Theoretische Physik I: Mechanik Matthias Bartelmann Institut für Theoretische Astrophysik Universität Heidelberg ii Inhaltsverzeichnis 1 2 Newtonsche Axiome 1 1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.3 Bahnkurven, Geschwindigkeit und Beschleunigung . . 4 1.4 Newtonsche Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.5 Eindimensionale Bewegung . . . . . . . . . . . . . . 7 1.5.1 Freier Fall aus geringer Höhe . . . . . . . . . 7 1.5.2 Fall aus geringer Höhe mit Stokes’scher Reibung 8 1.5.3 Fall aus geringer Höhe mit Luftwiderstand . . 9 1.5.4 Freier Fall aus großer Höhe . . . . . . . . . . 11 Schwingungen 15 2.1 Freie Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.2 Gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2.1 Schwache Dämpfung . . . . . . . . . . . . . . 18 2.2.2 Starke Dämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2.3 Kritische Dämpfung . . . . . . . . . . . . . . 19 Erzwungene Schwingungen, Resonanz . . . . . . . . . 20 2.3.1 Allgemeine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.3.2 Resonanz und Halbwertsbreite . . . . . . . . . 22 2.3.3 Grenzfall schwacher Dämpfung . . . . . . . . 23 2.3.4 Beispiel: Die natürliche Breite von Spektrallinien 24 2.3 3 Drehimpuls und Energie 27 iii iv INHALTSVERZEICHNIS 3.1 3.2 3.3 3.4 4 27 3.1.1 Bahnkurve, Tangential- und Normalvektoren . 27 3.1.2 Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.1.3 Tangential- und Normalkomponenten . . . . . 29 Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.2.1 Drehmoment und Drehimpuls . . . . . . . . . 29 3.2.2 Wechsel des Bezugssystems . . . . . . . . . . 30 Energiesatz für einen Massenpunkt . . . . . . . . . . . 31 3.3.1 Energiesatz in einer Dimension . . . . . . . . 31 3.3.2 Energiesatz in drei Dimensionen . . . . . . . . 33 3.3.3 Wann sind Kräfte Potentialkräfte? . . . . . . . 35 Beispiel: Bewegung in konstantem Schwerefeld . . . . 37 Bewegung unter dem Einfluss einer Zentralkraft 39 4.1 Allgemeine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.2 Das Keplerproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4.2.1 Arten der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . 41 4.2.2 Form der Bahnen . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.2.3 Kreisbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2.4 Ellipsenbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2.5 Parabel- und Hyperbelbahnen . . . . . . . . . 45 4.2.6 Der Laplace-Lenz-Runge-Vektor . . . . . . . . 45 Mechanische Ähnlichkeit und der Virialsatz . . . . . . 46 4.3.1 Mechanische Ähnlichkeit . . . . . . . . . . . . 46 4.3.2 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.3.3 Der Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.3 5 Kinematik in drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . Mechanik eines Systems von Massenpunkten 49 5.1 Bewegung des Schwerpunkts . . . . . . . . . . . . . . 49 5.2 Drehimpuls und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5.2.1 53 Beipiel: Das Zweikörperproblem . . . . . . . . INHALTSVERZEICHNIS 5.3 5.4 6 Elastischer Stoß zwischen zwei Teilchen . . . . . . . . 54 5.3.1 Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5.3.2 Transformation der Streuwinkel . . . . . . . . 55 5.3.3 Beispiel: Energieübertrag bei elastischer Streuung 56 Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.4.1 Streuwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.4.2 Streuquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.4.3 Streuung unter kleinen Winkeln . . . . . . . . 58 Systeme mit Nebenbedingungen 61 6.1 61 Das d’Alembertsche Prinzip . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Nebenbedingungen und verallgemeinerte Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 6.1.2 Zwangskräfte und Prinzip der virtuellen Arbeit 63 6.1.3 Allgemeine Formulierung des d’Alembertschen Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 d’Alemberts Prinzip im dynamischen Fall . . . 65 Lagrange-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 6.2.1 Lagrange-Gleichungen erster Art . . . . . . . 66 6.2.2 Lagrange-Gleichungen zweiter Art . . . . . . . 68 6.2.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 6.1.4 6.2 7 v Extremalprinzipien 71 7.1 Hamiltons Prinzip der stationären Wirkung . . . . . . 71 7.1.1 Beispiel: Das Fermatsche Prinzip . . . . . . . 71 7.1.2 Hamiltons Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . 72 Hamilton-Funktion und kanonische Gleichungen . . . 74 7.2.1 Die kanonischen Gleichungen . . . . . . . . . 74 7.2.2 Hamilton-Funktion und Energie . . . . . . . . 76 7.2.3 Kanonische Gleichungen aus dem Wirkungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Die Routhsche Funktion . . . . . . . . . . . . 78 7.2 7.2.4 vi 8 INHALTSVERZEICHNIS Kräfte in bewegten Bezugssystemen 81 8.1 81 Koordinatentransformationen . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 8.2 8.3 8.4 9 Zusammenhang zwischen kartesischen Koordinatensystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 8.1.2 Eigenschaften orthogonaler Matrizen . . . . . 82 8.1.3 Transformation des Ortsvektors . . . . . . . . 82 Zeitabhängige Transformationen . . . . . . . . . . . . 83 8.2.1 Winkelgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . 83 8.2.2 ~ . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung von ω 85 8.2.3 Infinitesimale Transformationen . . . . . . . . 85 Bewegung auf der rotierenden Erde . . . . . . . . . . 86 8.3.1 Scheinkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 8.3.2 Zur Corioliskraft . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Das reduzierte Dreikörperproblem . . . . . . . . . . . 88 Bewegung starrer Körper 91 9.1 Die Euler-Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 9.2 Trägheitstensor und Drehimpuls . . . . . . . . . . . . 93 9.2.1 Der Trägheitstensor . . . . . . . . . . . . . . . 93 9.2.2 Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Eulersche Gleichungen und der kräftefreie Kreisel . . . 98 9.3.1 Eulersche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . 98 9.3.2 Der kräftefreie Kreisel . . . . . . . . . . . . . 98 9.3.3 Kreisel im Schwerefeld . . . . . . . . . . . . . 101 9.3 10 Kleine Schwingungen um eine Ruhelage 103 10.1 Lagrange-Funktion und Bewegungsgleichungen . . . . 103 10.1.1 Kinetische und potentielle Energie . . . . . . . 103 10.1.2 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . 105 10.2 Normalkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 10.2.1 Transformation auf Normalkoordinaten . . . . 105 INHALTSVERZEICHNIS 10.2.2 Bestimmung der Normalkoordinaten . . . . . . vii 107 10.2.3 Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 10.2.4 Beispiel: Gekoppelte Pendel . . . . . . . . . . 109 10.3 Schwingungen eines linearen, dreiatomigen Moleküls . 110 10.3.1 Lagrange-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . 110 10.3.2 Normalkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . 11 Mechanik kontinuierlicher Medien 111 113 11.1 Lineare Kette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 11.1.1 Grenzübergang zum Kontinuierlichen . . . . . 113 11.1.2 Ableitung der Bewegungsgleichungen aus dem Lagrange-Funktional . . . . . . . . . . . . . . 115 11.1.3 Die d’Alembertsche Gleichung . . . . . . . . . 116 11.2 Schwingende Saite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 11.3 Schwingende Membran . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Symmetrien und Erhaltungssätze 121 123 12.1 Galilei-Invarianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 12.2 Noether-Theoreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 12.3 Elemente relativistischer Mechanik . . . . . . . . . . . 128 12.3.1 Die spezielle Lorentztransformation . . . . . . 128 12.3.2 Eigenschaften des Minkowski-Raums . . . . . 130 12.3.3 Vierergeschwindigkeit und Viererimpuls . . . . 132 12.3.4 Zur Äquivalenz von Masse und Energie . . . . 134 13 Analytische Mechanik 135 13.1 Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . 135 13.1.1 Bahnen im erweiterten Phasenraum . . . . . . 135 13.1.2 Transformationen der Koordinaten . . . . . . . 137 13.1.3 Kanonische Transformationen . . . . . . . . . 138 13.2 Hamilton-Jacobi-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . 139 13.2.1 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung . . . . . . . . 139 viii INHALTSVERZEICHNIS 13.2.2 Harmonischer Oszillator . . . . . . . . . . . . 140 13.2.3 Bewegung des freien Massenpunkts . . . . . . 141 13.2.4 Lösung der Hamilton-Jacobi-Gleichung . . . . 143 13.3 Liouvillescher Satz, Poisson-Klammern . . . . . . . . 144 13.3.1 Der Liouvillesche Satz . . . . . . . . . . . . . 144 13.3.2 Poisson-Klammern . . . . . . . . . . . . . . . 144 14 Stabilität und Chaos 147 14.1 Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 14.1.1 Bewegung in der Nähe des Gleichgewichts . . 147 14.1.2 Definitionen und Sätze zur Stabilität . . . . . . 150 14.1.3 Hamiltonsche Systeme . . . . . . . . . . . . . 151 14.1.4 Attraktoren; die van-der-Polsche Gleichung . . 153 14.2 Chaos in der Himmelsmechanik . . . . . . . . . . . . 154 14.2.1 Beispiel: Saturnmond Hyperion . . . . . . . . 154 14.2.2 Chaotisches Taumeln auf der Ellipsenbahn . . 156 Kapitel 1 Newtonsche Axiome 1.1 Einführung • Physik ist eine Erfahrungswissenschaft; theoretische Physik sucht die Einheit hinter der Vielfalt, die möglichst fundamentalen Gesetze, die der Vielfalt der Erfahrungstatsachen zugrunde liegen; diese Gesetze müssen prüfbare Vorhersagen erlauben Galileo Galilei • physikalischen Gesetzen liegen notwendiger Weise Idealisierungen zugrunde, weil wesentliche von unwesentlichen Eigenschaften physikalischer Systeme unterschieden werden müssen • theoretische Mechanik beschreibt die Gesetze, nach denen sich Körper im Raum unter dem Einfluss von Kräften mit der Zeit bewegen; sie führt zu Begriffen und Methoden, die sich durch die gesamte theoretische Physik ziehen und vor allem für die Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie außerordentlich fruchtbar waren Isaac Newton • geschichtliche Entwicklung: Galileo Galileis Fallversuche, Tycho Brahes Messungen der Marsbahn und deren gesetzmäßiger Zusammenfassung durch Johannes Kepler, Isaac Newtons Axiomen und seiner Erklärung der Keplerschen Gesetze durch das Gravitationsgesetz; weitere für die Entwicklung wichtige Personen sind Joseph Lagrange, Leonhard Euler, d’Alembert, Hamilton, Emmy Noether • „Vierheit“ der Objekte in der Mechanik: Körper, Kräfte, Raum, Zeit; moderne Vereinheitlichung setzt fundamental an dieser Stelle ein • Körper: idealisiert als Massenpunkte bestimmter Masse; Ausdehnung sehr klein gegenüber den Dimensionen des gesamten betrachteten Systems; „klein“ oder „groß“ sind höchst relative Begriffe; 1 2 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME System aus vielen Massenpunkten bewegt sich im Ganzen so, als würden die äußeren Kräfte am Schwerpunkt angreifen; fester Körper wird als System von Massenpunkten aufgefasst, deren Abstände untereinander konstant sind • Kräfte: Ursachen der Bewegung, mathematisch genauer zu definieren; in der klassischen Mechanik wird angenommen, dass Kräfte instantan wirken, d.h. mit unendlicher Ausbreitungsgeschwindigkeit • Raum: die Lage von Körpern im dreidimensionalen Raum hat keinen absoluten Sinn, sondern muss relativ zu anderen Körpern, den Bezugssystemen, angegeben werden; der physikalische Raum ist ein reeller, dreidimensionaler Vektorraum; die momentane Lage eines Massenpunkts wird durch einen Ortsvektor ~x angegeben; seine Bahnkurve ~x(t) beschreibt, wie sich sein Ort zeitlich ändert Bahnkurve in einem kartesischen Koordinatensystem • im Allgemeinen kann der Ursprung des Bezugssystems beliebig gewählt werden (Homogenität), seine Achsen können beliebig orientiert werden (Isotropie); als Bezugssysteme werden üblicher Weise kartesische Koordinatensysteme gewählt • Zeit: spielt in der klassischen Mechanik die Rolle eines unabhängigen Ordnungsparameters; der Nullpunkt der Zeit ist im Allgemeinen frei wählbar (Homogenität der Zeit) • in der klassischen Mechanik sind Raum und Zeit unabhängig von der Existenz von Körpern und ihrer Bewegung relativ zueinander, sie sind in diesem Sinne absolut 1.2 Vektoren • um die Lage eines Körpers im dreidimensionalen Raum anzugeben, sind drei reelle Parameter nötig, diese bilden reelle Zahlentripel; diese Zahlentripel können addiert und mit reellen Zahlen multipliziert werden, damit hat der physikalische Raum die Struktur eines dreidimensionalen euklidischen Vektorraums; dieser euklidische Vektorraum ist affin (d.h. man kommt auf eindeutige Weise von einem Punkt zu einem anderen) • durch Angabe eines Koordinatenursprungs und eines Bezugssystems werden die Zahlentripel eindeutig; in der Regel werden kartesische Bezugssysteme gewählt, die aus drei orthogonalen Achsen bestehen; diese Achsen werden „rechtsdrehend“ orientiert • Addition und Subtraktion: Vektoren werden komponentenweise addiert und subtrahiert: ~a + ~b = (ai )+(bi ) = (ai +bi ) , ~a − ~b = (ai )−(bi ) = (ai −bi ) (1.1) 1.2. VEKTOREN 3 • Inneres Produkt zweier Vektoren: Das innere Produkt (Skalarprodukt) zweier Vektoren wird definiert als ~a · ~b = 3 X ai bi (1.2) i=1 Das innere Produkt eines Vektors mit sich selbst ist offenbar positiv semidefinit, 3 X ~a · ~a = ~a2 = a2i ≥ 0 (1.3) i=1 der Betrag eines Vektors ist |~a| = √ ~a2 (1.4) das innere Produkt zweier Vektoren ist proportional zum Cosinus des Winkels φ zwischen den beiden Vektoren, ~a · ~b = |~a||~b| cos φ (1.5) es verschwindet also, wenn die Vektoren senkrecht aufeinander stehen, ~a ⊥ ~b ⇒ ~a · ~b = 0 (1.6) • Äußeres Produkt zweier Vektoren: Das äußere Produkt (Kreuzprodukt, Vektorprodukt) zweier Vektoren wird definiert als der Vektor ~a × ~b = (a2 b3 − a3 b2 , a3 b1 − a1 b3 , a1 b2 − a2 b1 ) (1.7) das äußere Produkt zweier Vektoren steht senkrecht auf beiden Vektoren, ~a · (~a × ~b) = 0 = ~b · (~a × ~b) (1.8) sein Betrag ist proportional zum Sinus des Zwischenwinkels φ, |~a × ~b| = |~a||~b| sin φ (1.9) es verschwindet also, wenn die Vektoren parallel oder antiparallel zueinander sind, ~a k ±~b ⇒ ~a × ~b = 0 (1.10) das äußere Produkt zweier Vektoren ~a und ~b ist gleich dem Flächeninhalt des Parallelogramms, das durch ~a und ~b aufgespannt wird • Einsteinsche Summenkonvention: Zur Vereinfachung der Schreibweise wird verabredet, dass über doppelt auftretende Indices summiert wird, 3 X ai bi := ai bi (1.11) i=1 Kreuzprodukt zweier Vektoren und Flächeninhalt des aufgespannten Parallelogramms 4 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME • Kronecker-Symbol: es erweist sich als sehr nützlich, folgendes Symbol einzuführen: ( 1 i= j δi j = (1.12) 0 i, j wegen der Summenkonvention gilt dann z.B. ai = δi j b j (1.13) • Levi-Civita-Symbol: viele Rechnungen werden erheblich vereinfacht durch das vollkommen antisymmetrische Levi-Civita-Symbol i jk , das definiert wird durch 123 = 231 = 312 = 1 132 = 213 = 321 = −1 i jk = 0 sonst (1.14) d.h. i jk = 1 für alle geraden Permutationen von {1, 2, 3}, i jk = −1 für alle ungeraden Permutationen von {1, 2, 3}, und i jk = 0 wenn mindestens zwei der Indices gleich sind • damit lässt sich das äußere Produkt zweier Vektoren schreiben als ~a × ~b = (i jk a j bk ) (1.15) folgende Identität erweist sich als sehr nützlich: i jk klm = δil δ jm − δim δ jl (1.16) die Determinante einer 3 × 3-Matrix mit den Zeilenvektoren ~a, ~b und ~c lässt sich schreiben als a1 a2 a3 b1 b2 b3 = ~a · (~b × ~c) = i jk ai b j ck (1.17) c1 c2 c3 • vektorwertige Funktionen f~(~x) werden komponentenweise differenziert, ! ∂ f~(~x) ∂ f1 (~x) ∂ f2 (~x) ∂ f3 (~x) = , , (1.18) ∂xi ∂xi ∂xi ∂xi 1.3 Bahnkurven, Geschwindigkeit und Beschleunigung • Der Ortsvektor ~x eines Massenpunkts ändert sich im Allgemeinen mit der Zeit t, ~x = ~x(t). Die zwischen zwei Zeiten t1 und t2 > t1 durchlaufenen Punkte ~x(t) bilden die Bahnkurve des Massenpunkts. Beispiele: 1.4. NEWTONSCHE AXIOME 5 – Kreisbahn in der x1 -x2 -Ebene, Radius r: ~x(t) = [r cos φ(t), r sin φ(t), 0] (1.19) – Spiralbahn längs der x3 -Achse, Radius r: ~x(t) = [r cos φ(t), r sin φ(t), x3 (t)] (1.20) • Die Geschwindigkeit ist die Ableitung des Ortes nach der Zeit, d~x(t) ~v(t) = ~x˙(t) = dt (1.21) Bewegung auf einer Kreisbahn Beispiele: – Kreisbahn wie oben: ~v(t) = [−rφ̇ sin φ(t), rφ̇ cos φ(t), 0] – Spiralbahn wie oben: ~v(t) = [−rφ̇ sin φ(t), rφ̇ cos φ(t), ẋ3 (t)] • Die Beschleunigung ist die Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit, d2 ~x(t) d~v(t) ¨ ~a(t) = ~v˙(t) = = ~x(t) = (1.22) dt dt2 Beispiele: – Kreisbahn wie oben: ~a(t) = [−rφ̈ sin φ(t)−rφ̇2 cos φ(t), rφ̈ cos φ(t)− rφ̇2 sin φ(t), 0] – Spiralbahn wie oben: ~a(t) = [−rφ̈ sin φ(t)−rφ̇2 cos φ(t), rφ̈ cos φ(t)− rφ̇2 sin φ(t), ẍ3 (t)] 1.4 Newtonsche Axiome 1. Trägheitsgesetz, Lex Prima: Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern. „Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum nisi quatenus a viribus cogiter statum illum mutare.“ Postuliert wird die Trägheit eines Körpers, sein Beharrungsvermögen. Als „Bewegungsgröße“ wird das Produkt aus Masse m und Geschwindigkeit ~v definiert, d.h. der Impuls ~p = m~v. Die Begriffe „Masse“ und „Kraft“ bleiben zu definieren. Damit besagt das Trägheitsgesetz: ~p = konst. (1.23) in Abwesenheit von Kräften, d.h. in diesem Fall ist der Impuls erhalten. 6 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME 2. Bewegungsgesetz, Lex Secunda: Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt. „Mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressae et fieri secundum lineam rectam, qua vis illa imprimitur.“ Die Änderung der Bewegungsgröße ist die Zeitableitung des Impulses. Sei F~ die Kraft, besagt das Bewegungsgesetz ~p˙ = F~ bzw. m~x¨ = F~ (1.24) bei konstanter Masse m. Die Masse m ist hier die träge Masse, im Gegensatz zur schweren Masse, zu der die Gravitationskraft proportional ist. Experimente zeigen, dass beide unabhängig von der Zusammensetzung der betrachteten Körper gleich groß sind. Kräfte werden definiert, indem man Messvorschriften angibt, die z.B. eine unbekannte Kraft mit der Gravitationskraft vergleichen. Kräfte addieren sich wie Vektoren. 