fiel mir dabei ein, Freunde,
Geliebte, und dergleichen“975. So spottet Hegel beiläufig, aber gerne über
Klopstock976, Gessner977 und Voß978.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die eingangs erwähnte Unterstellung
idyllischer Motive, die Idylle stelle einen vorzivilisatorischen Zustand dar, der
ohne Entzweiung des Menschen von Natur und ohne gesellschaftliche
Verpflichtungen ein idealer Zustand im Sinne eines erstrebenswerten
Zustandes sei - sei dies nun im Rückblick auf ein „goldenes Zeitalter“ (die
Idylle im Sinne der Schillerschen „arkadischen Idylle“) oder im Vorblick auf
einen ersehnten zukünftigen Zustand (im Sinne der Schillerschen „elysischen
Idylle“).979 Ob nun vorgestellt, dargestellt oder ersehnt, ein solcher
„Naturzustand“ kann für Hegel weder erstrebenswert noch darstellungswürdig
sein, weil er das Menschsein auf unmittelbare Lebensbewältigung reduziert
973
974
975
976
977
978
979
Kehler 1826, 113.
Vgl. hierzu A. Gethmann-Siefert: Idylle und Utopie. Zur gesellschaftskritischen Funktion der
Kunst in Schillers Ästhetik, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft, 24 (1980), 32 ff.;
dies.: Vergessene Dimensionen des Utopiebegriffs. Der ‚Klassizismus‘ der idealistischen Ästhetik
und die gesellschaftskritische Funktion des ‚schönen Scheins‘, in: Hegel-Studien, 17 (1982), 119
ff.; dies.: Hegels Kritik der modernen Idylle, in: Die Funktion der Kunst in der Geschichte, 329 ff.
Kehler 1826, 113.
„Bei Klopstock [gibt es] mehreres nach diesem Typus, Schema. Wenn der Mondschein nur schön
herabfließt usf., macht [das] ein schönes Eidyllion aus“ (Kehler 1826, 113f.).
„Gessnersche Idyllen haben großen Beifall besonders bei Franzosen gefunden. Die Interessen des
Geistes sind nicht darin enthalten“ (Libelt 1828/29, Ms. 72). 1823 heißt es: „Gessner wird wenig
gelesen oder gelesen als etwas, wo wir nicht zu Hause sind“ (Hotho 1823, 109). - Hegel besaß von
Salomon Gessners Schriften die 1756 erschienen Idyllen: Gessners Idyllen, aus den Sämmtlichen
Schriften der 2te Band, Karlsruhe 1775.
„Die Vossische idyllische Welt hat einen größern Kreis“ (Ascheberg 1820/21, 313). 1823 spielt
Hegel auf Voß’ Luise an (Hotho 1823, 297): Johann Heinrich Voß: Luise. Ein ländliches Gedicht
in drei Idyllen, Tübingen 1807.
Friedrich Schiller entwickelt seine Idyllenkonzeption in der Abhandlung Über naive und
sentimentalische Dichtung, in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke
hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1973, Bd. V, 694-780.
209
und das notwendige Handeln in Gemeinschaft, d.h. sittliche Orientierung in
einer komplexen, auf institutionalisierte Kooperation und Verständigung
angelegten modernen Welt ausblendet. Damit bleiben die „Interessen des
Geistes“ nach Handlungsorientierung unberücksichtigt.980 Wird die Idylle etwa in Voß’ Luise oder in Gessners Idyllen - im Sinne vermeintlicher
Naturunmittelbarkeit auf die ältere Form der Arkadik zurückgeführt, bleiben
sie gleichsam geschichtslos, da sie noch vor aller Geschichte (verstanden als
tätige Auseinandersetzung des Menschen mit Natur und mit anderen
Handlungspartnern) angesiedelt bleiben. Ähnlich trifft die Kritik solche
Idyllenkonzeptionen, die den Naturzustand auf einen fiktiven Ort jenseits
bzw. ‚nach’ der Geschichte verschieben und an die Stelle realer Verhältnisse
eine „geträumte“ Realität setzen.981
Für Hegel ist die Vorstellung eines „Naturzustandes“, die von einer
ursprünglichen schrankenlosen Freiheit der Menschen ausgeht, die erst mit
dem Entstehen der Gesellschaft eingeschränkt wird, eine haltlose Abstraktion.
Außerdem muß aus dieser Konzeption schrankenloser vorgesellschaftlicher
Freiheit heraus jedwede Gesellschaftsform als „unnatürliche“ Verfallsform
des Ursprungszustandes erscheinen. Demgegenüber hat Hegel stets auf die
mit seiner Konzeption des Geistes und dessen wesentlicher Freiheit
verknüpfte Intersubjektivität hingewiesen.982 Auch die Vorstellung, im
„Idyllischen“, also in einem ursprünglichen vorzivilisatorischen „Naturstand“,
sei „der Mensch auf die Gunst der Umgebung beschränkt“983, verkennt die
Notwendigkeit und die Bedeutung der Arbeit für die Befreiung des Menschen
von Natur.984 In den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der
980
981
982
983
984
210
„Man glaubt der Idyllenzustand sei der meist idealische, weil die Entzweiung darin nicht
vorhanden ist. Allein solcher Zustand hat zu wenig Interesse für uns, alle wichtigen Interessen sind
davon ausgeschlossen. Liebschaften der Schäfer, Mädchen, Verlaufen eines Schafes ist wenig
anziehend“ (Libelt 1828/29, Ms. 72).
Diese beiden geschichtslosen Konzeptionen der Idylle hat A. Gethmann-Siefert herausgestellt. Vgl.
etwa A. Gethmann-Siefert: Hegels Kritik der modernen Idylle, in: dies.: Die Funktion der Kunst in
der Geschichte, 329ff.; dies.: Einleitung: Gestalt und Wirkung von Hegels Ästhetik, in: Hegel,
Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen: ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 2.
Vorlesungen über die Philosophie der Kunst: Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav
Hotho. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, CCIVff.; dies.: Einführung in Hegels
Ästhetik, 335.
Vgl. Kap. 2.2 „Hegels Begriff des Geistes“.
Aachen 1826, Ms. 71.
In den Grundlinien der Philosophie des Rechts pointiert Hegel seine in vielen Schriften wiederholt
vorgetragene Kritik am Naturzustand und der Nichtbeachtung der Bedeutung der Arbeit wie folgt:
„Die Vorstellung, als ob der Mensch in einem sogenannten Naturzustande, worin er nur sogenannte
einfache Naturbedürfnisse hätte und für ihre Befriedigung nur Mittel gebrauchte, wie eine zufällige
Weltgeschichte von 1822/23 bezeichnet Hegel diesen gesellschaftsfreien und
arbeitsfreien Zustand als „leeres Ideal“. Denn statt ein „Zustand der Unschuld
(…) ist der erste, unmittelbare, natürliche Zustand des Geistes ein Zustand der
Unfreiheit, der Begierde, worin der Geist als solcher nicht wirklich ist“985.
Hegel verknüpft „Geist“ und Freiheit, es geht um die Notwendigkeit, daß der
Mensch in der Geschichte einen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“
erzielt, d.h. als freies und vernünftiges Wesen durch sein Handeln in
Gemeinschaft seine Vernünftigkeit und Freiheit (in Sitte, Recht, Institutionen,
Gesellschaft, Staat, Kultur, Kunst etc.) verwirklicht.986 Daher heißt es an der
angegebenen Stelle: „Exeundum est e statu naturae (Spinoza). Es ist dies der
Stand der Unfreiheit und der Sinnlichkeit“987. Eine Kunst, die „die
Vorstellung des goldenen Zeitalters“ besingt, in dem der „Mensch sich
unmittelbar begnügt, was ihm die Natur liefert, wodurch alle Leidenschaften
des Ehrgeizes, der Habsucht schweigen - Neigungen, die dem höheren Adel
der menschlichen Natur zuwider erscheinen“988, eine solche Kunst vermittelt
nur eine „beschränkte Lebensart“, die „einen Mangel der Entwicklung des
Geistes“ voraussetzt. Nur ein „gewisser Kreis kann sich auf solchen Zustand
beschränken“, denn solches „Idyllenleben ist geistesarm. Der Mensch muß
arbeiten.“989 Der Mensch reduziert sich gleichsam selbst auf eine
Schrumpfform des Menschseins.
Trotz dieser deutlichen Bedenken gegen die „subjektive Innerlichkeit“ der
Lyrik und der Idylle und die mit der Idyllenkonzeption verknüpften
Voraussetzungen
der
Darstellung
eines
empfindsamen
bis
naiven
Naturvollzuges, sucht Hegel nach einer Form der Idylle, die die subjektive
Innerlichkeit
985
986
987
988
989
auf
Vermittlung
eines
objektiven,
für
eine
Natur sie ihm gewährte, in Rücksicht auf die Bedürfnisse in Freiheit lebte, ist noch ohne Rücksicht
des Moments der Befreiung, die in der Arbeit liegt“ (Rph, § 194).
V 12, 33.
Vgl. Kap. 2.2 „Hegels Begriff des Geistes“.
V 12, 33. - Hegel zitiert Benedictus de Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, Amsterdam 1670,
Kap. 16. Vorher (1642) hatte bereits Thomas Hobbes die fast gleichlautende Formulierung
„exeundum esse e statu naturali“ gebraucht (De cive, I). - An anderer Stelle geht Hegel auf die
Vorstellung ein, der Naturzustand sei dadurch ausgezeichnet, „daß der Mensch im reinen
Bewußtsein Gottes und der göttlichen Natur gelebt habe, gleichsam im Zentrum von allem stehend
– was wir erst mühsam erringen – im Mittelpunkt aller Wissenschaft und Kunst, so daß ihm alles
offen da lag, daß er also eine Intelligenz gewesen sei, die die Tiefe Gottes und der Natur
durchschaute“ (V 12, 35). Eine solche Vorstellung könne man nur in Unkenntnis des Denkens, der
„Natur des Geistes“ (V 12, 36) haben. Denn dieser „ist Bewegung und Tätigkeit, die ein Erstes
verläßt, zu einem anderen geht, es bearbeitet, überwindet und sich hierin in dieser Arbeit selbst
gefunden [hat] und so zurückkehrend zum ersten erst wirklich Geist geworden [ist]“ (V 12, 36).
