Helmut Schareika: Fünf Kasus für alle Fälle

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Fünf Kasus für alle Fälle
Ein Beitrag zur Didaktik der lateinischen Kasus
Von Helmut Schareika
Vortrag beim LANDESINSTITUT FÜR PÄDAGOGIK UND MEDIEN (LPM) SAARLAND
Nobis ... in scribendo atque in dicendo necessitatis excusatio non probatur.
Nihil enim est necesse. (Cicero, Or. 229)
oder: Stil ist immer Auswahl (Aldo Scaglione 134)
Als ich vor kurzem im Quintilian stöberte – um die Stelle zu finden, wo er so
hübsch darlegt, daß der Redner achtgeben muß, daß Brust und Bauch nicht vorstehen und so nach oben ausladen, weil alles Hervorstehende scheußlich sei –,
kam ich zwangsläufig auch nicht an dem wichtigen Gesichtspunkt vorbei, der
sein ganzes Wirken betrifft: Der Machtantritt des Augustus hatte ja sozusagen
»das Ende der Debatte« bedeutet, die öffentliche Rhetorik war am Ende und
zog sich auf die Einübung schattenboxerischer Suasorien und Controversien
von zum Teil höchster Absurdität zurück. Dem Verfall suchte Quintilian nun damit zu begegnen, daß er die Anforderungen der Rhetorik vereinfachte – ohne Erfolg, wie wir wissen. Die Rhetorik besaß nicht mehr den Nährboden der freien
Debatte.
Springen wir von dort in die Zeit, die sich auch aus Quintilian ihre Grundlagen
holte, die Zeit des Humanismus: die übrigens bisher erste und einzige geschichtliche Phase, in der die Beschäftigung mit den alten Sprachen als modern
angesehen und nicht in Frage gestellt wurde. Dabei lernte man die Sprachen
durch das Studium der Texte mit neu geschaffenen Hilfsmitteln ganz neu und
ließ die ganze vorhergehende Scholastik in puncto klassischer Sprachreinheit,
jedenfalls im Sinn korrekter Sprachformen (was ja kein kommunikationsbegründetes Ziel sein muß) bald weit hinter sich – einerseits.
Der Grund dafür lag darin, daß man beim Übersetzen ins Lateinische aus dem
Italienischen bei den Formen begann, die man als »funktionsbezogene Elemente« begriff, um von diesen zu den lateinischen Formen zu gelangen. Der Leitgedanke der »humanistischen Revolution«, wenn man die Bewegung so nennen
will, nämlich »Zurück zur Antike!«, mündete in der Sprachlehre in das Hauptanliegen, das zu korrigieren, was den Humanisten in der Volkssprache entstellt
schien; so verfielen sie darauf, die Formen von den Funktionen abzuleiten, und
ihr relativ geringes Interesse für die Syntax hat ihre Wurzel wohl darin (Syntax
verstanden im umfassenderen Sinn der Scholastik, welche die Wortstellung und
damit den Stil darin einbezog).
Wenn wir uns nun noch klarmachen, daß zumindest viele Elemente der gängigen Sprachlehre im Lateinischen sozusagen die letzte Vereinfachung der lateinischen Grammatik Melanchthons (Grammatica latina, Basel ²1557) darstellen,
dann will ich nichts gegen Vereinfachung sagen, auch wenn man das Gefühl haben kann, daß die seit dem großen Pädagogen durch Jahrhunderte hindurch erfolgte Vereinfachung der lateinischen Grammatikdarstellung und -unterwei-
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
sung dem Lateinischen die Herzen auch nicht hat zufliegen lassen, also ähnlich
wie eingangs zu Quintilian gesagt. Ich möchte aber die Frage aufwerfen, welche
Art Vereinfachung die angemessene ist, und möchte das am Beispiel der scheinbar nicht anrüchigen Kasuslehre des Lateinischen tun – mit dem Ziel, damit vielleicht sogar ein anderes Verständnis des Themas angeregt zu haben.
Wer von Ihnen auch Französisch oder Englisch unterrichtet, dürfte dort ja eigentlich mit Kasuslehre nichts zu tun haben. Falls doch, führt uns das zu Beginn
zu einer ganz elementaren Überlegung, nämlich zu einer Rekapitulation der Definition des Begriffs »Kasus«.
Kasus, casus, Fall, ptōsis-πτῶσις, meint ja nichts anderes als die Veränderung
der äußeren Form eines Wortes – im Lateinischen wie im Deutschen am Ende –,
womit, ich drücke mich neutral aus, das Wort eine andere Aufgabe in einer Äußerung signalisiert als in seiner Grundgestalt. Als Grundgestalt gilt der casus rectus, die anderen Gestalten gelten als obliqui. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich so, wenn man bedenkt, daß ja im Übergang zu den romanischen Sprachen der sog. Akkusativ (als Form) an die semantische Stelle auch des casus rectus tritt (jedenfalls bei den meisten Wörtern: filius bleibt frz. fils, doch mansio
wird maison) und sogar im Lateinischen der Übergangszeit das Subjekt eines
Passivsatzes im Akkusativ erscheinen kann. [Beispiel ...]
Mit dem Begriff Subjekt sind wir zwangsläufig schnell bei dem Bereich der
Überlegungen zu Funktionen der Kasus angelangt, ich möchte aber, weil es hier
ja um eine spezielle Problematik des lateinischen Grammatikunterrichts gehen
soll, noch auf ein paar grundsätzlicheren Kasusaspekte eingehen
Ich habe Ihnen eingangs gezeigt, daß der relative Formenreichtum des Lateinischen insgesamt nicht zu bestreiten ist (obgleich es gegenüber anderen Sprachen darin wieder als Waisenkind betrachtet werden kann, schon gleich beim
Griechischen angefangen). Wenn man aber genau hinsieht, existieren im Lateinischen nur ganz wenige Signale, die in der Kommunikation wirklich eindeutig
sind: Bezeichnenderweise sind das -t / -nt (-tur / -ntur) für die 3. Person. Man
kann noch -mus / -mur, das ganz seltene -minī, auch die Infinitive (mit Einschränkung), hinzufügen. Dies war offenbar innerhalb des existenten Systems –
z.B. angesichts der Artikellosigkeit – unabdingbar, damit Kommunikation gelingen konnte. Alles andere an Formensignalen ist mehr oder weniger arbiträr und
funktioniert ausschließlich aus den situativen Faktoren heraus wie im Zusammenspiel mit der lexikalischen Seite der Wörter und im Zusammenhang mit
dem kommunikativen Sinnbogen, den jede Äußerung eröffnet, um über einen
Spannungsverlauf – oder eine Kombination von Spannungsverläufen –, mit
Funktionswörtern als Stützelementen, zu einem Ruhepunkt zu gelangen. Dieser
Ruhepunkt ist einmal der Satzpunkt. Diese Ruhepunkte aber werden wieder
überlagert von thematischen Bögen, die satz-, sätze- oder gar textübergreifend
sind. All dies zusammen kreiert Bedeutung, nicht die Form des Wortes für sich.
Folie: Spannungsbogen am Beispiel Ovid (Met.)
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Situative Faktoren: Eröffnung eines Gedichts, hier einer Art Epos. Erwartet wird
daher deus oder ein ego, es erscheint animus. Die dadurch angedeutete Subjektivität eines Ich wird umgebogen in Richtung Einvernahme des Lesers und mit
ihm aller Adressaten in den Gedankengang des Autors, der damit die Führung einer Gruppe übernimmt, die er hinter sich schart.
Doch um die Schüler zu diesen Dingen hinzuführen, betreiben wir ja Grammatik.
Ich schicke voraus: Ich halte es eigentlich für ziemlich unerheblich, mit welcher
Art Grammatik man eine Sprache beschreibt, wenn die Beschreibung für den
Aufenthalt zwischen Buchdeckeln bestimmt ist. Kommt es dabei zu Irrwegen,
scheinen diese nicht besonders erheblich, denn Entscheidungen für Methoden
und Begriffe bleiben doch eher folgenlos oder stoßen auf mehr oder weniger
großen gedanklichen Korrekturaufwand seitens dessen, der sich für eine solche
Arbeit interessiert. Das geht jedem so, der eine wissenschaftliche Grammatik
liest.
Wenn wir Sprache jedoch beschreiben, um sie Schülern zu vermitteln, und sei es
auch wie im Falle des so gut wie rein rezeptiv ausgerichteten Lateinunterrichts,
sind wir gehalten, didaktische Überlegungen anzustellen, d.h. uns die Frage zu
beantworten, wie wir in die Köpfe der Schüler erfolgreich hineinkommen.
Das heißt: Geht es um sprachliche Unterweisung –»nur« zum Lesenkönnen, erst
recht zum Sprechenkönnen –, führt dabei jede Abweichung von dem, was dem
realen Lernprozess entspricht, zu Problemen unterschiedlicher Art, die mit verschiedenem Aufwand eingeschränkt oder vielleicht sogar gelöst werden können. Ein LU mit sechs Wochenstunden über mehrere Jahre kann sich wesentlich
mehr derartige Fehler leisten, damit er zum Ziel kommt, als wir mit der schon
seit Jahren recht weit unten angekommenen Stundenzahl – zumal auch unseren
Schülern heute die Lust früherer Zeiten am hingabevollen stupiden Pauken abhanden gekommen ist.
Spätestens angesichts des gewünschten Lernerfolgs geht es also um die wissenschaftliche Frage, wie dieser Lernerfolg denn möglichst gut abgesichert werden
kann.