3. Reaktionsgesetz, Lex Tertia: Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung. „Actio = reactio.“ • die träge Masse erweist sich aufgrund der Relativitätstheorie als geschwindigkeitsabhängig • Kräfte hängen im Allgemeinen vom Ort und von der Zeit ab, können aber auch von der Geschwindigkeit abhängen wie etwa die Lorentzkraft auf ein geladenes Teilchen im Magnetfeld • Beispiele für Kräfte sind etwa die Gravitations- und die Coulombkraft, die beide indirekt proportional zum Abstandsquadrat sind (das ist eine notwendige Folge der Masselosigkeit der Austauschteilchen). • Offenbar setzt die Gültigkeit der Newtonschen Axiome eine geeignete Wahl der Einheiten voraus. Die Proportionalität von Impulsänderung und Kraft wird erst durch die geeignete Wahl der Einheit der Masse zu einer Gleichheit. Die Proportionalität von schwerer und träger Masse wird zu einer Gleichheit durch die Definition der Gravitationskonstante G. 1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 1.5 1.5.1 7 Eindimensionale Bewegung Freier Fall aus geringer Höhe • r RErde ; Schwerkraft FG = −mg ist dann gegeben durch konstante Erdbeschleunigung g = 9.81 m s−2 ; Bewegungsgleichung: mr̈ = −mg (1.25) • da r̈ konstant ist, muss v = ṙ linear mit der Zeit t anwachsen: v = ṙ = −gt + C1 (1.26) Integrationskonstante C1 ist offenbar die Geschwindigkeit zur Zeit t = 0, C1 = v(t0 ) = v0 freier Fall aus geringer Höhe • eine weitere Integration nach der Zeit liefert g r = − t2 + C 1 t + C 2 2 (1.27) die weitere Integrationskonstante C2 ist offenbar die Anfangshöhe, C2 = r(t = 0) = r0 • wenn der Massenpunkt bei t = 0 in der Höhe h losgelassen wird, sind C1 = 0 und C2 = h, und die Lösung lautet g r = h − t2 2 (1.28) • die Fallzeit bis r = 0 beträgt s t= 2h , g (1.29) die Endgeschwindigkeit ist s v = −gt = −g p 2h = − 2gh g (1.30) Beispiel: ein Sprung vom Zehnmeterturm dauert t = 1.4 s und endet mit einer Geschwindigkeit von v = −14 m s−1 (etwa −50 km h−1 ) • Da die Bewegungsgleichung 2. Ordnung in der Zeit ist, werden zu ihrer vollständigen Lösung zwei Integrationskonstanten benötigt; diese müssen als „Anfangsbedingungen“ gewählt werden, in diesem Fall in der Form von Anfangshöhe und Anfangsgeschwindigkeit. 8 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME • In der Theorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen wird gezeigt, dass eine Differentialgleichung n-ter Ordnung, y(n) (x) = f [x, y(x), y0 (x), y00 (x), . . . , y(n−1) (x)] , (1.31) genau dann eine eindeutige Lösung in einer genügend kleinen Umgebung eines Punktes x0 hat, wenn n Anfangsbedingungen für y(x0 ) und die n − 1 Ableitungen von y(x) an der Stelle x0 gegeben sind, die Funktion f stetig ist, f und y(i) für i = 0, 1, . . . , n − 1 beschränkt sind und der so genannten Lipschitz-Bedingung genügen, die die Abweichung der Funktion f (x) von f (x0 ) innerhalb der Umgebung von x0 kontrolliert. Für physikalische Vorgänge bedeutet das praktisch, dass eine eindeutige Lösung der Bewegungsgleichung in der Nähe einer Zeit t0 immer angegeben werden kann, wenn die Bewegung im Endlichen und mit endlicher Geschwindigkeit erfolgt und die auftretenden Kräfte stetig sind und sich nicht beliebig schnell ändern. Die Lösung wird durch zwei Anfangsbedingungen an den Ort und die Geschwindigkeit eindeutig bestimmt. 1.5.2 gebremster Fall aus geringer Höhe Fall aus geringer Höhe mit Stokes’scher Reibung • Stokes’sche Reibung: Reibungskraft proportional zur Geschwindigkeit, FR = −Kv (wirkt der Geschwindigkeit entgegen) • Bewegungsgleichung: mr̈ = mv̇ = −mg − Kv Lösung durch „Separation der Variablen“: Z Z v̇ dv = −g ⇒ = −g dt Kv Kv 1 + mg 1 + mg (1.32) (1.33) beide unbestimmte Integrale lassen sich elementar integrieren: ! mg Kv ln 1 + = −gt + C1 , (1.34) K mg wobei die beiden Integrationskonstanten in eine zusammengefasst wurden; damit lautet die Geschwindigkeit " ! # mg K(C1 − gt) v= exp −1 (1.35) K mg • für t → ∞ nähert sich v der Endgeschwindigkeit − vE = − mg , K (1.36) 1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 9 sodass die Lösung in der Form " ! # C1 − gt v = vE exp −1 vE (1.37) geschrieben werden kann • setzt man zunächst v(t = 0) = v0 ein, folgt eC1 /vE = 1 + v0 vE (1.38) und damit v = (v0 + vE )e−gt/vE − vE (1.39) • eine weitere Integration von ṙ = (v0 + vE )e−gt/vE − vE führt auf r = C2 − vE t − (v0 + vE ) vE −gt/vE e g (1.40) (1.41) • setzt man hier r(t = 0) = r0 ein, ergibt sich die Integrationskonstante C2 zu vE (1.42) C2 = r0 + (v0 + vE ) g und damit erhält man die Lösung i vE h r = r0 − vE t + (v0 + vE ) 1 − e−gt/vE (1.43) g • für t → ∞ verschwindet der Exponentialterm, und r nimmt linear mit der Zeit ab: vE r → r0 − vE t + (v0 + vE ) (1.44) g 1.5.3 Fall aus geringer Höhe mit Luftwiderstand • Luftwiderstand: Reibungskraft, deren Betrag dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional ist • Bewegungsgleichung: mr̈ = −mg − Kv|v| (1.45) Kraft muss der Bewegung entgegen gerichtet sein • Annahme hier: v < 0, damit: r̈ = v̇ = −g + K 2 v m (1.46) 10 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME gebremster Fall, Reibung proportional zu v 1.4 1.2 1 Hoehe r(t) 0.8 0.6 0.4 0.2 0 -0.2 v0=0 v0=vE/2 v0=vE v0=-vE/2 -0.4 -0.6 0 0.5 1 1.5 2 Zeit t Abbildung 1.1: Gebremster Fall mit Stokes’scher Reibung aus jeweils derselben Höhe, aber mit vier verschiedenen Anfangsgeschwindigkeiten. • mit der Definition v2E = mg/K folgt: 1− v̇ 2 = −g (1.47) v vE • mit der Partialbruchzerlegung 1 1 1 1 + = 2 1−x 2 1−x 1+x ! können wir nach Trennung der Variablen schreiben Z Z dv 1 1 + = −g dt 2 1 − vvE 1 + vvE also vE vE + v ln = −gt + C1 2 vE − v (1.48) (1.49) (1.50) • die Integrationskonstante C1 wird so bestimmt, dass v = v0 bei t = t0 ist: vE vE + v0 C1 = ln (1.51) 2 vE − v0 • damit lässt sich die Gleichung für die Geschwindigkeit umformen zu " # vE − v0 − (vE + v0 )e−2gt/vE v = −vE (1.52) vE − v0 + (vE + v0 )e−2gt/vE für t → ∞ fallen die Exponentialterme weg, und v → −vE , d.h. es wird die asymptotische Endgeschwindigkeit erreicht, wenn t vE /g ist 1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 11 • eine weitere Integration führt auf die durchfallene Höhe r: r − r0 = t Z v(t0 )dt0 (1.53) t0 zur Vereinfachung definieren wir a := und erhalten vE + v0 vE − v0 v2E r − r0 = − 2g ; Z x := 2gt vE 1 − ae−x dx 1 + ae−x (1.54) (1.55) • Integration führt auf r − r0 = − v2E x + 2 ln 1 + ae−x 2g (1.56) setzt man hier die Definitionen von a und x wieder ein, erhält man ( " ! #) v2E 1 v0 v0 −2gt/vE r = r0 − vE t − ln 1− + 1+ e (1.57) g 2 vE vE • bei v0 = 0 erhält man nach genügend langer Zeit, t vE /g, den asymptotischen Verlauf r → r0 − vE t + v2E ln 2 , g (1.58) während im selben Fall für Stokes’sche Reibung gilt: v2E r → r0 − vE t + g (1.59) wegen ln 2 < 1 ist die mit Luftwiderstand durchfallene Höhe kleiner als die mit Stokes’scher Reibung, d.h. Stokes’sche Reibung ist effektiver (bremst stärker ab) 1.5.4 Freier Fall aus großer Höhe • für freien Fall aus großer Höhe, h & RErde , muss berücksichtigt werden, dass sich die Erdbeschleunigung mit der Höhe ändert; die Gravitationskraft im Abstand r vom Erdmittelpunkt ist FG = − GMm α =: − 2 2 r r (1.60) 12 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME gebremster Fall, Reibung proportional zu v bzw. v2 1 0.8 Hoehe r(t) 0.6 0.4 0.2 0 -0.2 -0.4 prop. zu v, v0=0 prop. zu v2, v0=0 0 0.5 1 1.5 2 Zeit t Abbildung 1.2: Vergleich der durchfallenen Höhen für gebremsten Fall mit Stokes’scher Reibung (rot) und Luftwiderstand (grün). • Bewegungsgleichung: mr̈ = − α r2 (1.61) mṙr̈ = − αṙ r2 (1.62) nach Multiplikation mit ṙ folgt d 1 1 d(ṙ2 ) =α 2 dt dt r ! (1.63) • offenbar gilt also: ! 1 2 α m ṙ − = konst. =: E 2 r (1.64) d.h. die „Energie“ E bleibt zeitlich konstant; der erste Ausdruck in Klammern heißt „kinetische“, der zweite „potentielle“ Energie • erste Verwendung des Energiesatzes zur Lösung des Problems: E = E0 = konst., wobei E0 durch die Anfangsbedingungen gegeben ist: 1 α E0 = mv20 − (1.65) 2 r0 • wenn der Massenpunkt im Unendlichen ruht, r0 = ∞ und v0 = 0, ist E0 = 0 und 1 2 α GMm gR2Erde m mv = = = 2 r r r (1.66) 1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 13 die Endgeschwindigkeit des freien Falls auf die Erdoberfläche ist p v∞ = 2gRErde = 11.2 m s−1 (1.67) das ist auch die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde • setzt man v∞ = c (Lichtgeschwindigkeit), erhält man den Schwarzschildradius 2GM r =: RS = 2 (1.68) c einer Masse M; er spielt in der relativistischen Astrophysik als „Radius eines schwarzen Lochs“ eine große Rolle 14 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME Kapitel 2 Schwingungen 2.1 Freie Schwingungen • auf einen Körper im Gleichgewicht wirkt insgesamt keine Kraft, F = 0, er wird also nicht beschleunigt, ẍ = 0 • bei kleiner Auslenkung aus der Gleichgewichtslage x0 kann die Kraft in eine Taylorreihe entwickelt werden: dF(x) 1 d2 F(x) 2 (x − x0 ) + F = F(x0 ) + (x − x0 ) + . . . (2.1) dx x0 2 dx2 x0 nach Voraussetzung verschwindet F(x0 ), weil x0 die Gleichgewichtslage ist • Verschiebung des Koordinatensystems so, dass x0 = 0 wird; wir nehmen an, dass dF(x) ,0 (2.2) dx x0 und vernachlässigen Terme höherer Ordnung • wenn dF(x) >0 (2.3) dx x0 ist, entfernt sich das System aus der Gleichgewichtsage (labiles Gleichgewicht); das Gleichgewicht ist stabil (das System kehrt in die Ausgangslage zurück), wenn dF(x) <0 (2.4) dx x 0 ist • entsprechend schreiben wir dF(x) := −k , dx x 0 15 k>0, (2.5) Entwicklung der Kraft um die Gleichgewichtslage 16 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN und damit lautet die Kraft F(x) = −kx (2.6) • die Bewegungsgleichung ist m ẍ = −kx (2.7) ẍ + ω20 x = 0 , (2.8) oder wobei wir die Abkürzung r ω0 = k m (2.9) eingeführt haben • Diese Bewegungsgleichung ist eine gewöhnliche, lineare Differentialgleichung 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Zu ihrer Lösung werden zwei linear unabhängige Lösungen x1 (t), x2 (t) benötigt, d.h. die Gleichung Federpendel als Beispiel für harmonischen Oszillator λ1 x1 (t) + λ2 x2 (t) = 0 (2.10) kann nur erfüllt werden, wenn λ1 = 0 = λ2 ist. Die allgemeine Lösung der Gleichung ist dann eine Linearkombination beider Lösungen, x(t) = C1 x1 (t) + C2 x2 (t) . (2.11) • unsere Bewegungsgleichung hat die zwei linear unabhängigen Lösungen x1 (t) = sin ω0 t , x2 (t) = cos ω0 t (2.12) sodass die allgemeine Lösung lautet x(t) = C1 sin ω0 t + C2 cos ω0 t (2.13) • die Konstanten C1 , C2 müssen durch die beiden Anfangsbedingungen bestimmt werden: x(t = 0) = x0 ⇒ C2 = x0 v0 ẋ(t = 0) = v0 ⇒ C1 = ω0 also x(t) = v0 sin ω0 t + x0 cos ω0 t ω0 (2.14) 2.2. GEDÄMPFTE SCHWINGUNGEN 17 • wegen cos(x−y) = cos x cos y+sin x sin y lässt sich die allgemeine Lösung in die Form x(t) = A0 cos(ω0 t − δ0 ) (2.15) bringen; das erfordert s A0 = x02 + v20 ω20 (2.16) und v0 (2.17) x0 ω0 A0 ≥ 0 heißt Amplitude, ω0 t − δ0 Phase der Schwingung; 0 ≤ δ0 < 2π tan δ0 = • die beschriebene Bewegung heißt harmonische Schwingung; sie hat die Kreisfrequenz ω0 , die Frequenz ω0 2π (2.18) 1 2π = ν ω0 (2.19) ν0 = und die Schwingungsperiode T= 2.2 Gedämpfte Schwingungen • Einführung einer zur Geschwindigkeit proportionalen Reibungskraft FR = −b ẋ (b > 0) in die Bewegungsgleichung des harmonischen Oszillators: m ẍ + b ẋ + kx = 0 (2.20) • das ist wieder eine gewöhnliche, lineare Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten, d.h. wir brauchen wieder zwei linear unabhängige Lösungen • die Lösung vereinfacht sich im Komplexen, d.h. wir suchen Lösungen z(t) ∈ C der Gleichung mz̈ + bż + kz = 0 , (2.21) sodass x(t) = <[z(t)] und y(t) = =[z(t)] Lösungen der Ausgangsgleichung sind • für z(t) versuchen wir den Ansatz z(t) = eiωt , (2.22) Beispiel für eine gedämpfte Schwingung 18 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN also ż(t) = iωz(t) , z̈(t) = −ω2 z(t) ; (2.23) damit lautet die komplexe Bewegungsgleichung (−mω2 + iωb + k)eiωt = 0 (2.24) diese Gleichung muss für beliebige Zeiten t erfüllt sein, d.h. der Ausdruck in Klammern muss separat verschwinden: − mω2 + iωb + mω20 = 0 , (2.25) wobei wir wieder k = mω20 gesetzt haben • offenbar ist unser Ansatz erfolgreich, wenn ω die Bedingung ω1,2 = iλ ± ω̄ (2.26) erfüllt, mit q b λ := , ω̄ := ω20 − λ2 2m damit wird eine Fallunterscheidung in λ nötig 2.2.1 (2.27) Schwache Dämpfung • λ < ω0 : in diesem Fall ist ω̄ ∈ R, und wir können ohne Beschränkung der Allgemeinheit ω̄ > 0 annehmen • die zwei linear unabhängigen speziellen Lösungen der Bewegungsgleichung lauten dann z1,2 (t) = e−λt e±iω̄t (2.28) • aus Real- und Imaginärteil ergeben sich zwei linear unabhängige, reelle Lösungen der Ausgangsgleichung, ( cos ω̄t −λt x1,2 (t) = e · (2.29) sin ω̄t • die allgemeine Lösung lautet x(t) = e−λt (C1 sin ω̄t + C2 cos ω̄t) (2.30) oder, wie im ungedämpften Fall, x(t) = Āe−λt cos(ω̄t − δ̄0 ) (2.31) mit exponentiell abklingender Amplitude, veränderter Frequenz ω̄ ≤ ω0 und veränderter Phase δ̄0 2.2. GEDÄMPFTE SCHWINGUNGEN 19 freie und gedaempfte Schwingungen 1 λ=0 λ=ω0/20 λ=ω0/10 λ=ω0/5 0.8 0.6 0.4 x(t) 0.2 0 -0.2 -0.4 -0.6 -0.8 -1 0 1 2 3 4 5 Zeit t Abbildung 2.1: Freie Schwingung und schwach gedämpfte Schwingungen mit verschieden starker Dämpfung 2.2.2 Starke Dämpfung q • λ > ω0 : in diesem Fall ist ω̄ = i λ2 − ω20 imaginär; die allgemeine Lösung lautet √2 2 √2 2 x(t) = C1 e−(λ+ λ −ω0 )t + C2 e−(λ− λ −ω0 )t (2.32) sie hat den Schwingungscharakter verloren 2.2.3 Kritische Dämpfung • λ = ω0 : ω̄ = 0, daher liefert x1 (t) = e−λt nur noch eine Lösung; eine zweite notwendige, davon linear unabhängige Lösung erhält man durch folgende Konstruktion: im Fall schwacher Dämpfung lautet die allgemeine Lösung für x(t = 0) = 0 x(t) = e−λt v0 sin ω̄t ω̄ (2.33) der Grenzübergang für ω̄ → 0 liefert lim x(t) = e−λt v0 t lim ω̄→0 ω̄→0 sin ω̄t = e−λt v0 t ω̄t (2.34) damit erhalten wir als zweite, von x1 (t) linear unabhängige Lösung x2 (t) = te−λt (2.35) 20 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN • die allgemeine Lösung lautet damit x(t) = (C1 + C2 t)e−λt (2.36) dies ist der so genannte aperiodische Grenzfall stark gedaempfte Schwingungen 1 aperiodischer Grenzfall λ=1.5ω0 λ=2ω0 0.9 0.8 0.7 x(t) 0.6 0.5 0.4 0.3 0.2 0.1 0 0 1 2 3 4 5 Zeit t Abbildung 2.2: Stark gedämpfte Schwingungen und aperiodischer Grenzfall 2.3 2.3.1 Erzwungene Schwingungen, Resonanz Allgemeine Lösung • auf den Massenpunkt wirke von außen eine periodische Kraft erzwungene Schwingung: Federpendel mit periodischem Antrieb Fe = c cos ωt (2.37) die Bewegungsgleichung lautet dann m ẍ + b ẋ + kx = c cos ωt (2.38) • wir beschreiten wieder den Lösungsweg in der komplexen Ebene, d.h. wir suchen die Lösung der Gleichung mz̈ + bż + kz = c eiωt (2.39) mit z(t) ∈ C, aus der wir später die reelle Lösung x(t) = <[z(t)] erhalten 2.3. ERZWUNGENE SCHWINGUNGEN, RESONANZ 21 • zur allgemeinen Lösung dieser inhomogenen, gewöhnlichen, linearen Differentialgleichung 2. Ordnung benötigen wir eine partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung plus die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung; letztere ist uns schon bekannt: zh (t) = e−λt e±iω̄t mit λ= b , 2m ω̄ = q ω20 − λ2 (2.40) (2.41) falls λ < ω0 • die partikuläre Lösung gewinnen wir über den Ansatz zp (t) = z0 eiωt (2.42) (−mω2 + ibω + k)z0 = c , (2.43) er führt auf also z0 = (ω20 c/m = − ω2 ) + 2iωλ h i c/m (ω20 − ω2 ) − 2iωλ (ω20 − ω2 )2 + 4ω2 λ2 (2.44) • die Zerlegung z0 = Ae−iδ (2.45) unter der Annahme c ∈ R, c ≥ 0 führt auf die Amplitude c/m A= q (ω20 − ω2 )2 + 4ω2 λ2 (2.46) und die Phase δ durch tan δ = 2ωλ − ω2 ω20 (2.47) A ≥ 0 und 0 ≤ δ < π wegen λ ≥ 0 • eine partikuläre Lösung ist also xp (t) = A cos(ωt − δ) ; (2.48) damit erhält man die allgemeine Lösung x(t) = A cos(ωt − δ) + Āe−λt cos(ω̄t − δ̄) (2.49) A und δ sind bereits festgelegt; Ā und δ̄ stehen noch zur Erfüllung der Anfangsbedingungen zur Verfügung • Einschwingung: für t 1/λ entfällt der zweite Term; der Oszillator schwingt dann wie die äußere Kraft, aber um die Phase δ verschoben; für ω = ω0 ist δ = π/2 22 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN erzwungene Schwingungen 1 ω=1.1ω0, λ=0.1 ω=1.2ω0, λ=0.1 0.8 0.6 0.4 x(t) 0.2 0 -0.2 -0.4 -0.6 -0.8 -1 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Zeit t Abbildung 2.3: Erzwungene Schwingungen mit schwacher Dämpfung; deutlich sichtbar sind der Einschwingvorgang und Schwebungen 2.3.2 Resonanz und Halbwertsbreite • Amplitude A zeigt Resonanzverhalten; Maximum wird erreicht bei der Frequenz q ωmax = ω20 − 2λ2 (2.50) c/m q 2λ ω20 − λ2 (2.51) und beträgt Amax = • die Halbwertsbreite der Resonanz ist bestimmt durch die Bedingung ! 