Hotho 1823, 109.
Hotho 1823, 109.
211
Handlungsorientierung relevanten Inhalts hin überschreiten kann. Da es nicht
darum gehen kann, den in der Idylle dargestellten Naturzustand als modernen
Weltzustand zu betrachten, muß die an ein Individuum gebundene
„Gelegenheit“,
d.h.
die
subjektive
Situation
überwunden
990
überindividueller „größerer Hintergrund angegeben“
und
ein
werden können.
Eine partielle Vermittlung mit einem objektiven Inhalt sieht Hegel in
Goethes Romanen, beispielsweise in Wilhelm Meisters Lehrjahre991, der die
Bildungsgeschichte eines Individuums erzählt, das sein Selbstbewußtsein
entwickelt und seinen Charakter und seine Persönlichkeit vollendet, indem es
sich in seiner geschichtlichen Situation und in seiner Welt mit den gegebenen
kulturellen Rahmenbedingungen auseinandersetzt. Immerhin wird damit zwar
eine Auseinandersetzung mit Welt beschrieben; da aber der Roman und
dessen geschichtliche Situation an die Bildungsgeschichte eines einzelnen
Bürgers gebunden bleiben, kann er noch nicht einen allgemeinen Weltzustand
erreichen.
Eine gelungene Vermittlung neuzeitlicher Subjektivität mit der modernen
Welt sieht Hegel nur in Goethes Idylle Hermann und Dorothea992. Die
Beschränkung auf einen „Privatzustand“ (das Individuelle) kann zwar nicht
vollständig überwunden werden, aber es kann bereits „ein größerer
Hintergrund angegeben“ werden, wenn auch die „Verknüpfung desselben mit
der Handlung ein Sprung“ bleibt.993 In der Vorlesung von 1828/29 zeichnet
Hegel die Idylle Hermann und Dorothea als „großartig“ aus, „weil sie das
Weltinteresse zum Hintergrunde hat, das Motiv des Vaterlandes“. Hier geht es
demnach um „eine Besonderheit, die sich auf ein Höheres bezieht“994.
Obwohl diese Idylle „auf einen untergeordneten Kreis beschränkt ist“,
eröffnet „der Hintergrund aber eine weite Aussicht“995, d.h. hier wird
individuelles
Handeln
auf
eine
allgemeine
geschichtliche
Situation
996
bezogen.
990
991
992
993
994
995
996
212
Hotho 1823, 297.
Vgl. Wilhelm Meisters Lehrjahre (Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 7).
Vgl. Hermann und Dorothea von J. W. von Göthe. Taschenbuch für 1798. Berlin 1797 (Goethe:
Werke. Bd. II, 437-514).
Hotho 1823, 297.
Libelt 1828/29. Ms. 73.
Anonymus 1828/29. Ms. 95b.
A. Gethmann-Siefert zieht in diesem Zusammenhang folgendes Fazit: „[Damit ist die Möglichkeit
gegeben], durch die Integration subjektiv-verinnerlichter Erfahrung in den allgemeinen Horizont
der Welt, der geschichtlichen Situation, in der Idylle eine ‚Objektivität‘ subjektiver Innerlichkeit zu
Zusammenfassend lehnt Hegel also jede Form der Idylle dann ab, wenn sie
einen fiktiven, in der Vergangenheit oder Zukunft liegenden Naturzustand als
idealisiertes Ur- oder Vorbild einer Harmonie von Mensch und Natur sowie
Mensch und Mensch rekonstruieren und reaktivieren will. Eine solche
idyllische Naturharmonie ist letztlich ungeschichtlich, d.h. unerreichbar und
unerfüllbar entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft gelegen. Die
Illusion einer natürlichen ursprünglichen Harmonie mit Natur, eines
vorgesellschaftlichen und vorkulturellen „Naturzustandes“ setzt an die Stelle
gegenwärtiger ‚zerrissener’ Weltzustände eine bloß ersehnte oder erträumte
harmonische Realität. Die von Hegel diskutierten Gegenbeispiele - Goethes
Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Idylle Hermann und Dorothea demonstrieren daher, daß ein Naturvollzug, wenn er in einen größeren
geschichtlichen
Zusammenhang
gestellt
wird,
geeignet
ist,
das
Selbstverständnis eines modernen Bürgers zu symbolisieren.
Exkurs: Adornos Sehnsucht nach dem Paradies
Die Gedankenfigur, an die Stelle gegenwärtiger ‚zerrissener’ Weltzustände
eine ersehnte harmonische Realität zu setzen, findet sich auch in den Schriften
von
Theodor
W.
Adorno.
Die
älteren
Idyllenkonzeptionen
stehen
bekanntermaßen in einem religiösen Kontext, namentlich diejenige Form, die
das Paradies als Garten Eden997 beschreibt. Diese Vorstellung des Paradieses
ist häufig eschatologisch verknüpft mit dem christlichen Motiv einer
zukünftigen Wiederauferstehung und Erlösung des Menschen in einem dann
glücklichen, schmerz- und sorgenfreien Leben aller Gottgefälligen im
himmlischen Paradies.998 In gleichsam ‚säkularisierter’ Gestalt erscheint
dieses Motiv aber unterderhand auch bei Denkern, die vordergründig die
menschliche Existenz aus ihrer religiösen Verstrickung und den damit
verbundenen Konsequenzen befreien, statt dessen auf eine aufgeklärte
Vernunft gründen wollen. Dies trifft auf Kant, wie auf Schiller, aber auch auf
Adorno zu.
997
998
gestalten“ (A. Gethmann-Siefert: Einleitung: Gestalt und Wirkung von Hegels Ästhetik, CCIV).
Eine Parallele sieht Hegel zudem in Goethes Divan, der eine vergangene fremde Kultur so zu
vermitteln vermag, daß das fremde Objektive, Substantielle tatsächlich angeeignet wird und somit
der romantischen bloßen Innerlichkeit einen substantiellen Inhalt zu vermitteln vermag.
Genesis 2, 4-25.
Vgl. Offenbarung 21, 4; 1. Korinther 15, 35-58.
213
Kant führt in seiner Religionsphilosophie seine Moralphilosophie weiter
und entwickelt eine „Moraltheologie“999 oder „Ethikotheologie“1000, die auf
die Frage „Was darf ich hoffen“1001 die Antwort gibt: eine Verknüpfung von
Sittlichkeit und Glückseligkeit. Der Mensch kann dies aber nur hoffen unter
der jeweils praktisch notwendigen Voraussetzung eines göttlichen Garanten
für diese Verknüpfung sowie für seine Unsterblichkeit. Unsterblichkeit ist
denknotwendig, damit menschliche Bemühungen um Sittlichkeit nicht mit
dem Tod ergebnislos enden müssen.1002 Das irdische Jammertal ist gleichsam
nur erträglich unter der praktischen Hoffnung auf Unsterblichkeit.
Schiller stellt seine Idyllenkonzeption in einen ähnlichen, ebenfalls auf
Versöhnungs- bzw. Erlösungs-Hoffnung abgezweckten Zusammenhang.
Schillers Idylle fungiert zum einen als Gegenbild einer vergangenen
Harmonie des Menschen mit Natur zur gegenwärtigen Kultur und
Gesellschaft, als „Paradies“, „goldnes Alter“, „Stand der Unschuld“ der
Menschen vor aller Kultur. Diese unerreichbare, weil unwiederholbare
Vergangenheit wird von Schiller zum anderen als télos, als letzter Zweck der
Kultur in eine utopische Zukunft verlegt. Nur die Hoffnung auf - „die Idee
(…) und der Glaube an die mögliche Realität“1003 - eines solchen dereinstigen
Zustands der Harmonie des Menschen mit sich selbst und mit der Natur
versöhnt ihn mit den unerträglichen zivilisatorischen und kulturellen Übeln
der Gegenwart. Diese ideelle Hoffnung bedarf, um wirksam zu werden, einer
„sinnliche[n] Bekräftigung“1004, d.h. einer Veranschaulichung, die aber nicht
real angeschaut, sondern nur in der Dichtung darstellend antizipiert werden
kann. Schillers Idylle will somit den Menschen „theoretisch rückwärts“
führen, indem sie ihn „praktisch vorwärts führen und veredeln“1005 will. Der
Dichter soll „uns vorwärts zu unserer Mündigkeit“, d.h. zu einer erhofften
Vollendungsform des Menschseins führen, er soll „den Menschen, der nun
einmal nicht mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elysium“1006, d.h. zu
einer an klassischen griechischen Dichtungen orientierten Lebensweise
999
1000
1001
1002
1003
1004
1005
1006
214
KrV, B 842.
KU § 86.
KrV, B 833.
Vgl. KrV, B 833ff.; KpV, AA V, 122-132.
Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, 746f.
Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, 746.
Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, 747.
Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, 750.
geleiten. Allerdings erkennt Schiller selbst, daß eine schlichte Rückkehr zu
antiken Vorbildern nicht möglich ist, da die (mit Hegel gesprochen:)
„vernunftfordernde Vernunft“ einen Rückschritt auf eine überwiegend durch
Anschauung und Empfindung geprägte Kultur verbietet. Was bleibt, ist das
Studium der Geschichte, um aus dieser für die Zukunft zu lernen1007, ferner
eine Gewichtsverschiebung vom Inhalt zur Form versöhnter Verhältnisse im
Hinblick auf eine durch Kunst vermittelte „vernünftige Lebensform“1008.