Ich habe – am Beispiel der Kasus – oben kurz den Ursprung der noch heute wohl
grundlegenden Kasuslehre illustriert, v. a. auch angemerkt, daß diese Lehrmei3
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nung von der Bedeutung der Kasusendungen anfänglich noch in einem viel weiteren Kontext als heute stand, weil der Begriff von Grammatik trotz allem zunächst noch weiter gefaßt war. Hinzu kommt eine weiteres Problem:
Während in Athen Platon und dann Aristoteles damit befaßt waren, den Seinsgehalt von Wörtern zu diskutieren, beschrieb in Indien der Gelehrte Panini das
Sanskrit in 4000 Regeln auf eine höchst formalisierte Weise, deren Konzepte
erst 2500 Jahre später von der westlichen Linguistik aufgegriffen wurden.
Diese ontologische Betrachtungsweise der griechischen Philosophen von Sprache erschwerte die Herausbildung einer wissenschaftlichen Sprachtheorie, trotz
der beachtlichen Leistungen der spekulativen Grammatiken der Scholastik. Erst
ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts tauchen die Begriffe suppositum /
appositum in der unserem Begriffspaar Subjekt / Prädikat nahekommenden Bedeutung auf.
Ich erwähne diese Punkte aus zwei Gründen: Erstens, wir müssen uns der Möglichkeit bewußt sein, daß die Logik, die wir einer Sache aus langer Übung und
Gewöhnung beimessen, mit Muttermalen des westlichen Erkenntniswerdegangs
behaftet sein können (und im Fall der Grammatik sind), weil daraus auch elementare Irrwege resultieren können. Zweitens, den Inder Panini finde ich deswegen interessant, weil er offenbar eine Auffassung vorweggenommen hat, die
in modernen Überlegungen zu einer Kasustheorie virulent geworden sind.
Natürlich ist das Feld moderner Kasustheorien unübersehbar, und ich bin auch
kein Spezialist. Mir scheinen die Vorstellungen zu einer lokalistischen Kasustheorie interessant (John Anderson), in erster Linie aber die sog. Kasusgrammatik von Charles Fillmore. (Letztere weist die genannten Beziehungen zu dem alten Inder Pānini auf.)
Warum gerade ein lokalistisches Konzept? Nun, wir wissen ja, daß zumindest
sehr viele sprachliche (gerade auch logische) Konzepte auf kokalen Vorstellungen gründen.
Die lokalistische Kasustheorie versteht, wie die Bezeichnung sagt, Kasus als gedankliche Orte oder als Verortung, als gedankliche Zuordnung, die der Sprecher
vornimmt, von handlungs- bzw. geschehensbeteiligten Elementen. Ich benutze
den Begriff Element als allgemeine Bezeichnung für Dinge, Vorstellungen, Sachverhalte usw., also das, was in unserem grammatischen Sprachgebrauch als Substantiv (oder substantiviertes Element) auftritt. Das Modell versucht, diese Elemente auf möglichst wenige Orte zu reduzieren. In der Geschehenskonstellation
weisen die Elemente semantische Rollen auf: So wäre etwa das Agens das handelnde Element (Merkmal: belebt), aber auch eine Ursache (Merkmal: unbelebt)
der Ausgangspunkt und damit die Quelle eines entsprechenden Geschehens.
Alle weiteren Elemente werden in diesem Modell, ausgehend von diesem Ort,
als Bezugsorte der Prädikation verstanden, also etwa das Handlungs-Gegenüber, das in der semantischen Rolle Patiens in den meisten Fällen im Lateinischen wie im Deutschen grammatisch als Akkusativ erscheint. Nun kann man
diese Orte weiter differenzieren: etwa als direktes Gegenüber, als beteiligtes
Gegenüber, als begleitendes Gegenüber, als Bereichszuordnung, als Ort selbst
(und, abgeleitet davon, Zeit»punkt«). Sie sehen, hier tauchen Begriffe auf, die
uns allen auch von der gewöhnlichen Grammatik her vertraut sind.
Günstig für die Entwicklung solcher Konzepte scheint mir, daß sie am Englischen erarbeitet wurden und dort nie in Gefahr geraten konnten, an Wortformen angebunden zu werden, sondern nur an die Inhalte. Der Hintergrund bleibt
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jedoch, einen allgemein tragfähigen Begriff von Kasus zu finden, der mit den
grammatischen Erscheinungen nicht kollidiert.
Es fragt sich also: Läßt sich ein solches Konzept mit anderen Befunden als solchen aus dem Englischen (wo es natürlich auch – wie überhaupt auch insgesamt
– in Frage gestellt wird) verifizieren?
Ob es irgendwo irgendwann einen Sprachzustand gegeben hat, bei dem elementare, reduzierte Differenzierungen der genannten Art auch auf formaler
Ebene existierten und zur Kommunikation ausreichten, läßt sich schwerlich beweisen. (Das Umgkehrte existiert, etwa Ungarisch mit 12 Ortskasus.) Doch kann
man in jedem Fall auf interessante Beobachtungen stoßen: Wenn etwa im Chinesischen, wie ich einmal gefunden habe, das Lokativmorphem auch das Instrument (Mittel) bezeichnet (oder bezeichnen kann), fällt einem als Latinisten da
nicht etwa Caesar ein: Caesar equitatum amnem vado traiecit. Ort oder Mittel?
Sie sehen, der Kasus gibt keine Auskunft; allerdings würde man vadum als Ortsbegriff bezeichnen.
Man sieht schon an diesem Beispiel gut, daß die Begriffe für die Elemente selbst
allgemeine, kategorisierende semantische Merkmale tragen, die für das Verstehen mit ausschlaggebend sind. Man kann mit dem Beispiel auch ein Textspiel
durchführen: Wie würde ein Römer auf den Satz Caesar equitatum amni vadum
traiecit reagieren? Er würde ihn genauso richtig verstehen wie den Originalsatz,
würde aber sagen, der Sprecher habe grammatische Fehler gemacht, genauer:
gegen die Regeln der Sprechergemeinschaft verstoßen. Und ein Schüler? Wenn
er den (formalen) Kasus glaubt, würde er falsch übersetzen (und sich, wie wir
kummervoll wissen, meist wohl auch gar nichts dabei denken); wenn er auf die
Kasus nicht achtet (– und die Wörter kennt – und weiß, was eine Furt ist)? Er
würde richtig übersetzen.
Die lokalistische Kasustheorie reduziert also Beziehungen auf »Orte« wie
»Quelle«, »Ziel« u.a. Das sind verführerische Vorstellungen, wenn man das lateinische Kasussystem in den Blick nimmt. Man könnte sich den Akkusativ als
das direkte Gegenüber, den Dativ als den Kasus des persönlichen Gegenübers
(das Spanische kennt bei Personen ausschließlich das »Objekt« mit a ...) oder
der allgemeineren Hinorientierung (ohne semantische Verb-Objekt-Gebundenheit wie gewöhnlich im Fall Akkusativ) denken, den Genitiv als Kasus der Zuordnung eines Elements zum anderen (so finden wir ihn ja auch), den Ablativ als
Angabe für den Rest (das Verstehen sichert die semantische Kategorie des konkret genannten Elements in der Gesamkonstellation der Äußerung). Gegenüber
den üblichen Theorien des Kasussynkretismus wäre der Ablativ dann das Einfachere, Ursprünglichere (in diesem Sinn »Lateinischere«; für mich wäre das übrigens logischer).
Wie verhält es sich jedoch in diesem Modell mit dem Nominativ? Unverkennbar
repräsentiert er sämtliche semantischen Möglichkeiten der übrigen formalen
Kasus des Lateinischen. Insofern wäre der Nominativ eine Weiterentwicklung
über einen »reinen« Ortskasus hinaus. Anders als die übrigen Kasus trüge er
gleichzeitig die Funktion des Täters und des grammatischen Subjekts.
Wenn man das Lateinische genau betrachtet, findet man in ihm schnell eine gewisse »Abneigung« gegen unbelebte Elemente als Subjektsnominativ des aktivischen Satzes. Um ein weiteres Beispiel aus Ovid zu nehmen, es müßte das dortige
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Mille domos adiēre locum requiemque petentes,
mille domos clausēre serae.
Tausend Häuser suchten sie auf, während sie einen Ruheplatz suchten, tausend
Häuser verschlossen die Türriegel.
(Ovid, Met. 8, 628 f.)
in lateinischen Standardtexten lauten domūs serīs erant clausī. Solche Elemente
sind semantisch instrumental und verlangen im Lateinischen nach entsprechender Formulierung im Instrumentalis. Oder später:
Accubuēre dei; mensam succincta tremensque
ponit anus. Mensae sed erat pes tertius impar:
testa parem fecit. Quae postquam subdita clivum
sustulit, aequatam mentae tersere virentes.
Die Götter legten sich; den Tisch deckt aufgeschürzt und aufgeregt die Alte. Doch
der Tisch hatte ein ungleiches drittes Bein! Eine Scherbe machte ihn eben. Als die –
so untergeschoben – die Schräge beseitigt hatte, wischten grüne Minzblätter den
(nun) geebneten Tisch.
(Ovid, Met. 8, 660)
Die nicht-agentiven Subjekte testa und mentae gewinnen den Charakter einer
Personifikation und zeigen in ihrer Selbsttätigkeit etwas Automatenhaftes –
kein Wunder in Gegenwart der Götter!
Wir können – natürlich ohne Beweiskraft – daraus ableiten, daß sich hinter dem
lateinischen Nominativ aus einer früheren Phase die semantische Rolle des
Agens verbirgt und er somit den Charakter des Ergativs anderer Sprachen besäße, eines Kasus, der ausschließlich in Äußerungen vorkommt, in denen »Täter«
= »Quelle« und »Ziel« ( direktes »Objekt«) kombiniert sind. Die komplexeren
Merkmale aus synchroner Betrachtung wären dann Ergebnis sprachlicher Entwicklung.