1 A2 (ω) = A2max (2.52) 2 sie ist erfüllt für q 2 (2.53) ω1,2 = ωmax ± 2λ ω20 − λ2 für schwache Dämpfung, λ ω0 , ist ωmax ! λ2 ≈ ω0 1 − 2 ≈ ω0 ω0 (2.54) ω1,2 ≈ ω0 ± λ , (2.55) und d.h. die Halbwertsbreite ist Γ = 2λ im Grenzfall schwacher Dämpfung (2.56) 2.3. ERZWUNGENE SCHWINGUNGEN, RESONANZ 23 erzwungene Schwingungen 3.5 3 Phase δ 2.5 2 1.5 1 0.5 0 λ=ω0/20 λ=ω0/10 λ=ω0/5 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 Frequenz ω/ω0 1.4 1.6 1.8 2 Abbildung 2.4: Phase δ der erzwungenen Schwingung nach dem Einschwingen für verschiedene Werte der Dämpfung λ 2.3.3 Grenzfall schwacher Dämpfung • allgemeine Lösung kann in der Form x(t) = A cos(ωt − δ) + eλt (C1 cos ω̄t + C2 sin ω̄t) (2.57) geschrieben werden • Anfangsbedingungen: x(t = 0) = A cos δ + C1 = x0 ⇒ C1 = x0 − A cos δ ẋ(t = 0) = Aω sin δ − λC1 + C2 ω̄ = v0 1 ⇒ C2 = (v0 + λx0 − Aλ cos δ − Aω sin δ) ω̄ • im Grenzfall λ → 0 gilt δ → 0, und C1 → x0 − A , C2 → v0 , ω0 A→ c/m − ω2 ω20 (2.58) die allgemeine Lösung nimmt dann die Gestalt x(t) = an c/m v0 (cos ωt − cos ω0 t) + x0 cos ω̄t + sin ω0 t (2.59) 2 ω0 −ω ω20 24 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN erzwungene Schwingungen 0.45 λ=ω0/20 λ=ω0/10 λ=ω0/5 0.4 0.35 Amplitude A 0.3 0.25 0.2 0.15 0.1 0.05 0 0.6 0.7 0.8 0.9 1 1.1 Frequenz ω/ω0 1.2 1.3 1.4 Abbildung 2.5: Resonanzverhalten der Amplitude erzwungener Schwingungen • für ω → ω0 geht der erste Term gegen den Grenzwert lim ω→ω0 t sin ω0 t cos ωt − cos ω0 t t sin ωt = = lim 2 2 ω→ω0 2ω 2 ω0 ω0 − ω (2.60) (Regel von l’Hospital) • im Beispiel x0 = 0 erhält man dann die Lösung ! v0 ct x(t) = + sin ω0 t ω0 2mω0 (2.61) der zweite Term in Klammern wächst linear mit der Zeit; man nennt dies „säkulares Anwachsen“ der Amplitude 2.3.4 Beispiel: Die natürliche Breite von Spektrallinien • ein Beispiel für eine erzwungene Schwingung ist ein Elektron in einer Atomhülle, das durch einfallende elektromagnetische Strahlung angeregt wird • näherungsweise beschreiben wir das Atom als Dipol, d.h. das Elektron bewegt sich längs der x-Achse um den Atomkern; das elektrische Feld der einfallenden Strahlung kann dann in der Form E(t) = E0 cos ωt geschrieben werden (2.62) 2.3. ERZWUNGENE SCHWINGUNGEN, RESONANZ 25 • der Atomkern übt eine Rückstellkraft auf das Elektron aus, die näherungsweise linear ist; das Elektron schwingt also harmonisch um den Atomkern; die Kreisfrequenz der Schwingung sei ω0 • das elektrische Feld übt eine Kraft auf das Elektron aus, die Lorentzkraft Fe (t) = qE(t) = qE0 cos ωt (2.63) wobei die Elementarladung q in den so genannten cgs-Einheiten angegeben wird, q = 4.8 × 10−10 g1/2 cm3/2 s−1 (2.64) • die Lorentzkraft beschleunigt das Elektron; da beschleunigte Ladungen strahlen, verliert das bestrahlte Atom Energie; dies führt zu einer Dämpfung der Schwingung, die sich in der klassischen Elektrodynamik zu 2q2 (2.65) b = 3 ω20 3c ergibt (Einheiten beachten!), wobei c = 3.0 × 1010 cm s−1 die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist; die Dämpfungskonstante ist also q2 b = ω2 (2.66) λ= 2me 3me c3 0 mit der Elektronenmasse me = 9.11 × 10−28 g • wenn das Atom durch ein kontinuierliches Spektrum elektromagnetischer Strahlung beleuchtet wird, erzeugt es eine Absorptionslinie, deren Profil durch das Quadrat der Resonanzkurve (2.46) gegeben ist, q2 E02 /m2 A2 = 2 (2.67) (ω0 − ω2 )2 + 4ω2 λ2 dies wird auch als Lorentzprofil bezeichnet • die Breite dieser Linie ist also Γ = 2λ, oder Γ= 2q2 2 ω 3me c3 0 (2.68) sie heißt natürliche Linienbreite • der Kreisfrequenz ω entspricht eine Lichtwellenlänge von ` = 2πc/ω, d.h. die natürlich Linienbreite ist !2 8π2 q2 −2 −1 cm Γ= ` = 0.22 s (2.69) 3me c 0 `0 für Wellenlängen im Bereich des sichtbaren Lichts ist `0 ≈ 5 × 10−5 cm, also Γ ≈ 108 s−1 26 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN • umgerechnet in Wellenlängen entspricht dem eine Breite von d` 2πc Γ δ` = Γ = 2 = `0 (2.70) dω `0 ω0 ω0 mit ω0 = 2πc/`0 ≈ 3.8 × 1015 s−1 für `0 ≈ 5 × 10−5 cm folgt δ` ≈ 1.3 × 10−12 cm ≈ 1.3 × 10−4 Å Kapitel 3 Drehimpuls und Energie 3.1 3.1.1 Kinematik in drei Dimensionen Bahnkurve, Tangential- und Normalvektoren • der Ort ~x eines Massenpunkts ändert sich in der Regel mit der Zeit; die durchlaufenen Punkte ~x(t) bilden seine Bahnkurve; in drei Dimensionen wird sie dargestellt durch die drei Komponenten x1 (t) ~x(t) = x2 (t) (3.1) x3 (t) • das infinitesimale Element der Bogenlänge längs der Bahnkurve ist gegeben durch d~x ds = d~x(t) = dt = ~v(t) dt , (3.2) dt die Bogenlänge also durch Z t ~v(t0 ) dt0 ; s= (3.3) 0 das ist die zwischen den Zeiten 0 und t zurückgelegte Strecke • für viele Zwecke ist eine Umparametrisierung günstig, die statt der Zeit t die Bogenlänge s verwendet; das ist möglich, weil s mit der Zeit monoton wächst; ~x(t) → ~x(s) • der Tangentialvektor an die Bahnkurve ist ~τ = d~x ds (3.4) er ist per Definition der Bogenlänge s ein Einheitsvektor, ~τ = 1 27 28 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE • der Vektor −1 d~τ d~τ ~nH = ds ds heißt Hauptnormalenvektor; er steht senkrecht auf ~τ: d(~τ2 ) d~τ = 2~τ · =0, ds ds ~τ2 = 1 ⇒ (3.5) (3.6) also ist ~nH ⊥ ~τ • es gibt einen weiteren, von ~nH linear unabhängigen Normalenvektor zu ~τ, den Binormalenvektor ~nB = ~τ × ~nH 3.1.2 Tangential- und Hauptnormalenvektor bei der Kreisbewegung (3.7) Beispiel • Kreisbewegung, cos ωt ~x(t) = R sin ωt 0 , − sin ωt ~v(t) = Rω cos ωt 0 , |~v(t)| = Rω (3.8) Bogenlänge s= Z t Rωdt0 = Rωt (3.9) 0 Umparametrisierung der Bahnkurve: cos s/R ~x(s) = R sin s/R 0 (3.10) • Tangentialvektor − sin s/R d~x(s) ~τ = = cos s/R ds 0 − sin ωt = cos ωt 0 (3.11) mit − sin s/R d~τ 1 1 d~τ = − cos s/R , = ds R ds R 0 ergibt sich der Hauptnormalenvektor zu cos s/R ~nH = − sin s/R , 0 und der Binormalenvektor zu − sin s/R − cos s/R ~nB = cos s/R × − sin s/R 0 0 er steht also senkrecht zur Kreisebene 0 = 0 , 1 (3.12) (3.13) (3.14) 3.2. DREHIMPULS 3.1.3 29 Tangential- und Normalkomponenten • allgemein definiert man den lokalen Krümmungsradius in Analogie zum Kreis als −1 d~τ (3.15) ρ := ds • Zerlegung der Geschwindigkeit und der Beschleunigung in tangentiale und normale Komponenten: d~x(t) d~x ds ~v(t) = = = |~v(t)| · ~τ (3.16) dt ds dt die Geschwindigkeit ist also tangential zur Bahnkurve; für die Beschleunigung ergibt sich d~τ d~τ ds v2 d~v(t) d(v~τ) = = v̇~τ+v = v̇~τ+v = v̇~τ+ ~nH (3.17) dt dt dt ds dt ρ die Beschleunigung hat also eine tangentiale Komponente und eine Komponente in Richtung der Hauptnormalen, die mit zunehmendem Krümmungsradius abnimmt ~a(t) = 3.2 3.2.1 Drehimpuls Drehmoment und Drehimpuls • das Moment einer Kraft F~ bezüglich des Koordinatenursprungs wird definiert als ~ := ~r × F~ , | M| ~ = rF sin θ , M (3.18) ~ ist also der Flächenwenn θ der Winkel zwischen ~r und F~ ist; | M| inhalt des durch ~r und F~ aufgespannten Parallelogramms • das Moment um eine Achse, die durch den Einheitsvektor ~e gegeben ist, wird definiert als ~ = ~e · (~r × F) ~ Me = ~e · M (3.19) • der Drehimpuls um den Koordinatenursprung ist definiert als ~L = ~r × ~p = ~r × m~v (3.20) seine Zeitableitung ist offenbar gegeben durch d~L(t) ˙ ~ , = ~r × ~p + ~r × ~p˙ = ~r × F~ = M (3.21) dt da ~r˙ = ~v k ~p ist; es gilt demnach der Drehimpulssatz ~L˙ = M ~ (3.22) ~ = 0, bleibt der Drehimpuls in Abwesenheit von Drehmomenten, M ˙~ erhalten, L = 0 30 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE 3.2.2 Wechsel des Bezugssystems • Wie ändern sich die Bewegungsgleichungen beim Übergang zu neuen Koordinaten? Ausgangssystem K am Ursprung O mit Achsen ~ei , neues System K 0 am Ursprung O0 mit Achsen ~e0i • Verschiebung des Ursprungs um konstanten Vektor ~a; sei ~x der Ortsvektor im alten System, dann gilt offenbar ~x0 = ~x − ~a , ~˙x0 = ~x˙ , ~¨x0 = ~x¨ (3.23) damit ändert sich die Bewegungsgleichung zu ~ x, ~x˙, t) → m~¨x0 = F~ 0 (~x0 , ~˙x,0 t) ; m~x¨ = F(~ ~ x0 + ~a, ~˙x,0 t) F~ 0 (~x0 , ~˙x,0 t) = F(~ (3.24) Übergang zu neuem Bezugssystem • wenn K und K 0 denselben Ursprung haben (~a = 0), aber beliebig gegeneinander verdreht sind, gilt: xi0 = Ri j x j (3.25) mit der orthogonalen Drehmatrix R, Ri j Rk j = δ i j bzw. RRT = 1 ⇒ | det R| = 1 (3.26) die Drehung heißt eigentlich, wenn det R = 1 ist, anderenfalls uneigentlich • da R zeitlich konstant ist, folgt d (Ri j x j ) = Ri j ẋ j , dt ẍi0 = Ri j ẍ j (3.27) m ẍi0 = Ri j F j (R−1 ~x0 , R−1 ~˙x,0 t) = Fi0 (~x0 , ~˙x,0 t) (3.28) ẋi0 = und die Bewegungsgleichung lautet • auf diese Weise ist der Übergang zu neuem kartesischen Koordinatensystem möglich; die allgemeine Form der Bewegungsgleichungen bleibt erhalten • die Komponenten des Drehimpulses ~L sind Li = i jk x j pk , im neuen Koordinatensystem also Li0 = i jk x0j p0k = i jk (R jl xl )(Rkm pm ) = i jk R jl Rkm xk pm (3.29) • da R orthogonal ist, R pq Riq = δ pi , (3.30) lässt sich der Ausdruck i jk R jl Rkm zu folgender Form umschreiben i jk R jl Rkm = p jk δ pi R jl Rkm = p jk Riq R pq R jl Rkm (3.31) 3.3. ENERGIESATZ FÜR EINEN MASSENPUNKT 31 nun ist außerdem p jk R pq R jl Rkm = (det R)qlm (3.32) und damit folgt p jk Riq R pq R jl Rkm = ( p jk R pq R jl Rkm )Riq = (det R)qlm Riq (3.33) • damit ergibt sich für den transformierten Drehimpuls Li0 = (det R)Riq (qlm xl pm ) = (det R)Riq Lq (3.34) • eine physikalische Größe hat Vektorcharakter, wenn sie sich bei Koordinatentransformationen wie eine Geschwindigkeit transformiert, also nach v0i = Ri j v j det R = 1 für (3.35) man unterscheidet – polare Vektoren: v0i = Ri j v j für det R = ±1 (3.36) – axiale Vektoren: a0i = (det R)Ri j a j (3.37) der Drehimpuls ist also ein axialer Vektor • passiv heißt die Drehung, wenn das physikalische System unverändert bleibt, aber das Koordinatensystem gedreht wird; aktiv heißt sie, wenn das Koordinatensystem bleibt, aber das physikalische System gedreht wird; mathematisch sind beide äquivalent, physikalisch aber streng verschieden 3.3 3.3.1 Energiesatz für einen Massenpunkt Energiesatz in einer Dimension • wie vorher beim freien Fall aus großer Höhe: m ẍ = F(x) ⇒ m ẋ ẍ = ẋF(x) ⇒ mit Z m d( ẋ2 ) d = − V(x) 2 dt dt (3.38) x F(x0 )dx0 , V(x) := − x0 (3.39) 32 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE wobei x0 frei gewählt werden kann; damit ist F(x) = − dV(x) ; dx d dV − V(x) = − ẋ = −F(x) ẋ dt dx (3.40) und es gilt d m 2 ẋ + V(x) = 0 dt 2 (3.41) • die Energie m 2 ẋ + V(x) (3.42) 2 ist also konstant; V(x) ist die potentielle Energie (das Potential) E := • in einer Dimension kann zu einer Kraft F(x), die nicht von ẋ abhängt, immer ein Potential angegeben werden; wegen der freien Wahl von x0 ist V(x) nur bis auf eine Konstante bestimmt • die Potentialänderung hängt mit der verrichteten („geleisteten“) Arbeit zusammen; Arbeit = Kraft · Weg, also Z x dA = Fdx ⇒ A = F(x0 )dx0 = −V(x) (3.43) x0 Einschränkung der Bewegung und Umkehrpunkte • aus dem Energiesatz in einer Dimension folgt m + V(x) = E ⇒ ẋ = ± 2 r 2 (E − V) m damit lässt sich x(t) implizit angeben: Z x dx0 ± = t − t0 q 2 x0 (E − V) m (3.44) (3.45) • offenbar ist Bewegung nur dort möglich, wo E − V ≥ 0 ist, denn die kinetische Energie T = (m/2) ẋ2 ist positiv-semidefinit, T ≥ 0 • dadurch werden Umkehrpunkte x1,2 definiert, die die Bewegung begrenzen; bei x = x1 und x = x2 ist V = E und T = 0; das ist die Bedeutung des ±-Zeichens oben: zwischen den Umkehrpunkten ist Bewegung in beiden Richtungen möglich; es tritt dann eine (möglicher Weise nicht harmonische) Schwingung zwischen x1 und x2 auf; sie hat die Schwingungsperiode Z x2 √ Z x2 dx dx = 2m ∆t = 2(t1 − t0 ) = 2 q √ 2 E−V x1 x1 (E − V) m (3.46) 3.3. ENERGIESATZ FÜR EINEN MASSENPUNKT 33 • Beispiel: harmonischer Oszillator, F = −kx ⇒ V(x) = k 2 x , 2 (3.47) wenn man x0 so wählt, dass bei x = 0 auch V = 0 gilt • also ist E= denn ω0 = √ m 2 k 2 m 2 ẋ + x = ẋ + ω20 x2 , 2 2 2 (3.48) k/m; Umkehrpunkte werden erreicht, wenn E= m 2 2 ω x 2 0 (3.49) ist, also bei s x1,2 = ± 2E mω20 (3.50) • aus der allgemeinen Lösung des harmonischen Oszillators folgt, dass die Energie m E = A20 ω20 = konst. (3.51) 2 ist; die Umkehrpunkte sind (natürlich) bei x1,2 = ±A0 • damit und aus der allgemeinen Formel ergibt sich die Schwingungsperiode zu 2π ∆t = (3.52) ω0 • aus der Bewegungsgleichung für den gedämpften harmonischen Oszillator folgt d m 2 ẋ + V(x) = −b ẋ2 (3.53) dt 2 mit V(x) = (k/2)x2 ; die Energie nimmt also ab, denn −b ẋ2 ≤ 0; es handelt sich um ein dissipatives System 3.3.2 Energiesatz in drei Dimensionen • aus der Bewegungsgleichung folgt nach Multiplikation mit ~x˙ d m ˙2 ~ d~x ~x = F · m~x¨ = F~ ⇒ dt 2 dt (3.54) • analog zum eindimensionalen Fall ist T= ~p2 m ˙2 ~x = 2 2m (3.55) 34 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE die kinetische Energie; die infinitesimale Änderung der kinetischen Energie ist die von der Kraft F~ längs des Wegelements d~x verrichtete Arbeit δA, m d ~x˙2 = F~ · d~x = δA (3.56) 2 die Leistung ist die pro Zeiteinheit verrichtete Arbeit, Leistung = d~x Arbeit = F~ · Zeiteinheit dt (3.57) • um aus der Bewegungsgleichung auf eine Erhaltungsgröße zu schließen, müsste d~x F~ · (3.58) dt sich als Zeitableitung einer anderen Funktion schreiben lassen, es müsste also gelten d~x dA = (3.59) F~ · dt dt d.h. F~ · d~x = δA müsste ein vollständiges Differential sein; das ist im Allgemeinen nicht der Fall, gilt aber für die wichtige Klasse der Potentialkräfte, die gegeben sind durch ~ x) F~ = −grad V(~x) = −∇V(~ (3.60) ~ ist der Nabla-Operator, • ∇ ~ = ∇ ∂ ∂ ∂ ~e1 + ~e2 + ~e3 ∂x1 ∂x2 ∂x3 ! (3.61) d.h. die Kraftkomponenten sind Fi = − ∂V , 1≤i≤3 ∂xi (3.62) • für solche Kräfte gilt offenbar d~x ~ · d~x = − d V(~x) F~ · = −∇V dt dt dt (3.63) bzw. in Differentialform ! ∂V ∂V ∂V F~ · d~x = − dx1 + dx2 + dx3 = −dV(~x) ∂x1 ∂x2 ∂x3 damit ist dann wieder m 2 ~v + V(~x) = T + V = E = konst. 2 (3.64) (3.65) ~ heißen konservativ, anderenfalls dissipa• Potentialkräfte F~ = −∇V tiv 3.3. ENERGIESATZ FÜR EINEN MASSENPUNKT 35 Beispiele für Potentialkräfte • harmonischer Oszillator in drei Dimensionen: k ~ = −k~x V = ~x2 , F~ = −∇V 2 (3.66) • Zentralkräfte zeigen zu einem festen Zentrum hin oder davon weg; der Betrag der Kraft hängt nur vom Abstand von diesem Zentrum ab; wenn das Zentrum im Ursprung liegt, gilt: ~x F~ = F(r)~er = F(r) r solche Kräfte haben immer ein Potential, nämlich Z r V(r) = − F(r0 )dr0 , (3.67) (3.68) r0 denn dann ist für 1 ≤ i ≤ 3 Z r Z r ∂ d ∂r xi 0 0 Fi = F(r )dr = F(r0 )dr0 · = F(r) ∂xi r0 dr r0 ∂xi r 3.3.3 (3.69) Wann sind Kräfte Potentialkräfte? • wenn eine Kraft eine Potentialkraft ist, dann ist die zwischen zwei Punkten verrichtete Arbeit vom Weg unabhängig, Z ~x1 Z ~x1 Z ~x1 ~ x)·d~x = − ~ x)·d~x = − F(~ ∇V(~ dV = − V(~x1 ) − V(~x0 ) , ~x0 ~x0 ~x0 (3.70) sie hängt nur von den Endpunkten ab • offenbar muss dann auch gelten I ~ x) · d~x = 0 , F(~ (3.71) d.h. das Integral über die Kraft längs eines geschlossenen Weges muss verschwinden • wenn F~ eine Potentialkraft ist, gilt wegen ∂2 V ∂2 V = ∂xi ∂x j ∂x j ∂xi (3.72) offenbar auch ∂Fi ∂F j − =0 ∂x j ∂xi dies gilt für alle 1 ≤ i ≤ 3 und j , i, also ∂F1 ∂F2 − ∂x2 ∂x1 und alle zyklischen Vertauschungen davon (3.73) (3.74) 36 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE • die Rotation eines Vektorfeldes F~ ist definiert durch ∂F3 ∂F2 ∂F1 ∂F3 ∂F2 ∂F1 rot F~ = − , − , − ∂x2 ∂x3 ∂x3 ∂x1 ∂x1 ∂x2 bzw. oder ! (3.75) ~ i = i jk ∂Fk (rot F) ∂x j (3.76) ~ × F~ rot F~ = ∇ (3.77) • damit folgt die hinreichende Bedingung ~ ⇒ ∇ ~ × F~ = 0 F~ = −∇V (3.78) d.h. die Rotation einer Potentialkraft verschwindet • die Notwendigkeit dieser Bedingung zeigt der Satz von Stokes: Sei G ein einfach zusammenhängendes Gebiet mit Randkurve ∂G, dann ist I ZZ ~ × F) ~ ~ · dA ~, F · d~x = (∇ (3.79) ∂G G ~ das gerichtete Flächenelement auf G ist wobei dA ~ × F~ = 0, dass • also folgt aus ∇ I F~ · d~x = 0 (3.80) ∂G ist, und damit muss F~ eine konservative Kraft sein • eine Kraft F~ ist also dann und nur dann eine Potentialkraft, wenn ~ × F~ = 0 ist ∇ Beispiele • Zentralkraft, F~ = F(r)~x/r ∂ x3 ∂ x2 F(r) − F(r) ∂x2 r ∂x3 r dF(r) x3 x2 dF(r) x2 x3 = − =0 dr r dr r ~ × F) ~1 = (∇ (3.81) ~ × F(~ ~ x) = 0 und analog für die anderen Komponenten, also ist ∇ ~ F(~x) ist eine Potentialkraft • gegeben sei die Kraft −x2 /r2 ~ x) = x1 /r2 F(~ 0 (3.82) 3.4. BEISPIEL: BEWEGUNG IN KONSTANTEM SCHWEREFELD37 ~ × F(~ ~ x) = 0, aber das Integral über F~ längs offenbar ist auch hier ∇ der geschlossenen Kurve cos φ ~x(φ) = R sin φ , 0 ≤ φ < 2π (3.83) 0 beträgt I Z ~ F · d~x = 0 2π d~x F~ · dφ = dφ Z 2π (sin2 φ + cos2 φ)dφ = 2π , 0 0 (3.84) die Kraft ist also nicht konservativ! Grund: wegen der Singularität bei x1 = 0 = x2 ist das von der Kurve eingeschlossene Gebiet nicht einfach zusammenhängend! 3.4 Beispiel: Bewegung in konstantem Schwerefeld • Bewegungsgleichung in drei Dimensionen g m~x¨ = −mg~e3 ⇒ ~x(t) = ~x0 + ~v0 t − t2~e3 2 (3.85) • mit den Anfangsbedingungen v1,0 ~v0 = 0 v3,0 (3.86) (Bewegung in der x1 -x3 -Ebene) folgt v1,0 t 0 ~x(t) = v3,0 t − (g/2)t2 (3.87) ~x0 = 0 , wir können die Zeit t durch t = x1 /v1,0 eliminieren und erhalten !2 v3,0 g x1 x1 − (3.88) x3 (x1 ) = v1,0 2 v1,0 das ist die Wurfparabel • der Scheitel wird erreicht, wenn ẋ3 = 0 ist, also v3,0 − gt = 0 oder t = v3,0 /g, dann ist v23,0 1 v3,0 1 v3,0 x3 =: h = − = , g 2 g 2 g 2 2 x1 = v1,0 und die Wurfweite ist genau doppelt so groß, v1,0 v3,0 l=2 g v3,0 g (3.89) (3.90) 38 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE Kapitel 4 Bewegung unter dem Einfluss einer Zentralkraft 4.1 Allgemeine Lösung • das Kraftzentrum sei im Koordinatenursprung; wir haben in Kapitel 3 gesehen, dass Zentralkräfte immer ein Potential haben, das wir explizit konstruieren konnten (3.68); wir bezeichnen im Folgenden |~x| = r und ~er = ~x/r • unter dem Einfluss einer Zentralkraft bleibt der Drehimpuls erhalten, denn d~L ~ = ~x × F~ = 0 =M (4.1) dt wegen F~ k ~x; außerdem ist ~x · ~L = ~x · (~x × ~p) = ~p · (~x × ~x) = 0 (4.2) d.h. die Bewegung verläuft vollständig in einer Ebene senkrecht zu ~L, der Bahnebene; wir wählen als Bahnebene die x1 -x2 -Ebene, dann sind L3 = |~L| und ~L = L3~e3 • im infinitesimalen Zeitintervall dt überstreicht der Ortsvektor ~x das Flächenelement h i ~ = 1 ~x × (~x˙dt) dA (4.3) 2 also ist ~ ~L dA = = konst. (4.4) dt 2m im Zentralfeld besagt der Drehimpulssatz also, dass die Flächengeschwindigkeit konstant ist, d.h. dass der Fahrstrahl in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstreicht; das ist bereits das 2. Keplersche Gesetz 39 zum Flächensatz 40KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAF • wir führen nun Polarkoordinaten in der Bahnebene ein: cos ϕ(t) cos ϕ − sin ϕ ~x(t) = r(t) sin ϕ(t) , ~x˙(t) = ṙ(t) sin ϕ + rϕ̇ cos ϕ 0 0 0 (4.5) • der Betrag des Drehimpulses ist dann gegeben durch Polarkoordinaten in der Bahnebene L3 = r cos ϕ(ṙ sin ϕ + rϕ̇ cos ϕ) − r sin ϕ(ṙ cos ϕ − rϕ̇ sin ϕ) = r2 ϕ̇ m (4.6) also 0 ~L = 0 (4.7) mr2 ϕ̇ • wegen ~x˙2 = ṙ2 + r2 ϕ̇2 lautet der Energiesatz m 2 ṙ + r2 ϕ̇2 + V(r) = konst. E= 2 mithilfe des Drehimpulssatzes können wir ϕ̇ eliminieren, ϕ̇ = L3 mr2 (4.8) (4.9) (4.10) mit L3 = konst., und damit 20 " 2 # L3 m 2 E = ṙ + + V(r) 2 2mr2 Zentrifugalpotential • der Ausdruck in eckigen Klammern hängt nur von r ab; er heißt effektives Potential 15 L32 (4.12) 2mr2 der Beitrag des Drehimpulses heißt Zentrifugalpotential; es ist offenbar abstoßend, denn UL (r) = V(r) + 10 5 0 (4.11) 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 Radius r Zentrifugalpotential 2 L32 d L32 = − ≤0 dr 2mr2 mr3 (4.13) • die Bewegung im effektiven Potential sieht aus wie eine eindimensionale Bewegung; sie hat also die implizite Lösung (3.45) Z r dr0 t − t0 = (4.14) q 2 r0 0 [E − UL (r )] m daraus erhält man r(t), und schließlich ϕ(t) aus dem Drehimpulssatz, ϕ̇ = L3 /(2mr2 ): Z t L3 dt0 ϕ − ϕ0 = (4.15) 2 0 t0 mr (t ) 4.2. DAS KEPLERPROBLEM 41 • die Bahnkurve, also r(ϕ), folgt leicht aus ṙ dr dr dt = = dϕ dt dϕ ϕ̇ also dr = dϕ √ 2/m[E − UL (r)] L3 /(mr2 ) (4.16) (4.17) woraus folgt ϕ − ϕ0 = L3 Z r r0 dr0 √ r02 2m[E − UL (r0 )] (4.18) • wir brauchen zur Lösung sechs Integrationskonstanten (je drei Anfangsbedingungen für Ort und Geschwindigkeit): ~L, E, ϕ0 und r0 • finite Bahnen sind geschlossen, wenn sich ϕ−ϕ0 bei jedem Umlauf um einen rationalen Bruchteil von 2π ändert, denn dann kehrt der Massenpunkt nach einer ganzen Zahl von Umläufen wieder in den Ausgangspunkt zurück; im Allgemeinen sind finite Bahnen nicht geschlossen, außer in Potentialen V(r) ∝ r−1 oder V(r) ∝ r2 • die Bahnen sind symmetrisch zwischen den Umkehrpunkten rmin und rmax , an denen ṙ = 0 wird 4.2 4.2.1 Das Keplerproblem Arten der Bewegung • Annahme: die Sonne sei ortsfest, d.h. die Planeten laufen um eine unbewegte Zentralmasse (Bemerkungen dazu; geschichtliche Anmerkungen zu Brahe, Kepler, Newton, Leverrier, Adams) Tycho Brahe • wir schreiben die Gravitationskraft als α ~x F~G = − 2 , α = GMm (4.19) r r wobei M die Masse der Sonne und m die Masse eines umlaufenden Körpers sei; m M • das Gravitationspotential ist Z α α V(r) = dr = − + konst. 