Während Kant und Schiller ihre ‚utopischen’ Hoffnungen entweder als
Postulate praktischer Vernunft (Kant) oder als in Kunst vermittelte
Antizipation humaner Lebensformen keineswegs als reale Utopie verstehen,
versichert der Materialist und Anti-Metaphysiker Adorno hingegen an einer
Stelle in der Ästhetischen Theorie, es bestehe durchaus
„eine reale Möglichkeit von Utopie“ - nämlich darin, „daß die Erde, nach dem
Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar das Paradies sein
könnte“.1009
Diese Behauptung muß allerdings verwundern, da Adorno ansonsten stets
darauf insistierte, daß Utopie dann zum falschen Schein werde, wenn sie als
verwirklicht unterstellt oder angestrebt wird:
„Das Naturschöne bleibt Allegorie dieses Jenseitigen trotz seiner Vermittlung
durch die gesellschaftliche Immanenz. Wird aber diese Allegorie als der
erreichte Stand von Versöhnung unterschoben, so erniedrigt sie sich zum
Behelfsmittel, den unversöhnten zu verschleiern und zu rechtfertigen, in dem
doch solche Schönheit möglich sei.“1010
Das hinter dem ersten Zitat stehende religiöse Motiv ist unübersehbar, wie
überhaupt Adornos Philosophie von religiösen Motiven unterschwellig
angetrieben, eine gewisse „Erlösungssehnsucht“1011 an den Stellen seiner
Schriften festzustellen ist, an denen Adorno aus den Aporien seiner Kultur-,
1007
1008
1009
1010
1011
Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, in: Schillers
Werke (Nationalausgabe), Weimar 1943ff, Bd. 17, 359-376.
Vgl. hierzu A. Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 182f.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 56 (Hervorhebungen von K.B.).
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 108.
So die Überschrift zu einem Abschnitt über Adornos Ästhetische Theorie in dem Buch von
Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Band 2: Von Nietzsche bis zur
Gegenwart, Opladen 1993, 221. Plumpe stellt in seinem Kapitel zu Adorno diese
Erlösungssehnsucht, seine religiösen Motive deutlich heraus.
215
Gesellschafts- und Kunstkritik herauszufinden bemüht ist.1012 Die Erlösung,
die Adorno herbeisehnt, ist die Erlösung von dem von ihm diagnostizierten
Identitätszwang
aller
Kultur,
der
alles
Besondere
der
Verallgemeinerungstendenz des rationalen Denkens aufopfere und eine
Harmonie des Menschen mit seinesgleichen und der Natur verhindere. Wie
stark religiös dieses Erlösungsmotiv in Adornos Denken wirkt, zeigt sich
beispielsweise in dem Aphorismus „Zum Ende“ in den Minima Moralia. Hier
spricht Adorno wörtlich von dem „Messianischen Lichte“, das einst auf die
entfremdete Welt fallen werde:
„Zum Ende. - Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch
zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie
vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht,
als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich
in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten
hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre
Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im
Messianischen Lichte daliegen wird.“1013
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie es zu diesem Pessimismus und
zu dieser Erlösungssehnsucht kommen konnte. Adornos Philosophie mündet
bekanntlich nach dem Geschichtsoptimismus der frühen Kritischen Theorie
und nach der pessimistisch gefärbten Dialektik der Aufklärung in eine Sphäre
auswegloser Negativität1014. Hatte Hegel Kultur in ihrer Gesamtheit im
Medium begrifflichen Denkens positiv fassen und beschreiben können, so
glaubt Adorno diese Gedankenfigur ins Negative wenden zu müssen. Die
natürliche und kulturelle Wirklichkeit, die von Hegel als vernünftige
Wirklichkeit begriffen werden kann, gilt Adorno als „falsche Totalität“, als
„Verblendungszusammenhang“, der geschichtlich durch den Zwang des
„identifizierenden Denkens“ der „instrumentellen Vernunft“ entstanden ist.
Kultur erscheint in dieser Perspektive als Geschichte der Beherrschung und
1012
1013
1014
216
Hartmut Scheible stellt ebenfalls die Vermittlung der „religiösen Motive mit Adornos Denken“
heraus. „Gerade weil sie kaum jemals eingestanden werden, ist es um so notwendiger, sie in ihrer
ganzen Bedeutung zu benennen“. H. Scheible: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen
Zeitalter, Reinbek 1988, 483.
Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Aphorismus 153: „Zum Ende“, in: Gesammelte Schriften,
Bd. 4, Darmstadt 1997, S. 283.
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, 7-412. - Zur Erläuterung
dieser für Adornos Denken signifikanten Schrift vgl. die instruktiven Erläuterungen von Dieter
Birnbacher: Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), in: Interpretationen. Hauptwerke der
Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, 335-361.
Unterjochung äußerer und innerer Natur des Menschen durch den Menschen
selbst. Innerhalb der Kultur ist der Mensch von der Fülle der Möglichkeiten
seines Menschseins entfremdet; alles zuerst vom Naturzwang Befreiende
verdinglicht sich im Moment seiner Etablierung wiederum zu einem nun
kulturellen Zwang. Aus der Immanenz dieser „falschen Totalität“ der Kultur
als Entfremdungszusammenhang gibt es für Adorno kein Entrinnen.
Nur noch die Kunst verspricht, eine Dimension nicht-entfremdeten Lebens
anzuzeigen und als Utopie offenzuhalten. Kunst, die bei Hegel in der
Immanenz vernünftiger Wirklichkeit aufgehoben ist, muß nach Adorno der
Immanenz der „falschen Totalität“ eine Sphäre der Transzendenz eröffnen,
um die entfremdete Gesellschaft und Kultur von außen zu kritisieren. Dies ist
allerdings nur dann möglich, wenn Kunst ein gesellschaftskritisches Potential
gewinnen kann, das nicht durch den Identitätszwang der Kultur gleich wieder
neutralisiert wird. Adorno sieht als letzte Möglichkeit, der Realität einen
Spiegel ihrer Entfremdung vorzuhalten, nur den Rückgriff auf das
Naturschöne und auf die von Hegel abgelehnte Nachahmung der Natur. Das
Schöne der Natur ist ein Schönes, das der Mensch nicht hergestellt hat und
auch nicht von ihm beherrscht wird. Dem Naturschönen als Residuum nichtentfremdeter Realität wird somit ein größerer Kredit eingeräumt als dem
Kunstschönen, weil Kunst Teil der Kultur als Entfremdungszusammenhang
zu sein scheint. Nur in der ästhetischen Erfahrung von Natur bzw.
Naturschönem
kann
das
Kontinuum
gesellschaftlicher
Herrschaft
durchbrochen werden. Die Nachahmung der Naturschönheit ist nicht
kopierende Wiedergabe von Naturphänomenen, sondern Nachahmung von
etwas Unbeherrschtem, Nicht-Hergestelltem, von etwas, das nicht in den
„Verblendungszusammenhang“ der „falschen Totalität“ eingegliedert ist.1015
Adornos „Mimesis“ ist demnach Nachahmung einer schönen Natur, die als
von aller Geschichte, von allem menschlichen Handeln entzogene, demnach
noch nicht „verblendete“ Realität gedacht wird. Diese Dimension nichtentfremdeter Realität kann aber nur als negative Utopie, als das „ganz
Andere“ der geschichtlichen Kultur, als „Licht“ der „Erlösung“ zumindest
von außen einen schwachen Funken der Hoffnung in die geschlossene
1015
A. Gethmann-Siefert hat hierfür die Formulierung „Nachahmung eines Unnachahmlichen“
gefunden, in: dies.: Einführung in die Ästhetik, München 1995, 237.
217
Totalität der sozialen Realität einfallen lassen und wirksam werden1016, damit
die gesellschaftliche Kritik zumindest offen halten.
Im Gegensatz zu Kant, der Natur unterderhand unhistorisch deutete, faßt
Adorno Natur historisch auf. Wie bei Hegel ist auch bei Adorno Natur durch
den historischen Prozeß vermittelt.1017 Auch Kulturlandschaft ist von dieser
geschichtlichen Vermitteltheit betroffen, hat sich ihr doch „Geschichte als ihr
Ausdruck, historische Kontinuität als Form sich eingeprägt“1018. Die
gegenwärtige totale Vermitteltheit von Natur und Naturschönem führt
letztlich dazu, daß das Naturschöne „in seine Fratze über[geht]“1019 - Adorno
bringt als Beispiel das vermeintlich schöne Mädchengesicht, das aber nur die
durch
die
Filmindustrie
vermittelten
Schönheitsstandards
eines
umschwärmten Filmstars nachahmt. Dann aber stellt sich die Frage, wie das
Naturschöne ungeachtet seiner Vermitteltheit, etwas Unvermitteltes erfahren
lassen können soll.
Um das unterschwellig religiöse Vokabular Adornos einmal provokativ
fortzuführen, ließe sich antworten: Das Unvermittelte kann nur wie ‚aus
heiterem
Himmel’
in
die
vermittelte
Welt
eines
Naturbetrachters
hereinbrechen. Adorno bemüht die Metapher des „Blitzes“, der ja auch vom
Himmel hereinbricht und ebenso schnell wieder verschwindet. Niemand käme
auf die Idee, den Blitz dingfest machen zu wollen:
„Wie in Musik blitzt, was schön ist, an der Natur auf, um sogleich zu
verschwinden vor dem Versuch, es dingfest zu machen. Kunst ahmt nicht
Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, doch das Naturschöne an
sich.“1020
Diese plötzliche Erfahrung schöner Natur ist nicht nur überraschend, sie bleibt
rätselhaft, ist auch nicht in Worte zu fassen, weswegen es am besten ist, ihr
gegenüber zu schweigen: „erscheinende Schönheit will Schweigen“1021.
Obwohl eigentlich nicht über das Erfahrene gesprochen werden kann - eins
1016
1017
1018
1019
1020
1021
218
Erinnert sei an den bereits erwähnten Aphorismus „Zum Ende“, in dem Adorno von einem
„Messianischen Lichte“ spricht.