[So wird das Nominativ-s von manchen als ursprünglich reines Agentivmerkmal
interpretiert, die Neutrumform als Relikt nicht-agentiver Elemente u.a.m.]
Aber: Auch wenn das alles so sein mag (und Sie es hoffentlich auch interessant
genug finden): Sprachlehre auf diese reduzierte Kasusbetrachtung oder überhaupt auf solche Betrachtungen zu stützen, kann nicht zu einer verstehensorientierten Schülergrammatik führen. Gleichwohl denke ich, diese Überlegungen
können in die richtige, nun in diesem Sinne ergiebigere Richtung weiterführen.
Ich meine eine Grammatiklehre, die elementare semantische Handlungsrollen
berücksichtigt und diesen Aspekt zur Verstehenslehre nutzbar macht.
Bevor ich dazu komme, sollten wir einmal das lateinische Kaussystem in den
Blick nehmen, d.h. sein Formeninventar, um uns zu vergegenwärtigen, was es
überhaupt leisten kann – oder eben auch nicht. Tatsächlich existieren in realen
lateinischen Texten nur ganz wenige Fälle, bei denen es wirklich die Kasusformen sind, welche die Aussage steuern – und dann handelt es sich in der Regel
um Beispiele bewußter Sprachkunst. Ich meine also nicht die Fälle wie consulere
usw. (die man wie manche andere nur durch reinen Sprachgebrauch, also idiomatisch, erklären kann), auch nicht Konstellationen wie … laudat Africanum Panaetius, quod … (Cic., Off. 2, 76), wo jenseits dieses Ausschnitts zweifellos der
Kontext einen Kasusirrtum aufklären helfen würde, sondern etwa eher:
Nunc iam nulla viro iuranti femina credat (Catull 64, 143).
Im Regelfall ist an den Kasusformen selbst keinerlei Bedeutung auszumachen.
Weil das so ist, konnten die Tochtersprachen des Lateinischen in der Entwick6
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lung auch ohne weiteres auf die Kasus verzichten. Der im Mittelalter begonnene
Versuch, darauf lateinische Sprachlehre zu stützen, war insofern ein reiner – belastender – Irrweg.
Daß das so ist, will ich nun von der Sprache selbst her plausibel zu machen versuche, indem ich nach dem – wie ich denke: verfehlten – Motto einer kleinen
Sprachlehrreihe »Latein durch die Hintertür« das Lateinische unter dem Aspekt
der Kasusformen mit Ihnen »von hinten« betrachte.
Nehmen wir uns nun zu dieser konkreten Betrachtung die Formen der lateinischen Kasus für sich unter die Lupe und betrachten wir sie auf verschiedene
Weise:
} vom Text bzw. Satz (also vom »natürlichen Vorkommen« her);
} vom Wort her (auch »natürlich« vorkommend);
} vom Paradigma her (nicht natürlich, sondern wissenschaftlich abstrakt gedacht);
} von unseren (üblichen) Anforderungen an das grammatische Wissen unserer
Schüler her.
1. Vom Text / Satz her
Sie sehen hier die lateinischen Wortformen, die Ihnen nur als Form für einen Kasus begegnen. Alle weiteren Formen, an die Sie jetzt denken, existieren auch
bei anderen Wörtern; seltene Dubletten wie diū oder noctū, einen Fall wie den
Nominativ tribus oder die Form sum lasse ich unberücksichtigt. Ich gehe hier
vom Hörverstehen aus, berücksichtige also auch kurze und lange Silben. Einige,
vielleicht auch als elementar vermutete Morpheme, tauchen nicht auf:
-a
-bus
-ae
-eī
-ārum
-ōs
-ērum
-s *
-ōrum
-ū
-uī
-um
-us
-ūs
———
-īus
-d
* nur wie -x direkt hinter Konsonant isolierbar, etwa plēbs
Das sind eigentlich recht wenige (14+2), zumal wenn man bedenkt, daß einige
wie -ū ganz selten sind und wie -īus nur Pronomina zugehören. Korrekterweise
muß dazu gesagt werden, daß bestimmte häufige Wortbildemorpheme wie -tās,
-tūdō usw. für sich ein eindeutiges »Hörbild« liefern. Auch -or ist relativ eindeutig, -men u.a. auch nur zu 50 Prozent.
Allerdings: Von diesen 16 Ausgängen, die zu den Kasus von 50 (60) Paradigmapositionen + 2×2×4 (5) zusätzlichen Neutrumpositionen der entsprechenden
Paradigmen gehören sind nur fünf ein-eindeutig, d.h. nur fünf finden sich nur
einmal in allen Paradigmen zusammen.
2. von der Wortartgruppe Nomen her
Erkennt man die Zugehörigkeit eines Wortes zu den Nomina, wächst die Zahl
der unterscheidbaren Morpheme an: Als Muttersprachler wäre ich in der Lage,
eine Wort-Morphem-Zuordnung vorzunehmen, d.h. die Deutlichkeit der Mor7
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pheme nähme zu; Unterschiede bei bestimmten Varianten (z.B. -ēs/-īs im Akk.
Pl.) sollen unberücksichtigt bleiben:
-a
-e
-im
-ū
-ā
-ē
-is
-uī
-ae
-eī
-īs
-um
-am
-em
-ō
-us
-ārum
-ērum
-ōrum
-ūs
-ās
-ēs
-ōs
———
-bus
-ī
-s
-īus
-d
Hier wirkt alles schon deutlich klarer, auch wenn wir mit diesen »nur« 28 Varianten einige Paradigmenplätze mehr besetzen müssen: nämlich 60, wenn wir
sechs, und 50, wenn wir fünf Deklinationsgruppen ansetzen; und lassen wir die
Pronomina fort, komme ich auf 26 Varianten für 60 bzw. 50 Plätze.
Dabei lasse ich den Vokativ als eigene Satzform, d.h. als Nicht-Kasus, außer acht.
Ich kann auch das -m des Akk. Sg. anders betrachten und komme zu bestimmten
Beschreibungsvarianten. Die lassen wir einmal als unerheblich außer acht. Es ist
ohnehin fraglich, wieweit Betrachtungen wie diese dem Hörprozess spontaner,
nicht-reflektierter Muttersprachler gerecht werden. Das Gesamtbild bleibt indes gleich.
Ich behandle auch nicht das Problem der Neutra, die sich nur durch die spezielle
Nom./Akk.-Konstellation auszeichnen.
Obige Tabellen als Folie:
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3. Vom Paradigma her
Bei der Betrachtung der Paradigmata, also der als Muster aufgestellten, den
Sprachgebrauch deskriptiv oder normativ erfassenden Beschreibung von Formengruppen, denen Wörter nur zum Zweck der grammatischen Gesamtklassifikation zugeordnet werden, erlaube ich mir, die existierenden casus, also Beugungen eines jeden Paradigma einschließlich des casus rectus anzuführen. Dabei bringe ich, wie man es sinnvollerweise tun sollte, die »gemischte« Gruppe
in einem Paradigma unter. (Hier ist es interessant, daß die antike Sprachnormierung keine Vereinheitlichung zustandegebracht hat.)
Erklärung:
K = Kasus; P = Paradigmaposition
Solitär: ein-eindeutige Fälle, d.h. keine Überschneidungen mit Morphemen anderer Wortarten, doch nur innerhalb des eigenen Paradigmas; manche interferieren mit Formen eines anderen Paradigmas. Nur -bus, -ōrum, -ārum, -ērum
sind absolute Solitäre (also ohne Interferenz überhaupt mit anderen Formen,
wenn man einzelne Überschneidungen lexikalischer Art wie decōrum außer
acht läßt.
Folie:
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Wahrscheinlich müßte man die Zahl der Kasus in den Paradigmen, die auch eine
eigene Rubrik für das Genus Neutrum aufweisen, um jeweils zwei im Singular
und Plural heraufsetzen, so daß das Verhältnis K : P noch schlechter würde. Aber
treiben wir es nicht zu weit.
4. Vom vorausgesetzten Schülerwissen her
Was wir von den Schülern – in diesem begrenzten Ausschnitt der Sprache – verlangen, ist nun am Ende des Sprachlehrgangs etwa folgendes. Unser Schüler
nimmt sich im Text ein Wort vor und gelangt nach gelungenem Spontan- oder
Denkprozesse zu einer Einsicht. Dabei bedient er sich idealerweise etwa folgenden Rüstzeugs:
Folie:
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Der Zuordnungsprozeß durch den Schüler über diese Methode würde unterschiedlich verlaufen und unterschiedlich lange dauern. Mit Sicherheit würde
dieser Prozeß zwischendurch auch durch Ausprobieren einer Übersetzung, also
eines Verstehensversuchs, unterbrochen und eventuell bei negativem Ausgang
wiederaufgenommen.
Aber auch in dem Fall, daß unser Schüler sich erfolgreich am Ziel wähnt, kann es
ja noch unterschiedliche Hürden geben. Am einfachsten ist die Diagnose »Nominativ«: Dann kann es normalerweise direkt losgehen, auch beim Akkusativ
können die Chancen noch recht gut liegen – einfach deswegen, weil er in beiden Sprachen der zweithäufigste Kasus ist.
Auch eine Kasuslehre
Aber nehmen wir den nicht seltenen Fall, der Schüler fühlt sich genötigt, ihm
beigebrachte Details zu aktivieren. Latein hat ja, weiß er, eigentlich nicht nur
fünf Kasus, es sind doch weit mehr, z.B.:
Folie:
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
Vermutlich ist die Liste noch nicht vollständig; als Kommentar dazu erwähne ich
nur, daß ich z.B. keine deutsche Grammatik kenne, die einen Accusativus instrumentalis aufweist, etwa ich spiele Ball, oder einen Genitivus separativus, etwa
Ich entrate des Glücksspiels.