2 r r (4.20) die Konstante wird so gewählt, dass V(r) → 0 für r → ∞; das effektive Potential (mit Zentrifugalpotential) ist also UL (r) = L32 α − 2 2mr r (4.21) Johannes Kepler 42KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAF • Bemerkungen über finite und infinite Bewegungen, siehe Abbildung 10 Potential Zentrifugalpotential effektives Potential E>0, infinite Bewegung E<0, finite Bewegung 5 Potentiale • die Umkehrpunkte rmin und rmax einer finiten Bewegung sind durch den Energiesatz bestimmt: m 2 ṙ = 0 ⇒ UL (rmin,max ) = E (4.22) 2 daraus erhält man s 2 L3 1 rmin,max = (4.23) −α ± α2 + 4E 2E 2m (E < 0 für gebundene Bahnen!) • das Minimum der potentiellen Energie wird erreicht bei der Perihelentfernung (d.h. im sonnennächsten Punkt) s 2 L 1 −α + α2 + 4E 3 rmin = (4.24) 2E 2m 0 -5 -10 0 0.5 1 Radius r 1.5 dort muss der umlaufende Körper sich am schnellsten bewegen 2 Potentiale im Gravitationsfeld; finite und infinite Bewegungen 4.2.2 Form der Bahnen • aus der allgemeinen Formel (4.18) folgt Z r dr0 ϕ − ϕ0 = L3 r r0 02 r 2m E + (4.25) α r0 − L32 2mr02 • die Variablentransformation u = 1/r, du = −dr/r2 = −u2 dr führt auf Z u du0 ϕ − ϕ0 = − (4.26) r u0 2mE L32 + 2mα 0 u L32 − u02 der Ausdruck unter der Wurzel lässt sich umformen in einen konstanten und einen u-abhängigen Term !2 !2 2mE αm 0 αm 2 + 2 − u − 2 (4.27) L3 L3 L3 und damit kann das Integral ausgeführt werden, ϕ− ϕ00 = − arcsin r u− αm L32 2 αm L32 + (4.28) 2mE L32 ϕ00 enthält ϕ0 und die Konstante der letzten Integration 4.2. DAS KEPLERPROBLEM 43 • mit den Definitionen der Konstanten Exzentrizität ε und Bahnparameter p #1/2 " 2L32 E L32 ε := 1 + 2 , p := (4.29) αm αm ergibt sich ϕ− ϕ00 pu − 1 = − arcsin ε ! (4.30) und, aufgelöst nach r, die Bahnkurve r(ϕ) = p 1 − ε sin(ϕ − ϕ0 ) (4.31) wegen sin(ϕ − ϕ00 ) = sin ϕ cos ϕ00 − cos ϕ sin ϕ00 ist sin(ϕ − ϕ00 ) = − cos ϕ für ϕ00 = π/2, und dann ist r(ϕ) = p 1 + ε cos ϕ (4.32) das ist die allgemeine Form der Bahnkurve im Keplerproblem; das Perihel liegt bei ϕ = 0, denn dann ist r(ϕ) minimal 4.2.3 Kreisbahnen • für ε = 0 ist E=− α α2 m =− 2 2p 2L3 (4.33) • da p per Definition konstant ist, ist nach (4.32) r = p = konst., d.h. der Körper bewegt sich auf einer Kreisbahn 4.2.4 Ellipsenbahnen • für ε < 1 muss E < 0 sein; damit verläuft die Bahn vollständig im Endlichen (1 + ε cos ϕ > 0 für alle ϕ) • die Bahn ist dann eine Ellipse: nach Definition der Ellipse gilt r + r0 = 2a, p wobei a die große Halbachse ist; die kleine Halbachse ist b = a2 − f 2 , wenn f der Abstand zwischen Brenn- und Mittelpunkt der Ellipse ist; die numerische Exzentrizität der Ellipse ist definiert als √ f a2 − b2 ε := = (4.34) a a • für den Vektor ~r0 gilt ~r0 = −~r − 2 f~e1 (4.35) zur Definition der Ellipse: eine Ellipse ist die Menge aller Punkte einer Ebene, deren Abstandssumme zu zwei vorgegebenen Punkten, den Brennpunkten, konstant = 2a ist. 44KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAF sein Betragsquadrat ist also r02 = r2 + 4 f 2 + 4 f r cos ϕ (4.36) nach Definition der Ellipse ist außerdem r02 = (2a − r)2 = 4a2 + r2 − 4ar ⇒ 4r( f cos ϕ + a) = 4(a2 − f 2 ) a(1 − ε2 ) ⇒ r = 1 + ε cos ϕ mit f = εa; das ist identisch mit der Gleichung für die Bahnkurve, falls p = a(1 − ε2 ) gesetzt wird; damit folgt das 1. Keplersche Gesetz: Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. • die Energie ist E=− α2 m (1 − ε2 ) 2L32 (4.37) wegen der Definition von p folgt L32 α p ⇒ E=− (1 − ε ) = = a αma 2a 2 (4.38) die Energie hängt offenbar nur von der großen Bahnhalbachse a ab, während ε durch den Drehimpuls bestimmt wird • aus dem Flächensatz dA L3 = = konst. dt 2m (4.39) folgt A = Fläche der Ellipse = L3 τ 2m (4.40) wobei τ die Umlaufzeit ist • andererseits ist die Fläche einer Ellipse A = πab; wegen s √ L32 a √ 2 b = a 1 − ε = ap = αm (4.41) folgt insgesamt r A = πL3 a3 L3 4π2 ma3 = τ ⇒ τ2 = αm 2m α (4.42) das ist das 3. Keplersche Gesetz: die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten verhalten sich wie die Kuben ihrer großen Bahnhalbachsen 4.2. DAS KEPLERPROBLEM 4.2.5 45 Parabel- und Hyperbelbahnen • für ε = 1 ist E = 0, d.h. p → ∞ für ϕ → ±π (4.43) r= 1 + cos ϕ die Bahn ist eine Parabel, denn nach Definition der Parabel ist 2f r = 2 f − r cos ϕ , also r = (4.44) 1 + cos ϕ der umlaufende Körper entweicht damit ins Unendliche • für ε > 1 ist E > 0, d.h. r → ∞ für 1 + ε cos ϕ → 0; das ist der Fall für ! 1 π ϕ̄ = arccos − > (4.45) ε 2 wegen r ≥ 0 muss 1 + ε cos ϕ ≥ 0 sein, wodurch |ϕ| ≤ ϕ̄ eingeschränkt wird; die Bahnkurve ist ein Hyperbelast 4.2.6 Der Laplace-Lenz-Runge-Vektor • folgender Vektor heißt Laplace-Lenz-Runge-Vektor: ~ = 1 (~x˙ × ~L) − ~x Q (4.46) α r seine Zeitableitung verschwindet, ~ ~x˙ ~x dQ 1 ¨ ~ ˙ ~˙ = (~x × L + ~x × L) − + 2 ṙ dt α r r ! ˙ 2 1 1 ~L − ~x + ~x dr ~ x × = − m r3 r 2r3 dt ~x˙ ~x d(~x)2 1 ~ ~ = + (~ x × p ) × x − mr3 r 2r3 dt h i ~x˙ ~x(~x · ~x˙) = ~x˙ · ~x2 − ~x(~x · ~x˙) − + =0 r r3 ˙ wobei im ersten Schritt ~L = 0 und ~x¨ = −α~x/r2 (Gravitationsgesetz) verwendet wurden ~ eine Invariante der Bewegung; außerdem ist offen• also ist auch Q ~ = 0, d.h. Q ~ liegt in der Bahnebene; nun ist bar ~L · Q 2 h i ~ = 1 ~x · (~x˙ × ~L) − r = L − r = rQ cos ϕ ~x · Q (4.47) α αm und daraus ergibt sich r= L32 /(αm) p = 1 + Q cos ϕ 1 + Q cos ϕ (4.48) ~ ist die numerische Exzentrizität, und Q ~ zeigt d.h. der Betrag von Q in Richtung zum Perihel zur Definition der Parabel: Eine Parabel ist die Menge aller Punkte einer Ebene, deren Abstand von einer Linie (der Leitlinie) und einem Punkt (dem Brennpunkt) gleich ist. 46KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAF 4.3 4.3.1 Mechanische Ähnlichkeit und der Virialsatz Mechanische Ähnlichkeit • sei das Potential V(~x) homogen vom Grad k in ~x, d.h. V(a~x) = ak V(~x) (4.49) • transformieren wir ~x und t durch ~x → a~x und t → bt, dann gilt a a ~x˙ → ~x˙ , ~x¨ → 2 ~x¨ (4.50) b b • die Bewegungsgleichungen transformieren sich dann nach a ¨ 1 k~ ~ x = − a ∇V(~x) b2 a sie bleiben offenbar unverändert, wenn ~ x) → m m~x¨ = −∇V(~ (4.51) a2 = ak , 2 b (4.52) also b = a1−k/2 gewählt wird • das bedeutet: wenn V(~x) homogen vom Grad k in ~x ist, dann lassen die Bewegungsgleichungen Ähnlichkeitstransformationen zu, wobei sich die Zeitdifferenzen (z.B. zwischen entsprechenden Bahnpunkten) verhalten wie !1−k/2 t0 l0 = (4.53) t l wenn l0 /l das Verhältnis der Bahnabmessungen ist 4.3.2 Beispiele • harmonischer Oszillator: V ∝ x2 , k = 2; Schwingungsdauer ist unabhängig von der Amplitude! • freier Fall im konstanten Schwerefeld: V ∝ x, k = 1: !1/2 t0 l0 = t l (4.54) die Quadrate der Fallzeiten verhalten sich wie die Anfangshöhen • Bewegung im Gravitationsfeld: V ∝ r−1 , k = −1: !3/2 t0 l0 = t l 3. Keplersches Gesetz (4.55) 4.3. MECHANISCHE ÄHNLICHKEIT UND DER VIRIALSATZ 47 4.3.3 Der Virialsatz • sei f (~x) homogen vom Grad k in ~x, f (a~x) = ak f (~x), dann ist d f (a~x) ∂ f (a~x) = · ~x = k ak−1 f (~x) ∂a d(a~x) (4.56) insbesondere muss dies auch für a = 1 gelten, woraus das EulerTheorem über homogene Funktionen folgt, ~ f (~x) = k f (~x) ~x · ∇ (4.57) • die kinetische Energie T ist homogen vom Grad 2 in ~v, also gilt ~v · ∂T = 2T ∂~v (4.58) und weiter ∂T = ~p , ∂~v 2T = ~v · ~p = ⇒ d (~p · ~x) − ~p˙ · ~x dt (4.59) (. . .)dt (4.60) • Mittelung über die Zeit 1 h. . .it = ∆t Z ∆t 0 für ∆t → ∞ führt auf Z ∆t d (~p · ~x)(∆t) − (~p · ~x)(0) 1 (~p · ~x)dt = lim =0 hT it = lim ∆t→∞ ∆t→∞ ∆t 0 dt ∆t (4.61) falls die Bewegung vollständig im Endlichen verläuft (z.B. auf einer gebundenen Bahn) ~ x) folgt daraus der Virialsatz: • wegen ~p˙ = −∇V(~ ~ x)it = k hV(~x)it 2hT it = −h ~p˙ · ~xit = h~x · ∇V(~ (4.62) die mittlere kinetische Energie ist gleich dem k/2-fachen der mittleren potentiellen Energie • für das Newtonsche Gravitationsgesetz, V ∝ r−1 , ist k = −1 und hT it = −hVit (4.63) • der Virialsatz hat in der Astronomie sehr große Bedeutung, z.B. für die Thermodynamik selbstgravitierender Systeme (negative Wärmekapazität) 48KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAF Kapitel 5 Mechanik eines Systems von Massenpunkten 5.1 Bewegung des Schwerpunkts • gegeben seien N Massenpunkte mit den Massen mi an den Ortsvektoren ~xi , 1 ≤ i ≤ N; die Kraft des i-ten Massenpunkts auf den j-ten sei F~i j ; zusätzlich wirke auf den i-ten Massenpunkt die äußere Kraft F~i(e) Kräfte zwischen zwei Teilchen heben sich paarweise auf. • das 3. Newtonsche Axiom verlangt F~ ji = −F~i j , F~i j + F~ ji = 0 (5.1) d.h. die inneren Kräfte müssen sich paarweise aufheben • die Bewegungsgleichungen lauten X mi ~x¨i = F~ ji + F~i(e) (5.2) j,i • als Schwerpunkt definieren wir N X ~ := 1 X mi ~xi , M i=1 wobei M := N X mi (5.3) i=1 die Gesamtmasse ist • summiert man die Bewegungsgleichungen, erhält man N X i=1 mi ~x¨i = X i, j,i F~i j + N X i=1 N N X X 1 X~ F~i(e) = Fi j + F~ ji + F~i(e) = F~i(e) 2 i, j,i i=1 i=1 (5.4) 49 50KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN die inneren Kräfte können zur Dynamik des gesamten Systems nichts beitragen, da sie sich paarweise aufheben; das Gesamtsystem bewegt sich also so, als wäre seine gesamte Masse in seinem Schwerpunkt vereinigt und bewege sich aufgrund der Resultierenden aller äußeren Kräfte, ~¨ = MX N X F~i(e) (5.5) i=1 Beispiel für ein System von Massenpunkten: der Kugelsternhaufen M15 • wenn keine äußeren Kräfte wirken, ist offenbar ~¨ = 0 ⇒ M X ~˙ = konst. = MX N X mi ~xi = N X i=1 ~ ~pi =: P (5.6) i=1 d.h. der Gesamtimpuls bleibt erhalten; der Schwerpunkt bewegt sich dann nach ~ ~ =X ~ 0 + P (t − t0 ) (5.7) X(t) M 5.2 Drehimpuls und Energie • wir nehmen nun an, dass die inneren Kräfte zwischen zwei Massenpunkten längs der Verbindungslinie zwischen diesen Punkten wirken, F~i j k (~xi − ~x j ) , F~i j × (~xi − ~x j ) = 0 (5.8) Beispiel: Gravitationskräfte zwischen den Sternen eines Kugelsternhaufens • der Drehimpuls des i-ten Massenpunkts bezüglich des Koordinatenursprungs ist ~Li = ~xi × ~pi = mi (~xi × ~˙x)i (5.9) der Gesamtdrehimpuls des Systems von Massenpunkten ist ~L = N X i=1 ~Li = N X i=1 mi (~xi × ~x˙i ) (5.10) 5.2. DREHIMPULS UND ENERGIE 51 • seine Zeitableitung ist N N N X X X X d~L ¨ ~ ~xi × ~xi × F~i(e) mi (~xi × ~xi ) = = F ji + dt j,i i=1 i=1 i=1 N X 1 X ~xi × F~ ji + ~x j × F~i j + ~xi × F~i(e) = 2 i, j,i i=1 N = = i X 1 Xh ~xi × F~i(e) (~xi − ~x j ) × F~ ji + 2 i, j,i i=1 N X ~xi × F~i(e) (5.11) i=1 da die inneren Kräfte sich paarweise aufheben müssen; innere Kräfte tragen zum Gesamtdrehimpuls eines Systems von Massenpunkten nicht bei • das Gesamtmoment der äußeren Kräfte bezüglich des Koordinatenursprungs ist definiert als ~ := M N X ~xi × F~ (e) j (5.12) i=1 der Drehimpulssatz für ein System von Massenpunkten lautet demnach d~L ~ =M (5.13) dt • durch Transformation ins Schwerpunktsystem lässt sich der Gesamtdrehimpuls aufteilen; sei ~ ~xi = ~xi∗ + X (5.14) dann ist aufgrund der Definition des Schwerpunkts N X mi ~xi∗ = i=1 N X ~ =0 mi ~xi − M X (5.15) i=1 also ist auch ~˙ + ~˙x∗i , ~x˙i = X und N X mi ~˙x∗i = 0 (5.16) i=1 d.h. der Gesamtimpuls im Schwerpunktsystem verschwindet 52KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN • der Gesamtdrehimpuls lässt sich schreiben als ~L = N X N ˙ X ∗ ∗ ˙ ˙ ~ ~ ~xi × mi ~xi = mi X + ~xi × X + ~xi i=1 i=1 N N X X ˙ ˙ ∗ ∗ ˙ ~ × MX ~ + X ~× ~ = X mi ~xi + mi ~xi × X i=1 + N X i=1 ~xi∗ × mi ~˙x∗i (5.17) i=1 der zweite und dritte Term verschwindet; der erste ist der Drehimpuls der Bewegung des Schwerpunkts um den Ursprung, der letzte ist der gesamte innere Drehimpuls, ~L = X ~ × MX ~˙ + N X ~xi∗ × mi ~˙x∗i (5.18) i=1 • wir nehmen nun zusätzlich an, dass die Kräfte zwischen den Massenpunkten Potentialkräfte seien, d.h. es sollen Potentiale V ji zwischen den Massenpunkten i und j existieren, so dass ~ i V ji (|~xi − ~x j |) F~ ji = −∇ (5.19) offenbar erfüllen die Potentiale Vi j = V ji und Vii = 0; dabei ist ~ i := ∂ ∇ ∂~xi (5.20) • ebenso sollen die äußeren Kräfte Potentialkräfte sein, ~ i V (e) (~xi ) F~i(e) = −∇ i (5.21) • solche Kräfte erfüllen das 3. Newtonsche Axiom, und sie wirken längs der Verbindungslinie der Massenpunkte • die Bewegungsgleichungen lauten X ~ i V ji (|~xi − ~x j |) − ∇ ~ i V (e) (~xi ) mi ~x¨i = − ∇ i (5.22) j,i nach Multiplikation mit ~x˙i ergibt eine Summation über alle i N X i=1 mi ~x˙i ~x¨i + X i, j,i ~ i V ji (|~xi − ~x j |) + ~x˙i ∇ N X ~ i V (e) (~xi ) = 0 (5.23) ~x˙i ∇ i i=1 dies kann als Zeitableitung geschrieben werden, N N X d X mi ˙2 1 X ~xi + V ji (|~xi − ~x j |) + Vi(e) (~xi ) = 0 dt i=1 2 2 i, j,i i=1 (5.24) wobei der Faktor 1/2 vor dem zweiten Term in eckigen Klammern daher kommt, dass Vi j = V ji ist; das ist der Energiesatz eines Systems von N Massenpunkten 5.2. DREHIMPULS UND ENERGIE 53 • die gesamte kinetische Energie ist T= N X mi 2 i=1 ~x˙i2 (5.25) die gesamte potentielle Energie ist N X 1X Vi(e) (~xi ) Vi j (|~xi − ~x j |) + V= 2 i, j i=1 (5.26) und die gesamte Energie bleibt erhalten, E = T + V = konst. 5.2.1 (5.27) Beipiel: Das Zweikörperproblem • N = 2 Massenpunkte mit den Massen m1 und m2 ; die Potentiale lauten V12 (|~x1 − ~x2 |) = V21 (|~x1 − ~x2 |) =: V(|~x1 − ~x2 |) (5.28) und damit die Bewegungsgleichungen ~ 1 V(|~x1 − ~x2 |) , m1 ~x¨1 = −∇ ~ 2 V(|~x1 − ~x2 |) m2 ~x¨2 = −∇ (5.29) der Ortsvektor des Schwerpunkts ist ~ = m1 ~x1 + m2 ~x2 X m1 + m2 (5.30) wegen der Abwesenheit äußerer Kräfte bewegt sich der Schwer~¨ = 0 punkt geradlinig-gleichförmig, M X • zur Abkürzung führen wir den Verbindungsvektor ~z = ~x1 − ~x2 ein; für ihn lautet die Bewegungsgleichung ~ 1 V(|~z|) + m1 ∇ ~ 2 V(|~z|) = −(m1 + m2 )∇V(|~ ~ z|) (5.31) m1 m2~z¨ = −m2 ∇ denn, mit r := |~z|, ~ 1 V = dV ∂r = dV ~z , ∇ dr ∂~x1 dr r ~ 2 V = dV ∂r = − dV ~z = −∇V(|~z|) ∇ dr ∂~x2 dr r (5.32) • das ist die Bewegungsgleichung eines Massenpunkts mit der reduzierten Masse µ in einem äußeren Potential V µ= m1 m2 , m1 + m2 ~ z|) µ~z¨ = −∇V(|~ (5.33) Schwerpunkt zweier Massenpunkte gleicher Masse 54KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN • bei m1 = m2 =: m ist die reduzierte Masse µ = m/2, der Schwerpunkt liegt in der Mitte zwischen den beiden Massen; bei m1 m2 ist die reduzierte Masse µ ≈ m2 ; das entspricht der Bewegung von m2 um den „festen“ Massenpunkt m1 ; der ~ ≈ ~x1 ; das ist die Schwerpunkt liegt annähernd am Ort von m1 , X nachträgliche Rechtfertigung dafür, die Bewegung eines Planeten um die Sonne durch die Bewegung eines Massenpunktes um die ortsfeste Sonne anzunähern 5.3 5.3.1 Elastischer Stoß zwischen zwei Teilchen Erhaltungssätze • gegeben seien zwei Teilchen mit den Massen m1 und m2 ; ihre Geschwindigkeiten vor dem Stoß seien ~v1,2 , nach dem Stoß ~v01,2 • Impulserhaltung fordert m1~v1 + m2~v2 = m1~v01 + m2~v02 (5.34) Energieerhaltung verlangt m1 2 m2 2 m1 02 m2 02 ~v + ~v2 = ~v1 + ~v2 (5.35) 2 1 2 2 2 Welche Aussagen sind allein aufgrund der Erhaltungssätze möglich? Transformation auf Schwerpunktkoordinaten • nach Transformation ins Schwerpunktsystem werden die Massenpunkte durch die Schwerpunktkoordinaten beschrieben, ~ = 1 (m1 ~x1 + m2 ~x2 ) X (5.36) M der Abstand der Teilchen bleibt natürlich erhalten; Geschwindigkeiten und Beschleunigungen transformieren sich wie ~ ∗i V(|~x∗ − ~x∗ |) ~˙ , ~x¨i = ~¨x∗i = −∇ ~x˙i = ~x˙i∗ + X (5.37) 1 2 ~, ~xi∗ = ~xi − X Streuung im Schwerpunktsystem • im Schwerpunktsystem lauten die Erhaltungssätze m1 ∗2 m2 ∗2 m1 0∗2 m2 0∗2 ~v1 + ~v2 = ~v + ~v2 2 2 2 1 2 ~v0∗ + m m1~v∗1 + m2~v∗2 = m1~v0∗ 2 1 2 = 0 (5.38) (der Gesamtimpuls im Schwerpunktsystem verschwindet nach Definition, vgl. 5.16); damit ist offenbar m1~v∗1 = −m2~v∗2 , m1~v0∗ v0∗ 1 = −m2~ 2 (5.39) der Winkel zwischen der Einfalls- und der Ausfallsrichtung heißt Streuwinkel ϑ∗ ; er ist (im Schwerpunktsystem!) für beide Teilchen gleich 5.3. ELASTISCHER STOSS ZWISCHEN ZWEI TEILCHEN 55 • setzt man (5.39) in den Energiesatz (5.35) ein, um ~v∗2 bzw. ~v0∗ 2 zu eliminieren, folgt !2 !2 m1 0∗ m1 ∗ 0∗2 ∗2 ~v ~v = m1~v1 + m2 m1~v1 + m2 m2 1 m2 1 ⇒ |~v∗1 | = |~v0∗ |~v∗2 | = |~v0∗ 1| , 2 | (5.40) die Beträge der Geschwindigkeiten vor und nach dem Stoß sind also für beide Massenpunkte gleich! • damit sind die Erhaltungssätze erschöpft, sie machen