Adorno sagt, Natur und Kunst seien „aufeinander verwiesen: Natur auf die Erfahrung einer
vermittelten, vergegenständlichten Welt, das Kunstwerk auf Natur, den vermittelten Statthalter von
Unmittelbarkeit“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 98).
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 101.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 106.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 113.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 108.
steht für Adorno immerhin fest: Dem Naturschönen „gliche das
Versöhnte“1022. Ungeachtet der Einsicht in die totale Vermitteltheit des
Naturschönen, etwa der Landschaft, ist diese für Adorno eine „Verheißung“
auf Versöhnung:
„Keine Kritik der Naturteleologie kann fortschaffen, daß südliche Länder
wolkenlose Tage kennen, die sind, als ob sie darauf warteten, wahrgenommen
zu werden. Indem sie so strahlend unverstört zum Ende sich neigen, wie sie
begannen, geht von ihnen aus, nicht sei alles verloren, alles könne gut
werden.“1023
Wieder taucht das idyllische Motiv eines „alles könne gut werden“ auf, so als
ob diese postkartenkitschige Erfahrung sich nicht unzähligen historischen
Vermittlungen verdankte. Die Kunst kann nur dann einen Einbruch der
Transzendenz in die Immanenz der Kultur erreichen, wenn sie wie die
Erfahrung des Naturschönen eine blitzartige Erfahrung vermittelt. Adorno
behauptet daher, „prototypisch“ für Kunstwerke sei „das Phänomen des
Feuerwerks“. Kunstwerke sind gleichsam „Himmelszeichen und hergestellt in
eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer
Bedeutung nach sich lesen läßt“1024. Wie die Erfahrung des Naturschönen
bleibt auch die der Kunst rätselhaft. Natur- und Kunstschönes stimmen in
ihrem unauflösbaren Rätselcharakter überein. Kunst als Nachahmung des
Naturschönen an sich hüllt sich wie das Naturschöne in Schweigen,
Kunstwerke sind „hyroglyphenhafte“ Schriften, „zu denen der Code verloren
ward“1025. Erst „durch alle Vermittlungen hindurch“1026, letztlich durch
Philosophie, kann, wenn überhaupt, das Rätselhafte der Kunst enträtselt
werden.
Letztlich kommt Adorno somit dort an, von wo aus Hegel in seiner
Ästhetik mit der Konzeption der symbolischen Kunstform aufbrach: bei
einem Natur- und Kunstvollzug, dem Natur wie Kunst als Rätselhaftes
erscheinen. Adornos Versuch, das Naturschöne als utopische Dimension
vorkultureller,
nicht-entfremdeter,
nicht
dem
begrifflichen
Denken
ausgesetzter Verhältnisse ins Spiel zu bringen, setzt dann doch eher auf die
1022
1023
1024
1025
1026
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 115.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 114.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 125.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 189.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 189.
219
Kunst (als Nachahmung des Naturschönen an sich) und mündet in
Philosophie, um das Rätselhafte zu enträtseln. Adorno kann aber keinen
überzeugenden Grund für seine Hoffnung auf Versöhnung angeben. Darin
liegt ein entscheidender Mangel von Adornos Philosophie.1027 Die Positionen
beispielsweise der Aufklärungsästhetik und insbesondere Kants, die dem
Naturschönen eine vorrangige Bedeutung zuschrieben, konnten sich
begründungstheoretisch auf Gott berufen, der das Naturschöne als dem
Menschlichen und dem Kunstschönen vorgängige Instanz legitimierte. Fällt
aber diese theologische Begründungsinstanz weg, dann ist nicht ersichtlich,
warum das Naturschöne, das nur durch den bewußten Zugriff handelnder und
erkennender Menschen überhaupt als Naturschönes thematisiert werden kann,
damit
letztlich
ein
Vollzogenes
ist,
einen
ausgezeichneten
Status
beanspruchen und als Berufungsinstanz für eine ‚bessere‘ Welt harmonischer
Verhältnisse gelten können soll.
Adornos Hoffnung auf Erlösung, darauf, „daß die Erde, nach dem Stand
der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar das Paradies sein könnte“1028,
scheint seine Antwort auf Kants Frage „Was dürfen wir hoffen?“ zu sein. Eine
weitere Parallele zu Kant ergibt sich dann, wenn man einen kurzen, aber
vielleicht wiederum entlarvenden Blick auf einige skizzenhafte Bemerkungen
Adornos zur Moralphilosophie beachtet, die gleichsam das religiöse Motiv
der Erlösung auf das transzendentalphilosophische Modell einer „regulativen
Idee“ zurückstutzen und damit wiederum - wie schon mit der unterderhand
doch bedeutsameren Kunst gegenüber dem Naturschönen und damit analog zu
Hegel - einer Denkfigur des sogenannten „deutschen Idealismus“ nahekommt,
den er ansonsten (mit fast religiöser Inbrunst) verteufelte. Adorno hat
nämlich, wenn auch nur an wenigen Stellen, seine Fluchtburg „negativer
Dialektik“ verlassen. Obwohl es für ihn „kein richtiges Leben im falschen“1029
gab, d.h. kein wahrhaft freies individuelles Handeln in der von ihm
diagnostizierten „unversöhnten“ Welt und vorerst nur der ‚Rückzug ins
Private‘ blieb - gewissermaßen eine unverbindliche ‚Lebenskunst‘ -, ist
Adorno zugleich ein Beispiel für die mögliche Gegenposition und die
1027
1028
1029
220
Vgl. hierzu Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels Begriff des Kunstschönen, in: der blaue reiter.
Journal für Philosophie, Nr. 12 (2/00), 48-51.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 56 (Hervorhebungen von K.B.).
Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 18.
Relativierung dieser schier hoffnungslos anmutenden Diagnose. In einer
Vorlesung von 1956/57 zur Moralphilosophie schlägt er selbst vor, man
müsse sein eigenes Leben als steten Versuch gestalten, „wie man in einer
befreiten Welt glaubt leben zu sollen, gleichsam durch die Form der eigenen
Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das
nach sich zieht, versuchen, die eigene Existenzform vorwegzunehmen, die die
eigentlich richtige wäre“1030.
Fazit
Adornos Verständnis von Gesellschaft und Geschichte, das eine ausweglose
Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Natur diagnostiziert, die
in einen totalen „Verblendungszusammenhang“ führt, sieht als letzte, noch
nicht der Verdinglichung, Verblendung und Entfremdung ausgesetzte Instanz
möglicher Gesellschaftskritik nur ein von jedem handelnden und gestaltenden
Zugriff des Menschen enthobenes und in der Kunst dargestelltes Schönes,
nämlich das Naturschöne. Diese Dimension nicht-entfremdeter Realität kann
Adorno aber nur als das „ganz Andere“ der geschichtlichen Kultur
konzipieren, er muß einen Standpunkt außerhalb der bestehenden Kultur und
Geschichte einnehmen, um von dort aus das Bestehende im Lichte dieses
utopischen Gegenbildes zur bestehenden Realität zu kritisieren. Dieser
Standpunkt ist allerdings nur unter Zuhilfenahme religiöser Metaphern
einzunehmen, den Adorno daher auch nur beschwören, nicht begründen kann.
Adorno verkennt mit seiner Befürchtung, Kunst könne zum falschen
Schein, d.h. zur Verschleierung ihres Scheincharakters, damit zu einer
Ideologie schöner Versprechungen auf eine bessere Welt degenerieren, die als dargestellte - als realisierte mißdeutet wird, die Möglichkeiten der Kunst.
Insbesondere Hegels These vom „Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer
höchsten Möglichkeit nach“ - die sog. „These vom Ende der Kunst“ - und die
mit
ihr
verknüpfte
Differenzierung
und
Pluralisierung
möglicher
Veranschaulichungen verschiedenster Weltanschauungsweisen eröffnet eine
geeignetere Ausgangsbasis für eine gesellschaftskritische Funktion der Kunst
1030
Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, Vorlesung 1956/57 an der Universität
Frankfurt/Main, hier: Vorlesung v. 28.02.1957, Typoskript im Adorno-Archiv, zit. n. Gerhard
Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993,
192.
221
als dies bei Adorno der Fall ist. Denn wenn die Kunst nur noch partiale
Bedeutung für die Kultur hat, dann kann sie durch ihre Pluralität die Aufgabe
einer nicht inhaltlichen und ideologieanfälligen, sondern „formellen
Bildung“1031 übernehmen. Kunst ist nicht mehr die einzige kulturelle
Orientierungsmacht, denn als eine solche „überlebt [sie] sich selbst“1032.
Kunst
veranschaulicht
unter
den
modernen
Vernunftbedingungen
mannigfaltige, potentiell geglückte oder mißlungene Lebensformen sowie
„Weltanschauungsvorschläge“1033, die im Zeitalter der reflexiven Vernunft
zur Wahl gestellt sind und damit zugleich auf ihre Akzeptanz geprüft werden
müssen. Es geht zwar um Inhalte, die aber keinen verbindlichen Anspruch
erheben können, sondern lediglich Vorschlagscharakter haben. Jene Prüfung
erfordert Reflexionsfähigkeit, weswegen moderne Kunst diese Fähigkeit
weckt und befördert. Reflexionskompetenz ist die zwar nicht hinreichende,
aber notwendige Bedingung für kultur- und gesellschaftskritisches Denken.
Damit hält Kunst durchaus die Gesellschaftskritik offen, und zwar ohne
rätselhaften
blitzartigen
Einbruch
eines
„Versöhnung“
verheißenden
Naturschönen, der im Kunstwerk nachgeahmt werden soll.
Der „neue Heilige der Kunst“, der „humanus“, den Hegel wie Schiller in
ihrer Auseinandersetzung mit Idyllenkonzeptionen als Ziel aller kulturellen
Anstrengungen im Blick haben, ist der Bürger der gegenwärtigen modernen
Welt. In dieser modernen Welt genügt eine Berufung auf eine transzendente,
der gesellschaftlichen und kulturellen Immanenz jenseitige Instanz der
Verheißung menschlichen Glücks nicht der „vernunftfordernden Vernunft“.