Die lateinische Grammatiklehre, die versuchte, die Funktionen aus den Kasus
herzuleiten und dabei auch nicht um Begriffe wie logisches/grammatisches
Subjekt herumkam, übersah – aus ihrer historischen Situation heraus vielleicht
verständlich – zumindest zweierlei:
1. daß die Kasusendungen nicht eindeutig sind, auch nicht innerhalb der einzelnen Paradigmen noch gar zwischen ihnen, und schon daher keine Bedeutungsträger sein können;
2. daß die Kasus, wenn sie diese Bedeutungsträger wären, an Zahl ungleich
mehr sein müßten.
Hier setzt nun die Frage an: Was ist es dann, was die Einordnung eines Elements
durch den Rezipienten in einen korrekten Verstehenszusammenhang ermöglicht? Die einfache Grundregel lautet: Man versteht nur, was man in gewissem
Sinn schon weiß. Daher ist in allen Lehr- und Lernbereichen das Anknüpfen an
Bekanntem so wichtig, das Voranschreiten (oder Hüpfen) von vertrauten Verstehensinseln zu unbekannteren Inseln – aber das muß ich Ihnen als Pädagogen
nicht vortragen.
Wenn also zu den Vehikeln gelungenen Verstehens Formengrammatik nur sehr
eingeschränkt gehört, was muß hinzukommen? Ein um Einsichten in Verstehensprozesse erweitertes Grammatikverständnis. Selbst die Scholastik verstand unter Grammatik ja trotz der angeführten Bewertung der Formenlehre doch viel
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
mehr oder sogar etwas ganz anderes: Es gehörten nämlich z.B. die Wortstellung
oder der Satzrhythmus dazu, und der Disput um die logische Satzordnung fand
ja in den zahlreichen Stillehren des Mittelalters kein Ende.
Um diese Präliminarien zu verlassen und auf eine vielleicht anschaulichere Ebene der Argumentation zu gelangen, möchte ich mit Ihnen ein Experiment simulieren.
Meine Frage: Wie mag es im Kopf eines Lateinschülers aussehen, der einen lateinischen Text vor sich hat? Haben Sie schon einmal Überlegungen in dieser Richtung angestellt? Ich möchte den Versuch mit Ihnen in drei Phasen anordnen, um
das Problem von drei Seiten anzugehen. Die »Versuchsanordnung« dazu
stammt nicht von mir (ich werde Ihnen sagen, von wem).
Bei dem Versuch geht es, um es nochmals zu sagen, um die Rolle der Grammatik
beim Verstehen bzw. darum, welche Aspekte beim gelungenen Verstehen zusammenkommen müssen.
Mit dem folgenden gelingt es vielleicht, das komplexe Problem wenigstens ansatzweise zu verdeutlichen (Beispiele 1 und 2 aus H. J. Heringer, Beispiel 3 nach
H. Hörmann; s. u. Literaturhinweise). Ich präsentiere Ihnen einige Texte.
Folie:
Wer hegt die düftsten Wollsäck
Der Text zeigt, wie Strukturzeichen (im Druck hervorgehoben) uns das Gefühl
vermitteln, einen verstehbaren Text vor uns zu haben, der gleichwohl unverständlich bleibt, weil wir die Sinnwörter nicht erfassen können. »Diese Situation – in milderer Form – kennen wir als Lerner, wenn wir Vokabeln nicht verstehen« (Heringer).
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»Aber was hilft es, wenn man alle nachgeschlagen hat, und doch die Struktur
des Satzes nicht erkennt! Sinnwörter allein geben kein gesichertes Verständnis.
Wer nur brockenweise Sinnwörter liest, müßte sich mit etwa folgendem Text abfinden« (Heringer):
Demonstration Paragraph 218
Zweifellos sind wir aufgrund der Isotopie (also des gemeinsamen Sinnfeldes)
dieser Sinnwörter-Versammlung dazu in der Lage, bestimmte Sinn-Bezüge herzustellen, doch ebenso zweifellos bleibt, daß wir ein »Gemeintes«, wenn überhaupt eindeutig, zumindest teilweise eher nur hypothesenartig ausmachen können.
Reicht es also aus, Strukturzeichen und Sinnwörter zweifelsfrei zu identifizieren, um zum Verstehen zu gelangen? Der folgende Text zeigt auf, daß auch das
nicht der Fall sein muß:
Folie:
(Bransford und Johnson 1973; aus Heringer).
Liest man diesen scheinbar sinnlosen Text jedoch, nachdem man die Abbildung
(Folie / folgendes Bild) betrachtet hat, gelingt es, ihn in einen Verstehenszusammenhang einzuordnen. Verstehen, begriffen als »Sinn-Verleihen durch Hineinstellen in einen Zusammenhang«, bedeutet:
»Der Hörer konstruiert aus dem, was die Äußerung anregt und möglich macht,
aus seiner Kenntnis der Situation, aus seiner Weltkenntnis und aus seiner Motivation einen sinnvollen Zusammenhang«; »das Nicht-Erreichen dieses Zusammenhangs [hat] zur Folge, daß wir etwa einen Text nicht verstehen, auch wenn
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wir durchaus wissen, was die einzelnen Wörter und Wortkombinationen bedeuten« (Hörmann).
Referenz (also Bezugnahme auf das Gemeinte durch den Sprecher) kommt mithin erfolgreich nur zustande, wenn es dem Hörer gelingt, der linearen Kette der
Äußerung ein vorhandenes Netz seiner Situations- bzw. Weltkenntnis überzuwerfen. Das Verstehen läuft linear und gleichzeitig komplex, es ist ein »vom
Ziel her gesteuerter Prozeß«, d. h. es ist »erforderlich, daß der Hörer in allgemeiner Form immer schon weiß, was sinnvoll ist« (Hörmann).
Welche Schlußfolgerungen können aus diesen hier nur angedeuteten Problemen für einen rezeptiven lateinischen Grammatikunterricht gezogen werden?
Welche Überlegungen ergeben sich für einen adäquaten Übersetzungsunterricht? Allgemeiner auch: Welche Grundzüge ergeben sich für die Konzeption einer lerner- und zielsprachenorientierten Grammatik? In dem heute betrachteten spezielleren Zusammenhang: Wie kann eine rezeptive Kasuslehre des Lateinischen aussehen?
In der konkreten Lernsituation heißt die Begegnung (oder: Konfrontation) mit
den Kasus regelmäßig: Der Lernende befindet sich in einem Zustand sprachlichen Wissens bezüglich des Lateinischen, der zwischen der Situation »Wollsäck« und »Demonstration Paragraph 218« (s.o.) schwankt. Sein konkretes Ziel
ist: Sich in seiner eigenen Sprache, also der Zielsprache, auszudrücken, die ihm
sowohl grammatisch Inseln des Verstehens bietet als auch in puncto Weltwissen die obligatorisch vorhandenen Textlücken auffüllt.
Ich habe zitierend gesagt: In einem gewissen Sinne versteht man nur, was man
schon weiß, oder: »... man kann Sprache nur verstehen, wenn man mehr als
Sprache versteht« (Hans Hörmann). Diese Tatsache – die für Sprechen und Verstehen allgemein gilt – berücksichtigt im normalen Leben jeder (gelungene)
Text, indem er von Bekanntem, also sozusagen Inseln des Verstehens, zu Neuem
führt, d.h., um im Bild zu bleiben, zu neuen Ufern.
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Diese Gesetzmäßigkeiten des Verstehens nehmen heutige Grammatikkonzepte
in sich auf. Sie legen ebenfalls semantische Rollen zugrunde, die im Text realisiert werden, und sie gehen davon aus, daß beim Verstehensprozeß diese semantischen Rollen vom Rezipienten kraft seines situativen Wissens und kraft
seines Weltwissens in ihm bekannte Verstehensrahmen eingeordnet werden
können. Die heutige Grammatik hat dafür auch den Begriff Skript (das sich aus
Szenen zusammensetzt) geschaffen, mit dem Geschehens- bzw. Handlungsabläufe mitsamt ihren Mitspielern erfaßt werden, und zwar ggf. auch aus verschiedenen Perspektiven wie z.B. das Script kaufen vs. verkaufen. Dieses Konzept hat
durchaus Ähnlichkeiten mit der Dependenzgrammatik, ist aber rein semantisch
gedacht und nicht auf den Satz, sondern die Situation bezogen. Die Situation
wird vom Sprecher intentional versprachlicht, d.h. der will den Hörer von seinem Wissenspunkt abholen, orientieren und lenken. Beim Verstehen kommt es
darauf an, den Mitspielerrahmen kontextuell zu entschlüsseln und die semantisch zwingenden Zuordnungen zu erkennen. Die semantische Zuordnung geht
also der grammatischen voraus und wird von dieser im Sinne der Redundanz
sprachlicher Zeichen abgesichert.
Wo Hörerwissen von den Präsuppositionen des Textes abweicht, kommt es
zwangsläufig zu mehr oder weniger schwerwiegenden Verstehenskonflikten.
Die Basis für deren Lösung bildet auch Wortwissen (Vokabelwissen) nur in dem
Maße, als das semantische Umfeld eines Sachbegriffs ausreichende Überlappungen mit den Begriffen aus der eigenen Sphäre aufweist. Dabei schafft etwa
die hier einmal als bekannt vorausgesetzte Gleichung sacerdos = Priester keine
elementare Verstehenshürde, auch wenn der antike Priester kein Mann mit weißem Bäffchen ist. Schwieriger wird es schon mit Gleichungen wie sacrificare =
opfern – welche Vorstellung verbindet ein Schüler damit. Scheitern ist programmiert, wenn das Lehrbuch vitium = Laster meint und der Schüler LKW versteht.
