Das Problem mit der Ethik im Risiko

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Matthias Haller
Jürgen Markowitz
Stiftung Risiko-Dialog
Das Problem mit der Ethik im Risiko-Dialog
Einführung (Matthias Haller)
1. Versicherung und Verantwortung (Matthias Haller)
2. Verantwortliche Subjekte oder anonyme Dynamik: Kann Ethik helfen? (Jürgen
Markowitz)
In unserer Kultur gilt es als selbstverständlich, merk-würdige Phänomene nicht einfach als
gegeben hinzunehmen. Vielmehr suchen wir für alles, was wir erleben, nach einem Grund, nach
einer Ursache. Diese kausale Orientierung ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die
Art von Leben, wie wir es heute führen. Seine wohl markanteste Ausprägung hat unser Kausaldenken dadurch erfahren, daß wir nicht nur anderes, sondern auch uns selbst als Ursache von
Zuständen und Ereignissen in der Welt zu sehen lernten. Vieles dessen, was uns in der Welt
umgibt, führen wir auf uns selbst als Verursacher zurück. Aber nicht nur das: Wir identifizieren
uns mitbestimmten Folgen unseres Verhaltens auf ganz besonders eindrucksvolle Weise. Solche
Folgen haben wir nicht nur bewirkt, sondern auchgewollt. Wir haben siebewußt undmit Absicht
herbeigeführt, hätten das also auch lassen können. Das, was wir bewußt unternommen haben,
um gewollte Folgen zu realisieren, bezeichnen wir als unserHandeln. Auf diesen Voraussetzungen
unseres Selbstverständnisses beruht die für das Abendland so unerhört folgenreiche Idee des
Subjekts.
Wenn Menschen sich selbst und ihre Mitmenschen als Subjekte begreifen, müssen sie es sich
natürlich auch gefallen lassen, für das, was sie mit Absicht herbeigeführt oder auch nur nicht
verhindert haben, zur Verantwortung gezogen zu werden. Wenn man Menschen als bewußte
Urheber bestimmter Zustände in der Welt ansieht, als deren Subjekte, so kann man die Einschätzung dieser Zustände auf deren Urheber übertragen. Den Urhebern hoch geschätzter Zustände
wird man mit Hochachtung begegnen. Die Subjekte beklagter Zustände hingegen wird man weil sie Böses nicht nur bewirken, sondern sogar wollen! - mit Geringschätzung überziehen.
Solche Einschätzungen setzen natürlich Kriterien voraus, nach denen zwischen gutem und
1
schlechtem resp. bösem Handeln unterschieden wird.
Dies alles vorausgesetzt, kann man einen Begriff von Moral formulieren. Wir im Projekt RisikoDialog beziehen uns dabei auf den Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann. Er schreibt: "Ich
verstehe unter Moral eine besondere Art von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder
Mißachtung mitführt. Dabei geht es nicht um gute oder schlechte Leistungen in spezifischen
Hinsichten... etwa als Astronaut, Musiker, Forscher oder Fußballspieler, sondern um die ganze
Person, soweit sie als Teilnehmer an Kommunikationen geschätzt wird. Achtung oder Mißachtung
wird typisch nur unter besonderen Bedingungen zuerkannt. Moral ist die jeweils gebrauchsfähige
Gesamtheit solcher Bedingungen"1.
Wer moralisch kommuniziert, gibt damit bekannt, unter welchen Bedingungen er andere und
sich selbst achten oder mißachten wird. Moralische Kommunikation setzt auf diese Weise die
nächsten Anschlüsse unter bestimmte Konditionen. Im Fall von Achtung kann man anders
fortsetzen, als wenn Mißachtung angezeigt werden müßte. Wie weit allerdings solche Bindungseffekte der Moral reichen, das hängt entscheidend von den Bedingungen ab, unter denen Menschen
leben und miteinander reden. Während der vergangenen Jahrhunderte war der Rahmen durch
solche multifunktionalen Systeme gesetzt wie Familie, dörfliche Gemeinschaft, Klöster, Universitäten usw. In derart geschlossenen Lebensgemeinschaften war ein Mindestmaß an Achtung
geradezu lebensnotwendig. Moralische Urteile waren deshalb mit einem beträchtlichen Drohpotential ausgestattet. Wer moralisch sanktioniert wurde, dessen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
war dadurch in jeder Hinsicht eingeschränkt.