Auch ist ihm die Kunst nicht in vermeintlicher „Autonomie“1034 ein neues
Heiliges, das in Museen und Ausstellungsräumen verehrt wird. Die Kunst
verschafft dem modernen Bürger statt dessen eine Vielzahl unterschiedlicher,
anschaulich vermittelter Selbst- und Welterfahrungsmöglichkeiten. Diese
Vielfalt provoziert die Erfahrung alternativer Möglichkeiten der Selbst- und
Welterfahrung neben der bekannten Realitätserfahrung und damit zur Kritik
im Wortursprung von Unterscheidungsfähigkeit. Dem „humanus“ ist in der
Kunst ein Kaleidoskop anschaulich vermittelter Weltanschauungen und
1031
1032
1033
1034
222
Vgl. hierzu J.I. Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst, Kap. 4.2, 4.3 und 5.
Libelt 1828/29, Ms. 31.
A. Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, 358.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 9.
Handlungsorientierungen gegeben. Die Kunstrezeption ist dabei nicht mit
einer aufklärerischen Bildungsidealen verpflichteten Bildung durch Kunst
gleichzusetzen, sondern Hegel verknüpft den Bildungsgedanken im Sinne
einer „formellen Bildung“ mit dem Konzept des „ästhetischen Genusses“.1035
Das heißt, „Kunst bietet Genuß, stimuliert im Genuß aber zugleich zur
kritischen Reflexion. (…) Ausgerechnet die in der Gegenwartsdiskussion
verpönte Haltung des Genusses wird als Möglichkeit einer durch Kunst
vermittelten Gesellschaftskritik analysiert“1036. Denn der ästhetische Genuß
von (insbesondere problematischen, weil belanglosen) Inhalten erfordert eine
Distanzierung
von
ihnen,
diese
wiederum
Reflexionsfähigkeit
des
Genießenden.
Auch durch eine Anknüpfung an Hegels Charakteristik der in der
niederländischen Landschaftsmalerei dargestellten Landschaft als „Symbol
der
Sittlichkeit“
könnte
Adornos
im
rein
Negativen
verbleibende
Gesellschaftskritik, die sich zudem in eine abstrakte, von der realen Welt sich
abwendenden Sehnsucht nach paradiesischen Zuständen verirrt und als
„Minima Moralia“ das Engagement in der Welt auf einen Rückzug ins Private
reduziert, vermieden werden. Einer Berufung auf die Innerlichkeit des
Subjekts setzt Hegel entgegen, diese sei „das Letzte“, denn zum Menschen
gehört eine ihn „umschließende Welt“1037. Auch gegen Adorno ließe sich
damit in diesem Zusammenhang Hegels Kritik an einer weltlosen
Subjektivität anführen, „wo die Sehnsucht des Gemüts, die Innerlichkeit, das
Letzte ist, und die selbst sich hoch Wissenden nur nach dem Himmel sehen
und alles Erdenwesen verschmähen, sich darüber erheben“1038. Adornos
Sehnsucht nach dem Paradies auf Erden ähnelt insofern der von Otto Pöggeler
in Anlehnung an Hegel als „unversöhnte Subjektivität“1039 bezeichneten
Welteinstellung. Dem setzt Hegel entgegen, der Mensch müsse sich in der
1035
1036
1037
1038
1039
A. Gethmann-Siefert: Hegel über Kunst und Alltäglichkeit. Zur Rehabilitierung des ästhetischen
Genusses. In: Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen Ästhetik.
Sonderheft des Jahrgangs 2005 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft.
Hrsg. von Ursula Franke und Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 2005, 37-63, insbes. 62.
A. Gethmann-Siefert: Hegel über Kunst und Alltäglichkeit. Zur Rehabilitierung des ästhetischen
Genusses, 62.
Hotho 1823, 105.
Hotho 1823, 105.
O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, 43.
223
Welt „heimisch (…) finden“1040, damit „zwischen der Subjektivität und ihrer
Welt (…) eine wesentliche Zusammenstimmung vorwalte“1041.
Genau diese ‚versöhnte’ Welteinstellung bzw. Weltanschauung zeigt sich
in den von Hegel gelobten Bildern der niederländischen Malerei des 17.
Jahrhunderts. Ihre im Bild dargestellten Landschaften sind ihre der Natur
abgerungenen Landschaften, sie symbolisieren ein spezifisches MenschNatur-Verhältnis - sie sind „Symbol der Sittlichkeit“ eines Volkes im
gemeinsamen Kampf gegen die Unbilden der Natur und im gemeinsamen
Erschaffen einer kulturellen Welt. Demgemäß haben die Niederländer „das
Ihrige zum Zweck ihrer Darstellung gemacht, ihre Freude davon gehabt, [ein]
Frohsinn, der aus dem Selbstgefühl, es sich verschafft zu haben,
hervorgeht“.1042 Mit diesem „Frohsinn“ ist zugleich ein reflektierter Genuß
angesprochen, der über die Grenzen bloßer Subjektivität hinausweist, da nicht
nur individuelle Behaglichkeit und Gemütlichkeit, sondern die Behaglichkeit
von Bauern und Bürgern symbolisiert wird, die aus der gesamten Geschichte
und Kultur eines Volkes und dessen Naturverhältnis und Weltanschauung
resultieren.
Diese historisch spezifische, in den schönen Bildern der Niederländer
vermittelte und aufscheinende Weltanschauung wie -gestaltung hat „für uns“,
in unserer Zeit und Kultur eine nur partiale Bedeutung. Das heißt, der
symbolische Gehalt dieser Bilder erschließt sich nicht automatisch, sondern
muß durch philosophische Reflexion ermittelt werden. Die symbolisch
vermittelte,
uns
fremde
Weltanschauung
bleibt
dadurch
eine
Weltanschauungsmöglichkeit neben anderen, ein Vorschlag, der nicht zur
Übernahme nötigt, sondern die Empfänglichkeit für fremde Kulturen und
deren Weltsicht fördert. Kunst im Rahmen einer solchen „formellen Bildung“,
die nicht Inhalte nachahmen oder übernehmen, sondern Inhalte als
Möglichkeiten der Weltanschauung und Handlungsorientierung zur Reflexion
und kritischen Prüfung stellen will, befähigt damit zur Relativierung der
eigenen sozialen, historischen und kulturellen Situation und damit zur Kulturund Gesellschaftskritik. Adornos „negative Dialektik“, seine Sehnsucht nach
einem erlösenden Einbruch versöhnender Transzendenz in die Immanenz der
1040
1041
1042
224
Hotho 1823, 105.
Hotho 1823, 106.
Libelt 1828/29, Ms. 59.
unversöhnten Welt mittels der Nachahmung des Naturschönen in der Kunst
sowie sein Rückzug in eine „Minima Moralia“ erscheinen vor dem
umfassenden Ansatz der Hegelschen Ästhetik obsolet und durch diesen
ersetzbar.
225
6
Rückblick: Hegel vs. Hotho - oder die
Kontroverse um die systematische
Bedeutung des Naturschönen
Die wirkungsgeschichtlich bedeutsame, von H.G. Hotho edierte und
publizierte Druckfassung der Ästhetik hat ein bestimmtes Bild von Hegels
Ästhetik im allgemeinen, von der Rolle des Naturschönen im besonderen
hinterlassen. Für Generationen von Hegelforschern war und ist irritierend, daß
Hegel das Naturschöne zuerst kategorisch aus seiner Ästhetik ausschließt, um
es dann doch in einem ausführlichen Kapitel eigens zu erörtern. Die
vorliegende Arbeit hat zeigen können, daß ein anderer Eindruck entsteht,
wenn man sich auf die inzwischen publizierten Nachschriften zu Hegels
Ästhetikvorlesungen stützt. Diese vermitteln eine differenzierte Diskussion
des Naturschönen mit dem Sinn, den ästhetischen Naturvollzug in seiner
Verschiedenartigkeit zu analysieren und in seiner kulturellen Bedeutung zu
gewichten. Hegel geht nicht davon aus, daß das Naturschöne ein objektiv
gegebenes Naturphänomen oder eine objektiv gegebene Eigenschaft von
Naturdingen sei, sondern es ist Ergebnis eines produktiven Naturvollzuges,
der je nach Voraussetzung - d.h. den kulturellen Rahmenbedingungen und den
individuellen Präferenzen des Natur Vollziehenden - zu verschiedenartigen
Phänomenen führt.
Hotho geht in der Ästhetik von einer systematischen Grundlage der
Philosophie der Kunst und der Bedeutung des Naturschönen aus, die von
Hegels in der Enzyklopädie entfalteten und in den Ästhetikvorlesungen
vorausgesetzten und am geschichtlich gegebenen Phänomen überprüften
eigenen Systematik grundsätzlich verschieden ist. Diese andersartige
systematische
Grundlage
führt
zu
einer
anderen
Gewichtung
des
Naturschönen und hat - vermittelt über ihre Integration in die Ästhetik und die
entsprechende Rezeption schon durch Hothos Zeitgenossen - zu zahlreichen
Mißverständnissen in der unmittelbaren Rezeption bei den Hegelianern1043,
1043
226
Dieser Spur folgt F. Iannelli neben ihrer Untersuchung der Hegelschen Bestimmung des Häßlichen
ausführlich in ihrer Dissertation Das Siegel der Moderne, insbes. In Kap. 4. „Die Rezeption der
Ästhetik und der Streit um die Bedeutung des Häßlichen bei den Hegelianern“.
aber auch bis in unsere jüngere Vergangenheit1044 und noch in die aktuelle
Rezeption und Diskussion hinein geführt.