also über den Streuwinkel keine Aussage; 0 ≤ ϑ∗ ≤ π, er hängt vom wirksamen Kraftgesetz ab (z.B. bei der Coulombstreuung) 5.3.2 Transformation der Streuwinkel • wenn der Massenpunkt 2 im Laborsystem ruht, ~v2 = 0, dann ist ~˙ = m1 ~v1 X M (5.41) also ist ~˙ = ~v∗1 + m1 ~v1 ⇒ ~v∗1 = m2 ~v1 ~x˙1 = ~v1 = ~v∗1 + X M M (5.42) entsprechend gilt für die Rücktransformation nach dem Stoß ~v01 = ~v0∗ 1 + m2 ~v1 M (5.43) • nun ist offenbar ∗ 0 v0∗ 1 sin ϑ = v1 sin ϑ1 , ∗ v01 cos ϑ1 = v0∗ 1 cos ϑ + m1 v1 M (5.44) und daraus folgt für den Tangens des Streuwinkels ϑ1 im Laborsystem v∗1 sin ϑ∗ sin ϑ∗ m2 = = tan ϑ∗ ∗ ∗ ∗ v1 cos ϑ + (m1 /M)v1 cos ϑ + (m1 /m2 ) M (5.45) • wegen ~v2 = 0 ist ~v∗2 = − m1 M (5.46) ~˙ ~v0∗ und ~v0 gebildet wird deswegen ist das Dreieck, das aus X, 2 2 (Dreieck ABC in nebenstehender Skizze), gleichschenklig; die Winkel BAC und ACB sind daher gleich ϑ2 , und weil der Winkel ABC gleich ϑ∗ ist, folgt π − ϑ∗ ϑ2 = 2 zur Transformation des Streuwinkels 3.5 m1/m2=0.01 m1/m2=0.5 m1/m2=0.9 m1/m2=1 m1/m2=1.1 m1/m2=2 m1/m2=10 3 2.5 2 θ1 tan ϑ1 = 1.5 1 (5.47) 0.5 0 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 θ* Streuwinkel ϑ1 im Laborsystem als Funktion des Streuwinkels ϑ∗ im Schwerpunktsystem für verschiedene Massenverhältnisse 56KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN • für m1 m2 ist ϑ1 ≈ ϑ∗ • für m1 < m2 sind alle Streuwinkel 0 ≤ ϑ1 ≤ π • für m1 ≥ m2 gibt es einen maximalen Streuwinkel mit m2 sin ϑmax = 1 m1 ∗ für m1 = m2 ist ϑ1 = ϑ /2 und ϑ2 = π/2 − ϑ1 5.3.3 (5.48) Beispiel: Energieübertrag bei elastischer Streuung • Beispiel: Neutron der Masse m streut an einem Kern der Masse Am, der im Laborsystem im Ursprung ruhend angenommen wird (~v2 = 0); seine kinetische Energie vor und nach dem Stoß sind T = m~v21 /2 bzw. T 0 = m~v02 1 /2 • nach (5.37) und (5.41) ist !2 ~v1 ˙ 2 02 0∗ 0∗ ~ ~v1 = ~v1 + X = ~v1 + 1+A ~v21 2 0∗ ∗ = ~v0∗2 + |~ v ||~ v | cos ϑ + 1 1 1+A 1 (1 + A)2 wegen der Energieerhaltung (5.40) und (5.41) gilt ferner !2 A 2 ~v1 0∗2 ∗2 2 ~v1 = ~v1 = ~v1 − = ~v1 1+A 1+A eingesetzt in (5.49) bedeutet dies " # 2A 02 2 ∗ ~v1 = ~v1 1 + (cos ϑ − 1) (1 + A)2 (5.49) (5.50) (5.51) • für die relative Änderung der kinetischen Energie ergibt sich damit ~v02 2A T − T0 = 1 − 12 = (1 − cos ϑ∗ ) 2 T (1 + A) ~v1 (5.52) • Mittelung über ϑ∗ ergibt unter der Annahme, dass die Streuwinkel im Schwerpunktsystem gleichverteilt sind * + Z 2π Z π T − T0 1 2A = dϕ (1 − cos ϑ∗ ) sin ϑ∗ dϑ∗ 2 T 4π 0 0 (1 + A) Z 1 A 2A (1 − µ)dµ = (5.53) = 2 (1 + A) −1 (1 + A)2 das ist der mittlere, relative Energieverlust des Neutrons • er wird maximal, wenn A = 1 gilt, d.h. die Streuung von Neutronen an Atomkernen bremst die Neutronen dann am effektivsten ab, wenn die Atomkerne möglichst leicht sind; Neutronenmoderation z.B. mit Wasser 5.4. STREUUNG 5.4 5.4.1 57 Streuung Streuwinkel • ein Teilchenstrahl falle auf ein Target, die Teilchen (der Masse m) werden abgelenkt (gestreut); wie sind die gestreuten Teilchen verteilt, wenn die Wechselwirkung durch die Kraft F~ = −α/r2 beschrieben werden kann? • Energie und Drehimpuls sind beide konstant, E= m 2 v , 2 ∞ L3 = bmv∞ (5.54) die Energie ist positiv, die Bahn also eine Hyperbel; wir nehmen an, dass das Target in Ruhe bleibt • aus der Behandlung des Keplerproblems (4.45) wissen wir, dass die Asymptote an einen Hyperbelast mit der Symmetrieachse den Winkel ! 1 ϕ̄ = arccos − . (5.55) ε einschließt; damit ist der Streuwinkel ϑ = 2ϕ̄ − π, also ϑ π 1 (5.56) sin = sin ϕ̄ − = − cos ϕ̄ = 2 2 ε • die numerische Exzentrizität war (4.29, Seite 43) " #1/2 2L32 E ε= 1+ 2 αm (5.57) für eine Zentralkraft der Form F(r) = −α/r2 ; mit (5.54) folgt daraus " #1/2 (bmv2∞ )2 ε= 1+ (5.58) α2 und mit (5.56) ergibt sich der Zusammenhang zwischen dem Stoßparameter und dem Streuwinkel ! 2 1 α 2 b = −1 2 4 (5.59) 2 m v∞ sin ϑ/2 5.4.2 Streuquerschnitt • der differentielle Wirkungsquerschnitt für die Streuung ist definiert als ! dσ Anzahl der pro Sek. nach [ϑ + dϑ] ausfallenden Teilchen dΩ = dΩ Anzahl der pro Sek. einfallenden Teilchen (5.60) 58KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN • Anzahl der pro Sekunde gestreuten Teilchen, die innerhalb von [b, b + db] einfallen: ∂b (5.61) nvdt bdb dψ = nvdt b(ϑ, v∞ ) (ϑ, v∞ ) dϑdψ ∂ϑ die Anzahl der pro Sekunde einfallenden Teilchen ist nvdt; daraus ergibt sich der differentielle Streuquerschnitt als ∂b 1 dσ = b(ϑ, v∞ ) (ϑ, v∞ ) (5.62) dΩ ∂ϑ sin ϑ (das Raumwinkelelement ist dΩ = sin ϑdϑdψ); mit (5.59) erhält man α2 cos ϑ/2 α2 1 dσ = = , 3 4 2 4 2 dΩ 2m v∞ sin ϑ/2 sin ϑ 4(2E) sin ϑ/2 (5.63) wobei sin ϑ = 2 cos ϑ/2 sin ϑ/2 und 2E = mv2∞ verwendet wurden • für Streuung von Elektronen an Kernen der Ladungszahl Z ist α = Ze2 , woraus man die Rutherfordsche Streuformel erhält, (Ze2 )2 ϑ dσ = sin−4 2 dΩ 4(2E) 2 5.4.3 (5.64) Streuung unter kleinen Winkeln • wenn die Ablenkung durch die Streuung klein ist (etwa weil der Stoßparameter groß ist), vereinfacht sich die Berechnung des Streuquerschnitts wesentlich; man kann dann direkt im Laborsystem rechnen, weil die Rückwirkung von m1 auf m2 vernachlässigt und daher m2 → ∞ angenommen werden kann • demnach liege m2 fest im Ursprung und m1 falle längs der x-Achse ein; für die y-Komponente seiner Geschwindigkeit nach dem Stoß gilt v0y = v2 sin ϑ1 = v∞ sin ϑ1 ≈ v∞ ϑ1 (5.65) • außerdem ist die y-Komponente der Geschwindigkeit Z ∞ 0 m1 vy = Fy dt (5.66) −∞ wobei ∂V dV ∂r dV y =− =− (5.67) ∂y dr ∂y dr r die y-Komponente der Kraft ist; das Integral über die Kraft kann nun längs der ungestörten Bahn ausgeführt werden, weil Fy bereits eine kleine Größe ist, also Z 2b ∞ dV dx 0 m1 vy = − (5.68) v∞ 0 dr r Fy = − denn dt = dx/v∞ 5.4. STREUUNG 59 • die Integration über dx kann durch eine Integration über dr ersetzt werden; aus r2 = b2 + x2 folgt rdr = xdx und dx = √ rdr (5.69) r 2 − b2 daraus ergibt sich mit (5.65) 2b ϑ1 = − m1 v2∞ ∞ Z b dV dr √ dr r2 − b2 (5.70) • auch in der Gleichung (5.62) kann statt sin ϑ ≈ ϑ eingesetzt werden, dσ db b = (5.71) dΩ dϑ ϑ Beispiel: Ablenkung von Licht im Gravitationsfeld • wenn man Licht als einen Strom von Teilchen auffasst, auf die die Gravitationskraft wirkt, folgt, dass Lichtstrahlen von Massen abgelenkt werden, an denen sie vorübergehen • mit V = (Gm1 m2 )/r ergibt (5.70) 2Gm2 b ϑ1 = c2 Z b ∞ dr 2Gm2 b = √ c2 r2 r2 − b2 ∞ √ 2Gm r2 − b2 = 2 2 2 br cb b (5.72) • mit dem in (1.68) eingeführten Schwarzschild-Radius RS = 2Gm2 c2 (5.73) RS b (5.74) folgt ϑ1 = • das ist eine heuristische Betrachtung, die erst in der Allgemeinen Relativitätstheorie korrekt durchgeführt werden kann; dort ergibt sich als Ablenkwinkel das Doppelte des aufgrund der Newtonschen Gravitation erwarteten Winkels, ϑ= 2RS b (5.75) • die Masse der Sonne ist M = 2 · 1033 g, ihr Schwarzschild-Radius der Sonne ist also RS, = 3 km; ein Lichtstrahl, der genau den Sonnenrand bei b = 696000 km passiert, wird demnach um den Winkel ϑ = 1.700 abgelenkt; dieser Wert wurde 1919 während einer Sonnenfinsternis nachgewiesen 60KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN Kapitel 6 Systeme mit Nebenbedingungen 6.1 Das d’Alembertsche Prinzip 6.1.1 Nebenbedingungen und verallgemeinerte Koordinaten • Beispiele für Nebenbedingungen: Kinder auf einer Rutschbahn, zwei Massenpunkte an einer Stange, Kugelbahnen usw. • Freiheitsgrade: unabhängige Parameter, die zur vollständigen Charakterisierung der Lage des Systems notwendig sind; Beispiele: ein System von N Massenpunkten ohne Nebenbedingungen hat f = 3N Freiheitsgrade (N Ortsvektoren ~xi mit je drei Komponenten); zwei Massenpunkte an einer Stange haben f = 3 · 2 − 1 = 5 Freiheitsgrade, weil die Stange eine Nebenbedingung stellt; ein starrer Körper hat f = 6 Freiheitsgrade, nämlich die Lage seines Schwerpunkts und drei Winkel, die seine Orientierung im Raum angeben • Arten von Zwangsbedingungen: oft können Zwangsbedingungen durch Gleichungen der Art fi (~x1 , . . . , ~xN , t) = 0 , 1≤i≤r (6.1) ausgedrückt werden, die r Bedingungen an die N Ortsvektoren der Massenpunkte stellen; wir nehmen an, dass die fi genügend oft differenzierbar sind und die Matrix ∂ f1 ∂ f1 ∂x11 ∂x12 . . . ∂x∂ f3N1 . .. .. (6.2) .. . . ∂ fr ∂ fr ∂ fr . . . ∂x3N ∂x11 ∂x12 vom Rang r ist, wo fi (~x j , t) = 0 erfüllt ist; Beispiele: 61 62 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 1. Bewegung auf einer Ebene erfüllt die Bedingung ~x · ~n = 0, wenn ~n der Normalenvektor der Ebene ist 2. Bewegung auf einer Kugel entspricht der Bedingung |~x| = R = konst., also |~x| − R = 0 Zwangsbedingungen dieses Typs heißen holonom, anderen Typs nichtholonom; ein Beispiel für eine nichtholonome Zwangsbedingung ist die für die Bewegung innerhalb einer Kugel, |~x| ≤ R • Bedingungen, die die Zeit explizit enthalten, heißen rheonom, anderenfalls skleronom (rheos, fließend; skleros, starr) • bei r Zwangsbedingungen ist die Anzahl der Freiheitsgrade f = 3N − r • der Konfigurationsraum eines Systems ist der Teil des 3N-dimensionalen Raums, der von den Koordinaten der N Massenpunkte erreicht werden kann; die r Bedingungsgleichungen fi definieren einen (3N − r)-dimensionale Untermannigfaltigkeit im Konfigurationsraum • Beispiel: der Konfigurationsraum eines freien Massenpunkts ist der dreidimensionale reelle Raum R3 ; die Zwangsbedingung |~x| = R definiert eine zweidimensionale Untermannigfaltigkeit, nämlich eine Kugelschale • auf dieser (3N − r)-dimensionalen Untermannigfaltigkeit kann die Lage des Systems durch f = 3N − r unabhängige Parameter qi angegeben werden, die als neue Koordinaten verwendet werden können; damit erscheinen die r Zwangsbedingungen als Bedingungen an die Koordinatendarstellung ~xi = ~xi (q1 , . . . , q f ; t) , 1≤i≤ f (6.3) • Beispiel: die Zwangsbedingung für die Bewegung auf der Kugelschale ist |~x| − R = 0; ein Punkt auf einer Kugel mit Radius R kann durch sin ϑ cos ϕ ~x = R · sin ϑ sin ϕ (6.4) cos ϑ mit 0 ≤ ϑ ≤ π, 0 ≤ ϕ ≤ 2π angegeben werden, d.h. (q1 , q2 ) können (ϑ, ϕ) repräsentieren • allgemein heißen die qi verallgemeinerte Koordinaten; sie müssen nicht die Dimension einer Länge haben (wie das Beispiel der Winkel auf der Kugel zeigt) 6.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 6.1.2 63 Zwangskräfte und Prinzip der virtuellen Arbeit • diejenigen Kräfte, die die Zwangsbedingungen erzwingen, heißen Zwangskräfte; Beispiel: eine Kugel gleite unter dem Einfluss der Schwerkraft F~ reibungsfrei in einer Röhre in der y-z-Ebene, die durch z = z(y) bzw. f (y, z) = 0 beschrieben wird; nur die Tangentialkomponente von F~ relativ zur Röhre kann eine Bewegung verursachen, die Normalkomponente muss durch eine Zwangskraft Z~ kompensiert werden, Z~ = −F~n = −(F~ · ~n)~n (6.5) • die Gleichgewichtslage zeichnet sich dadurch aus, dass die Summe aus äußeren und Zwangskräften verschwinden muss, F~ + Z~ = 0 ; (6.6) da Z~ normal zur Röhre wirkt, ist dies nur möglich, wenn auch F~ in der Gleichgewichtslage normal zur Röhre gerichtet ist; das ist im Minimum der Röhre der Fall • wie kann die Gleichgewichtsbedingung in allgemeinen Fällen gefunden werden? wir denken uns eine virtuelle (nicht wirkliche, nur gedachte) Verrückung δ~x des Massenpunkts längs der Röhre, ! ∂ f (x, y) ∂ f (x, y) δy δ~x = , δy + δz = 0 (6.7) δz ∂y ∂z denn der Massenpunkt muss in der Röhre bleiben; vektoriell schreibt sich letztere Bedingung ~ f · δ~x = 0 ∇ (6.8) • die virtuelle Verrückung erfordert die virtuelle Arbeit ~ · δ~x δA = (F~ + Z) (6.9) da in der Gleichgewichtslage F~ + Z~ = 0 gilt, ist dort auch δA = 0; die Gleichgewichtslage ist also dadurch charakterisiert, dass virtuelle Verrückungen aus ihr heraus keine virtuelle Arbeit verrichten • da δ~x tangential, Z~ normal zur Röhre ist, gilt Z~ · δ~x = 0, d.h. die Zwangskraft leistet in keiner Lage eine virtuelle Arbeit; in der Gleichgewichtslage leisten also auch die äußeren Kräfte für sich genommen keine virtuelle Arbeit; im Gleichgewicht gilt also F~ · δ~x = 0 , ~ f · δ~x = 0 ∇ (6.10) das ist das Prinzip der virtuellen Arbeit; umgekehrt legen die Zwangsbedingungen das Gleichgewicht fest 64 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN • mithilfe eines Lagrange-Multiplikators λ lassen sich beide Bedingungen aus (6.10) erfüllen, ! ! ∂ f ∂ f ~ f )·δ~x = 0 ⇒ Fy + λ ~ ∇ δy+ Fz + λ δz = 0 (6.11) (F+λ ∂y ∂z ~ f · δ~x = 0 stellt einen Zusammenhang zwischen • die Bedingung ∇ ~ f , 0 ist (sollte ∇ ~ f = 0 sein, ist die δy und δz her, wenn ∇ Zwangsbedingung uninteressant, weil jedes δ~x sie erfüllt); sei etwa ∂ f /∂z , 0, dann lässt sich δz als Funktion von δy angeben, δz = − ∂ f /∂y δy ∂ f /∂z (6.12) λ muss dann so gewählt werden, dass die Bedingungsgleichung (6.10) erfüllt ist • wären die Komponenten δy und δz der virtuellen Verrückung unabhängig, müssten ihre Beiträge zu (6.11) separat verschwinden, ! ! ∂f ∂f Fy + λ δy = 0 , Fz + λ δz = 0 (6.13) ∂y ∂z zusätzlich gilt aber die Zwangsbedingung f (y, z) = 0, die δy und δz miteinander verknüpft; wir haben also drei Gleichungen für die drei Unbekannten λ, y und z ~ f , also • im Gleichgewicht muss F~ normal zur Kurve sein wie ∇ ~f , F~ = −λ∇ ~f Z~ = λ∇ (6.14) wobei letztere Gleichung aus der Gleichgewichtsbedingung (6.6) folgt • Beispiel: für einen Massenpunkt, der längs einer Parabel gleitet, ist f (y, z) = z − y2 ; die Schwerkraft ist F~ = −mg~ez ; das Prinzip der virtuellen Arbeit liefert zunächst für die Gleichgewichtslage F~ · δ~x = −mgδz = 0 (6.15) aus der Zwangsbedingung folgt ~ f · δ~x = −2yδy + δz = 0 ∇ (6.16) mit (6.11) ergeben sich damit die drei Gleichungen − 2λy = 0 , −mg + λ = 0 , z − y2 = 0 (6.17) deren Lösung offensichtlich λ = mg und y = 0 = z ist; die ~ f = mg~ez Zwangskraft ergibt sich daraus zu Z~ = λ∇ 6.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 6.1.3 65 Allgemeine Formulierung des d’Alembertschen Prinzips • gegeben seien N Massenpunkte mit den Ortsvektoren ~xi , 1 ≤ i ≤ N, die sich unter dem Einfluss der äußeren Kräfte F~i bewegen; weiterhin sollen Zwangsbedingungen gelten, die durch Zwangskräfte Z~ dargestellt werden • virtuell heißt eine Verrückung δxi , die unendlich klein, mit den Zwangsbedingungen verträglich und sonst willkürlich ist; wenn die Zwangskräfte keine virtuelle Arbeit verrichten, d.h. N X Z~i · δ~xi = 0 (6.18) i=1 erfüllen, dann folgt im Gleichgewicht sofort N X F~i · δ~xi = 0 (6.19) i=1 im Gleichgewicht verschwindet die virtuelle Arbeit der äußeren Kräfte • Beispiel: ein Hebel hat einen Freiheitsgrad, der durch den Drehwinkel ϕ ausgedrückt werden kann; die virtuelle Arbeit bei einer virtuellen Verrückung δϕ ist δA = Fa (aδϕ) − Fb (bδϕ) = 0 (6.20) woraus unmittelbar das Hebelgesetz aFa = bFb folgt 6.1.4 d’Alemberts Prinzip im dynamischen Fall • die Bewegungsgleichung im dynamischen Fall (d.h. abseits vom Gleichgewicht) ist F~i + Z~i = ~p˙ i (6.21) seien die Zwangskräfte wieder von der Art, dass (6.18) erfüllt ist, dann gilt offenbar N X (F~i − ~p˙ i ) · δ~xi = 0 (6.22) i=1 d.h. man betrachtet − ~p˙ i als Kräfte, die so genannten Trägheitskräfte; die Bewegung verläuft also so, dass die virtuelle Arbeit der Summe von äußeren und Trägheitskräften verschwindet 66 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN • Beispiel: ein Massenpunkt der Masse m bewege sich an einem Ende einer masselosen Stange der Länge l, die in ihrem anderen Ende drehbar aufgehängt ist; für den Massenpunkt gilt ! ! ! y sin ϕ cos ϕ ~x = =l , ~x˙ = lϕ̇ , z − cos ϕ sin ϕ ! ! cos ϕ − sin ϕ 2 ~x¨ = lϕ̈ + lϕ̇ (6.23) sin ϕ cos ϕ Drehung mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ erzeugt die Trägheitskraft ! ˙~p = −m~x¨ = mlϕ̇2 sin ϕ (6.24) − cos ϕ wegen v = |~x˙| = lϕ̇ ist mv2 − ~p˙ = , l − ~p˙ = mv2 ~x l l (6.25) das ist die Zentrifugalkraft in diesem speziellen Fall • Anwendung des d’Alembertschen Prinzips auf das mathematische Pendel: die Zwangskraft Z~ muss senkrecht zur Bewegung von m sein; die äußere Kraft ist die Schwerkraft F~ = −mg~ez , die virtuelle Verrückung, die mit der Zwangsbedingung (Bewegung auf einem Kreisbogen) verträglich ist, lautet ! cos ϕ δ~x = lδϕ (6.26) sin ϕ aus dem d’Alembertschen Prinzip mit der Trägheitskraft (6.23) folgt dann (F~ − m~x¨) · δ~x = 0 ⇒ (−mgl sin ϕ − ml2 ϕ̈)δϕ = 0 (6.27) da δϕ beliebig war, folgt daraus g g ϕ̈ = − sin ϕ = − ϕ[1 + O(ϕ2 )] l l (6.28) für kleine Auslenkungen ϕ 1 ist dies die Gleichung eines p harmonischen Oszillators mit der Kreisfrequenz ω = g/l 6.2 6.2.1 Lagrange-Gleichungen Lagrange-Gleichungen erster Art • gegeben sei wieder ein mechanisches System aus N Massenpunkten; zur Vereinfachung der Notation betrachten wir die 3N Koordinaten xi , 1 ≤ i ≤ 3N, der Massenpunkte statt ihrer N Ortsvektoren; 6.2. LAGRANGE-GLEICHUNGEN 67 das System erfahre die äußeren Kräfte Fi , 1 ≤ i ≤ 3N und unterliege r holonomen Zwangsbedingungen f j (x1 , . . . , x3N ) = 0, 1≤ j≤r • das d’Alembertsche Prinzip besagt 3N X (Fi − mi ẍi )δxi = 0 (6.29) i=1 wobei die δxi wegen der Zwangsbedingungen die Gleichungen 3N X ∂ fj ∂xi i=1 δxi = 0 (6.30) für 1 ≤ j ≤ r erfüllen müssen • durch die r Lagrange-Multiplikatoren λ j lassen sich (6.29) und (6.30) kombinieren: 3N r X X ∂ f j Fi − mi ẍi + δxi = 0 λj (6.31) ∂x i i=1 j=1 wegen der r Zwangsbedingungen sind nur 3N −r der Verrückungen δxi beliebig • die λ j können nun so gewählt werden, dass die Koeffizienten der r abhängigen Verrückungen verschwinden; nehmen wir o.B.d.A. an, das seien die ersten r Verrückungen, dann folgt Fi − mi ẍi + r X j=1 λj ∂ fj =0, ∂xi 1≤i≤r (6.32) dies ist ein lineares Gleichungssystem für die r Multiplikatoren λ j , das eindeutig lösbar ist, wenn ! ∂ fj det , 0 , 1 ≤ i, j ≤ r (6.33) ∂xi gilt • die derart bestimmten λ j , 1 ≤ j ≤ r, werden dann in die verbleibenden 3N − r Gleichungen eingesetzt, 3N r X X ∂ f j Fi − mi ẍi + δxi = 0 λj (6.34) ∂x i i=r+1 j=1 die δxi , r + 1 ≤ i ≤ 3N, sind nun aber beliebig, also muss gelten Fi − mi ẍi + r X j=1 λj ∂ fj =0, ∂xi r + 1 ≤ i ≤ 3N dies sind die Lagrange-Gleichungen erster Art (6.35) 68 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN • daraus ergeben sich die Komponenten