Probleme liegen auch darin, daß Begriffe im Kontext einander definieren, so wie
Subjekt und Prädikat einander definieren, erst recht aber Verb und insbesondere direktes Objekt zusammen eine semantische Einheit bilden (Paradebeispiel:
petere).
16
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
Ähnlich der konventionellen Auffassung ist es elementar, die Satzbasis zu erfassen, um primär die semantische Rolle des Subjekts zu erkennen: Aus dieser ergeben sich zwangsläufig weitere mögliche oder eben nicht mögliche Konstellationen. Es ergeben sich auch Redundanzen oder Leerstellen. Leerstellen implizieren die Notwendigkeit der Füllung: Es kann etwas schon gesagt sein, muß folgen oder bleibt im Untergrund.
In diesem »Rahmen« finden die Kasus ihre Rollen. Allerdings liegen die auf
grammatisch verschiedenen Ebenen, weswegen es um so wichtiger ist, die Rollen der Mitspieler zu erfassen. Dazu gehört elementar das Wissen um die grundlegend verschiedenen Einsatzebenen der Kasus. Ohne weitere Herleitung führe
ich diese hier nur an:
1. Kasus als semantische Kategorien nicht-formaler Natur repräsentieren Mitspieler innerhalb eines Handlungs- oder Geschehensrahmens, in dem sie als
aufeinander bezogene Elemente wirken oder vorhanden sind (genauer sogar:
vom Sprecher »auf die Bühne gebracht werden«). Hier spielen die Kasus eine
Rolle auf Satzebene.
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
2. Eine weitere davon verschiedene Funktion üben die Kasus auf Wortgruppenebene aus. Dies ist in unseren Sprachen Lateinisch und Deutsch die Domäne des
Genitivs (Zuordnung von Elementen zueinander).
3. Eine eigenständige Betrachtung benötigt ebenfalls die Beziehung Präposition
– Kasus. Daß die Präpositionen im Lateinischen wie im Deutschen einen Kasus
regieren und seine sonstigen möglichen kommunikativen Charakteristika auf
Null setzen, ist rein konventionell, aber nicht kommunikativ zwingend. Die meisten Präpositionen begleiten den Akkusativ, und wenn – die einzigen Fälle – bei
in und sub scheinbar der eine Kasus die Richtung, der andere den Ort angibt, so
ist diese Unterscheidung allenfalls redundant, denn sie ist in der Verbsemantik
impliziert.
4. Damit ist zugleich als weiterer in meinen Augen wesentlicher Unterweisungspunkt zu nennen, daß – bis auf die Sonderrolle Nominativ, der bezeichnenderweise ja auch nie Präpositionen mit sich führt (evtl. Distributivmarkierungen –je
einer …) –alle Kasus praktisch in allen Sprachkontexten Kombinationen aus Präposition + Kasus weichen können. Das in den modernen Sprachen übliche Präpositionalobjekt scheint inzwischen auch im LU zuhause zu sein (wo man solche
Angaben früher eo ipso als adverbiale Bestimmung interpretierte).
5. Abschließend sei – mit diesem Stichwort – die zum Teil fundamentalistisch
diskutierte Frage einer Abgrenzung Objekt : adverbiale Bestimmung angesprochen: Dies gehört zu den Muttermalen der Sprachbetrachtung ontologischer
Provenienz (oben erwähnt). Unsere Begriffe sind gedankliche Ordnungsbegriffe.
So wie Linnés Klassifikation des Tier- und Pflanzenreichs Einteilungen nach argumentativ hergeleiteten Merkmalen vornimmt, liegen unseren Begriffen reine
Einteilungsmerkmale zugrunde: In der außersprachlichen Wirklichkeit finden
sie sich nicht wieder. Von wissenschaftlicher Betrachtungsweise her läßt sich
nur argumentieren: Je stärker ein Element in das Handlungsgeschehen einen
Aspekt der Verbsemantik bildet, um so kognater ist es ihm semantisch, um so
näher liegt es, das Element als grammatisches Objekt einzuordnen. Daher sehe
ich kein Problem darin, Ortsangaben bei Bewegungsverben als Objekte zu klassifizieren, sonst aber, da ja alles irgendwie an einem Ort passiert, als Adverbiale.
Zum Glück aber:
Ich denke, wir können und sollten unsere Schüler aus solchen Dingen heraushalten. Will man wirklich etwas dazu sagen, reicht es, von »Grauzonen« zu sprechen – wie im Fall von Cäsars Furt oben, die ich doch nun wirklich als Ort oder
als Mittel betrachten kann – es ist doch so egal.
Als nicht egal betrachte ich es indes, entgegen möglichem Anschein, daß unsere
Schüler die lateinischen Kasus selbstverständlich auch in den Formen kennen
und unterscheiden lernen müssen. Wie überhaupt Redundanzen in der Sprache
das Verstehen erleichtern und Äußerungen ordnen helfen, so tut das auch solches Kasuswissen. Die Frage ist nur: Wie werden ihnen die Kasus am besten vertraut und wie ist es vielleicht am hilfreichsten?
Damit komme ich zum Abschlußteil, in dem ich Ihnen einige Konkretisierungen,
Ergänzungen und Zusammenfassungen geben will. Es hat wenig Sinn, Ihnen den
Gebrauch lateinischer Kasus an Beispielen systematisch vorzuführen; von solchen Beispielen träumen Sie vielleicht sogar gelegentlich. Stattdessen gebe ich
Ihnen Beispiele dafür, wie sich die Mitspieler eines Geschehens in Kategorienbegriffen erfassen lassen. Aus meiner Sicht sollten folgende Erkenntnisse bei
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
den Schülern im Zusammenhang mit der Kasusbehandlung von vornherein aufgebaut und vermittelt werden:
Wir sehen in einen Text etwa so, wie wir auf eine Bühne sehen. Je nach Charakter des Textes können wir uns eine Orchestrabühne (Antike), Simultanbühne
(Mittelalter) Shakespearebühne (Renaissance), Guckkastenbühne (Neuzeit),
Raumbühne, Arenabühne und Rundumbühne und was sonst vorstellen. Darin
käme etwa die Nähe oder die Distanz des Lesers zum Ausdruck, sowohl in puncto Weltwissen als auch Betroffenheitsgefühl.
Der Sprecher/Autor bildet auch den Regisseur, denn er arrangiert das Sprachspiel.
In dem Sprachspiel agieren Mitspieler (Aktanten) verschiedener Art, belebte,
unbelebte, abstrakte, dingliche. Natürlich fehlen auch Kulissen nicht. Wie in einem Mimus können wir uns auch unbelebte und abstrakte Entitäten (Elemente)
als agierende Spieler vorstellen.
Im Extremfall können wir uns jeden Satz eines Textes als eine Szene oder (filmisch betrachtet) als eine »Einstellung« vorstellen.
In Wirklichkeit durchbricht ein Satz jedoch an vielen Stellen mit verschiedenen Mitteln seine rein syntaktischen »Grenzen zwischen zwei Punkten«: Tatsächlich ist jeder Satz nur relativ selbständig und semantisch durch ein netzartiges Gebilde von Bezügen in eine Satzgemeinschaft eingebettet. (Einfachstes
Verbindungsglied im Deutschen: der bestimmte Artikel, der auf etwas Bekanntes verweist; im Lateinischen ist das pronominalose Verb Ausdruck dieser Verknüpfung zwischen Sätzen, das gleichzeitig das Postulat der Subjektsgleichheit
bedingt, also ein Mittel der Kohärenz, das nur uns stört, die wir eine explizite Bestätigung dieser Kohärenz erwarten.)
Sinnfällig wird bei dem vorgeführten Modell, daß das Verb nzw. das von einem
Verb Ausgedrückte nicht gegenständlich auf der Bühne präsent ist
Die Mitspieler auf der Bühne tragen Masken (»personae«), erscheinen also in
jedem Text mehr oder weniger individualisiert, verkörpern jedoch immer wiederkehrende allgemeine Rollen (Rollentypen) – Handlungsrollen, deren Inhalt
von jedem nachvollziehbar ist. Zu diesen gehören:
19
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
Diese Mitspielertypen, die variierbar und wohl auch noch ergänzbar sind, bilden
den für die jeweils individuelle Szene vom Verb definierten Kasusrahmen und
nehmen in Kasussprachen die jeweils konventionell festgelegte Kasusform
(einschl. präpositionaler Formen) an. Was Kritiker auf den Plan ruft – die Offenheit oder scheinbar mangelnde Präzision einer solchen Liste (in der Zahl gibt es
Vorschläge bis 25), erscheint auf der anderen Seite als großer Vorzug und birgt
nicht geringe Anziehungskraft, da diese Kategorien eine nachvollziehbare Nähe
zur konkreten sprachlichen Äußerung aufweisen und überdies zwischen der Betrachtung bzw. dem Vergleich verschiedener Sprachen vermitteln können. In erster Linie besitzen sie jedoch eine dichte Affinität zur Psychologie des realen
Verstehensprozesses, dessen »Kasusrahmen« von Kindheit an durch Vermittlung und Einübung von »Weltwissen« geschaffen wurden.
Wichtig ist die »Beleuchtung«: Der Regisseur legt fest, auf wen/was zunächst
das Licht (der »Spot« eventuell) fällt (oder was zugegen, aber unsichtbar ist),
und je nachdem, wie das Licht innerhalb einer Szene geführt wird, liegt ein spezifisch arrangierter Satz vor, in dem spezielle grammatische Entscheidungen
sichtbar werden.