Die Differenz in der systematischen Grundlage und der daraus
resultierenden Gewichtung und Ausführlichkeit der Thematisierung des
Naturschönen in der Ästhetik einerseits und in den Ästhetikvorlesungen
andererseits läßt sich gut und eindeutig an den Quellen zu Hothos
Ästhetikvorlesungen von 18331045 demonstrieren, die gleichsam das „missing
link“ zwischen Hegels Ästhetikvorlesungen und der Druckfassung der
Ästhetik darstellen. Aus der Kenntnis dieser Quelle und aus dem Vergleich
derselben mit Hegels Ästhetikvorlesungen und der Ästhetik lassen sich Hothos
Einschübe in die Druckfassung als dessen eigene Systematik, die er parallel in
seinen Ästhetikvorlesungen entwickelt, identifizieren. Hotho baut in die ihm
in den Mitschriften überlieferten und vorliegenden Überlegungen Hegels
nachträglich eine Begriffs-Systematik ein, die sichtlich Hegels eigene in der
Enzyklopädie
überlieferte
Systematik
zu
einem
„Schematismus
der
Triplizität“1046 verfremdet und dadurch zu einer anderen Einordnung,
Gewichtung und Konzeption des „Naturschönen“ führen muß.
Hothos Ästhetikvorlesung des Jahres 1833 ist in drei Teile gegliedert. Der
erste Teil ist dem „Begriff des Schönen“ gewidmet, der zweite Teil lautet
„Das Naturschöne“, der dritte „Das Kunstschöne“. In der „Einleitung“
versucht Hotho, das Kunstschöne eigens systematisch abzuleiten, „weil das
Kunstschöne als das Totale, Höchste nur als das Resultat früherer Stadien
auftreten kann“.1047 Die Kunstschönheit sei eine „solche Totalität“, die durch
„Vermittlung“ von zwei „abstrakten unterschiedenen Seiten entstanden ist“:
Die eine Seite sei „das Schöne, seinem reinen Begriff nach“, die andere Seite
1044
1045
1046
1047
Beispielsweise behauptet der italienische Philosoph Benedetto Croce in seinem auch in
Deutschland viel rezipierten Buch Estetica, daß „die berühmteste (…) Abhandlung“ über das
Naturschöne von F. Th. Vischer stamme, der den „Spuren Hegels folgend“ einen Abschnitt seiner
Ästhetik dem Naturschönen gewidmet hat. Vgl. Benedetto Croce: Ästhetik als Wissenschaft des
Ausdrucks und allgemeine Linguistik. Leipzig 1905, 331.
Diese Ästhetikvorlesungen sind inzwischen publiziert auf der Basis einer Mitschrift von Immanuel
Hegel in: H. G. Hotho: Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst.
Berlin 1833. Nachgeschrieben und durchgearbeitet von Immanuel Hegel. Hrsg. und eingeleitet von
B. Collenberg-Plotnikov, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 (Spekulation und Erfahrung I,8) [im
Folgenden zit.: Immanuel Hegel 1833] sowie einigen Notizen von F. Th. Vischer in: Hotho [Nach
Notizen von Friedrich Theodor Vischer zu Aesthetick.Vorlesungen gehalten von Heinrich Gustav
Hotho in Berlin seit Sommersemester 1833]. In: Hegel-Studien, Bd. 37, 11-28. Hrsg. von
Francesca Iannelli, Hamburg 2004. Eine Edition dieser Notizen findet sich auch im Anhang von F.
Iannelli: Das Siegel der Moderne, 306-323 [im Folgenden zit.: Vischer 1833].
Vgl. Lu De Vos: Von der spekulativen Logik des Ideals zu Hothos Schematismus der Triplizität.
Immanuel Hegel 1833, 22.
227
das „unmittelbare, nur äußerlich vorhandene Schöne, das noch nicht vom
Bewußten reproduziert ist, das Naturschöne“.1048 Das „reine Prinzip des
Schönen“ ordnet er der „metaphysische[n] Logik“ zu.1049 Das Naturschöne
betrachtet er als das „unmittelbare, reale Dasein“ des Schönen und ordnet es
einer „Lehre von dem objektiv Schönen“ zu, „weil das Schöne [dort] nur
objektiv ist“.1050 Erst „aus dieser unmittelbaren Objektivität stellt sich die Idee
des Schönen her“, die sich dadurch auszeichnet, daß sie die „zwei ersten
Stufen“
in
sich
vereinigt1051,
und
zwar
als
Ergebnis
einer
„Selbstvermittlung“1052. Es ergibt sich also eine begriffliche Konstruktion
über
den
„Dreischritt“
von
Logik
(Metaphysik),
Naturschönheit
(Objektivierung) und Kunstschönheit (Selbstvermittlung).
In der Ästhetik umreißt „Hegel“ das Programm des Ersten Teils „Die Idee
des Kunstschönen oder das Ideal“ in wenigen Sätzen. Es gilt, drei Stufen zu
durchlaufen, um „zur Idee des Kunstschönen ihrer Totalität nach zu
gelangen“: Die erste Stufe beschäftigt sich demnach mit „dem Begriff des
Schönen überhaupt; die zweite mit dem Naturschönen (…) die dritte Stufe hat
das Ideal in seiner Verwirklichung als die Kunstdarstellung desselben im
Kunstwerke zum Gegenstande der Betrachtung“.1053 Diese Systematik
entspricht nun genau derjenigen in Hothos Ästhetikvorlesung des Jahres 1833,
mit dem Unterschied, daß Hotho sie in der Druckfassung in den ersten Teil
über das Kunstschöne integriert und diesen seinerseits in eine Systematik mit
drei Teilen, erstens über das Kunstschöne, zweitens über die Kunstformen,
drittens über das System der Künste. Die beiden letzten Teile sind in Hothos
eigener Ästhetikvorlesung in das Kapitel über das Kunstschöne integriert.
Hotho baut sein dreistufiges System auf der „Idee des Schönen“ auf, die er
in vermeintlicher Anlehnung an Hegels Logik als absolute Idee auffaßt1054,
die sich dann in die Natur zu entäußern und in der Kunst zu sich
zurückzufinden hat.
1048
1049
1050
1051
1052
1053
1054
228
Immanuel Hegel 1833, 22.
Immanuel Hegel 1833, 22.
Immanuel Hegel 1833, 23.
Immanuel Hegel 1833, 23.
Immanuel Hegel 1833, 22.
Ä I, 144.
„Der Zweck der Kunstschönheit: (…) Wir sahen, daß sie die höchste Stufe der ersten Gestaltung
der absoluten Idee sei“ (Immanuel Hegel 1833, 70). Vgl. hierzu auch Lu De Vos: Von der
spekulativen Logik des Ideals zu Hothos Schematismus der Triplizität, 193.
Das hat erstens zur Konsequenz, daß die Idee des Schönen als abstrakte,
mit der Wirklichkeit unvermittelte Idee, das Schöne als Gattung mit den
beiden Unterarten Naturschönheit und Kunstschönheit konzipiert wird. Hegel
hingegen faßt die Idee des Schönen als Ideal, d.h. als spezifische Form der
Vermittlung der (Vernunft-)Idee mit der Wirklichkeit. Das Schöne kommt bei
Hegel nicht losgelöst von seiner Wirklichkeit vor, sondern es ist von
vornherein Ideal bzw. Kunstwerk. Natur- wie Kunstschönes sind nicht
Unterarten einer höheren Gattung „Idee des Schönen“, sondern Produkte
spezifischer Naturvollzüge, wobei das Kunstschöne als das eigens für einen
ästhetischen Vollzug gestaltete Werk eher und ‚unmittelbarer’ als Handlungsbzw. Vollzugsresultat rekonstruiert werden kann als das Naturschöne - dieses
macht es daher dem „Geiste saurer“, sich als den zugrundeliegenden Vollzug
zu erkennen. Der häufig an die Adresse Hegels gerichtete Vorwurf des
Platonismus oder ästhetischen Platonismus der Idee des Schönen ist
fehladressiert, da nicht Hegel, sondern sein Schüler Hotho dieses
platonistische Mißverständnis in die Ästhetik integriert hat.1055
Zweitens führt dieser unterschwellige, in die Ästhetik integrierte
Platonismus Hothos zu dem immer wieder erhobenen Vorwurf der Kritiker,
„Hegel“ habe das Naturschöne gegenüber dem Kunstschönen abgewertet, es
in seinem „System“ der Entwicklung der Idee auf ihrem Weg zum „Geist“
aufgeopfert. Im real-ontologischen Denkrahmen eines Platonismus und seiner
Varianten in der Philosophiegeschichte wäre eine solche Abwertung
konsequent. Die „Idee“ muß „teilhaben“1056 an der Wirklichkeit oder in die
geistlose Materie ausstrahlen (Plotins Emanationslehre). Mit Hotho:
„Das Natürliche, als nur totes, ist nicht schön: Das Materielle an sich sei nicht
schön, sagt schon Plotin, der Neuplatoniker, in seinem Buch De pulchritudine;
denn es ist der ideell vermittelnden Idee gerade entgegengesetzt. Wodurch
werden dann Naturgegenstände schön? Plotin sagt: ‚Wenn wir in dem
Materiellen etwas sehen, was vom lógos, eidos herkömmt, dann ist es schön.’
In dem Materiellen müssen Bestimmungen der Idee erscheinen, die ganz in
Eins mit den Gegenständen verwebt sind, so daß diese von ihnen bezwungen
erscheinen und keinen Widerstand ihnen leisten. Daher werden die
Naturgegenstände nur dadurch schön sein, daß ganz vereinzelte Qualitäten mit
1055
1056
Vgl. in vorliegender Arbeit Kap. 3.1 „Die Idee der Schönheit“.
In der Forschungsliteratur zu Platon wird dieses Problem unter den Stichworten „chorismos“
(Getrenntsein)-, „methexis“ (Teilhaben)-, „parusia“ (Anwesendsein)- und „koinonia“
(Zusammensein)-Problem von Dingen und Ideen diskutiert. Vgl. insb. G. Martin: Platons
Ideenlehre, Berlin 1972.