der Zwangskräfte r X ∂ fj λj Zi = ∂xi j=1 (6.36) • Beispiel: eine Perle gleite reibungslos auf einem masselosen Draht, der sich um eines seiner Enden dreht; die eine Zwangsbedingung ist, dass die Perle den Draht nicht verlassen kann, also gilt y = tan ϕ ⇒ y cos ϕ + x sin ϕ = 0 (6.37) x da keine äußeren Kräfte wirken, folgt aus dem d’Alembert-Prinzip mit dem einen Lagrange-Multiplikator λ −m ẍ − λ sin ϕ = 0 −mÿ + λ cos ϕ = 0 −x sin ϕ + y cos ϕ = 0 (6.38) der (wegen der Rotation nahe liegende) Ansatz x = r cos ϕ, y = r sin ϕ führt auf ! ! ! ẋ cos ϕ − sin ϕ = ṙ + rϕ̇ ẏ sin ϕ cos ϕ ! ! ! ẍ cos ϕ − sin ϕ 2 = (r̈ − rϕ̇ ) + (2ṙϕ̇ + rϕ̈) (6.39) ÿ sin ϕ cos ϕ woraus wegen der linearen Unabhängigkeit von sin ϕ und cos ϕ folgt m(r̈ − rϕ̇2 ) = 0 , m(2ṙϕ̇ + rϕ̇2 ) = λ (6.40) aus der ersten Gleichung sieht man, dass die Zentrifugalkraft mrϕ̇2 als Trägheitskraft auftritt, die die Perle radial nach außen treibt 6.2.2 Lagrange-Gleichungen zweiter Art • wir führen nun die f = 3N − r verallgemeinerten Koordinaten qi , 1 ≤ i ≤ f , ein; die kartesischen Koordinaten lassen sich dann schreiben als xi = xi (q1 , . . . , q f ; t) (6.41) • ausgedrückt durch die qi kann d’Alemberts Prinzip umformuliert werden; zunächst ist die virtuelle Arbeit der äußeren Kräfte f X f 3N X X X 3N ∂xi δAe = Fi δxi = Fi Q j δq j , (6.42) δq j =: ∂q j i=1 j=1 i=1 j=1 dabei wurden die verallgemeinerten Kraftkomponenten Q j := 3N X i=1 eingeführt Fi ∂xi ∂q j (6.43) 6.2. LAGRANGE-GLEICHUNGEN 69 • die virtuelle Arbeit der Trägheitskräfte ist δAt = − 3N X mi ẍi δxi (6.44) i=1 weiter benötigen wir ẋi = f X ∂xi ∂xi ∂ ẋi ∂xi q̇ j + ⇒ = ∂q j ∂t ∂q̇ j ∂q j j=1 (6.45) • damit können wir die virtuelle Arbeit der Trägheitskräfte wie folgt umformen: f X 3N X ∂xi δq j δAt = − mi ẍi ∂q j j=1 i=1 3N 3N f X ∂xi X d ∂xi d X = − δq(6.46) mi ẋi mi ẋi − dt j ∂q j dt ∂q j j=1 i=1 i=1 die Zeitableitung im zweiten Term können wir vereinfachen: f X ∂2 xi ∂2 xi d ∂xi = q̇k + dt ∂q j ∂q j ∂qk ∂t∂q j j=1 f ∂ X ∂xi ∂xi ∂ ẋi = = q̇k + ∂q j j=1 ∂qk ∂t ∂q j (6.47) • setzen wir dies in (6.46) ein, folgt 3N 3N f X ∂ ẋi ∂ ẋi X d X δAt = − mi ẋi δq mi ẋi − dt j ∂q̇ j ∂q j j=1 i=1 i=1 ! f X d ∂T ∂T = − − δq j (6.48) dt ∂q̇ j ∂q j j=1 mit der kinetischen Energie 3N 1X T= mi ẋi2 2 i=1 (6.49) • nun muss die gesamte virtuelle Arbeit der äußeren und der Trägheitskräfte verschwinden, also ! f X d ∂T ∂T + δq j (6.50) δAe + δAt = 0 = Qj − dt ∂q̇ j ∂q j j=1 da die q j alle beliebig waren, folgt d ∂T ∂T − = Qj , dt ∂q̇ j ∂q j 1≤ j≤ f das sind die Lagrange-Gleichungen zweiter Art (6.51) 70 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN • für Potentialkräfte gilt Fi = − ∂V(xk , t) ∂xi (6.52) sodass die verallgemeinerten Kräfte in der Form 3N X ∂xi ∂V(xk , t) ∂V(xk (ql , t), t) =− Qj = − ∂q j ∂xi ∂q j i=1 (6.53) geschrieben werden können • mit der Lagrange-Funktion L = T − V = T (q, q̇, t) − V(q, t) (6.54) lauten die Lagrange-Gleichungen zweiter Art dann einfach d ∂L ∂L − =0; dt ∂q̇i ∂qi (6.55) in dieser Form werden sie gewöhnlich kurz als Lagrange-Gleichungen bezeichnet 6.2.3 Beispiele • Massenpunkt der Masse m im Feld einer vorgegebenen Potentialkraft: 3 m ˙2 mX 2 T = ~x , L = T − V = ẋ − V(xi ) ; (6.56) 2 2 i=1 i aus den Lagrange-Gleichungen folgen die Bewegungsgleichungen d ∂V m ẋi + =0 dt ∂xi (6.57) wie erwartet • Massenpunkt der Masse m im Feld einer vorgegebenen Zentralkraft; Wahl ebener Polarkoordinaten (r, ϕ) als verallgemeinerte Koordinaten; das Potential ist V = V(r), und wegen ~x˙2 = ṙ2 +r2 +ϕ̇2 ist die kinetische Energie T = m/2(ṙ2 + r2 ϕ̇2 ); damit lautet die Lagrange-Funktion m L = (ṙ2 + r2 ϕ̇2 ) − V(r) (6.58) 2 für die beiden verallgemeinerten Koordinaten r und ϕ erhalten wir die Lagrange-Gleichungen d(mr2 ϕ̇) ∂V = 0 , mr̈ − mrϕ̇2 + =0 (6.59) dt ∂r die erste Gleichung formuliert die Drehimpuls-Erhaltung, die zweite die Bewegungsgleichung Kapitel 7 Extremalprinzipien 7.1 7.1.1 Hamiltons Prinzip der stationären Wirkung Beispiel: Das Fermatsche Prinzip • bisher: differentielle Beschreibung, d.h. aus dem Zustand eines Systems zur Zeit t wird seine Änderung innerhalb der Zeit dt vorhergesagt; jetzt: Übergang zu einer Beschreibung, die die gesamte Bahn eines Systems zur Grundlage nimmt • zum Begriff der Bahn: gegeben sei ein System mit f Freiheitsgraden und verallgemeinerten Koordinaten (q1 , . . . , q f ); diese mögen variieren in einem Bereich B ∈ R f , dem so genannten Konfigurationsraum; durch die Bewegung des Systems zwischen den Zeitpunkten t0 und t1 > t0 wird eine Kurve im Konfigurationsraum durchlaufen, die Bahn des Systems • wir nehmen an, dass die Bewegungsgleichungen des Systems aus einer Lagrange-Funktion L(q, q̇, t) ableitbar seien; wodurch unterscheidet sich dann die wirkliche Bahn q(t), t0 ≤ t ≤ t1 , zwischen den Punkten P0 und P1 von allen denkbaren anderen Bahnen q0 (t) mit q0 (t0 ) = q(t0 ) und q0 (t1 ) = q(t1 )? • ein Beispiel für diese Vorgehensweise liefert das Fermatsche Prinzip der geometrischen Optik, das besagt, dass längs eines tatsächlich realisierten Lichtstrahls die Lichtlaufzeit extremal wird • betrachten wir als Beispiel den Übergang eines Lichtstrahls aus dem linken Halbraum mit dem Brechungsindex n1 in den rechten Halbraum mit dem Brechungsindex n2 ; der Lichtstrahl soll zwischen zwei festen Punkten ~x1 und ~x2 verlaufen • die Bahnebene des Lichtstrahls sei die x-y-Ebene; die Lichtstrahlen sind in beiden Halbräumen Geraden; der Übergang vom linken 71 72 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN in den rechten Halbraum finde im Punkt (0, y) statt; die gesamte Lichtlaufzeit ist q q n1 n2 2 2 τ= x1 + (y − y1 ) + x22 + (y2 − y)2 (7.1) c c weil die Lichtgeschwindigkeit durch die Brechungsindices auf c/n1,2 reduziert ist; Fermats Prinzip besagt δτ = 0 (7.2) • eine kleine Störung δτ bedeutet, dass y leicht verschoben wird dτ δy dy δτ = (7.3) denn die Endpunkte des Lichtstrahls bleiben unverändert; das ergibt n2 n1 y − y1 y2 − y = (7.4) p p c x2 + (y − y1 )2 c x2 + (y2 − y)2 oder, mit den Winkeln α1,2 der Lichtstrahlen bezüglich der Normalen zur Trennfläche zwischen den beiden Halbräumen n1 sin α1 = n2 sin α2 (7.5) das ist das Brechungsgesetz 7.1.2 Hamiltons Prinzip • diese Vorgehensweise wird nun auf die Mechanik übertragen durch das Postulat: entlang der wirklichen Bahn wird die Wirkung t1 Z S [q(t)] := L(q, q̇, t)dt (7.6) t0 extremal • die Wirkung hat die Dimension Energie × Zeit, sie ist ein Funktional der Kurve q(t), d.h. eine Funktion einer Funktion • das Hamiltonsche Prinzip der stationären Wirkung lautet demnach δS [q(t)] = δ "Z t1 # L(q, q̇, t)dt = 0 (7.7) t0 wie man das Extremum eines Funktionals findet, ist Gegenstand der Variationsrechnung (entwickelt von Leonhard Euler) 7.1. HAMILTONS PRINZIP DER STATIONÄREN WIRKUNG 73 • sei q(t) die wahre Bahn, q0 (t) = q(t) + δq(t) eine leicht gestörte Bahn, dann muss δS in erster Ordnung in der Störung δq verschwinden, also Z t1 Z t1 δS = L(q + δq, q̇ + δq̇, t)dt − L(q, q̇, t)dt = 0 (7.8) t0 t0 wir entwickeln bis zur ersten Ordnung in δq: ! f X ∂L ∂L δqi + δq̇i L(q + δq, q̇ + δq̇, t) = L(q, q̇, t) + ∂qi ∂q̇i i=1 (7.9) woraus folgt δS = Z t0 t1 ! f X ∂L ∂L δqi + δq̇i dt = 0 ∂qi ∂q̇i i=1 (7.10) • partielle Integration des zweiten Terms nach der Zeit ergibt ! ! Z t1 Z t1 ∂L t1 d ∂L ∂L − δq̇i dt = δqi (7.11) ∂q̇i ∂q̇i t0 dt ∂q̇i t0 t0 der erste Term auf der rechten Seite verschwindet, denn die Endpunkte der Bahn werden festgehalten; damit folgt ! Z t1 X f d ∂L ∂L δS = dt − δqi = 0 (7.12) dt ∂q̇i ∂qi t0 i=1 da die δqi beliebig sind, folgen daraus die (bereits bekannten) Lagrange-Gleichungen (zweiter Art), d ∂L ∂L − =0 dt ∂q̇i ∂qi (7.13) • jeder der vorangegangenen Rechenschritte war reversibel, also ist das Hamiltonsche Prinzip der stationären Wirkung äquivalent zu den Lagrange-Gleichungen; Analogie: Fermats Prinzip; Extremalprinzipien waren und sind außerordentlich fruchtbar für die moderne Physik • das Wirkungsprinzip zeigt, dass die Lagrange-Funktion nicht eindeutig ist: wenn man L durch einen Term ergänzt, der die totale Zeitableitung einer beliebigen Funktion f (q, t) der Koordinaten und der Zeit ist, d f (q, t) L→ L+ (7.14) dt dann ändert sich dadurch die Wirkung um eine Konstante, S → S + f (q1 , t1 ) − f (q0 , t0 ) (7.15) die bei der Variation verschwindet; die Bewegungsgleichungen bleiben dadurch unverändert 74 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN 7.2 7.2.1 Hamilton-Funktion und kanonische Gleichungen Die kanonischen Gleichungen • die Lagrange-Gleichungen sind f Differentialgleichungen zweiter Ordnung, ihre Lösungen sind charakterisiert durch die 2 f Anfangs(0) bedingungen (qi , q̇i ) = (q(0) i , q̇i ); die folgende Transformation auf kanonische Form liefert nichts physikalisch Neues, ist aber sehr nützlich in der statistischen Physik und der Quantenmechanik • die Lagrange-Funktion des freien Teilchens ist Lfrei = m/2( ẋ12 + ẋ22 + ẋ32 ), also ist ∂Lfrei = m ẋi = pi (7.16) ∂ ẋi der zu xi gehörige Impuls • analog wird anhand der verallgemeinerten Koordinaten ein verallgemeinerter Impuls definiert, pi := ∂L ∂q̇i (7.17) er heißt der zu qi kanonisch konjugierte Impuls; er hat im Allgemeinen nicht die Dimension eines Impulses, aber qi pi behält die Dimension einer Wirkung, also Energie × Zeit • wenn die Transformation von q̇i auf pi umkehrbar ist, können die q̇i durch pi ersetzt werden, q̇i = q̇i (qi , pi , t) (7.18) dann können die 2 f Werte (q1 , . . . , q f , p1 , . . . , p f ) als Zustandsparameter verwendet werden • indem sich das gesamte System zeitlich verändert, werden diese 2 f Werte einen Bereich P ∈ R2 f durchlaufen, den so genannten Phasenraum; einer Kurve im Phasenraum entspricht eine Bahn im Konfigurationsraum B ∈ R f • Beispiel: die Lagrange-Funktion des harmonischen Oszillators in einer Dimension lautet L(x, ẋ, t) = m 2 k 2 m 2 ẋ − x = ẋ − ω20 x2 2 2 2 (7.19) der kanonisch zu x konjugierte Impuls ist p= ∂L = m ẋ ∂ ẋ (7.20) 7.2. HAMILTON-FUNKTION UND KANONISCHE GLEICHUNGEN75 der Oszillator beschreibt die Kurve ! ! x cos(ω0 t − δ0 ) = A0 p −mω0 sin(ω0 t − δ0 ) (7.21) also eine Ellipse im Phasenraum • wie lauten die Bewegungsgleichungen in (q, p) statt in (q, q̇)? Definition der Hamilton-Funktion H(q, p, t) := f X q̇i pi − L(q, q̇, t) , q̇ = q̇(q, p, t) (7.22) i=1 ihr vollständiges Differential lautet dH = = f X ∂H i=1 f X i=1 ∂qi dqi + f X ∂H i=1 ∂pi dpi + ∂H ∂t ! ∂L ∂L ∂L dqi − dq̇i − (7.23) pi dq̇i + q̇i dpi − ∂qi ∂q̇i ∂t wegen (7.17) heben sich die ersten und letzten Terme in Klammern in der zweiten Zeile heraus, also ! f X ∂L ∂L dH = q̇i dpi − dt (7.24) dqi − ∂q ∂t i i=1 • damit folgt ∂H = q̇i , ∂pi ∂H ∂L =− , ∂qi ∂qi ∂H ∂L =− ∂t ∂t (7.25) aus (7.13) und (7.17) entnehmen wir ṗi = d ∂L ∂L = dt ∂q̇i ∂qi (7.26) und damit ergeben sich aus (7.25) die hochsymmetrischen Hamiltonschen kanonischen Gleichungen ∂H = q̇i , ∂pi ∂H = − ṗi ∂qi (7.27) • damit folgt auch: wenn L nicht explizit von qi abhängt, ist der dazu konjugierte Impuls pi erhalten, dpi ∂L =0 ⇒ =0 ∂qi dt (7.28) solche Koordinaten heißen zyklisch: wenn qi nicht explizit in L vorkommt, kann ihr Nullpunkt beliebig verschoben werden, qi → qi + c, ohne dass sich die Bewegungsgleichungen ändern: Invarianzeigenschaft! 76 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN • Beispiel: für den harmonischen Oszillator ergibt sich die HamiltonFunktion H(x, p) = ẋp − L(x, ẋ) = p2 m 2 2 + ω x 2m 2 0 (7.29) und die Hamiltonschen Gleichungen lauten ẋ = p , m ṗ = −mω20 x (7.30) die erste Gleichung ist identisch mit der Definition des Impulses, die zweite ist die Bewegungsgleichung 7.2.2 Hamilton-Funktion und Energie • die totale zeitliche Änderung der Hamiltonfunktion ist ! f ∂H ∂H ∂H dH X ∂H = q̇i + ṗi + = dt ∂q ∂p ∂t ∂t i i i=1 (7.31) denn der Ausdruck in Klammern verschwindet wegen der Hamiltonschen Gleichungen; wenn also H nicht explizit von der Zeit abhängt, ist H eine Erhaltungsgröße • Beispiel: Massenpunkt der Masse m im Feld einer Potentialkraft, potentielle Energie V(x1 , x2 , x3 ); die Lagrange-Funktion lautet L= m 2 ( ẋ + ẋ22 + ẋ32 ) − V(x1 , x2 , x3 ) , 2 1 pi = ∂L = m ẋi (7.32) ∂ ẋi daraus ergibt sich die Hamiltonfunktion H= 3 X pi ẋi − L = i=1 3 X p2i +V = E 2m i=1 (7.33) d.h. die Hamiltonfunktion ist gleich der Gesamtenergie • gegeben sei ein konservatives System von N Massenpunkten, d.h. die Kräfte sind Gradienten einer Potentialfunktion V(~x1 , . . . , ~xN ); es unterliege r holonom-skleronomen Zwangsbedingungen f j (~xi ) = 0, 1 ≤ i ≤ r; diese werden durch Einführung von f = 3N − r verallgemeinerten Koordinaten qi , 1 ≤ i ≤ f erfüllt, d.h. ~xi = ~xi (q1 , . . . , q f ) (wegen der skleronomen Zwangsbedingungen kommt die Zeit nicht explizit vor); für die Geschwindigkeiten gilt ~x˙i = f X ∂~xi q̇ j , ∂q j j=1 1≤i≤N (7.34) 7.2. HAMILTON-FUNKTION UND KANONISCHE GLEICHUNGEN77 • die kinetische Energie T= f X 3N X ∂x ∂x m i i i q̇ j q̇k ~x˙i2 = 2 2 ∂q ∂q j k j,k=1 i=1 N X mi i=1 (7.35) ist eine homogene Funktion zweiten Grades in q̇i ; V hängt nicht explizit von q̇i ab • aus der Lagrange-Funktion L = T − V = T (q, q̇) − V(q) ergeben sich die kanonischen Impulse pi = ∂L ∂T = ∂q̇i ∂q̇i (7.36) damit lautet die Hamiltonfunktion H= f X pi q̇i − L = i=1 f X q̇i i=1 ∂T −T +V ∂q̇i (7.37) da T homogen vom Grad k = 2 in q̇ ist, folgt (vgl. 4.58) f X i=1 q̇i ∂T = 2T , ∂q̇i (7.38) also H = T + V = E, d.h. die Hamiltonfunktion ist die Gesamtenergie; da H nicht explizit von der Zeit abhängt, folgt die Erhaltung der Gesamtenergie, dH ∂H = =0 (7.39) dt ∂t • es gibt zahlreiche weitere Extremalprinzipien; als Beispiel verallgemeinern wir das Hamiltonsche Prinzip auf nichtkonservative Systeme • seien N Massenpunkte gegeben, die r < 3N holonomen Zwangsbedingungen unterliegen; für solche Systeme verschwindet die Variation Z t1 Z t1 δ T (q, q̇, t)dt + δAe dt = 0 (7.40) t0 t0 wobei wie vorher angenommen wird, dass die Bahnen im Konfigurationsraum dieselben Anfangs- und Endpunkte durchlaufen, δq(t0 ) = 0 = δq(t1 ) • unter Verwendung von (6.42) lautet die Variation (7.40) # Z t1 X f " ∂T ∂T dt δq j + δq̇ j + Q j δq j = 0 ∂q j ∂q̇ j t0 j=1 woraus nach partieller Integration folgt t1 # Z t1 X f " ∂T d ∂T ∂T dt + Qj − δq j + δq j ∂q j dt ∂q̇ j ∂q̇ j t0 t0 j=1 (7.41) (7.42) (7.43) 78 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN • die Randterme in (7.43) verschwinden wegen (7.41), und da die δq j beliebig sind, folgt ∂T d ∂T − − Qj = 0 dt ∂q̇ j ∂q j (7.44) das sind die Lagrange-Gleichungen 2. Art für den Fall nichtkonservativer Kräfte; die Umkehrung erfolgt analog 7.2.3 Kanonische Gleichungen aus dem Wirkungsprinzip • entsprechend der Definitiond der Hamiltonfunktion lässt sich die Wirkung auch in der Form S = t1 Z L(qi , q̇i , t)dt = t0 Z t0 t1 f X q̇i pi − H(qi , pi , t) dt (7.45) i=1 schreiben • die Variation der Wirkung führt dann auf δS = f Z X t1 " t0 i=1 # ∂H ∂H δqi − δpi dt pi δq̇i + q̇i δpi − ∂qi ∂pi (7.46) • der erste Term in eckigen Klammern kann partiell integriert werden, f Z X i=1 t1 pi δq̇i dt = t0 f X i=1 t1 f Z t1 X pi δqi − ṗi δqi t t 0 i=1 (7.47) 0 wobei die Randterme verschwinden; damit erhält man δS = f Z X i=1 t0 t1 " ! ! # ∂H ∂H q̇i − δpi − ṗi + δqi dt ∂pi ∂qi (7.48) aus δS = 0 folgen die Hamiltonschen Gleichungen, weil die δqi und δpi beliebig waren 7.2.4 Die Routhsche Funktion • es ist manchmal zweckmäßig, die Lagrange-Funktion nicht bezüglich aller verallgemeinerter Geschwindigkeiten q̇i auf die Hamilton-Funktion zu transformieren, sondern nur bezüglich einiger 7.2. HAMILTON-FUNKTION UND KANONISCHE GLEICHUNGEN79 • sei L(q1 , q2 , q̇1 , q̇2 ) die Lagrange-Funktion eines Systems mit zwei Freiheitsgraden, von denen nur q̇1 nach p1 transformiert werden soll; wir führen entsprechend die Routhsche Funktion R(q1 , p1 , q2 , q̇2 ) := q̇1 p1 − L(q1 , q2 , q̇1 , q̇2 ) (7.49) ein, deren vollständiges Differential lautet ! ∂L ∂L ∂L ∂L dR = − dq1 + p1 − dq̇1 + q̇1 dp1 − dq2 − dq̇2 ∂q1 ∂q̇1 ∂q2 ∂q̇2 (7.50) • der zweite Term verschwindet aufgrund der Definition des kanonisch konjugierten Impulses p1 ; im ersten Term kann aufgrund der Lagrange-Gleichungen ∂L d ∂L = = ṗ1 ∂q1 dt ∂q̇1 (7.51) ersetzt werden; damit folgt dR = − ṗ1 dq1 + q̇1 dp1 − ∂L ∂L dq2 − dq̇2 ∂q2 ∂q̇2 (7.52) • daraus folgt für die Routhsche Funktion ∂R ∂R = q̇1 , = −p1 ∂p1 ∂q1 ∂R ∂L ∂R ∂L = − , =− ∂q2 ∂q2 ∂q̇2 ∂q̇2 (7.53) bezüglich (q1 , p1 ) verhält sich die Routhsche Funktion also wie eine Hamilton-Funktion, und die Lagrange-Gleichungen zeigen, dass R sich bezüglich (q2 , q̇2 ) wie eine Lagrange-Funktion verhält, denn ∂R d ∂R = (7.54) dt ∂q̇2 ∂q2 • sei q1 eine zyklische Koordinate, dann hängt L nicht explizit von ihr ab und damit auch R nicht; der zugehörige kanonisch konjugierte Impuls p1 ist also erhalten und kann konstant gesetzt werden; die Routhsche Funktion hängt dann nur noch von (p1 , q2 , q̇2 ) ab, wobei p1 konstant ist; damit ergeben sich die Bewegungsgleichungen für q2 aus d ∂R(p1 , q2 , q̇2 ) ∂R(p1 , q2 , q̇2 ) − =0 dt ∂q̇2 ∂q2 (7.55) • Beispiel: die Lagrange-Funktion eines Massenpunktes im Zentralfeld V(r) ist m 2 L(ϕ, r, ϕ̇, ṙ) = ṙ + r2 ϕ̇2 − V(r) (7.56) 2 80 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN wobei ϕ zyklisch und deshalb pϕ = ∂L = mr2 ϕ̇ ∂ϕ̇ (7.57) erhalten ist; wir setzen pϕ := L3 konstant und transformieren auf die Routhsche Funktion R = ϕ̇pϕ −L = L2 m m 2 2 m 2 r ϕ̇ − ṙ +V(r) = − ṙ2 + 3 2 +V(r) (7.58) 2 2 2 2mr • die Bewegungsgleichung für r folgt nun, indem man R als Lagrange-Funktion auffasst, " # d L32 mr̈ + + V(r) = 0 (7.59) dr 2mr2 Kapitel 8 Kräfte in bewegten Bezugssystemen 8.1 Koordinatentransformationen 8.1.1 Zusammenhang zwischen kartesischen Koordinatensystemen • Zusammenhang zwischen zwei relativ zueinander bewegten kartesischen Bezugssystemen; gegeben seien ein gestrichenes System mit den Einheitsvektoren ~e0i , 0 1 0 ~e01 = 0 , ~e02 = 1 , ~e03 = 0 , (8.1) 0 0 1 und ein ungestrichenes System, dessen Einheitsvektoren im gestrichenen System lauten R1 j ~e j = R2 j , ~e j = Ri j~e0i (8.2) R3 j • damit ergeben sich die Richtungscosinus ~e0i · ~e j = cos(~e0i , ~e j ) = Ri j ~e0i 2 = Ri j (8.3) • nach Voraussetzung bilden die ~e0i und die ~e j orthonormale Dreibeine, ~e0i · ~e0j = δi j , ~ei · ~e j = δi j (8.4) • daraus folgt δ jk = ~e j · ~ek = ~e0i Ri j ~e0l Rlk = (~e0i · ~e0l )Ri j Rlk = Ri j Rik 81 (8.5) 82 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN also ist Ri j Rik die Einheitsmatrix, d.h. in Matrixschreibweise RT R = I (8.6) die Matrix R ist also orthogonal; ebenso folgt RRT = I (8.7) • aus Ri j Rik = δ jk folgen sechs unabhängige Bedingungen an die neun Matrixelemente Ri j , d.h. drei der Matrixelemente sind unabhängig 8.1.2 Eigenschaften orthogonaler Matrizen • eine Matrix R ist orthogonal, wenn RT R = I ist; dann folgt auch RRT = I , (det R)2 = 1 (8.8) R heißt eigentlich uneigentlich ) ( , wenn gilt det R = +1 −1 (8.9) R mit det R = −1 transformiert ein Rechts- in ein Linkssystem; ein Beispiel ist die Inversion am Ursprung, R = diag(−1, −1, −1) • orthogonale Matrizen bilden eine Gruppe, d.h. es existiert eine assoziative Verknüpfung zwischen ihnen, die wieder eine orthogonale Matrix ist und bezüglich derer es ein Einheitselement I und ein inverses Element R−1 zu R gibt, so dass RR−1 = I ist: die Verknüpfung ist die Multiplikation, das Einheitselement ist die Einheitsmatrix und das inverse Element ist die transponierte Matrix RT • eigentliche orthogonale Matrizen bilden eine Untergruppe; Drehungen sind i.A. nicht kommutativ! 