Willi Brase MdB, DGB-Regionsvorsitzender Südwestfalen Wolfgang Hellmich, Geschäftsführer Ruhr- SPD Für eine soziale und ökologische Industriepolitik Die Grundlagen unseres Wohlstandes müssen ausdauernd gefestigt werden, wenn wir unser Sozialsystem erhalten und sinnvoll ausbauen wollen. Dabei spielt die industrielle Basis eine herausragende Rolle. Die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise durch die im Wesentlichen von Sozialdemokraten entwickelten Maßnahmen (Kurzarbeit, Konjunkturpakete, usw.) hat Schlimmeres verhindert. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat aber auch gezeigt, dass die industriellen Kerne im Zuge internationaler Konkurrenz krisenanfälliger geworden sind. Die Aufwärtstendenzen des Jahres 2010 haben sich nicht im Aufbau von Arbeitsplätzen in der gewerblichen Wirtschaft (-140000), sondern im Dienstleistungsbereich, vor allem bei minderentlohnten Arbeitsplätzen (+330000) niedergeschlagen. Die strukturelle Schwäche der bundesdeutschen Industriestruktur macht sich daran fest, dass die Produktion in der Informationstechnologie fast ohne ihre Beteiligung in Deutschland stattfindet. Viele Konzerne zehren eher von ihrer früheren Stellung; und ohne den Nachfrageboom für Autos und Maschinen in sogenannten Schwellenländern (Indien, Brasilien etc.) hätte die industrielle Produktion in Deutschland weitere Einbußen erlitten. Es wurde deutlich: Die Politik der entfesselten Marktkräfte, der Dominanz des kurzfristigen Gewinnansatzes und der kurzfristigen Renditeorientierung hat versagt. Das maßlose Gewinnstreben muss begrenzt, die dienende Funktion der Banken für die Realwirtschaft durch Regulierung wieder hergestellt und der Markt durch einen Ordnungsrahmen auf das gesellschaftliche Wohl verpflichtet werden. Die bisherigen Perspektiven unternehmerischen Handelns mit Kostensenkungsund Restrukturierungsprogrammen sowie Leistungsverdichtung und Zunahme prekärer Beschäftigung (z. B. Leiharbeiter als industrielle Reservearmee) haben das Land nicht nur nicht weiter gebracht, sondern die soziale Spaltung der Gesellschaft verstärkt. Der Markt muss klare Rahmenbedingungen haben, die Politik muss diese auch gegen großen Widerstand durchsetzen. Das bedeutet allerdings keine staatliche Alleinzuständigkeit für die Wirtschaftsentwicklung. Die Geschichte zeigt ja, dass eine solche Alleinzuständigkeit eher das Gegenteil von positiver wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung ist. Aber die zunehmenden Eingriffe z.B. durch Kartelle und Verträge zwischen Staaten zur Sicherung der Rohstofflieferungen machen deutlich, dass wachsende Teile von wirtschaftlichem Handeln nicht über das Marktgeschehen gestaltet werden. 1 Die Kreativität, die aus dem Wettbewerb zwischen Unternehmen um bessere Produkte und Lösungen im Rahmen des gesellschaftlich Gewollten entstehen kann, ist die Grundlage für die Dynamik der Wirtschaft und sollte gefördert werden. Die deutsche Umweltindustrie ist das Beispiel für erfolgreiche Industriepolitik im Interesse einer auch politisch gewollten und im gesellschaftlichen Konsens organisierten Politik. Aktive Industriepolitik ist erforderlich, um die Soziale Marktwirtschaft wieder herzustellen. „Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft stellt einen produktiven Kompromiss zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialem Ausgleich dar. Als ‚sozial‘ gilt sie, weil sie auf Dauer einen sozial gerechten Ausgleich und die Beteiligung und Teilhabe eines jeden Menschen – auch des NichtErwerbstätigen – nach seinem Vermögen an dem gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben zum Ziel hat. Gleichzeitig wird die Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen in die gemeinsame Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestellt. Wesentlich für das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft ist, dass wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Ausgleich als gleichrangige Ziele und jeweils der eine Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des anderen begriffen werden.