Sie sehen an diesem Unterweisungsmodell, daß es möglich – und ergiebig –
ist, Grammatik auch zu spielen. Viele Grammatikthemen eignen sich dazu, und
gerade im Anfangsunterricht können abstrakte Sachverhalte so schlagend sinnfällig gemacht werden.
Die ja auch nur scheinbar reichlichen Kasusformen des Lateinischen verlieren
bei diesem Modell ihre Schrecken. Zum Verstehen tragen sie wenig bei. In er-
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
ster Linie ist es wichtig, die Vokabelbedeutungen zu identifizieren (nachschlagen, nachfragen).
Die realen Vokabelbedeutungen stehen in der Regel nicht im Wörterverzeichnis bzw. Lexikon, sondern erhellen sich erst im Satz und satzübergreifend gegenseitig. Hinter diesem Sachverhalt steht der Ansatz, daß die Wörter einer Äußerung Anweisungen des Sprechers an den Hörer darstellen, eine Referenz auf
die außersprachliche Wirklichkeit vorzunehmen. Auch hier also eine Gegenposition zu ontologischen Sprachvorstellungen, die auch so formuliert wurde »Die
Bedeutung der Wörter ist ihr Gebrauch« (Wittgenstein).
Als Ausgangspunkt des Verstehens eines Satzes im Text sollte man zunächst
den Satzbeginn mit Blick auf den vorhergehenden Satz verstehen. Darauf muß
man, wenn man mit linearem Lesen nicht vorankommt, das Prädikat und sein
Subjekt erfassen. Das Prädikat ist anders als im Fall anderer Wörter durch seine
Signale immer klar erkennbar, wo es darauf ankommt: Das ist insbesondere bei
der 3. Person der Fall. 1. und 2. Person sind im Dialog dagegen stark kontext-gestützt.
Egal ob man zuerst das Prädikat, das Subjektswort oder ein anderes Element
erfaßt, man hat mit ihm schon einen Baustein oder einen Mitspieler dingfest gemacht, der zu dem Geschehen gehört, das sich auf der Bühne des Textes abspielt. Hat man das Prädikat, weiß man schon, was passiert. Wenn man weiß,
was passiert, hat man schon Hinweise auf einen oder mehrere mögliche Mitspieler. Hat man auch nur einen Mitspieler identifiziert, kann schon ein Indiz dafür
vorliegen, wer/was – möglicherweise – auch noch auf der »Bühne des Geschehens« mitwirkt.
Natürlich wirkt in der Sprache letztlich jeder Aspekt mit in den anderen hinein. So wirkt sich der primäre semantische Zusammenhang zwischen Subjekt
und Verb unmittelbar auf die grammatische Art des Satzes aus:
Satztyp I: Subjekt und Verb wirken auf kein anderes Element ein. Die semantische Rolle des Subjekts ist in diesem Fall besonders stark vom Prädikat bestimmt, weswegen sich für diese Rollen gut der allgemeinere Begriff Descriptum
eignet. Hieraus ergeben sich u.a. Differenzierungen, die davon abhängen, ob
das Subjekt die Handlung/das Geschehen kontrolliert oder nicht kontrolliert, etwa:
C Puer mature dentiit. Das Kind bekam früh Zähne.
C Puella dormit. (Subjekt dynamisch, Vorgangsverb).
C Semper homo bonus tiro est. Der gute Mensch ist immer Rekrut (Martial;
Gleichsetzungsnominativ).
C Tempora mutantur… (dynamisch in sich)
C Ventus, qui circa arborem finditur, sibilat (sich teilt).
C Heredis fletus sub persona risus est. Des Erben Weinen ist Lachen unter der
Maske. (statisch)
Satztyp II: Hier befindet sich das Subjekt in einer durch das Prädikat definierten Beziehung zu einem oder mehreren anderen Mitspielern, etwa:
C Baiulus vitrum malleo obtrivit. Der Lasträger zerschmettete die Glaswaren mit
dem Hammer. (malleum Instrument)
Im Zusammenhang dieser kurzen Erwähnung der Satztypen möchte ich einbringen, daß von der Sehweise einer semantischen Grammatik her die Betrachtung
eines Verben und Adjektiven gemeinsamen Aspekts nicht nur hilfreich, sondern
auch nötig ist: Verben wie Adjektive leisten beide eine Aussage über die Be21
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
findlichkeit eines Elements, eine Descriptio, die in einer statischen und einer
dynamischen Variante vorkommt: einmal als Bedeutungsteil in Kombination mit
esse, zum anderen mit fieri. (Diese Funktion können genauso gut Substantive
übernehmen.) Je nach Semantik beschreiben verschiedene Adjektive dabei
auch Beziehungen zwischen zwei Elementen, nicht anders als Verben ähnlicher
Art. Daher haben Adjektive logischerweise auch »Objekte« und gehören unter
diesem Aspekt gleichwertig in die Behandlung semantischer Rollen. Der Unterschied zum finiten Verb besteht darin, daß Verben auf Satzebene fungieren, Adjektive auf Wortgruppenebene. Das führt dazu, daß in Wortgruppen Sätze enthalten sein können, deren »Prädikat« ein Adjektiv ist, angebunden an semantische Rollen, die im Satz eine semantische Beziehung zum Subjekt aufweisen.
Das ist natürlich von der Sache her nichts Neues, doch schärft diese Betrachtungsweise, denke ich, den Erwartungshorizont der Schüler bei ihrer Aufgabe,
die im Text vorfindlichen sprachlichen Elemente für das Verstehen zu ordnen.
Beispiel zur Veranschaulichung eines Kasusrahmens: Medea floh…
Das Verb fliehen gehört zu denjenigen, die von ihrer Semantik her mit den
weitesten denkbaren Rahmen für Mitspieler schaffen, die in der Verbsemantik
angelegt sind:
Folie
Von den grammatischen Domänen der Kasus hatte ich oben gesprochen (Satzebene, Wortgruppenebene, Präpositionsbegleiter). Diese stets berücksichtigend, sollten die Schüler mit der Behandlung der Kasus nach und nach folgen22
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
des Wissen verbinden lernen und vertiefen. Man kann unterstellen, daß die
Schüler durch Eliminierung der Beschreibungen sog. Kasusgrundbedeutungen
und sog. spezieller Verwendungen von unnötigem Ballast befreit werden und
zu einem automatischeren Umgang mit ihnen gelangen. Die Betonung semantischen Vorgehens bei der Texterfassung auch und gerade im Umgang mit den Kasus schafft auch stärkere Verbindungen zur eigenen Sprache als Verstehensstütze. Denn Latein und Deutsch sind nicht Welten auseinander.
Wo und wie begegnet man einem »Kasus« – formal oder semantisch?
Natürlich überall auf Schritt und Tritt. Sie verteilen sich aber nicht gleichwertig,
weder unter dem Aspekt der Mitspieler / Handlungsrollen noch – analog dazu –
unter unter dem der Formenseite, der »Beugung«.
Entsprechend der Tatsache, daß der Nominativ prinzipiell alle semantischen
Rollen übernehmen kann (mit Einschränkungen, die zu stilistischen Bewertungen führen können, etwa unter dem Aspekt der Personifikation [Ovid oben], ist
er der absolut häufigste Kasus. Ihm folgt als zweiter Mitspieler in der Häufigkeit
der Akkusativ. Dabei macht ihm der Dativ Konkurrenz, reicht aber bei weitem
nicht an ihn heran (8% von der Akkusativmenge). Immerhin halb so oft wie der
Dativ findet sich in dieser Konstellation der Ablativ, kaum der Genitiv. In der
Häufigkeitsverteilung tun sich Latein und Deutsch hier also nichts (wo der Genitiv etwas wettmacht). Das ist für die Verstehensproblematik nicht unwichtig.
Sind drei Mitspieler vorhanden, ist nach dem Akkusativ als zweitem der dritte
normalerweise der Dativ, aber nicht selten auch der Ablativ (Verhältnis ca. 3:1).
Der Genitiv wäre für den Zweck der Satzbildung eigentlich ganz verzichtbar: In
sehr seltenen Fällen findet man die Kombination Akkusativ und Genitiv, ebenso
selten einen weiteren Akkusativ, nie Dativ und Genitiv. Ablativ und Genitiv sind
nicht selten austauschbar. Alleiniger zweiter Akteur, also Konkurrent zum Akkusativ, sind Genitiv und Ablativ nur ganz selten, mehr als vier Mitspieler kommen
auf Satzebene normalerweise nicht vor (wenn man den eher theoretischen Fall
der Medea oben und ähnliches beiseite läßt).
Prinzipiell ist mit einer Präpositionalfügung zu rechnen, deutlich weniger beim
Akkusativ.
Auf Wortgruppenebene dominiert absolut der Genitiv, doch alle anderen obliquen kommen auch vor. Prinzipiell sind alle durch präpositionale Wendungen
ersetzbar (das odium mundi, das so viel traktiert wird, ist in den Texten viel häufiger ein odium in homines).
Daß prinzipiell alle Mitspieler in der Versprachlichung durch den Autor bei der
Textabfassung zu einer eigenen »Szene« umgestaltet werden, also in Satzform
auftreten können, gehört hier nicht mehr her, soll aber erwähnt werden. Das hat
dann etwas von einer Scharade innerhalb des Rollenspiels.
Der Nominativ
s. unten Folie
Die Rolle des Nominativs entspricht derjenigen im Deutschen. Er ist als Kasus
des Subjekts der am engsten mit dem Prädikat kooperierendek Kasus; er bezeichnet in einer Äußerung den Ausgangspunkt der Beschreibung einer Handlung. Mit der Wahl des Subjekts trifft der Sprecher/Autor weitreichende Entscheidungen für die Satzstruktur (Aktiv – Passiv).