8.1.3 Transformation des Ortsvektors • sei ~a0 der Ursprung des ungestrichenen Systems im gestrichenen, dann hängt der Ortsvektor im gestrichenen System mit dem im ungestrichenen zusammen nach ~x0 = ~a0 + x j~e j , xi0 = a0i + x j Ri j (8.10) für einen weiteren Punkt mit Ortsvektor ~y ist y0i = a0i + y j Ri j , d.h. der Verbindungsvektor der beiden Punkte transformiert sich wie xi0 − y0i = Ri j (xi − yi ) (8.11) 8.2. ZEITABHÄNGIGE TRANSFORMATIONEN 83 als Vektoren werden in der Physik allgemein solche Größen definiert, die sich wie Koordinatendifferenzen transformieren (der Ortsvektor ist demnach streng genommen kein Vektor und wird als gebundener Vektor bezeichnet) 8.2 8.2.1 Zeitabhängige Transformationen Winkelgeschwindigkeit • bewegen sich die beiden Koordinatensysteme beliebig relativ zueinander, ~x0 = ~a0 (t) + R(t) · ~x(t) (8.12) wobei ~a0 (t) und R(t) vorgegebene Funktionen der Zeit sind, dann gilt h i ~˙x0 = ~˙a0 + R · ~x˙ + Ṙ · ~x = ~˙a0 + R ~x˙ + RT Ṙ · ~x (8.13) • wegen RT R = I folgt ṘT R + RT Ṙ = 0 ⇒ RT Ṙ + (RT Ṙ)T = 0 (8.14) d.h. die Matrix RT Ṙ muss schiefsymmetrisch sein, also muss man sie in der Form 0 −ω3 +ω2 0 −ω1 RT Ṙ = ω3 (8.15) −ω2 +ω1 0 schreiben können, wobei die ωi zunächst beliebig numeriert sind • mithilfe des Levi-Civita-Symbols kann (8.15) in der Form (RT Ṙ)i j = −i jk ωk (8.16) geschrieben werden • die ωi bilden einen axialen Vektor, den Vektor der momentanen Winkelgeschwindigkeit; zum Beweis betrachten wir das ungestrichene System ~ei von einem System ~e∗i aus, das durch ~x = ~c + S ~x∗ (8.17) mit ~ei verknüpft ist; dabei seien ~c und S konstant; für gestrichene Vektoren ~x0 gilt ~x0 = ~a0 + R(~c + S ~x∗ ) = (~a0 + R~c) + (RS )~x∗ = ~a0∗ + R∗ ~x∗ (8.18) 84 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN also ist R∗ = RS , und damit (R∗T Ṙ∗ )i j = (S T RT ṘS )i j = −i jk ω∗k (8.19) außerdem gilt (S T RT ṘS )i j = S ai Rba Ṙbc S c j = −S ai acl ωl S c j (8.20) also muss gelten S ai acl ωl S c j = i jk ω∗k (8.21) wegen S S T = I folgt S lk S nk ωn = ωl , also acl S ai S c j S lk S nk ωn = det S i jk S nk ωn = i jk ω∗k (8.22) und damit ~ = (det S )S ω ~∗ ω (8.23) ~ ist in der Tat ein axialer Vektor, wie behauptet d.h. ω • setzt man (8.16) in (8.13) ein, folgt ~˙x0 = ~˙a0 + R(~x˙ + ω ~ × ~x) (8.24) analog gilt für einen beliebigen Vektor ~a mit ~a0 = R~a: ~˙a0 = R(~a˙ + ω ~ × ~a) (8.25) • Beispiel: Drehung um die z-Achse: cos ωt ~e1 = sin ωt , 0 − sin ωt ~e2 = cos ωt 0 , 0 ~e3 = 0 1 (8.26) die Drehmatrix R ergibt sich aus (8.3), cos ωt − sin ωt 0 R = sin ωt cos ωt 0 0 0 1 (8.27) 0 −ω 0 0 ~ = 0 RT Ṙ = ω 0 0 ⇒ ω 0 0 0 ω (8.28) damit ist wie zu erwarten war 8.2. ZEITABHÄNGIGE TRANSFORMATIONEN 8.2.2 85 ~ Bedeutung von ω • betrachten wir eine Drehung zwischen einem Zeitpunkt t und einem infinitesimal späteren Zeitpunkt t + dt, h i R(t + dt) = R(t) + Ṙ(t)dt = R(t) 1 + RT (t)Ṙ(t)dt (8.29) also h i R(t + dt) = R(t) 1 − i jk ωk (t) (8.30) ~ zur Zeit t in • seien die Koordinatenachsen so orientiert, dass ω ~e3 -Richtung zeigt; weiterhin sollen die gestrichenen Achsen bei t mit den ungestrichenen übereinstimmen, dann gilt 0 −|ω| 0 R(t) = 1 , (RT Ṙ)(t) = |ω| 0 0 (8.31) 0 0 0 und 1 −|ω|dt 0 1 0 R(t + dt) = |ω|dt 0 0 1 (8.32) dies entspricht einer Drehung um die ~e3 -Achse um den Winkel dϕ = |ω|dt ~ gibt also die Lage der momentanen Drehachse an; im Zeitinter• ω vall dt findet eine Drehung um den Winkel dϕ = |ω|dt im positiven ~ statt Drehsinn um ω 8.2.3 Infinitesimale Transformationen • der Begriff der infinitesimalen Transformationen ist z.B. in der Quantenmechanik sehr wichtig; seien bei der Transformation ~x0 = ~a0 + R~x (8.33) ~a0 und R beide infinitesimal, d.h. ~a0 = δ~a0 und R = I + δR • wegen der Orthogonalität ist RT R = I, also (I + δR)T (I + δR) = I ⇒ δRT + δR = 0 (8.34) d.h. δR ist schiefsymmetrisch und kann analog zu (8.16) in der Form δRi j = −i jk δϕk (8.35) dargestellt werden, wobei die δϕk infinitesimale Drehwinkel sind • für infinitesimale Koordinatentransformationen gilt allgemein ~x0 = ~x + δ~a0 + δ~ ϕ × ~x (8.36) 86 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN • aktiv heißt eine Transformation, bei der das physikalische System sich in einem festen Koordinatensystem bewegt; passiv heißt sie, wenn das physikalische System fest bleibt, das Koordinatensystem aber bewegt wird; mathematisch sind diese Arten der Transformation äquivalent, aber sie müssen physikalisch streng unterschieden werden 8.3 8.3.1 Bewegung auf der rotierenden Erde Scheinkräfte • gegeben sei ein (gestrichenes) Inertialsystem mit dem Ursprung im Erdmittelpunkt und ein (ungestrichenes) System, das mit der Erdoberfläche verbunden ist und seinen Ursprung in ~a0 auf der Erdoberfläche hat; die ~e3 -Achse zeige in ~a0 senkrecht von der Erdoberfläche weg • zwischen dem ungestrichenen und dem gestrichenen System vermittelt die Transformation ~x0 = ~a0 + R~x = R(~a + ~x) (8.37) wobei ~a der (zeitlich konstante) Ortsvektor des Ursprungs des gestrichenen im ungestrichenen System ist (Erdmittelpunkt im ungestrichenen System) • im gestrichenen System (Inertialsystem) erhalten wir die Bewegungsgleichungen aus der Lagrange-Funktion L = T − V mit iT h i m ˙0T ˙0 m h ˙ ~x · ~x = ~x + ω ~ × (~a + ~x) · ~x˙ + ω ~ × (~a + ~x) 2 2 (8.38) ~ ist der Vektor der wobei (8.37) und (8.25) verwendet wurden; ω momentanen Winkelgeschwindigkeit der Erdrotation im erdfesten (ungestrichenen) System T= • die Lagrange-Funktion lautet also L= o m n ˙2 ~x + 2~x˙ · ω ~ × (~a + ~x) + ω ~ × (~a + ~x) 2 − V(~x) (8.39) 2 daraus folgen die Bewegungsgleichungen o d n ˙ ~ × (~a + ~x) m~x + m ω ndt o ~ x) = 0 (8.40) ~ ) + m ω × (~a + ~x) × ω ~ − ∇V(~ − m(~x˙ × ω 8.3. BEWEGUNG AUF DER ROTIERENDEN ERDE 87 bzw. i h ~˙ × (~a + ~x) + 2m~ ω × ~x˙ m~x¨ + m ω ~ × (~ ~ × (~ ω × ~a) + ω × ~x) + m ω + m ω ~ x) = 0 + ∇V(~ (8.41) ~ x) tritt also eine effektive Kraft F~eff (~x, ~x˙) auf, statt der Kraft −∇V(~ die vier zusätzliche Terme enthält, die als Scheinkräfte bezeichnet werden • im einzelnen haben die Scheinkräfte folgende Bedeutung: h i ~˙ × (~a + ~x) : tritt nur auf, wenn die Drehachse sich än1. −m ω ~ ≈ konst., ω ~˙ ≈ 0 (abgesehen von dert; für die Erde ist ω Präzession und Polschwankungen) ~ ) =: F~C : Ablenkung von Massenpunk2. −2m(~ ω × ~x˙) = 2m(~x˙ × ω ten, die sich im erdfesten System bewegen (Corioliskraft); ~ und zu ~x˙ und verschwindet für Bewesie ist senkrecht zu ω ~ gungen längs ω ~ =: F~Z : Zentrifugalkraft; sie kann umgeformt 3. m (~ ω × ~x) × ω werden zu: " # h i ~ ~ ω (~ x · ω ) 2 2 ~ ~x − ω ~ (~ F~Z = m ω ω · ~x) = mω ~x − = mω2~y 2 ω (8.42) wobei ~y der senkrechte Abstand des Massenpunkts von der Drehachse ist ~ : unabhängig von ~x, proportional zu m; Zen4. m (~ ω × ~a) × ω trifugalkraft des Ursprungs, Beitrag zur Erdbeschleunigung ~g → ~g + (~ ~ ω × ~a) × ω • Scheinkräfte sind proportional zu m und haben ihren Ursprung in der Trägheitskraft −m~x¨; sie haben die Proportionalität zu m mit der Schwerkraft gemein, was die Allgemeine Relativitätstheorie ausnutzt; Scheinkräfte zeigen an, dass das Bezugssystem kein Inertialsystem ist 8.3.2 Zur Corioliskraft • seien ~e1 und ~e2 nun nach Süden bzw. nach Osten orientiert; ~e3 zeige weiterhin senkrecht nach oben; der Ursprung des erdfesten Systems befinde sich bei der geografischen Breite ϑ • der Vektor der Winkelgeschwindigkeit ist dann − cos ϑ 0 ~ = ω ω sin ϑ (8.43) 88 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN die Drehung findet „in östlicher Richtung“ statt ~ kann in Komponenten senkrecht bzw. tangential zur Erdoberflä• ω che zerlegt werden, −ω cos ϑ 0 0 0 ~ k = ~ ω , ω = (8.44) ⊥ ω sin ϑ 0 entsprechend hat die Corioliskraft zwei Komponenten ~ ⊥ ) + 2m(~x˙ × ω ~ k) F~C = 2m(~x˙ × ω (8.45) • Bewegung tangential zur Erdoberfläche hat ~x˙ ⊥ ~e3 , dann ist der ~ ⊥ zeigt auf der Nordzweite Term normal zur Erdoberfläche; ~x˙ × ω halbkugel nach rechts, auf der Südhalbkugel nach links relativ zur Rchtung von ~x˙; Bedeutung für Stürme, Meeresströmungen, Flussläufe, Ballistik 8.4 Das reduzierte Dreikörperproblem • wir betrachten eine Testmasse m3 , die sich in der Nähe von zwei Massen m1 , m2 m3 bewegt; m1 und m2 mögen sich auf Kreisbahnen um ihren Schwerpunkt bewegen; m3 laufe in der Bahnebene von m1 und m2 um; dieses Problem ist in der Astrophysik sehr wichtig und beschreibt z.B. die Bewegung eines Asteroiden unter dem Einfluss von Sonne und Jupiter • wir führen ein Koordinatensystem ~e ein, dessen Ursprung der Schwerpunkt von m1 und m2 ist und das mit dem Umlauf der beiden Massen corotiert; die x-Achse zeige entlang der Verbindungslinie der beiden Massen; weiterhin definieren wir m1 m2 =: µ , =: 1 − µ (8.46) m1 + m2 m1 + m2 damit sind die Koordinaten der beiden Massen m1 und m2 (µ − 1)d µd , ~x2 = 0 0 ~x1 = (8.47) 0 0 • die Umlaufzeit von m1 und m2 um einander ist gegeben durch (4.42), 4π2 d3 2 τ = (8.48) G(m1 + m2 ) der Betrag der Winkelgeschwindigkeit ist also r 2π G(m1 + m2 ) ω= = (8.49) τ d3 8.4. DAS REDUZIERTE DREIKÖRPERPROBLEM 89 und ω zeigt senkrecht zur Bahnebene; wir wählen den Umlaufsinn ~ in ~ez -Richtung zeigt, so, dass ω 0 ~ = 0 ω (8.50) ω ~ konstant ist, fallen die • die Koordinaten von m3 seien (x, y, 0); da ω ˙ ~ enthalten; da auch ~a = 0 ist, lautet die Terme in (8.41) weg, die ω Bewegungsgleichung für m3 ~ x3 ) = 0 (8.51) ~ × ~˙x3 + m3 ω ~ × (~ m3 ~¨x3 + 2m3 ω ω × ~x3 ) + m3 ∇V(~ mit dem Potential V(~x3 ) = − Gm1 Gm2 − r1 r2 und den Abständen h i1/2 r1 = (x − (µ − 1)d)2 + y2 , • die Kreuzprodukte sind −ωẏ ~ × ~˙x3 = ω ẋ , ω 0 (8.52) h i1/2 r2 = (x − µd)2 + y2 (8.53) −ω2 x ~ × (~ ω ω × ~x3 ) = −ω2 y 0 (8.54) sodass die Bewegungsgleichungen lauten ẍ − 2ωẏ − ω2 x + ∂V =0, ∂x ÿ + 2ω ẋ − ω2 y + ∂V = 0 (8.55) ∂y • mit dem effektiven Potential ω2 2 (x + y2 ) 2 lassen sich die Bewegungsgleichungen in der Form U := V − ẍ − 2ωẏ = − ∂U , ∂x ÿ + 2ω ẋ = − ∂U ∂y (8.56) (8.57) schreiben • Multiplikation der ersten Gleichung mit ẋ, der zweiten Gleichung mit ẏ und Addition der beiden führt auf " # d 1 2 2 ẋ + ẏ + U = 0 (8.58) dt 2 d.h. C := −2U − ẋ2 + ẏ2 = ω2 x2 + y2 − 2V + ẋ2 + ẏ2 = konst. (8.59) dies ist die Jacobi-Konstante, das einzige bekannte Integral des reduzierten Dreikörperproblems 90 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN • wegen ẋ2 + ẏ2 > 0 muss die Bewegung auf solche Bereiche eingeschränkt sein, in denen C + 2U < 0 ist, die also durch die HillKurve C U=− (8.60) 2 begrenzt werden ~ = 0 gilt; um solche • wenn m3 ruht, bleibt er in Ruhe, wenn ∇U Punkte zu suchen, nehmen wir zunächst r1 = r2 =: r an, dann ist r 2µ − 1 d2 x= d, r= + y2 (8.61) 2 4 und ∂U ∂x GM µ (x − (µ − 1)d) + (1 − µ)(x − µd) − ω2 x 3 r GM GM GM 2 = −ω x= − 3 x (8.62) r3 r3 d = wegen (8.49); dies verschwindet dann und nur dann, wenn √ 3d r=d ⇒ y=± (8.63) 2 • an diesen Orten ist auch ∂U GM 2 = −ω y=0 ∂y r3 daher ist m3 kräftefrei an den beiden Punkten − 1 2µ √ ~`4,5 = d ± 3 2 0 (8.64) (8.65) die mit m1 und m2 gleichseitige Dreiecke bilden; weitere drei Lösungen liegen auf der x-Achse; diese insgesamt fünf Punkte heißen Lagrange-Punkte • diejenige Hill-Kurve, die die x-Achse zwischen m1 und m2 berührt, heißt Roche-Grenze; sie definiert die Grenze der beiden Einzelsterne in einem Doppelsternsystem und ist für die Entwicklung von Doppelsternsystemen sehr wichtig Kapitel 9 Bewegung starrer Körper 9.1 Die Euler-Winkel • gegeben sei ein Intertialsystem ~e0i und ein körperfestes System ~ei , deren Ursprünge zusammen fallen; ein starrer Körper hat sechs Freiheitsgrade; davon bleiben drei, wenn der Ursprung festgehalten wird • zwischen Koordinaten ~x0 im Inertialsystem und Koordinaten ~x im körperfesten System besteht die Verbindung ~x0 = R · ~x (9.1) die sechs unabhängigen Matrixelemente von R werden durch die drei Euler-Winkel (ϑ, ϕ, ψ) parametrisiert, wobei 0≤ϑ≤π, 0 ≤ ϕ ≤ 2π , 0 ≤ ψ ≤ 2π (9.2) • nach der Drehung schneidet die ~e1 -~e2 -Ebene die ~e01 -~e02 -Ebene in der Knotenlinie, deren Richtung durch ~e03 × ~e3 gegeben ist • die Drehmatrix R, ausgedrückt durch die Eulerwinkel, wird wie folgt konstruiert: 1. Drehung um ~e03 um den Winkel ϕ; dadurch entsteht ein Koordinatensystem ~e∗i , und cos ϕ − sin ϕ 0 ~x0 = D3 (φ) · ~x∗ , D3 (φ) = sin ϕ cos ϕ 0 (9.3) 0 0 1 2. Drehung um ~e∗1 um den Winkel ϑ; dadurch entsteht ein Koordinatensystem ~e∗∗ i , und 1 0 0 ∗ ∗∗ ~x = D1 (ϑ) · ~x , D1 (ϑ) = 0 cos ϑ − sin ϑ (9.4) 0 sin ϑ cos ϑ 91 92 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER 3. Drehung um ~e∗∗ 3 um den Winkel ψ; dadurch gelangt man in das körperfeste Koordinatensystem ~ei , und cos ψ − sin ψ 0 ~x∗∗ = D3 (ψ) · ~x , D3 (ψ) = sin ψ cos ψ 0 (9.5) 0 0 1 insgesamt ergibt sich ~x0 = D3 (ϕ) D1 (ϑ) D3 (ψ) · ~x =: R(ϕ, ϑ, ψ) · ~x (9.6) mit der gesamten Drehmatrix R(ϕ, ϑ, ψ) = D3 (ϕ)D1 (ϑ)D3 (ψ) (9.7) • die Drehmatrix D1 (ϑ)D3 (ψ) lautet cos ψ − sin ψ 0 D1 (ϑ)D3 (ψ) = cos ϑ sin ψ cos ϑ cos ψ − sin ϑ sin ϑ sin ψ sin ϑ cos ψ cos ϑ (9.8) und die volle Drehmatrix R(ϕ, ϑ, ψ) ist cos ϕ cos ψ − sin ϕ cos ϑ sin ψ R(ϕ, ϑ, ψ) = sin ϕ cos ψ + cos ϕ cos ϑ sin ψ sin ϑ sin ψ − cos ϕ sin ψ − sin ϕ cos ϑ cos ψ sin ϕ sin ϑ − sin ϕ sin ψ + cos ϕ cos ϑ cos ψ − cos ϕ sin ϑ sin ϑ cos ψ cos ϑ (9.9) manchmal werden andere Konventionen für die Eulerwinkel benutzt, etwa indem man im zweiten Schritt nicht um die ~e∗1 -, sondern um die ~e∗2 -Achse dreht; die Drehmatrix R(ϕ, ϑ, ψ) lautet dann natürlich anders • der Konstruktion der Drehmatrix entsprechend kann der Vektor der momentanen Winkelgeschwindigkeit wie folgt durch die drei Eulerwinkel ausgedrückt werden: ~ = ϕ̇~e∗3 + ϑ̇~e∗∗ ω e3 1 + ψ̇~ (9.10) dabei sind die Einheitsvektoren längs der Koordinatenachsen bestimmt durch ~e0i · ~e j = Ri j , also cos ψ ~e∗∗ e j = D3 (ψ) 1 j = − sin ψ (9.11) 1 ·~ 0 und sin ϑ sin ψ ∗ ~e3 · ~e j = D1 (ϑ)D3 (ψ) 3 j = sin ϑ cos ψ cos ϑ (9.12) 9.2. TRÄGHEITSTENSOR UND DREHIMPULS 93 • damit lautet die vektorielle Winkelgeschwindigkeit im körperfesten System cos ψ sin ϑ sin ψ 0 ~ = ϑ̇ − sin ψ + ϕ̇ sin ϑ cos ψ + ψ̇ 0 ω (9.13) 0 cos ϑ 1 • damit sind die verallgemeinerten Koordinaten gefunden, in denen sich die Bewegung eines starren Körpers ausdrücken lässt ~ ist nicht eine zeitliche Ableitung eines Vektors ~c, • ω ~ , ω d~c dt (9.14) denn wenn das so wäre, folgte aus ∂~c ∂~c ∂~c ~c˙ = ϕ̇ + ψ̇ ϑ̇ + ∂ϕ ∂ϑ ∂ψ (9.15) und (9.10) ∂c1 ∂c1 = cos ψ , =0 ∂ϑ ∂ψ ⇒ ∂2 c1 ∂2 c1 , ∂ψ∂ϑ ∂ϑ∂ψ (9.16) ~ ein nichtholonomer was auf einen Widerspruch führt; damit ist ω Geschwindigkeitsvektor 9.2 9.2.1 Trägheitstensor und Drehimpuls Der Trägheitstensor • die kinetische Energie des starren Körpers ist N 1 X ˙0T ˙0 T= mi ~xi ~xi 2 i=1 (9.17) denn der starre Körper wird zerlegt in Massenpunkte der Massen mi an den körperfesten Orten ~xi gedacht, die im Inertialsystem an den Orten ~xi0 liegen • mit ~˙x0i = R(t)(~ ω × ~xi ) folgt daraus T = = =: N N 2 1 X h 2 2 i 1X ~ × ~xi = ~ ~xi − ω ~ · ~xi 2 mi ω mi ω 2 i=1 2 i=1 N i 1 X h 2 ~ ωj m x δ − x x ω i jk i, j i,k i k 2 i=1 1 ω j Θ jk ωk 2 (9.18) 94 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER • um festzustellen, welche Art mathematischen Objekts Θ ist, untersuchen wir sein Transformationsverhalten; ausgedrückt durch ein neues Koordinatensystem ~e∗i mit gleichem Ursprung lauten die x j = S jk xk∗ ; wegen der Orthogonalität von S ist S jl S km δlm = δ jk (9.19) das Skalarprodukt ist natürlich invariant, ~x2 = S jl xl∗ S jm xm∗ = δlm xl∗ xm∗ = ~x∗2 (9.20) sodass Θ jk = N X h i ∗ ∗ ~xi,m mi ~xi∗2 S jl S km δlm − S jl S km xi,l i=1 = S jl S km Θ∗lm (9.21) damit erweist sich Θ als ein Tensor zweiter Stufe: • eine Größe T i1 ...in , 1 ≤ ik ≤ d, heißt d-dimensionaler Tensor n-ter Stufe, wenn sie sich bei einem Wechsel des Koordinatensystems nach xi = S i j x∗j mit zeitlich konstantem, eigentlich-orthogonalem S transformiert wie T i1 ...in = S i1 j1 · . . . · S in jn T ∗j1 ... jn (9.22) d.h. sie transformiert sich bezüglich jedes ihrer Indizes wie ein Vektor; demnach ist ein Skalar ein Tensor nullter Stufe und ein Vektor ein Tensor erster Stufe • Θ ist offenbar symmetrisch, Θ jk = Θk j , und lässt sich in Form einer reellen, symmetrischen Matrix Θ = (Θ jk ) schreiben; diese Matrix transformiert sich bei Koordinatenwechseln wie Θ = S Θ∗ S T (9.23) • aufgrund seiner Eigenschaften kann Θ durch eine orthogonale Transformation diagonalisiert werden, d.h. es gibt eine orthogonale Koordinatentransformation so, dass Θ1 0 0 Θ∗ = S T ΘS = 0 Θ2 0 = diag(Θ1 , Θ2 , Θ3 ) (9.24) 0 0 Θ3 ist • zur Erinnerung: sei A = AT eine reelle, symmetrische Matrix; dann gilt allgemein: 1. λ heißt Eigenwert dieser