“ (Gemeinsames Wort der beiden großen Kirchen ... Februar 1997, Seite 58.) Nachhaltige Industriepolitik hat eine ökologische und soziale Komponente. Nachhaltig ist auch eine Entwicklung, die den Bedürfnissen einer ganzen Generation über ihren gesamten Lebens- und Erwerbsverlauf entspricht. Soziale Nachhaltigkeit in der Industriepolitik ist der Zusammenhang zwischen guter Arbeit und wirtschaftlicher Effizienz. Das Geheimnis der Wettbewerbsstärke der deutschen Industrie liegt in der innovativen Zusammenarbeit von IngenieurInnen mit gut ausgebildeten FacharbeiterInnen bzw. aller im Betrieb Beschäftigten. Hier ist ein deutliches Gefälle in den Sektoren der Wirtschaft zu sehen: Die Kompetenz zur strategischen Unternehmensplanung, zur Produktentwicklung und zur Entwicklung der qualifizierten Beschäftigten, also auch zur Entwicklung des Faktors Arbeit ist deutlich unterschiedlich entwickelt und von der ökonomischen Stärke abhängig. Wir brauchen eine aktive und nachhaltige Industriepolitik, die den industriellen Kern seiner Wirtschaft stärkt, die Innovationsfähigkeit fördert und die gesamte wirtschaftliche Entwicklung unterstützt. Eine Reduktion auf die Gestaltung des Rahmens wirtschaftlichen Wettbewerbs oder die Organisation von verwertbaren Ressourcen, z.B. über die Bildungspolitik, ist nicht zielführend im Sinne einer nachhaltigen Politik. Eine aktive Industriepolitik bedeutet, den Strukturwandel zu gestalten. Es ist mehr, als sich nur auf Forschung und Entwicklung sowie auf die Schaffung infrastruktureller Voraussetzungen zu konzentrieren. Es geht auch darum, Produktionsstandorte aufzubauen und Standorten, die Produktion verlieren, 2 mit regionalpolitischen Instrumenten unter die Arme zu greifen, damit regional Arbeit und Einkommen gesichert wird: • Betriebe bei der Produktionsumstellung zu unterstützen; • Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausbauen; • Beschäftigte umfassend zu qualifizieren; • Die Förderung regionaler Netzwerke und Cluster zur industriellen Schwerpunktsetzung ist weiter voran zu treiben; • mit den Branchenakteuren erarbeiten; • verlässliche Rahmenbedingungen für Unternehmen durch Wirtschafts, Steuer- und Handelspolitik schaffen; • die wissensbasierte Entwicklung von Produkten und Produktionsverfahren branchenübergreifend unter Einbeziehung des Qualifikationsniveaus im Arbeitsmarkt zu stärken. zukünftige Alternativszenarien zu Anders ausgedrückt: Wir brauchen eine nachhaltige Industriepolitik statt unregulierte Märkte. Der dauernd stattfindende Strukturwandel ist offensiv anzugehen. Ökonomische Effizienz, soziale Balance, effiziente Nutzung und Schonung der natürlichen Ressourcen sind Eckpunkte einer solchen Strategie. Mit einer ökologischen Modernisierung der Industrie gestalten wir heute die Arbeits- und Lebensperspektiven zukünftiger Generationen. Umfassende demokratische – gesellschaftliche Beteiligungsrechte müssen geschaffen werden. Strategisch relevante Unternehmensentscheidungen müssen stärker als bisher Gegenstand betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmung werden. Die Durchsetzung einer Nachhaltigkeitsorientierung in der Unternehmenspolitik muss durch staatliche Rahmensetzung befördert werden. Dies ist Kern einer in Europa zu praktizierenden Industriepolitik. Die Strategie „besser statt billiger“ in einer modernen Industriegesellschaft mit hochwertigen Produkten und Dienstleistungen fordert zwingend gute Arbeit umfassend durchzusetzen. Wir brauchen keine industrielle Reservearmee durch Leiharbeit und ungeschützte Arbeitsverhältnisse. Die Ausuferung der prekären Arbeitsverhältnisse torpediert das Ziel einer notwendigen industriepolitischen Neuorientierung. Sie untergräbt die hohe Qualifikationsbasis, schwächt die Innovationsfähigkeit der Industrie und verhindert die gerechte Verteilung des wirtschaftlichen Wohlstandes. Mit der Vollendung des europäischen Binnenmarktes ist auch eine