Hinsichtlich seiner semantischen (bedeutungsmäßigen) Rolle ist der Nominativ
nicht festgelegt – vom »Täter« (X schreibt) über den »Empfänger« (X erhält)
zum »Grund« (X löst ... aus), vom »Ort« (X enthält ...) oder »Mittel« (das Messer
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
schneidet) bis zum »Betroffenen« (X wird erzogen) u.a.m. kommt prinzipiell alles
in Frage.
Der Nominativ als Prädikatsergänzung
In dieser Funktion kongruiert der Nominativ als Prädikatsnomen mit dem Subjekt (u ■).
Bei Verben mit der Bedeutung machen zu… ist zu beachten, daß das Prädikatsnomen im Deutschen mit einer Präposition wie zu versehen werden muss.
Außerdem
Der Nominativ dient auch als Anredeform.
Der Akkusativ
s. unten Folie
Der Akkusativ begegnet entweder als reiner Kasus oder begleitet von Präpositionen. Manchmal ist das Eine gegen das Andere austauschbar, grundsätzlich
kann ein präpositionaler Akkusativ auch für einen anderen Kasus stehen.
Hauptaufgabe des Akkusativs: Objekt
Ist am Handlungsgeschehen neben dem Subjekt ein weiterer Mitspieler beteiligt, tritt dieser in der überwiegenden Zahl der Fälle als (direktes) Objekt auf;
der im Lateinischen wie im Deutschen dafür reservierte Kasus ist der Akkusativ.
Das direkte Objekt wirkt besonders auf die konkrete Bedeutung ein, die das jeweilige Prädikat hat. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist das Verb
colere (coluī, cultum).
In den weitaus überwiegenden Fällen liegen die lateinischen und deutschen
Verben beim Akkusativ parallel. In anderen Fällen hilft das semantische Vorgehen.
Der Dativ
s. unten Folie
Der Dativ begegnet immer nur als reiner Kasus, anders als im Deutschen nie mit
Präpositionen. In manchen Fällen ist ein Dativ aber mit einem präpositionalen
Akkusativ (gelegentlich auch Ablativ) austauschbar.
Hauptaufgabe des Dativs: Objekt
Tritt zum Subjekt ein weiterer Mitspieler, dessen Rolle bei der Aktiv-PassivWahl als nicht umkehrbar mit der Rolle des Subjekts aufgefasst wird, erscheint
dieser im Lateinischen wie im Deutschen hauptsächlich in der Form des Dativobjekts. Auch auf diesem Feld sind die beiden Sprachen zwar weitgehend,
aber – wie zu erwarten – nicht immer deckungsgleich.
Es gilt, sich einzuprägen, daß im Deutschen als Übersetzung also ggf. der Dativ
oder Akkusativ, häufig aber auch eine Präposition + Kasus, insbesondere für und
zu in Frage kommen.
Der Dativ kann auch in einer weniger festen, semantisch (bedeutungsmäßig)
nicht direkt vom Verb gesteuerten Beziehung zu diesem vorkommen: Erinnern
wir uns daran, daß es der Sprecher/Autor ist, der im Spielplan Regie führt. Er
verfügt damit über die Möglichkeit, über die unmittelbar beteiligten Mitspieler
an einem Geschehen hinaus weitere Personen bzw. Sachen in das Geschehen
»hereinzuholen«. Sinn: Das Geschehen z.B. auf auf eine bestimmte Person/Sache zu beziehen oder deren Blickrichtung einzunehmen. Im Deutschen benutzen wir dazu ebenfalls den Dativ (jedoch seltener: Komm du mir nach Hause!)
oder eine Präposition + Kasus, meist für:
Nōn tibi sōlī nātus (-a) es.
Du bist nicht für dich allein geboren.
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
Messāna portus est prīmus Siciliae venientibus ā Bruttiīs.
Messina ist der erste Hafen Siziliens für diejenigen, die aus Bruttium kommen.
»Sein und Haben«
Die für das Standarddeutsche ungewöhnliche Kombination aus esse sein und
Dativ bedeutet haben. Diese überaus wichtige Wendung muß man gedanklich
stets parat haben (übrigens ein typisches »Indogermanicum«).
Der Genitiv
s. unten Folie
Der Genitiv ist im Lateinischen vielfach mit einem präpositionalen, bisweilen
auch einem anderen reinen Kasus austauschbar.
Der Genitiv begegnet deutlich häufiger als im Deutschen. Er wird nie von einer
Präposition begleitet, jedoch gibt es einige nachgestellte Verhältniswörter.
Damit Schüler mit dem lateinischen Genitiv sachgerecht und flexibel umgehen
können, sollten sie seine grundsätzlich möglichen deutschen Entsprechungen
v.a. bei der Rolle als Attribut stets parat haben. Diese sind:
deutscher Genitiv
von + Dativ
aufseiten,
+ Genitiv
vonseiten
Hauptaufgabe des Genitivs: Attribut
Wie im Deutschen dient der Genitiv dazu, ein anderes Nomen (oder an dessen
Stelle ein Adverb) in der Bedeutung genauer zu definieren, etwa: die Vorkommnisse des letzten Jahres oder die Schwestern meiner Tante. Semantisch (bedeutungsmäßig) gibt es gegenüber dem Deutschen keine Unterschiede.
Besitzt ein Substantiv einen verbalen Inhalt, d.h. drückt es eine Handlung oder
eine Empfindung aus, kann ein beigefügter Genitiv in prinzipiell mehrdeutiger
Weise entweder den Urheber (Subjekt) oder das Ziel (Objekt) dieser Handlung/Empfindung bezeichnen vgl. etwa die Verleumdung des Gemüsehändlers,
die Anklage eines Politikers. Ein solcher Genitiv findet sich im Lateinischen häufiger. Allerdings finden sich auch auf lateinisch solche präpositionalen Ausdrücke
häufiger als Genitive.
Der Genitiv im Sinnbereich von Verben
Wie im Deutschen (wo der Gebrauch allerdings stark stilabhängig ist) finden
sich bei verschiedenen Verben Genitive als erstes Objekt oder als zweite Ergänzung, wenn das erste Objekt ein Akkusativ ist. Auch im Lateinischen sind dies
Verben des Sich-Erinnerns, Vergessens, Mitleidens, des Nicht-Habens und der
Gerichtswelt:
Bei diesen Verben finden sich aber auch der Akkusativ oder Ausdrücke mit Präposition (z.B. je nach Fall dē + Abl., praeter + Akk.). Im Deutschen zieht man
heute ebenfalls meist Präpositionen vor (»habt Erbarmen mit ... « u.a.).
Der Ablativ
s. unten Folie
Den Ablativ gibt es als einzige Kasusform im Deutschen nicht. Die von ihm getragenen Inhalte werden im Deutschen anders ausgedrückt. Bedeutungsmäßig
ist der Ablativ fast ein »Alleskönner«. Er gehört somit zu denjenigen typisch lateinischen Strukturen, die grammatisch ganz undeutlich sind. Ein Wort im Ablativ sagt eigentlich nur: Ich bin nicht Nominativ, nicht Akkusativ, nicht Dativ, nicht
Genitiv. Die Bedeutung im Zusammenhang erschließt sich – außer eine Präposition ist vorhanden – einzig aus der Bedeutung des Ablativwortes in Verbindung
mit der speziellen Bedeutung des Verbs.
25
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
Dies und die vielen Fälle, in denen der Ablativ ohne Präposition daherkommt,
können wegen der genannten grammatischen Undeutlichkeit bisweilen zu Problemen führen. Daher gilt:
– prüfen, ob der Ablativ einen Mitspieler bezeichnen kann, dessen Rolle vom
Prädikat (oder auch einem Adjektiv) bestimmt wird; daher ist es wichtig, den Inhalt des Ablativ-Wortes genau festzustellen (ist es ein Zeitbegriff, ein Ortsbegriff, eine Sache, eine Mengen- oder Wertbezeichnung, eine Person usw.);
– falls nicht, wird es sich um eine Angabe erläuternder Umstände zur Kernaussage handeln; oder Abl. abs.
Hauptaufgabe des Ablativs: Beschreibung näherer Umstände der Prädikatsaussage
Das Element, das im Spielplan die Rolle des Grundes oder Ursache spielt, tritt
normalerweise als Ablativ auf. (In der Nominativform bzw. Subjektrolle läge im
Lateinischen eher eine Personifikation vor.)
In Passivsätzen übernimmt der Ablativ (mit der Präposition ā/ab) die Rolle des
Urhebers oder (ohne Präposition) des Mittels bzw. Instruments.
Bei einer Reihe von Verben mit dem Bedeutungsfeld etwas zur Verfügung haben
und deren Gegenteil etwas nicht zur Verfügung haben übernimmt der Ablativ die
Rolle eines ersten Objekts, etwa fruī genießen, ūtī gebrauchen, carēre nicht haben.
Bei Verben mit dem Bedeutungsfeld mit etwas ausstatten und deren Gegenteil
von etwas befreien oder fernhalten findet sich der Ablativ als zweites Objekt
bzw. nach Subjekt und direktem Objekt als dritter Mitspieler des Satz-Spielplans.
26
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
Schluß
Fünf Kasus für alle Fälle – einer mehr als im Deutschen und doch nicht genug?
Nein, eher noch ein weiterer zuviel, denn, wie sich zeigen läßt, auch das Lateinische käme gut ohne Kasusformen aus, denn die vorhandenen sind ja auch nicht
so überzeugend in ihrer Eindeutigkeit, erst recht nicht angesichts der Verstehensbdürfnisse, die sie erfüllen müßten, wenn es auf sie ankäme.