Die nachfolgende gesellschaftliche Entwicklung löst solche geschlossenen Lebensformen jedoch
unaufhaltsam auf. Kennzeichnend wird jetzt einefunktionale Differenzierung, die ursprünglich
Zusammenhängendes voneinander isoliert. Grundlegend wichtige Lebensvollzüge differenzieren
sich als je eigenständige Funktionssysteme aus: als System der Religion, der Wirtschaft, der
Politik, der Wissenschaft, der Erziehung usw. Damit tritt die Moral als Vermittlungsform zwischen
einzelnem und Gemeinschaft in den Hintergrund. In der sich entwickelnden kommerziellen
Gesellschaft können "Arbeitsteilung und Geld es überflüssig machen ..., sich über Sympathie
am anderen zu orientieren"2. Solange zum Beispiel die Mitgliedschaft in einer Organisation nicht
davon abhängt, ob die Familie Achtung oder Mißachtung vergibt, kann die familiale Dynamik
an den Grenzen der Organisation abgewiesen werden.
Worauf es jetzt ankommt, das sind nicht mehr moralische, sondernfunktionale Gesichtspunkte
des Verhaltens. Moralische Kriterien werden von der Arbeitsteilung weitreichend bedeutungslos
gemacht. Nur noch wenige Positionen - zum Beispiel die des Pfarrers - werden nach moralischen
Kriterien beschrieben. Die entstehenden großen gesellschaftlichen Teilsysteme müssen funktionieren;
davon hängt das Leben aller ab. Deshalb führt nicht mehr die Frage nach dem guten, sondern
1) Niklas Luhmann, Das verlorene Paradigma. Über die ethische Reflexion der Moral. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
28.12.88:3.
2) Niklas Luhmann, Ethik als Reflexionstheorie der Moral. In: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur
Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt 1989:358-447, hier:411.
2
die nach dem richtigen3, dem funktionalen Verhalten. "Das Funktionieren der Funktionssysteme
wird im weitläufigsten Sinne zur Lebensbedingung für jeden - und die Inklusionsfunktion der
Moral läuft gewissermaßen leer"4.
Die moralische Orientierung des Verhaltens an Standards des Achtbaren wird ersetzt durch
eine Orientierung an Standards des Machbaren; die moralische Orientierung wird durch eine
Funktionsorientierung abgelöst. Denn Funktionssysteme haben ihre eigenen Kriterien des Richtigen.
Achtbarkeit und Machbarkeit stehen in einem Verhältnis der Indifferenz zueinander. An die
Stelle der Moral kann jetzt ein Wetteifer im Sinn von funktional besser oder schlechter treten.
Damit ist der Grund gelegt für eine Art der Vermittlung, in der Konkurrenz alle anderen Formen
der Partizipation dominiert.
Systeme wie die Wirtschaft, die Politik usw. entwickeln mit ihrer Ausdifferenzierung einen
geschlossenen Operationsmodus. Der Grund liegt darin, daß jedes dieser Kommunikationssysteme
sich auf eine einzige Leitunterscheidung spezialisiert und für alle anderen Arten des Unterscheidens indifferent wird. Operationen in der Wirtschaft können sich nur dann bewähren, wenn
sie sich an der Unterscheidung Haben/Nicht-Haben orientieren. Von dieser für die Wirtschaft
fundamentalenUnterscheidung leitet sich das spezielle Kommunikationsmedium dieses Systems,
das Geld, ab. Wirtschaftliche Kommunikation ist Operieren mit diesem Medium, ist Zahlen
oder Nicht-Zahlen und sonst nichts.
Wer andere zu Zahlungen motivieren will, muß ein interessantes Angebot präsentieren. Er sucht
einen Tauschpartner, muß aber auch damit rechnen, auf Konkurrenten zu stoßen, die ebenfalls
versuchen, ihr Angebot zu plazieren. Die Teilhabe am wirtschaftlichen Austausch wird marktförmig,
also über Konkurrenz geregelt. Die Logik der Konkurrenz entfaltet die spezifische Eigendynamik
der Wirtschaft. Deshalb ist es lohnend, sich diese Logik und ihre Dynamik etwas näher anzusehen.