koordinierte Industriepolitik in Europa notwendig. Sie muss dazu dienen, die industrielle Kernkompetenz und die Wachstumsbasis zu erhalten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, die Bedeutung industrieller 3 Wertschöpfung und die Schaffung guter Arbeit müssen sich endlich in der Arbeit der EU-Kommission niederschlagen. Der Ausbau der Mitbestimmung in Europa bedarf des koordinierten Vorgehens der politischen Kräfte in dem Maße, wie europäische Regelungen keine nationalen Wettbewerbsnachteile erzeugen dürfen. Die einseitigen Deregulierungsund Liberalisierungsaktivitäten vernichten industrielle Perspektiven und führen zu Arbeitslosigkeit und weiterer Prekarisierung von Arbeit. Wir brauchen in Nordrhein-Westfalen verlässliche infrastrukturelle Entscheidungen in den Bereichen der Schiene, der Straße, der Binnenschifffahrt und Luftfahrt, der Informationsund Kommunikationstechnologie sowie ausreichende Industrieund Gewerbeflächen im Sinne einer vorausschauenden kommunalen und regionalen Strukturpolitik. Ebenso wichtig ist die Weiterentwicklung der Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungspolitik. Die Berufskollegs im Lande NRW müssen wohnortund ausbildungsplatznah Qualifikationen im gewerblich-technischen Bereich anbieten. Eine Heranführung an die gewerblich-technische Arbeitswelt bereits im vorschulischen Bereich ist sinnvoll. Der Erhalt der Qualifikation und der Beschäftigungsfähigkeit der ArbeitnehmerInnen ist für die Entwicklung industrieller Stärke von zentraler Bedeutung. Qualifizierung, gesunde Arbeitsbedingungen sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz müssen weiterentwickelt werden. Arbeitswelten sind primär Menschenwelten. Ihre Gestaltung ist daher in erster Linie an menschlichen Bedürfnissen, Urteilen und Ansprüchen zu messen. Eine Neubestimmung des Humanisierungsbegriffs zielt perspektivisch auch auf die Vermeidung von Sozial- und Gesundheitskosten ab. Die regional verfügbaren Kompetenzen einschließlich der Medizintechnik können in Kompetenznetzwerken zusammengeführt und in einer Humanisierungsdiskussion nutzbar gemacht werden. Dies betrifft in gleichem Maße z.B. die personenorientierten Dienstleistungen in den Gesundheitsberufen und in der Pflege. Die Durchsetzung einer nachhaltigen Industriepolitik kann nur im gesellschaftlichen Dialog stattfinden. Konfrontation führt zur Blockade und treibt die Unternehmen mit ihren Standortentscheidungen möglicherweise in andere Länder. Ein gesellschaftlicher Dialog über Ziele und Wege nachhaltiger Entwicklung in unserem Bundesland muss organisiert werden. Dies bedeutet nicht, die politische Verantwortung für Planungsprozesse und die Verlässlichkeit demokratisch legitimierter Entscheidungen durch den jeder Zeit möglichen Einwurf von Einzelinteressen torpedieren zu können. Eine Demokratisierung von Planungsprozessen erfordert Veränderungen vor dem verlässlichen Abschluss dieser Prozesse in annehmbarer Zeit. Industriepolitik muss für alle Akteure verlässlich sein. Die Zukunft z. B. der Kohlekraftwerke, eines Sockelbergbaus und des Braunkohleabbaus in NRW ist dialog- und lösungsorientiert zu gestalten. 4 Ein sozial-ökologischer Umbau der immer stärker wissensbasiert organisierten Industriegesellschaft NRW kann nur gelingen, wenn ein gemeinsames Handeln von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft erfolgt. Die Wissenschaft und die Forschung können Strategien und Konzepte für eine solche Entwicklung erarbeiten. Dem dichten regional verankerten Netzwerk von Einrichtungen wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung kommt die Aufgabe zu, zum Akteur von Industriepolitik zu werden. Regionale Forschungsaktivitäten, Unternehmen und qualifizierte ArbeitnehmerInnen müssen auf Zukunftsfelder der Industrieentwicklung zusammengeführt und auf die Herstellung von Marktfähigkeit von Produkten, Produktionsweisen und Dienstleistungen ausgerichtet werden. In Zukunftsfeldern können knappe Ressourcen sinnvoll konzentriert