Aber, wie so häufig, ist diese Wahrheit auch nur die halbe Seite (vielleicht auch
weniger). Es war jedenfalls auch ihr Kasussystem, verbunden mit dem festen
Willen, es ihren griechischen Lehrmeistern zu zeigen, das die römischen Autoren, Dichter und Schriftsteller, dazu veranlaßt hat, die gegebenen Möglichkeiten
zur Entwicklung höchster Sprachkunst zu nutzen, welche die Unterstützung des
Verstehens durch das Formeninventar der Sprache nutzte. Das war der Fall bei
ihrer Periodenbildung, das war der Fall bei der Nutzung der Möglichkeit, kunstvolle Spannungsbögen zu bilden, in ihrer Lyrik. Ein Beispiel habe ich oben »seziert«. Ob das nun alles für alle Römer ein richtiges Vergnügen war, sei dahingestellt. Der Genuß war vermutlich nur wenigen vorbehalten. Und auch manche
27
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
nachfolgenden Interpreten und Betrachter ihrer Sprachkunst haben wohl daran
vorbeigesehen und zu vielen Fügungen gerade in der Dichtung gemeint: diese
Wortstellung ist metrisch bedingt. Man meint, Cicero hätte diese Leute vorhergesehen und schon damals das Passende dazu gesagt (Motto, s. oben):
Nobis … in scribendo atque in dicendo necessitatis excusatio non probatur. Nihil
enim est necesse. (Cicero, Or. 229)
Übersichten: Kasusmorpheme
Der Nominativ
Signale
Sg.
Ø
-us
-um
-ū
Pl.
-ī
-a
-ae
-ēs
-a
-s (-x)
-ēs
Der Akkusativ
Signale
Sg.
-um
-am
-em
-im
Ø
Pl.
-ōs
-ās
-ēs
-īs
-a (-ia)
Der Dativ
Signale
Sg.
-ō
-ae
Pl.
-īs
-ibus
-ī
-eī
-uī, -ū
Der Genitiv
Signale
Sg.
-ī
-ae
-is
-ūs
Pl.
-ōrum
-ārum
-um, -ium
-ērum
-eī
-īus*
*Pronomina
Der Ablativ
Signale
Sg.
-ō
-ā
Pl.
-īs
-bus
-e
-ī
Alle Kasusmorpheme alhabetisch
-a
-e
-ī
-ā
-ē
-ibus
-ae
-eī
-im
-am
-em
-is
-ārum
-ērum
-īs
-ās
-ēs
-īus
-bus
28
-ū
-ē
-ō
-ōrum
-ōs
-s
-ū
-ū
-uī
-um
-us
-ūs
Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
In der Tat ließe sich das zusammenbringen, doch wäre der Nominativ in dem
Fall innerhalb des Modells ein Sonder-»Fall«, wenn wir unser Verständnis von
ihm als Redegegenstand, oder, um »lokalistisch« zu bleiben: als thematischen
Ort der Äußerung zugrundelegen. Der »Fall« zeigt jedoch, daß mit einem lokalistischen Kasusverständnis unabdingbar semantische Aspekte verknüpft sind:
Daß jemand Täter ist, ist ein elementarer Aspekt von Kommunikation bzw. Mitteilungsinteresse.
Ich soll und will hier kein Referat über die Psychologie sprachlichen Verstehens
halten. Immer noch schätze ich dazu besonders das Buch von Hans Hörmann (s.
Literatur). Gerade auch die Compuerlinguistik hat, um den Geheimnissen auf die
Spur zu kommen, viele wichtige Erkenntnisse zutage gefördert – und weil der
Computer deren Untergrund nicht simulieren kann, wird er wohl auch nie richtig
verstehen können.
Existieren nicht gerade in elementaren Bereichen beim Vorgang der Referenz
einer Sprache auf die außersprachliche Wirklichkeit unauflösbare oder weitgehend unauflösbare Widersprüche zu den Charakteristika einer anderen Sprache
– der Sprung tigert statt der Tiger springt gehört wohl eher zu den auflösbaren –
wird aber auch die Anordnung der Wörter (des sinnübermittelnden Luftstroms)
kein absolutes Hindernis sein. Eigentlich zeigt die Tatsache, daß alle gesprochenen Sprachen einmal von irgendeinem anderen zu verstehen begonnen wurden
(nein: überall sind ja Sprachen infolge Nachbarschaft immer durchlässig gewesen), daß in der außersprachlichen Außenwelt genügend Verstehensinseln vorhanden sind).
Sicher ist es gegenüber den modernen Fremdsprachen ein Handikap für den altsprachlichen Unterricht, daß die aktive Beherrschung von Latein (oder gar Griechisch) nicht Unterrichtsziel sein kann – und sei es auch »nur« in schriftlicher
Form wie in vergangenen Zeiten. Gewisse reproduktive Erfahrensformen – z. B.
das Spiel nach Lehrbuchtexten oder sogar die Einübung lateinischer Theaterstücke – können hier keinen echten Ausgleich schaffen, immerhin aber wenigstens eine gar nicht zu geringe Ahnung davon vermitteln, daß auch diese Sprache »nichts weiter« leistet, als was jede Sprache leistet: das Bewußtsein des Hörers zu bewegen und damit ggf. Handlungen in Gang zu setzen. Wie kann der
altsprachliche Unterricht das Manko – soweit überhaupt möglich – auffangen,
daß die Schüler die syntaktischen Eigentümlichkeiten dieser Sprache nicht
mehr aus dem Gebrauch heraus kennen lernen und durch den Gebrauch eine annähernde Sicherheit in ihnen erlangen können?
Sprache verweist auf Elemente (Lebewesen, Dinge, Abstrakta, Sachverhalte) der
außersprachlichen Wirklichkeit und setzt sie diskursiv in Beziehung zueinander.
Dieser Referenz-Leistung der Sprache korrespondiert innersprachlich ein Regelwerk, das die Relationen der sprachlichen Zeichen zueinander markiert, um so
die Referenz gewährleisten zu helfen. Dieses grammatische Regelwerk wirkt seinerseits erst auf dem Fundament eines semantischen Regelwerks, das – von Sprecherseite aus – verhindert, daß semantisch inkompatible und referentiell nicht zuordnungsfähige Elemente aneinandergefügt werden, und das – von Hörerseite
aus – die Elemente der Äußerung filtert, um sie auch dann referentiell zuzuordnen, wenn die geäußerte Lautfolge zunächst norm-widrig erscheint. In diesem
Sinne ist Verstehen ein sprechergeleiteter aktiver Vorgang im Hörer.
Es hieße, dem Regelwerk der Grammatik zuviel zuzumuten, sollte seine Vermittlung (natürlich neben der Vermittlung von Vokabeln) allein das Verstehen
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Helmut Schareika [© 2013]: Fünf Kasus für alle Fälle
sprachlicher Äußerungen bewirken. Umgekehrt können ohne Grammatik (d. h.
ohne grammatische Elemente wie Wortstellung, Strukturzeichen usw.) offensichtlich weder Texte zustandekommen (jedenfalls keine komplexeren) noch erfolgreiches Verstehen geleistet werden.
Letzte Bearbeitung: 1. Mai 2013
© 2013 Dr. Helmut Schareika, Gau-Algesheim a.Rh.
Hinweis: Im Herbst 2013 erscheint
Weddigen, Klaus; bearbeitet und herausgegeben von Schareika, Helmut:
Sermo. Lateinische Grammatik. Mitarbeit: Walter Siewert
Hamburg (Buske Verlag),
ca. 384 S., als neuartige didaktisch konzipierte Referenz-Grammatik
Literaturhinweise
Karl Boost: Neue Untersuchungen zum Wesen und zur Struktur des deutschen Satzes. Der Satz als Spannungsfeld, Berlin (Akademie Verlag) 1956
Heringer, Hans Jürgen: Lesen lehren lernen. Eine rezeptive Grammatik des Deutschen, Tübingen (Niemeyer) 1988 (S. 21 f.)
Hörmann, Hans: Einführung in die Psycholinguistik, Darmstadt (WB) 1981, ²1987
(S. 137 und 138)
ders., Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik, Frankfurt (Suhrkamp) 1982
Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge, München (Beck) 2000 (urspr. 1966)
Polenz, Peter von: Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-ZeilenLesens. Berlin ³2008.
Grundlegend zur Kasuslinguistik: Fillmore, Charles: The case for case. London
1968
Schareika, Helmut (Hg.): Grammatik – Semantik – Textverstehen I.
AU (Der altsprachliche Unterricht) 6 / 1988,
darin: (Hg.:) »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« – Zur Einführung
ders. (Hg.): Grammatik – Semantik – Textverstehen II.
AU (Der altsprachliche Unterricht) 3 / 1990,
darin: (Hg.:) Wer hegt die düftsten Wollsäck – Zur Einführung
— bearbeitet und erweitert (2006) als: Basisüberlegungen zur Konzeption einer
lerner- und zielsprachenbezogenen lateinischen Grammatik; unter: http://didaktik.textus.de/Wollsaeck.htm
darin: S. Conti und G. Proverbio: Latein und Textlinguistik. Aus dem Ital. von H.
Schareika
[auch unter: http://didaktik.textus.de/Conti_S.html]
Allgemein zur »Rollen- und Referenzgrammatik«:
Van Valin; Robert D., An Overview of Role and Reference Grammar, unter http://linguistics.buffalo.edu/people/faculty/vanvalin/rrg/RRG_overview.pdf [verifiziert
2013].
Die Übersichtstabellen und Grafiken fußen zum Teil auf:
Schareika, Helmut: Grammatik kurz & bündig LATEIN, Stuttgart (PONS) 2005 u.ö.;
2. Aufl. 2012
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