Denn wenn man einschätzen will, ob die notwendige Voraussetzung folgenreicher moralischer
Urteile, also die Idee des Subjekts, im Zusammenhang der Risikoentwicklung als tragfähige
Grundlage angesehen werden kann, dann muß man prüfen, ob sich die Effekte unseres Wirtschaftens auf das zurückführen lassen, was die Teilnehmer am Geschehen von sich aus wollten.
Jetzt also kurz zur Konkurrenz: Eindrucksvolle Beschreibungen hat bereits Georg Simmel5
geliefert: Kennzeichen der Konkurrenz ist nach Simmel (ebd.), daß die Teilnehmer ihre Kraft
nicht auf den/die Gegner, sondern ausschließlich auf das Ziel richten. So "zeigt jede durch Ehrgeiz
veranlaßte Konkurrenz auf wissenschaftlichem Gebiet einen Kampf, der sich nicht gegen den
Gegner, sondern auf das gemeinsame Ziel richtet, wobei supponiert wird, daß die von dem
Sieger gewonnenen Erkenntnisse auch für den Unterlegenen Gewinn und Förderung ist"6. "...
man kämpft mit dem Gegner, ohne sich gegen ihn zu wenden, sozusagen ohne ihn zu berühren;
3) "... wie verhält man sich gegenüber einer Welt, die analytisch unbestimmbar, vergangenheitsabhängig und unvoraussagbar
ist?" fragt Heinz von Foerster, Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen? In: Heinz Gumin und Armin
Mohler, Hg., Einführung in den Konstruktivismus. München 1985:27-68, hier:48.
4) Luhmann, a.a.O.:378. Hermann Lübbe hat während einer Diskussion (am 24. November 1992 in Ascona) darauf aufmerksam
gemacht, daß die oben formulierte Einschätzung mißverstanden werden kann. Es geht - das sei deshalb deutlich betont im Text nicht darum, die Bedeutung von Moral in Abrede zu stellen. Es geht vielmehr darum, die Bindungseffekte einzuschätzen,
die vor dem Hintergrund einer funktional differenzierten Gesellschaft von moralischen Urteilen erwartet werden können.
5) Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 5. Aufl., Berlin 1968:214.
6) A.a.O.:215.
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so führt uns die subjektive antagonistische Triebfeder zur Verwirklichung objektiver Werte,
und der Sieg im Kampfe ist nicht eigentlich der Erfolg eines Kampfes, sondern eben der
Werteverwirklichungen, die jenseits des Kampfes stehen" (ebd.). Ganz allgemein gilt für
Konkurrenz: "Ihr gelingt unzählige Male, wa sonst nur der Liebe gelingt: das Ausspähen der
innersten Wünsche eines anderen, bevor sie ihm noch selbst bewußt geworden sind"7.
Konkurrenz beginnt mit der Konstitution von Knappheit. Knappheit entsteht dann, wenn etwas
Existierendes dem aneignenden Zugriff deshalb entzogen ist, weil ein anderer schon zugegriffen
hat. Knappheit ist kein Mengenbegriff, sondern ein Exklusionsbegriff. Der Ausschluß anderer
errichtet eine Grenze. Sie sortiert die verschiedenen Zugriffsversuche. Sie trennt zwischen Erfolg
und Mißerfolg. Die Grenze zwischen Erfolg und Mißerfolg fordert zur Interpretation heraus:
Weshalb hat ausgerechnet sie die Stelle bekommen? Weshalb keiner von uns? Es ist vor allem
der Mißerfolg, der die Suche nach Gründen provoziert.
Zu einem katalytischen Faktor wird die Grenzbildung zwischen Erfolg und Mißerfolg dann,
wenn diese Grenze auf Gründen beruht, die man begreifen und beeinflussen kann. Wenn die
Grenzbildung zwischen Erfolg und Mißerfolg auf einsehbaren Konditionen - also nicht: auf Willkür beruht, dann unterscheidet diese Barriere zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen.