werden. Hier kann der Anteil strategischer Innovationen von Unternehmen und unternehmensnahen Dienstleistungen deutlich erhöht werden. So müssen neue Märkte frühzeitig in den Blick genommen werden. Das vorhandene Prognoseinstrumentarium der Marktforschung sowie die Abschätzung gesellschaftlich gewünschter Entwicklungen, z.B. unter dem Leitziel der Nachhaltigkeit, können mit staatlicher Hilfe zusammengeführt werden. Mit der Orientierung auf eine nachhaltige Industriepolitik in der Region werden/wird Bereiche der Entsorgungswirtschaft wie der Wiedernutzbarmachung von verwendeten Ressourcen, z.B. Urban Remining, und die Recyclingtechnik neue Perspektiven bekommen; die Vorreiter strategischer Innovationen in der chemischen Industrie, der E-Technik, der Mess-, Steuerund Regelungstechnik, des Maschinenbaus und des Anlagebaus in regionalen Wertschöpfungsketten vernetzt; der regionalen und lokalen Wirtschaftsförderung eine neue Richtung gegeben. Eine notwendigerweise zu erneuernde Innovationskultur der Unternehmen findet in einer innovationsorientierten regionalen Clusterpolitik ihr Pendant; Produktinnovationen auch regional herstellbar, z.B. bei der EMobilität, alternativen Antriebstechniken; schnelle Datennetze zur Verfügung gestellt – dieses betrifft ebenso die Sicherung der Verkehrsinfrastruktur über die Schiene. Eine regional und ökologisch orientierte Industriepolitik muss die Barrieren des Markteintrittes in den Blick nehmen. Hohe bürokratische Anforderungen aber auch hohe Investitionskosten hindern oft am Eintritt in das Marktgeschehen. Forschungsförderung sollte sich auf Ressourceneffizienz konzentrieren. Nanotechnologie und Green Chemistry, Bionik und Oberflächentechnik gehören hier ebenso dazu wie Qualifikationsprozesse und die Förderung von Verbundwerkstoffen. Neben staatlichen Marktanreizprogrammen ist ein regional verantwortetes Finanzierungssystem notwendig. Die Sparkassen und Volksbanken könnten in einer regionalen Ausrichtung eine neue Bedeutung bekommen. 5 Die SPD in der Region Westliches Westfalen wird die politische Aufgabe angehen, Motor einer regionalen Diskussion über eine Neuorientierung der Industriepolitik zu sein und die Ergebnisse in die Landes-, Bundesund Europapolitik zu tragen. Eine die Grenzen und Zuständigkeiten von staatlichen Institutionen übergreifende Diskussion ist gerade in der Region WW mit den Einzugsbereichen im Münsterland, im Ruhrgebiet und Südwestfalen gut führbar, entspricht dies doch eher den strukturellen Verflechtungen als die Kleinteiligkeit staatlichen Verwaltungshandelns. Erste Handlungsschritte könnten sein: - - - - Das Planungsrecht sollte den neuen Erfordernissen angepasst werden, um direkter, aber auch schneller die Akzeptanz notwendiger Infrastrukturmaßnahmen zu sichern. Dieses ist sicherlich Aufgabe der Landesregierung und der Landtagsfraktion im Benehmen mit den Bezirksregierungen und den Regionalräten. Der gesellschaftliche Dialog über die Weiterentwicklung der wissensbasierten Industrieproduktion im Lande muss durch die Landesregierung, Landtagsfraktion und den Regionen der SPD begleitet werden. Die Weiterentwicklung der betrieblichen Mitbestimmung ist sicherlich mit der SPD-Bundestagsfraktion zu debattieren. Das Projekt Gute Arbeit ist umfassend weiter voranzutreiben. Dabei spielt der Arbeits- und Gesundheitsschutz auch im Sinne der Humanisierung der Arbeitswelt eine wichtige Rolle. Entsprechende Aktivitäten der Landesregierung sind zu unterstützen, die Bezirksregierungen bei der Weiterentwicklung zu beteiligen. Die Förderung strukturschwacher und vom Strukturwandel besonders benachteiligter Regionen darf nicht aus den Augen verloren werden. Die Korrektur der Zielstellungen der EFRE-Mittel ist dabei ebenso wichtig wie eine entsprechende Neuaufstellung der zukünftigen europäischen Programme im Sinne einer nachhaltigen ökologischen und sozialen Industriepolitik. Vorgelegt und diskutiert beim Gewerkschaftsrat der SPD Region Westliches Westfalen am 7. Februar 2011 6