229
ganz vereinzelten Bestimmungen der Idee des Schönen sich zu schön[en]
Gegenständen vereinigen. [Dies ist] also eine ganz abstrakte Schönheit. – Es
sind danach zwei Stufen zu unterscheiden: das Materielle und die
Bestimmungen der Idee; durch deren Vereinigung tritt erst das Schöne
1057
hervor“.
In dieser Denktradition kann Natur oder das Naturschöne nur defizienter
Modus einer „Idee“ sein. Auch hier gilt: Der Vorwurf der Kritiker muß sich
gegen Hotho richten, nicht gegen Hegel. Hegel wertet das Naturschöne nicht
gegenüber den Kunstwerken ab, sondern er fügt sich mit seinem in der
Enzyklopädie explizierten System der Philosophie - verstanden als
Rekonstruktion der Geschichte der Entwicklung und Selbsterkenntnis des
menschlichen „Geistes“ - in das umfassende Projekt einer von Kant
angestoßenen Transzendentalphilosophie, die stets nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis fragt. Die Natur wie das Schöne
der Natur sind nur als „für uns“ Vermitteltes erfahrbar, sie sind Konstitutions„Produkte“ wissenschaftlicher oder ästhetischer Naturvollzüge, daher nur als
Formen geistiger Vermittlung bestimmbar.1058
Das platonistische Mißverständnis manifestiert sich entsprechend auch in
einem Mißverständnis der Rolle und Bedeutung des Naturschönen in Hegels
Ästhetik oder Philosophie der Kunst. Dieses platonistische Mißverständnis ist
letztlich eine objektivistische Fehldeutung des Naturschönen. Hotho faßt das
Naturschöne als zweite Stufe einer Dialektik der Idee des Schönen, und zwar
als
Objektivierung
1059
Produktivität“
des
Schönen,
die
sich
einer
„bewußtlose[n]
der Idee des Schönen verdankt. Im Gegensatz zu Hegel, der
in teils ausführlichen Analysen in den Ästhetikvorlesungen das Naturschöne
als
Konstitutionsprodukt
menschlicher
produktiver
Naturvollzüge
rekonstruiert, bestimmt Hotho das Schöne der Natur als „die noch nicht durch
den Geist reproduzierte Schönheit“1060:
„Das Schöne ist also als ideelle Einheit vorhanden, daher auch es nicht für sich
selbst ist, es sich nicht erfassen kann: Wir haben nur bewußtlos schöne
Objekte. Die Tätigkeit der Idee des Schönen ist auch nur bewußtlos; sie schafft
nicht mit dem Zweck, Schönes hervorzubringen: Es ist bewußtlose
Produktivität. – Durch das Entlassen der Besonderheiten der Idee des Schönen
1057
1058
1059
1060
230
Immanuel Hegel 1833, 46.
Vgl. in vorliegender Arbeit Kap. 2 „Geist und Natur“.
Immanuel Hegel 1833, 39.
Vischer 1833, Ms. 1.
werden notwendig schöne Gegenstände geschaffen. Die Art der Erscheinung
derselben findet ihren bestimmten Grund in der Idee des Schönen.
Andererseits aber in die Seite bloßer Objektivität entlassen, wird das Schöne
zufällig. Es ist zufällig, ob die Erscheinungen der Natur wirklich der Idee des
Schönen ganz entsprechen; die Hindernisse sind ganz äußerlich, relativ. Es
sind unzählig viele Bedingungen dazu nötig, und andererseits sind unzählige
1061
Hindernisse möglich. Daher die Natur ebenso schön, als häßlich ist.“
Dieser Logik entsprechend ordnet Hotho das Naturschöne konsequent einer
„Lehre von dem objektiv Schönen“1062 zu, statt es, wie Hegel, aus
menschlichen Naturvollzügen zu rekonstruieren. Dies hat zwei weitere
Konsequenzen:
Erstens führt der Objektivismus des Naturschönen dazu, Naturschönheit
im Sinne der traditionellen Substanz-Akzidenz-Beziehung als das Anhaften
schöner oder häßlicher (nicht-schöner) Eigenschaften an natürlichen Objekten
aufzufassen. Es wird also nicht durchschaut, daß Schönheit und Häßlichkeit
nicht auf objektiv gegebene Phänomene und deren objektive Eigenschaften
referieren, sondern diese als subjektive Leistung menschlicher Naturvollzüge
rekonstruiert werden müssen. Der undurchschaute (mit Hegel) „objektive
Idealismus“ dieser Naturauffassung führt bei Hotho im Ergebnis dazu - und
ruft die Kritiker gegen „Hegel“ auf den Plan -, beispielsweise bestimmte
Pflanzen und Tiere als schön oder häßlich zu bewerten. Es ließ sich dagegen
zeigen, daß Hegel die Schönheit oder Häßlichkeit von Pflanzen und Tieren als
Ergebnisse
von
Naturvollzügen
rekonstruiert,
die
bestimmte
Sehgewohnheiten und damit verbundene Seherwartungen voraussetzen.1063
Hothos Objektivismus des Naturschönen führt zweitens dazu, Stimmungen,
die Hegel in seiner Philosophie des Geistes als Symbole für menschliche
Empfindungen rekonstruiert, als Stimmungen der Natur selbst aufzufassen.
Wie sich zeigt, ist Hothos ‚unterschwelliger Platonismus’ zudem dafür
verantwortlich,
daß
er
in
Konsequenz
dieses
objektivistischen
Mißverständnisses in eine modifizierte Form der traditionellen Bestimmung
der Kunst als Nachahmung der Natur zurückfällt.
Zusammenfassend gesagt nimmt Hotho die Fülle des Materials, der
Argumente sowie gewisser systematischer Überlegungen von Hegel auf,
1061
1062
1063
Immanuel Hegel 1833, 39f.
Immanuel Hegel 1833, 23.
Vgl. in vorliegender Arbeit Kap. 4.2 „Betrachtung schöner Natur“, insbes. Kap. 4.2.2
„Anschauungsgewohnheiten als Grundlage der Schönheit des Natürlichen“.
231
zwingt dieses Material aber in eine jeweils neu und andersartig systematisierte
Form. Während sich bei Hegel die Konzeption des Naturschönen „organisch“
an die Überlegungen zur „Lebendigkeit der Idee“ anschließt1064 und ebenso
‚zwanglos‘ zur Konzeption des Kunstschönen hinführt, bemüht Hotho sich
sowohl in seiner eigenen Ästhetikvorlesung von 1833 als auch in der
Druckfassung der Ästhetik um eine Systematik im Sinne eines dialektischen
Dreischrittes
mit
den
Stufen
Begriff
des
Schönen,
Naturschönes,
Kunstschönes.
Die immer wieder vorgetragenen Kritiken an „Hegel“ müssen nach näherer
Betrachtung der editionsgeschichtlichen Zusammenhänge als Vorurteile
angesehen und letztlich an den Herausgeber der Ästhetik, H.G. Hotho,
zurückgespielt werden. Nimmt man umgekehrt von vornherein die Berliner
Ästhetikvorlesungen Hegels als Grundlage einer Auseinandersetzung mit
seiner Ästhetik oder Philosophie der Kunst, dann vermeidet man nicht nur die
genannten Vorurteile und Fehlinterpretationen, sondern man gewinnt darüber
hinaus neue und vielversprechende Möglichkeiten der Deutung des
ästhetischen Phänomens des Naturschönen in aktuellen Diskussionen.
1064
232
A. Gethmann-Siefert: Gestalt und Wirkung von Hegels Ästhetik, CXVIII.
Quellenverzeichnis
1. Schriften Hegels
Ausgaben von Hegels Drucktexten und Nachlaß; Nachschriften von Hegels
Vorlesungen (Zitationssigle in Klammern)
Zitiert wird - so weit möglich - grundsätzlich nach den Gesammelten Werken
und den Vorlesungen:
Gesammelte
Werke.
In
Verbindung
mit
der
Deutschen
Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. (zit.:
GW mit Band- und Seitenzahl):
Frühe Schriften I. In: Gesammelte Werke. Bd. 1. Hrsg. von Friedhelm Nicolin
und Gisela Schüler. Hamburg 1989
Jenaer kritische Schriften. In: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von Hartmut
Buchner und Otto Pöggeler. Hamburg 1968
Schriften und Entwürfe 1799-1808. In: Gesammelte Werke. Bd. 5. Hrsg. von
Manfred Baum und Kurt R. Meist. Hamburg 1998
Jenaer Systementwürfe I. In: Gesammelte Werke. Bd. 6. Hrsg. von Klaus
Düsing und Heinz Kimmerle. Hamburg 1975
Jenaer Systementwürfe II. In: Gesammelte Werke. Bd. 7. Hrsg. von Rolf Peter
Horstmann und Johann Heinrich Trede. Hamburg 1971.
Jenaer Systementwürfe III. In: Gesammelte Werke. Bd. 8. Hrsg. von Rolf
Peter Horstmann unter Mitarbeit von Johann Heinrich Trede. Mit
einem Beitrag „Die Chronologie der Manuskripte Hegels in den
Bänden 4 bis 9“ von Heinz Kimmerle. Hamburg 1976
Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Bd. 9. Hrsg. von
Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. Hamburg 1980
(Studienausgabe: Neu hrsg. von H.-F. Wessel und H. Clairmont.
Hamburg 1988)
Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik (1812/13). In:
Gesammelte Werke. Bd. 11. Hrsg. von Friedrich Hogemann und
Walter Jaeschke. Hamburg 1978
Wissenschaft der Logik. Zweiter Band: Die subjektive Logik (1816). In:
Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von Friedrich Hogemann und
Walter Jaeschke. Hamburg 1981
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1817). In: Gesammelte Werke. Bd. 13. Unter Mitarbeit von HansChristian Lucas und Udo Rameil hrsg. von W. Bonsiepen und K.