Die Erfolglosigkeit ist interpretierbar als ein Versuch, der zwar einige, aber nicht alle Bedingungen
erfüllte. Der Mißerfolg kann am Erfolg beobachten, welches Mehr an Voraussetzungen notwendig
gewesen wäre, um die Unterscheidung zu neutralisieren. Diese Beobachtung provoziert die Frage,
ob die so gefaßte Differenz zwischen Erfolg und Mißerfolg in irgendeiner Weise abzuarbeiten
ist; darum könnte man sich dann bemühen. Daraus resultiert als nächste Frage, ob es eine weitere
Gelegenheit geben wird, unter dann geänderten Bedingungen erneut miteinander zu konkurrieren.
Auch in jedem neuen Versuch entsteht wieder die Grenze zwischen Erfolg und Mißerfolg.
Immer wieder neu wird diese Grenze in den Bereich der Konditionen projiziert. Immer wieder
neu ergibt sich damit eine Differenz zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen des
Erfolgs. Und immer wieder neu provoziert diese Erfahrung den Versuch, die Grenze im Bedingungsgefüge zu verschieben, um beim nächsten Versuch erfolgreich zu sein. Nur unter der rationalistischen
Voraussetzung, daß die Unterscheidung zwischen Erfolg und Mißerfolg an nachvollziehbare
Bedingungen gebunden ist, daß sich also die Grenze zwischen Erfolg und Mißerfolg als Grenze
zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen rekonstruieren läßt, nur unter dieser
Voraussetzung entfaltet Konkurrenz ihre dynamischen Effekte.
Der Ökonom Friedrich August von Hayek hat die Unternehmer als Kundschafter bezeichnet,
die ständig auf der Suche nach ungenützten Gelegenheiten sind. Im gleichen Sinn spricht sein
Kollege Joseph A. Schumpeter von der Aufgabe des Unternehmers als von einer "schöpferischen
Zerstörung". In der gegenwärtigen Konkurrenz zwischen wirtschaftlichen Unternehmungen ist
die ständige Innovation zu einem absoluten Muß geworden. So formulieren zum Beispiel die
beiden Unternehmensberater Heinz W. Adams und Arnd Hardtke: "Ein Innovationsmanagement
beziehungsweise F&E-Management oder Technologie-Management ist die Basis für die
7) A.a.O.:217.
4
Zukunftssicherung der Unternehmen"8. Wie selbstverständlich wird dabei Innovation mit Forschung
und Entwicklung, also mit dem Einsatz von Technik gleichgesetzt.
Ständige technische Innovation ist das gegenwärtig wichtigste Instrument, um in der wirtschaftlichen
Konkurrenz mithalten zu können. Solange die Teilhabe am wirtschaftlichen Geschehen vor allem
über Konkurrenz vermittelt wird, so lange führt an chronischen Innovationen, also an dem
unablässigen Einsatz immer wieder neuer Techniken kein Weg vorbei. Nicht der Gegensatz
zwischen Lohnarbeit und Kapital dynamisiert die Wirtschaft - wie vor allem im 19. Jahrhundert
angenommen worden war -, sondern der ständige Innovationsdruck des Konkurrierens. Die
daraus resultierende wirtschaftliche Dynamik und die damit einhergehenden Risiken haben eben
deshalb kein empirisches Subjekt; sie emergieren vielmehr ohne jedes nachweisbare Wollen
als ein struktureller Effekt unserer Art des Wirtschaftens. Moralische Empörung bleibt
eigentümlich folgenlos, weil sich niemand ausfindig machen läßt, der das alles so gewollt hätte.
Wir sind Gefangene unserer Art von Freiheit. Wir sind eingespannt in den Partizipationsmechanismus - drastischer gesagt: in das Streckbett der Konkurrenz.
Die Frage nach den Möglichkeiten moralischer Urteile ist vor diesem Hintergrund neu zu stellen.
Bevor wir das versuchen, sollen Dynamik und Riskanz des Wirtschaftens aus einer ganz anderen
Perspektive beschrieben werden, aus der Sicht der Wirtschaft selbst, genauer: aus der Sicht
eines ihrer Teile, nämlich der Versicherung.
3. Grenzen der Versicherbarkeit - Ethik oder Marktregulierung? (Matthias Haller)
4. Passen Technik und Moral unter das Dach eines professionellen Ethos?
(Jürgen Markowitz)
Die eben gehörten Erfahrungen aus der Versicherungswirtschaft zeigen zweierlei Fakten besonders
deutlich auf: 1. Die Wahrscheinlichkeit vieler möglicher Schäden wird zwar immer geringer,
ihr Ausmaß jedoch steigt immer weiter an. Die Möglichkeiten der Wirtschaft, mit ihren Mitteln,
also mit Zahlungen (Schadenersatz) auf diese Entwicklung zu reagieren, sind - wie Matthias
Haller gezeigt hat - in manchen Bereichen bereits erschöpft. 2. Wenn wirklich beschlußfähige
Einheitender Wirtschaft - und das können letztlich nur einzelne Unternehmen sein - diesem Trend
dadurch vorzubeugen versuchen, daß sie ihre Zeichnungspraxis ändern, dann müssen sie damit
rechnen, daß andere Unternehmen an ihre Stelle treten. Dafür sorgt mit Sicherheit der Druck
der Konkurrenz.
Kann man auf diesen Befundmoralisch reagieren? Und hätte das - abgesehen von allgemeiner
Aufgeregtheit - nennenswerte Folgen? Wenn manEthik als dieReflexionswissenschaft, sozusagen
als die Beraterin der Moral ansieht (Luhmann), dann muß man es als eine Aufgabe der Ethik
betrachten, sich mit den eben formulierten Fragen auseinander zu setzen. Wozu kann sie im
8) Heinz W. Adams und Arnd Hardtke, Die Zeit als strategische Waffe für Sicherheit. In: Ders., Hg., Sicherheitsmanagement.
Die Organisation der Sicherheit im Unternehmen. Frankfurt 1990:375-392, hier:392.
5
Angesicht der riskanten Eigendynamik unseres Wirtschaftens raten?
Zunächst wohl nur dazu, die Emphase der Empörung zurückzustellen und einigen analytischen
Aufwand zu treiben. Man kann dann sehen, daß die öffentlich geführten Risiko-Dialoge merkwürdigerweise nicht den eigentlichen Problemzusammenhang thematisieren, sondern einzelne Komponenten daraus unter Anklage stellen, vor allem: "die Technik" und "das Management". Moralische
Urteile, die so ansetzen, schaffen sich damit die Möglichkeit, zurechenbare Akteure zu konstruieren:
die Techniker und die Manager. Damit geraten bestimmte Berufsgruppen an den Pranger. Solche
Konstruktionen sind äußerst fragwürdig; sie verstellen den Blick dafür, daß es nicht um bestimmte
Kompetenzen geht, sondern um die Art ihrer Verwendung. Vielleicht aber liegt in dieser
`Fehlkonstruktion' des öffentlichen raisonnements auch eine Chance.
Wir sind es gewohnt, zwischen Beruf und Profession zu unterscheiden. Der "Profi" hat eine
hoch qualifizierte, zumeist wissenschaftliche Berufsausbildung in formalisierten Studiengängen
mit genau festgelegter Qualifikation und kontrolliertem Zugang (Fachprüfungen). Zum "Profi"
gehören besondere Berufsverbände, die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet sind, daß sie einen
Kodex mit berufsethischen Normen ausbilden. Vor diesem Hintergrund beanspruchen "Profis"
ein höheres Prestige und ein höheres Einkommen als die Angehörigen `gewöhnlicher' Berufe.
Vielleicht gerät die Idee der Professionalisierung durch den Risiko-Dialog unter Änderungsdruck.