Grotsch. Hamburg 2000 (zit. Enz. 1817, §§)
Schriften und Entwürfe I (1817-1825). In: Gesammelte Werke. Bd. 15. Hrsg.
von Friedrich Hogemann und Christoph Jamme. Hamburg 1990
Schriften und Entwürfe II (1826-1831). In: Gesammelte Werke. Bd. 16. Unter
Mitarbeit von Christoph Jamme hrsg. von Friedrich Hogemann.
Hamburg 2001
Vorlesungsmanuskripte I (1816-1831). In: Gesammelte Werke. Bd. 17. Hrsg.
von Walter Jaeschke. Hamburg 1987
Vorlesungsmanuskripte II (1816-1831) In: Gesammelte Werke. Bd. 18. Hrsg.
von Walter Jaeschke. Hamburg 1995
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827) In:
Gesammelte Werke. Bd. 19. Hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und
Hans-Christian Lucas. Hamburg 1989 (zit. Enz. 1827, §§)
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). In:
Gesammelte Werke. Bd. 20. Unter Mitarbeit von Udo Rameil hrsg.
von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas. Hamburg 1992
(zit. Enz 1830, §§)
Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die Lehre vom Sein (1832). In:
Gesammelte Werke. Bd. 21. Hrsg. von Friedrich Hogemann und
Walter Jaeschke. Hamburg 1984
Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg
1983ff. (zit.: V mit Band- und Seitenzahl):
Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18.
Mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P.
Wannenmann. Herausgegeben von C. Becker, W. Bonsiepen, A.
Gethmann-Siefert, F. Hogemann, W. Jaeschke, Ch. Jamme, H.-Ch.
Lucas, K. R. Meist, H. Schneider. Mit einer Einleitung von O.
Pöggeler. Vorlesungen, Band 1, Hamburg 1983
Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Die bestimmte
Religion. In zwei Bänden: Textband (a), Anhang (b) Mit einem
Begriffs- Realien- und Personenverzeichnis zum Gesamtwerk.
Herausgegeben von Walter Jaeschke. Vorlesungen, Band 4, Hamburg
1985
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4. Philosophie des
Mittelalters und der neueren Zeit. Herausgegeben von Pierre Garniron
und Walter Jaeschke. Vorlesungen, Band 9, Hamburg 1986
Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23.
Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav
234
Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Herausgegeben
von Karl Brehmer, Karl-Heinz Ilting und Hoo Nam Seelmann.
Vorlesungen, Band 12, Hamburg 1996
Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828.
Nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand
Walter, hg. von Franz Hespe und Burkhard Tuschling unter Mitarbeit
von Markus Eichel, Werner Euler, Dieter Hüning, Torsten Poths und
Uli Vogel. Vorlesungen, Band 13, Hamburg 1994
Vorlesungen über die Philosophie der Natur. Berlin 1819/20.
Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier, hg. von Martin Bondeli
und Hoo Nam Seelmann. Vorlesungen, Band 16, Hamburg 2002
Weitere Quellen:
G. W. F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von
1832-1845 neu ed. Ausg. in der Schriftenreihe „SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft“. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel (zit.: TWA, mit Band- und Seitenzahl)
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: TWA,
Bd. 12
Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Johannes Hoffmeister,
Hamburg 1995 (Bd. 483 der „Philosophischen Bibliothek“ im Meiner
Verlag) (zit.: Rph, mit Paragraph)
G.W.F. Hegel: Naturphilosophie. Bd. I. Die Vorlesung von 1819/20, in
Verbindung mit Karl-Heinz Ilting hg. von Manfred Gies, Napoli 1982
(zit.: Gies)
G.W.F. Hegel. Vorlesung über Naturphilosophie Berlin 1823/24. Nachschrift
von K.G.J.v. Griesheim. Hrsg. und eingeleitet von Gilles Marmasse
(Hegeliana. Bd. 12), Frankfurt am Main 2000 (zit.: Griesheim
1823/24)
Ein Hegelsches Fragment zur Philosophie des Geistes. Eingeleitet und hg.
von Friedhelm Nicolin. In: Hegel-Studien 1 (1961), 17-48
Grundlage der von H.G. Hotho edierten Druckfassung der Ästhetik ist:
Vorlesungen über die Ästhetik. In: G.W.F. Hegel: Werke. Vollständige
Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. 18. Bd.
Berlin 1832 ff.; Bd. 10. 3. Abt. hrsg. von H.G. Hotho. Berlin 11835-37,
2
1842. Diesen Text (meist die zweite Auflage) reproduzieren alle
weiteren Ausgaben der Ästhetik, z. B. die folgende: G. W. F. Hegel,
Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845
neu ed. Ausg. in der Schriftenreihe „Suhrkamp-Taschenbuch
235
Wissenschaft“. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel,
Bde. 13-15, Frankfurt am Main 1997 (zit.: Ä I-III).
Quellengrundlage der Berliner Ästhetikvorlesungen sind
publizierte und noch unpublizierte Nachschriften:
folgende
Vorlesung über Philosophie der Kunst. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. I.
Textband. Hrsg. von H. Schneider. Frankfurt a. M 1995 (zit.
Ascheberg 1820/21)
Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben
von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Hamburg
1998 (Studienausgabe Hamburg 2002) (zit. Hotho 1823)
Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Berlin 1826. Nachgeschrieben von
Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Hrsg. von A. GethmannSiefert und B. Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von F. Iannelli
und K. Berr. München 2004 (zugleich: Studienbrief 3358 der
FernUniversität Hagen) (zit. Kehler 1826)
Philosophie der Kunst. 1826. Nachgeschrieben durch von der Pfordten. Ms.
im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Hrsg.
von A. Gethmann-Siefert, J.-I. Kwon und K. Berr. Frankfurt a.M.
2004 (zit. Pfordten 1826)
Unveröffentlichte Manuskripte:
Ästhetik nach Prof. Hegel. 1826. Anonym. Ms. im Besitz der Stadtbibliothek
Aachen (zit. Aachen 1826)
Aesthetik nach Hegel. 1826. I.C. Löwe (Häusliche Ausarbeitung). Ms. im
Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin (zit. Löwe
1826)
Philosophie der Kunst. von Prof. Hegel. Sommer 1826. Nachgeschrieben
durch Griesheim (Häusliche Ausarbeitung). Ms. im Besitz der
Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin (zit. Griesheim 1826)
Aesthetik nach Prof. Hegel im Wintersemester 1828/29. Mitschrift von Karol
Libelt. (Ms. im Besitz der Jagiellonischen Bibliothek, Krakau) (zit.
Libelt 1828/29)
Philosophie der Kunst. Prof. Hegel angefangen d. 27.8.ber. Berlin 1828/29.
Mitschrift Rolin (zit. Rolin 1828/29)
Die Ästhetik nach Hegels Vorlesung geschrieben von Heimann. Im
Wintersemester 1828/29 (zit. Heimann 1828/29)
Ästhetik von Hegel. Anonym. Berlin 1828/29. Ms. (Ms. Germ. Qu. 2328) im
Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin (zit.:
Anonymus 1828/29)
236
Weitere Quellen zu Hegel und Hegels Philosophie:
Briefe von und an Hegel. Hrsg. von Johannes Hoffmeister und Friedhelm
Nicolin. Hamburg 31969-1981 (zit.: Briefe, mit Band- und Seitenzahl)
Die Idee und das Ideal. Nach den erhaltenen Quellen neu hrsg. von Georg
Lasson. Leipzig 1931
Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg. von G. Nicolin. Hamburg 1970
(zit.: Berichte).
Hegels theologische Jugendschriften. Nach den Handschriften der Kgl.
Bibliothek in Berlin. Hrsg. von H. Nohl, Tübingen 1907 (Nachdruck
Frankfurt a. M. 1966) (zit.: Nohl)
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Hrsg.von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1970.
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Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften, Bd. 4,
Darmstadt 1997
Adorno, Theodor W.: Zu Subjekt und Objekt. In: Gesammelte Schriften, Bd.
10.2 (Kulturkritik und Gesellschaft II), Darmstadt 1997, 741-758
Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie. Vorlesung 1956/57 an
der Universität Frankfurt/Main, hier: Vorlesung v. 28.02.1957.
Typoskript im Adorno-Archiv, zit. n. Gerhard Schweppenhäuser:
Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg
1993
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Lüder Gäbe. Französisch-Deutsch, Hamburg (Meiner) 1990
(Philosophische Bibliothek Band 261)
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Goethe, Johann Wolfgang von, Friedrich Schiller, Heinrich Meyer: Über den
Dilettantismus. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin
Sophie von Sachsen. I. Abt. Bd. 47. Weimar 1896, 299-326
Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers, Stuttgart
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237
Goethe, Johann Wolfgang von: Triumph der Empfindsamkeit, in: ders.:
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Goethe, Johann Wolfgang von: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu
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Ausstellungskatalog Wasser, Wolken, Licht und Steine. Die Entdeckung der
Landschaft in der europäischen Malerei um 1800, hg. von Klaus
Weschenfelder und Urs Roeber (Ausstellung Mittelrhein-Museum
Koblenz, 25. August bis 3. November 2002), Heidelberg 2002
Bätschmann, O.: Reflexionen über die Landschaftsmalerei um 1800 in
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Erklärung
„Hiermit versichere ich, daß ich die vorliegende Dissertation Hegels
Bestimmung des Naturschönen selbständig und ohne unerlaubte fremde Hilfe
angefertigt und andere als die in der Dissertation angegebenen Hilfsmittel
nicht benutzt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus
veröffentlichten oder nicht veröffentlichten Schriften entnommen sind, habe
ich als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Dissertation hat zuvor
keiner anderen Stelle zur Prüfung vorgelegen. Es ist mir bekannt, daß wegen
einer falschen Versicherung bereits erfolgte Promotionsleistungen für
ungültig erklärt werden und eine bereits verliehene Doktorwürde entzogen
wird.“
Karsten Berr
256
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