Vielleicht formt sich ein Ethos des Spezialisten, zu dessen Grundlagen es gehören müßte, neben
die Komponente derLeistungsorientierung jene andere derFolgenorientierung zu setzen. Wie
sich derartige Veränderungen vollziehen könnten, ist allerdings völlig offen. Man kann nichts
prognostizieren, sondern allenfalls versuchen, sich Szenarien vorzustellen: Angenommen, jemand
hat - vielleicht mit großem persönlichem und finanziellem Aufwand - eine vielversprechende
Entdeckung gemacht. Durch Auseinandersetzung mit der zuständigen Grundlagenforschung
weiß er allerdings auch, daß die Folgewirkungen seines neuen Produkts nicht sicher eingeschätzt,
daß beträchtliche Schäden nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden können. Angenommen, dieser Techniker wird von einer Ethikkommission als Sachverständiger geladen:
Ist es realistisch anzunehmen, er werde wegen der unbestimmbaren Folgen vom gewerblichen
Einsatz seines Produkts abraten? Oder spricht zumindest etwas für die These, wenn nicht er,
so doch zumindest sein Berufsverband werde - mit Verweis aufs Berufsethos - vor dem Einsatz
warnen? Diese Frage können Außenstehende nicht beantworten. Antwort kann nur von den
Menschen kommen, die in das Dilemma geraten, eine eigene Leistung dadurch entwerten zu
müssen, daß sie die Problematik der möglichen Schäden ernst nehmen.
Nach Moral werden in solchen Zusammenhängen zunächst und vor allem jene Mitmenschen
rufen, die keinen persönlichen Nachteil vom Verzicht auf den Einsatz einer problematischen
Technik haben. Das ist ziemlich einfach. Ganz allgemein kann man beobachten, daß Moral vor
allemdann ins Spiel gebracht wird, wenn es darum geht, nicht das eigene, sondern das Verhalten
anderer zu binden. Ethische Reflexion müßte das wohl berücksichtigen. Sie könnte die verschiedenen Professionen so darauf aufmerksam machen, daß ein Berufsethos in den öffentlichen
Auseinandersetzungen nur dann sinnvoll einzusetzen ist, wenn es nachprüfbare Selbstbindung
verheißt.
Ob es in Zukunft ganz ohne professionelles Ethos gehen wird, scheint fraglich. Ich jedenfalls
6
vermag mir nicht vorzustellen, daß Raketentechniker und Politiker so schnell noch einmal auf
die `Schnaps'-Idee kommen werden, an einem Ort wie Peenemünde den Geburtstag einer
Technologie feiern zu wollen, die unter dem Namen "V2" im Auftrag eines totalitären Staates
entwickelt worden ist und Tausenden von Menschen Tod und Elend eingebracht hat.
5.1. Konsequenzen für den Risiko-Dialog
Die Idee des moral commitment beruht auf der Erfahrung, daß es für die Entfaltungsmöglichkeiten
eines Menschen seit eh und je von großer Bedeutung war, ob seine Mitmenschen ihn mit Achtung
beschenkten oder mit Mißachtung straften. Mit der historischen Auflösung früherer ganzheitlicher
Lebensformen jedoch, also mit der funktionalen Differenzierung der Neuzeit, hat sich der Rahmen
grundlegend geändert, in dem moralisch kommuniziert werden kann. Menschen brauchen jetzt
nicht mehr damit zu rechnen, daß moralische Sanktionen aus einem speziellen Lebensbereich etwa aus dem Betrieb - auf alle anderen Lebensbereiche übertragen werden. Zudem: Was man
auf der Basis von Achtung nicht erreicht, weil man den Respekt seiner Mitmenschen womöglich
verspielt hat, das ist vielleicht durch Einsatz von Geld oder Macht doch noch zu realisieren.
Je mehr sich die Gesellschaft differenziert, je leistungsfähiger und damit auch anspruchsvoller
die großen Funktionssysteme werden, desto markanter zeigt sich, daß die Bedeutung der
Achtbarkeit hinter jener anderen der Machbarkeit verschwindet. Moralität wird durch Gesichtspunkte der Effektivität abgelöst. Moral ist oft nur noch ein strategischer Gesichtspunkt. Stichwort:
moral costs. Die zunehmend komplizierter werdenden Systeme präferieren immer eindeutiger
eine alles andere relativierende Orientierung an denfunktionalen Erfordernissen dieser Systeme.
Das alles sind Einsichten, die sich weder in den eingelebten Sprachspielen des Alltags noch
in denen unserer Historiker angemessen ausdrücken lassen. Den beginnenden Umschwung in
Orientierung und Semantik kennzeichnen vielleicht solche Klagen wie: `Es gibt keine großen
Männer mehr!' Offenbar artikuliert sich in diesem Diktum die frustrierende Erfahrung, daß die
Geschichte der großen Männer durch dieEvolution der autonomen Systeme abgelöst worden
ist9.
Damit stellt sich die drängende Frage, welche Konsequenzen aus dieser geänderten Sicht zu
ziehen sind. Nicht nur im Bereich der Moral, sondern auch in dem des gewöhnlichen Alltagsverstands ist man es gewohnt, sich am Konzept des Handelns zu orientieren. Wenn aber die
systemisch-evolutionäre Sicht zeigt, daß das Verhalten des je einzelnen Menschen von den großen
Sozialsystemenin je eigentümlicher Weise `aufgesogen' und eigendynamisch in einer Art verarbeitet
wird, die offenkundig keiner planenden Voraussicht folgt, was heißt das dann für die ethisch
grundlegende Idee der Verantwortung? Sind wir zum Fatalismus verurteilt?
Nach unserer Auffassung im Projekt Risiko-Dialog sind wir das nicht - jedenfalls dann nicht,
wenn wir uns darum bemühen, angemessen zu verstehen, wie die evoluierenden Systeme
9) Diese Formulierung vereinfacht sehr stark. Pedantischer gesprochen müßte man sagen, daß es sich immer um Evolution
gehandelt hat. Aber erst die Erfahrungen der Neuzeit machen zunehmend deutlich, daß das Deutungskonzept der Geschichte
nicht stimmt.
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funktionieren. Derartige Analysen zeigen, daß manche Strukturen sozialer Systeme deren Bestand
auf Dauer gefährden. Das gilt, wie eben angedeutet, vor allem für die heute übliche Art der
Konkurrenz. Aber wie reagiert man auf diesen Befund? Gibt es eine überzeugende Idee, wodurch
Konkurrenz ersetzt werden könnte?
Soweit wir sehen, nicht. Das verwundert uns allerdings auch nicht. Derart komplizierte Probleme
sind mit dem Instrument des Lösungsvorschlags nicht erfolgversprechend zu bearbeiten. Probleme
dieses Kalibers können sich - verkürzt gesagt - nur selber lösen. Ihre Lösung kann sich nur
auf dem Weg der sozio-kulturellen Evolution entwickeln10. Daran beteiligt - als deren grundlegende
Voraussetzung sind natürlich miteinander kommunizierende Menschen. Wohlgemerkt: wir sind
mit unseren kommunikativen Aktivitäten zwar die notwendigen Voraussetzungen, aber wir sind
nicht die Subjekte dieser Evolution. Wir partizipieren an der Evolution, aber wir dirigieren
sie nicht. Welche Konsequenzen für unser Verhalten - für die rationale Orientierung von Personen
ebenso wie von Organisationen - daraus zu ziehen sind, diese Frage steht im Zentrum unserer
Arbeit im Projekt Risiko-Dialog.
Die Ethik hat im Zusammenhang der Risiko-Entwicklung ihren vertrauten Adressaten - das
Subjekt - verloren. Sie muß sich deshalb umorientieren. Moralische Appelle sollten sich nicht
mehr nur an Entscheidungen der Menschen richten. Wir müssen sehen lernen, daß viel mehr
davon abhängt, welche Deutungen im gesellschaftlichen Leben vom gesellschaftlichen Leben
vorherrschen. Die Aufgabe der Ethik muß es sein, darüber zu informieren, daß die Unterscheidung
zwischen Gut und Schlecht nicht mehr nur auf das Handeln, sondern vor allem auf die Sichten
bezogen werden muß, mit denen wir uns unsere Welt erschließen.
5.2. Der Risiko-Dialog zwischen Erkenntnis und Umsetzung (Matthias Haller)
Erschienen in: In: Hans Ruh und Hansjörg Seiler, Hg., Gesellschaft - Ethik - Risiko. (Birkhäuser)
Basel, Boston, Berlin 1993:171-196.
10) Man sollte diese Einschätzung nicht als Anzeichen einer Art evolutionären Gottvertrauens ansehen. Ob die Evolution
sozialer Systeme das Problem der Konkurrenz lösen wird, ist völlig offen. Aber alle anderen Lösungsvorstellungen sind mit
noch viel mehr Unbestimmtheit behaftet.
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