Matrix, wenn es einen Vektor ~y , 0 gibt, für den A~y = λ~y gilt; ~y heißt Eigenvektor 9.2. TRÄGHEITSTENSOR UND DREHIMPULS 95 2. die Eigenwerte λ sind reell und bestimmt durch das charakteristische Polynom det(A − λI) = 0 3. Eigenvektoren zu verschiedenen Eigenwerten sind orthogonal 4. die Eigenvektoren können so gewählt werden, dass sie ein vollständiges Orthonormalsystem bilden • der Trägheitstensor für einen aus N Massenpunkten zusammengesetzten starren Körper, Θ jk = N X h i mi ~xi2 δ jk − xi, j xi,k (9.25) i=1 kann für kontinuierliche Körper mit der Dichte ρ(~x) durch Z Θ jk = ρ(~x) x2 δ jk − x j xk (9.26) verallgemeinert werden • sei ~n ein beliebiger Einheitsvektor, ~nT ~n = 1, dann ist das Trägheitsmoment um die Achse ~n definiert als N N X h i X T 2 2 ~n Θ~n = n j nk Θ jk = mi ~xi − (~xi · ~n) = mi li2 (9.27) i=1 i=1 wobei li der senkrechte Abstand des Massenpunktes i von der Drehachse ist • demnach sind die Diagonalelemente Θii von Θ die Trägheitsmomente um die Koordinatenachsen; die Θ jk mit j , k heißen Deviationsmomente; die Eigenwerte von Θ heißen Hauptträgheitsmomente, ihre Eigenvektoren sind die Hauptträgheitsachsen • durch ~yT Θ~y = y j yk Θ jk = 1 wird das Trägheitsellipsoid definiert; im System der Hauptträgheitsachsen ist offensichtlich, dass es sich um ein Ellipsoid handelt: Θ1 y21 + Θ2 y22 + Θ3 y23 = 1 (9.28) Beispiele für den Trägheitstensor • zwei Massenpunkte m1 und m2 seien durch eine masselose Stange miteinander verbunden; m2 befindet sich im Ursprung, m1 läuft in der x1 -x2 -Ebene um; dann ist 2 l2 cos ϕ sin ϕ 0 l 0 0 l2 cos2 ϕ l2 sin2 ϕ 0 Θ = m1 0 l2 0 − l2 cos ϕ sin ϕ 0 0 l2 0 0 0 sin2 ϕ − cos ϕ sin ϕ 0 cos2 ϕ 0 = m1 l2 − cos ϕ sin ϕ (9.29) 0 0 1 96 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER seine Eigenwerte sind bestimmt durch das charakteristische Polynom det(Θ − λ) = (m1 l2 − λ) (9.30) h i 2 2 2 2 2 2 4 2 × (m2 l cos ϕ − λ)(m2 l sin ϕ − λ) − m2 l sin ϕ cos ϕ = (m1 l2 − λ) [λ2 − λ m1 l2 ] (9.31) die erste Lösung λ1 = m1 l2 ist offensichtlich, die anderen beiden ergeben sich, wenn man den Ausdruck in eckigen Klammern gleich Null setzt, λ2 − λ m1 l2 = 0 (9.32) also λ2 = m1 l2 = λ1 , λ3 = 0; die Eigenvektoren zu diesen Eigenwerten sind 0 − sin ϕ cos ϕ ~y1 = 0 , ~y2 = cos ϕ , ~y3 = sin ϕ (9.33) 1 0 0 • für eine homogene Kugel mit Dichte ρ und Radius R verschwinden die Deviationsmomente des Trägheitstensors, z.B. Θ12 = ρ R Z π Z sin ϑdϑ 2 r dr 0 0 2π Z dϕ(r2 sin2 ϑ cos ϕ sin ϕ) = 0 0 (9.34) die Hauptträgheitsmomente müssen alle gleich sein (Symmetrie!), und ihre Summe ist 3Θ11 = Θ11 + Θ22 + Θ33 Z R Z π Z 2π 2 = ρ r dr sin ϑdϑ dϕ(3r2 − x12 − x22 − x32 ) 0 0 0 Z R 8πρ 5 = 8πρ r4 = R (9.35) 5 0 mit ρ = 3M/4πR3 folgt daraus Θ11 = Θ22 = Θ33 = 9.2.2 2 MR2 5 (9.36) Drehimpuls • im körperfesten System ist die Geschwindigkeit der Massenpunkte ~˙xi = ω ~ × ~xi ; deshalb gilt für den Drehimpuls im raumfesten System ~L0 = N X i=1 mi ~xi0 N X 0 ˙ ~ × ~xi × ~xi = R(t) mi ~xi × ω i=1 (9.37) 9.2. TRÄGHEITSTENSOR UND DREHIMPULS 97 sodass der Drehimpuls im körperfesten System ~L = RT (t)~L0 = N X ~ × ~xi mi ~xi × ω i=1 = N X i h ~ − ~xi (~xi · ω ~ ) = Θ~ ω mi ~xi2 ω (9.38) i=1 beträgt √ ~ T Θ~ ~ / 2T ein Punkt auf dem Trägheitsel• wegen 2T = ω ω ist ω lipsoid; die Tangentialebene an das Trägheitsellipsoid in diesem Punkt ist ( ) T ~ ω ~y ~y Θ √ =1 (9.39) 2T √ ~ / 2T (d.h. die Menge aller Vektoren ~y, deren Projektion auf ω ω steht also senkrecht konstant ist); der Drehimpuls ~L = Θ~ √ auf der ~ / 2T Tangentialebene an das Trägheitsellipsoid im Punkt ω Der Satz von Steiner • das Trägheitsmoment eines starren Körpers der Masse M um eine Achse durch einen beliebigen Punkt im Abstand l von seinem Schwerpunkt ist gleich seinem Trägheitsmoment im Schwerpunktsystem, vermehrt um Ml2 (Satz von Steiner); das sieht man wie folgt: Θ jk = N X mi ~xi2 δ jk − xi, j xi,k i=1 = N X h i ∗ ~ 2 δ jk − (xi,∗ j + X j )(xi,k mi (~xi∗ + X) + Xk ) (9.40) i=1 ~ der Ortsvektor des wobei ~xi∗ die Schwerpunktkoordinaten und X Schwerpunkts sind; daraus folgt Θ jk = N X h i ~ 2 δ jk − X j Xk mi ~xi∗ 2 δ jk − xi,∗ j xi,k + M X i=1 ~· + 2δ jk X N X mi ~xi∗ − Xj i=1 N X ∗ mi xi,k i=1 − Xk N X mi xi,∗ j i=1 (9.41) wobei die Gesamtmasse M = mi verwendet wurde; die drei Terme in der zweiten Zeile verschwinden aufgrund der Definition des Schwerpunkts; sei nun ~n die Drechachse im Abstand l vom Schwerpunkt, dann gilt P ~ 2 − (X ~ · ~n)2 l2 = X (9.42) 98 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER und damit folgt ~nT Θ~n = ~nT Θ∗~n + Ml2 (9.43) wie behauptet 9.3 9.3.1 Eulersche Gleichungen und der kräftefreie Kreisel Eulersche Gleichungen • auf den i-ten Massenpunkt wirke im raumfesten Koordinatensystem die äußere Kraft F~i0 , dann ist das Drehmoment ~0 = M N X ~xi0 × F~i0 , i=1 d~L0 ~0 =M dt (9.44) ~ im körperfesten System bestehen die • mit den Größen ~L und M Zusammenhänge ~L0 = R~L , ~ 0 = RM ~ , M ~L = Θ~ ω (9.45) und daher d ~ ˙ ~ ~ ~ ~ ~ × L = RM RL = R M ⇒ R L + ω dt (9.46) wobei (8.25) verwendet wurde; nach Multiplikation mit RT von links folgen die Eulerschen Gleichungen ~L˙ + ω ~ ~ × ~L = Θω ~˙ + ω ~ × Θ~ ω=M (9.47) die im Hauptachsensystem die Form M1 = Θ1 ω̇1 + ω2 ω3 (Θ3 − Θ2 ) M2 = Θ2 ω̇2 + ω1 ω3 (Θ1 − Θ3 ) M3 = Θ3 ω̇3 + ω1 ω2 (Θ2 − Θ1 ) (9.48) annehmen 9.3.2 Der kräftefreie Kreisel Die Poinsot-Konstruktion ~ 0 = 0, also ~˙L0 = 0, also sind T und ~L0 • kräftefrei bedeutet M konstant; wir betrachten den Kreisel im Schwerpunktsystem; die Ebene n √ o E := ~y0 ~y0 T · ~L0 = 2T (9.49) 9.3. EULERSCHE GLEICHUNGEN UND DER KRÄFTEFREIE KREISEL99 ist also invariabel; sie ist eine Tangentialebene an das Trägheitsellipsoid, denn bezogen auf das körperfeste System gilt ( ) n T √ o ~ ω T ~ T E = ~y ~y · L = ~y Θ~ ω = 2T = ~y ~y Θ √ =1 (9.50) 2T E ist also identisch mit der Ebene, die in (9.39) definiert wurde • für den Vektor der Winkelgeschwindigkeit gilt ˙ 0 = R(ω ~ω ~˙ + ω ~ ×ω ~ ) = Rω ~˙ (9.51) also d~ ω0 d~ ω =R√ (9.52) √ 2T 2T d.h. der Berührungspunkt zwischen invariabler Ebene und Trägheitsellipsoid bewegt sich im raum- und im körperfesten System um denselben infinitesimalen Vektor weiter; das Trägheitsellipsoid „rollt“ auf der invariablen Ebene ab, ohne zu gleiten d~ ω0 = Rd~ ω, • die Bahnkurve des Berührungspunktes auf der Ebene E heißt Herpolhodie, seine Bahn auf dem Trägheitsellipsoid heißt Polhodie; die Polhodie ist stets geschlossen, die Herpolhodie im Allgemeinen nicht ~ ein • bei einer Drehung um eine der Hauptträgheitsachsen ist ω ˙ ~ ~ ; dann ist ω ~ = 0 und der BeEigenvektor von Θ und daher L k ω rührungspunkt zwischen invariabler Ebene und Trägheitsellipsoid liegt fest • sei nun das Trägheitsellipsoid ein Rotationsellipsoid, dann stimmen zwei der Hauptträgheitsmomente überein; sei o.B.d.A. Θ1 = Θ2 , Θ3 ; die Symmetrieachse heißt Figurenachse ~ 0 offenbar einen Kegel (den • im raumfesten System beschreibt ω raumfesten Rastpolkegel) um den (festen) Drehimpuls ~L0 , wobei ~ 0 und ~L0 konstant bleibt der Winkel zwischen ω ~ 0 beschreibt auch die Figurenachse einen • infolge der Drehung um ω 0 Kegel um ~L , den Präzessionskegel ~ einen Kegel um die Figuren• im körperfesten System beschreibt ω achse, den Gangpolkegel Verwendung der Euler-Gleichungen • für die quantitative Betrachtung setzen wir Θ1 = Θ2 =: Θ und Θ3 − Θ =: ∆Θ; wieder sei der Kreisel kräfte frei und damit das 100 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER ~ 0 = 0; die Eulerschen Gleichungen lauten äußere Drehmoment M in diesem Fall Θω̇1 + ω2 ω3 ∆Θ = 0 Θω̇2 − ω1 ω3 ∆Θ = 0 Θω̇3 = 0 (9.53) ω3 ist also konstant, und ω3 ∆Θ = 0 Θ ω3 ∆Θ ω̇2 − ω1 = 0 Θ ω̇1 + ω2 (9.54) • die beiden Gleichungen (9.54) können komplex zusammen gefasst werden, ω3 ∆Θ d (ω1 + iω2 ) − i(ω1 + iω2 ) =0 (9.55) dt Θ Trennung der Variablen ergibt " # ω3 ∆Θ ω1 + iω2 = A exp i t (9.56) Θ ~ mit der Frequenz ω3 ∆Θ/Θ d.h. im körperfesten System läuft ω um die Figurenachse • wegen ~L = Θ~ ω folgt für den Drehimpuls # " ω3 ∆Θ t L1 + iL2 = AΘ exp i Θ L3 = Θ3 ω3 = konst. (9.57) • wählen wir das raumfeste System so, dass ~e03 k ~L ist, dann ist der Winkel zwischen der Figurenachse und ~e03 konstant, ϑ = konst., ϑ̇ = 0, und |A|Θ tan ϑ = (9.58) Θ3 ω3 • aus (9.10), (9.11) und (9.12) folgt mit ϑ̇ = 0 sin ϑ sin ψ ~ = ϕ̇ sin ϑ cos ψ ω cos ϑ 0 + ψ̇ 0 1 (9.59) also ω1 + iω2 = ϕ̇ sin ϑ(sin ψ + i cos ψ) = iϕ̇ sin ϑe−iψ ω3 = ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ = konst. (9.60) 9.3. EULERSCHE GLEICHUNGEN UND DER KRÄFTEFREIE KREISEL101 • vergleichen wir (9.56) und (9.60) und setzen A = |A|eiδ (9.61) erhalten wir !# " ω3 ∆Θ t+δ+ψ ϕ̇ sin ϑ = −i|A| exp i Θ " !# ω3 ∆Θ π = |A| exp i t+δ+ψ− Θ 2 (9.62) das ist nur möglich, wenn das Argument der Exponentialfunktion verschwindet, also ψ= π ω3 ∆Θ − t−δ 2 Θ (9.63) und damit ist dann auch ϕ̇ sin ϑ = |A|, also ϕ= |A| Θ3 ω3 t + ϕ0 = t + ϕ0 sin ϑ Θ (9.64) d.h. die Figurenachse läuft mit der Kreisfrequenz Θ3 ω3 /Θ um den Drehimpulsvektor 9.3.3 Kreisel im Schwerefeld • ein Kreisel der Masse m mit Θ1 = Θ2 , Θ3 im Schwerefeld der Erde werde außerhalb seines Schwerpunkts, aber auf der Figurenachse unterstützt, der Vektor vom Unterstützungspunkt zum Schwerpunkt sei ~s; die Schwerkraft übt dann das Drehmoment ~ = m~s × ~g M (9.65) auf den Kreisel aus • die Bewegungsgleichungen leiten wir aus dem Lagrange-Formalismus her, wobei die Euler-Winkel als verallgemeinerte Koordinaten verwendet werden; die Lagrange-Funktion lautet 1 T ~ Θ~ L=T −V = ω ω + m~g · ~s 2 (9.66) • mit (9.13) folgt daraus 2 1 L = Θ1 ϑ̇2 + ϕ̇2 sin2 ϑ + Θ3 ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − Mg|~s| cos ϑ 2 (9.67) die Integration der Bewegungsgleichung führt auf elliptische Integrale 102 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER • wenn der Körper schnell um eine Drehachse nahe der Figurenachse rotiert, ist auch der Drehimpulsvektor nahe der Figurenachse; wegen des Drehimpulssatzes d~L0 ~ 0 = m(~s0 × ~g0 ) =M dt (9.68) weicht der Drehimpulsvektor senkrecht zur Schwerkraft aus • die Figurenachse folgt im wesentlichen dem Drehimpulsvektor; die Zeitskala, auf der sich der Drehimpuls ändert, ist τ1 ∼ L0 L0 ∼ V L̇0 (9.69) während die typische Zeitskala für die Rotation durch τ2 ∼ 1 L0 ∼ ω T (9.70) gegeben ist; unter der Annahme schneller Rotation ist T V und daher τ2 τ1 , d.h. die Figurenachse präzediert im Vergleich zur Rotation langsam um die Vertikale • unter unseren Annahmen ist ~s0 etwa parallel zu ~L0 , also ~s0 = s0 ~ 0 L L0 (9.71) damit folgt aus dem Drehimpulssatz also s0 d~L0 = −m 0 (~g0 × ~L0 ) dt L (9.72) ! 0 ~L0 (t + dt) = ~L0 (t) + − ms ~g0 × ~L0 dt L0 (9.73) das hat die Gestalt einer infinitesimalen Drehung (8.36) mit dem Vektor der Winkelgeschwindigkeit 0 ~ 0 = − ms ~g0 Ω L0 je rascher der Kreisel rotiert, desto langsamer präzediert er (9.74) Kapitel 10 Kleine Schwingungen um eine Ruhelage 10.1 Lagrange-Funktion und Bewegungsgleichungen 10.1.1 Kinetische und potentielle Energie • gegeben sei ein System aus N Massenpunkten mit f Freiheitsgraden, das durch die verallgemeinerten Koordinaten qi , 1 ≤ i ≤ f , beschrieben wird • seine potentielle Energie sei V(q), seine kinetische Energie lautet, ausdgedrückt durch die qi f X f X X N mi ∂~xi ∂~xi q̇ j q̇k T= 2 ∂q ∂q j=1 k=1 i=1 j (10.1) k • seine Lagrange-Funktion ist L = T (q, q̇) − V(q), die Bewegungsgleichungen folgen aus den Lagrange-Gleichungen ∂L d ∂L − =0, dt ∂q̇ j ∂q j 1≤ j≤ f (10.2) • in der Gleichgewichtslage des Systems müssen die verallgemeinerten Geschwindigkeiten verschwinden, q̇i = 0 (1 ≤ i ≤ f ); da T eine quadratische Form in den q̇i ist, ist dort auch ∂T/∂q̇i = 0, und damit ist auch ∂L/∂q̇i = 0; ferner verschwindet wegen q̇i = 0 auch ∂T/∂qi , und damit gilt − ∂V ∂L = =0 ∂qi ∂qi 103 (10.3) 104KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE d.h. die verallgemeinerten Kraftkomponenten Qi = − ∂V ∂qi (10.4) verschwinden im Gleichgewicht • ohne Beschränkung der Allgemeinheit setzen wir qi = 0 in der Gleichgewichtslage und entwickeln die Lagrange-Funktion bis zur 2. Ordnung in den kleinen Auslenkungen qi : f f X ∂V 1 X ∂2 V qi + V(qi ) = V|q=0 + qi q j (10.5) ∂q 2 i, j=1 ∂qi ∂q j q=0 i q=0 i=1 wegen (10.3) verschwindet der zweite Term, und der konstante erste Term kann o.B.d.A. gleich Null gesetzt werden, damit ist dann f f 1X 1 X ∂2 V V(qi ) = Vi j qi q j (10.6) qi q j =: 2 i, j=1 ∂qi ∂q j q=0 2 i, j=1 • analog kann die kinetische Energie in der Form f 1X T= T i j q̇i q̇ j , 2 i, j=1 T i j := N X i=1 ∂~xi ∂~xi mi ∂qi ∂q j ! q=0 (10.7) geschrieben werden • die quadratischen Formen T und V können nun durch Matrizen ausgedrückt werden; seien q1 T 11 · · · T 1 f .. ~q := ... , T := ... . qf T f1 · · · T f f V11 · · · V1 f .. (10.8) V := ... . Vf1 · · · Vf f T und V sind offenbar aufgrund ihrer Definition symmetrisch, T = T T , V = VT T ~q˙ ≥ 0, denn • für beliebige ~q˙ ist ~˙qT f 2 N X X ∂~xi T ˙ ~qT ~q˙ = mi q̇ j ≥ 0 ∂q j i=1 (10.9) j=1 (natürlich kann die kinetische Energie nicht negativ werden!); also ist T eine positiv-semidefinite Matrix; wir nehmen im folgenden an, dass T positiv definit ist 10.2. NORMALKOORDINATEN 10.1.2 105 Bewegungsgleichungen • die Lagrange-Funktion lautet dann unter Vernachlässigung von Termen höherer als zweiter Ordnung in den qi und der unwesentlichen Konstante V(~q = 0) L= 1 ˙T ˙ ~qT ~q − ~qT V~q 2 (10.10) wäre T positiv semi-definit, müssten hier Terme höherer Ordnung berücksichtigt werden • aus den Euler-Lagrange-Gleichungen folgt d ˙ T ~q + V~q = 0 ⇒ T ~q¨ + V~q = 0 dt (10.11) das ist offensichtlich eine Verallgemeinerung der Schwingungsgleichung aus dem zweiten Kapitel, ẍ + ω20 x = 0 10.2 Normalkoordinaten 10.2.1 Transformation auf Normalkoordinaten (10.12) • da T positiv definit ist, gibt es eine Matrix B so, dass T = BT B (10.13) gilt • zum Beweis benutzen wir, dass sich T diagonalisieren lässt; seien t1 , . . . , t f die Diagonalelemente nach der Diagonalisierung, dann gibt es eine orthogonale Koordinatentransformation R so, dass T = RT diag(t1 , . . . , t f )R (10.14) gilt; da T positiv definit ist, sind die ti ≥ 0 (1 ≤ i ≤ f ) √ √ • sei nun B0 = diag( t1 , . . . , t f )R, dann gilt offenbar T = B0 T B0 (10.15) und f Y √ det B = ti 0 i=1 (10.16) 106KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE • die Matrix B0 ist nur bis auf eine orthogonale Transformation S festgelegt, denn B0 → SB0 =: B (10.17) liefert ebenso BT B = B0 T T 0 S S B = B0 T B0 = T • wir transformieren jetzt die Koordinaten qi → ξi mit ξ1 ~ξ = B~q , ~ξ := ... ξf (10.18) (10.19) da det B > 0 ist, lässt B sich invertieren und ~q = B−1~ξ =: A~ξ (10.20) • damit nimmt die Lagrange-Funktion die folgende Form an: 1 1 ˙T ˙ T T ˙ ~qT ~q − ~qT V~q = ~˙qB L = B~q − ~qT V~q 2 2 T 1 ~˙ ~˙ ~T T ξξ − ξ A VA~ξ (10.21) = 2 • wir können nun noch von der Freiheit Gebrauch machen, B von links mit einer orthogonalen Matrix S zu multiplizieren, B = SB0 ; A = B−1 = B0 −1 S−1 =: A0 ST (10.22) damit wird h i AT VA = S A0 T VA0 ST (10.23) • die Transformation S kann nun so gewählt werden, dass der Ausdruck in eckigen Klammern in (10.23) diagonalisiert wird, dann ist h i AT VA = S A0 T VA0 ST = diag(λ1 , . . . , λ f ) (10.24) • in den Koordinaten ξi lässt sich also die Lagrange-Funktion in der einfachen Form f X 1 2 (10.25) L= ξ̇i − λi ξi2 2 i=1 schreiben, und die Bewegungsgleichungen lauten dann d ∂L ∂L d − = ξ̇i + λi ξi = ξ̈i + λi ξi = 0 dt ∂ξ̇i ∂ξi dt (10.26) für alle 1 ≤ i ≤ f • durch die Einführung der Koordinaten ξi entkoppeln die Bewegungsgleichungen und beschreiben f unabhängige harmonische Oszillatoren; ξi heißen Normalkoordinaten 10.2. NORMALKOORDINATEN 10.2.2 107 Bestimmung der Normalkoordinaten • zunächst lassen sich die Eigenwerte der Matrix A wie folgt bestimmen: die charakteristische Gleichung lautet det AT VA − λ = 0 ⇔ h i det BT AT VA − λ B = 0 ⇔ det (V − λT ) = 0 (10.27) d.h. die λi sind auch die Eigenwerte von V bezüglich T • außerdem gilt AT VA = diag(λ1 , · · · , λ f ) ⇒ VA = BT diag(λ1 , · · · , λ f ) = T Adiag(λ1 , · · · , λ f ) (10.28) wegen BT = BT BB−1 = T A • wir zerlegen A in Spaltenvektoren ~a j , A = ~a1 , . . . , ~a f , ~a j = A1 j .. . Af j (10.29) damit erhalten wir aus (10.28) die Eigenwertgleichung V~a j = T ~a j λ j (10.30) mit T anstelle der Einheitsmatrix • die ~a j sind orthonormal bezüglich T , denn AT T A = AT BT BA = 1 ⇒ ~aTj T ~ak = δ jk (10.31) • daraus ergibt sich folgende Vorschrift für die Konstruktion der Matrix A und für die Transformation auf Normalkoordinaten ξi : 1. Eigenwertproblem (V − λT )~a = 0 lösen; vollständiges, bezüglich T orthonormales System von Eigenvektoren ~ai bestimmen 2. mittels ~q = f X ~a j ξ j = A~ξ (10.32) j=1 auf Normalkoordinaten transformieren • die Sätze über das gewöhnliche Eigenwertproblem sind vollständig auf das Eigenwertproblem übertragbar, in dem T die Rolle der Einheitsmatrix übernimmt (T ist der metrische Tensor des Eigenwertproblems) 108KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE 10.2.3 Stabilität • die Lösungen der Bewegungsgleichungen nehmen folgende Form an: √ ξ j ∝ e±i λ j t (λ j , 0) ξ j ∝ t (λ j = 0) (10.33) • zwei wesentliche Fälle können für das Verhalten der Lösungen unterschieden werden: 1. mindestens ein λ j ≤ 0, dann kann ξ j unbegrenzt wachsen (im Rahmen der betrachteten Näherung!) 2. alle λ j > 0, λ j =: ω2j ; dann sind die Lösungen harmonische Schwingungen, ξ j (t) = C j cos(ω j t − δ j ) (10.34) mit konstanten C j und δ j • Stabilität ist sicher, wenn alle λ j > 0 sind; das ist genau dann der Fall, wenn V strikt positiv ist, d.h. wenn die Potentialfunktion in der Ruhelage ein striktes Minimum hat • das System ist instabil, wenn mindestens ein λ j < 0 ist • wenn mindestens ein Eigenwert λ j = 0 und die anderen λk ≥ 0 sind, müssen für die Stabilitätsanalyse Terme höherer Ordnung herangezogen werden • wenn alle λ j > 0 sind, liegt ein stabiles Gleichgewicht vor, und die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung für das Gesamtsystem lautet ~q(t) = f X ~a j ξ j (t) = j=1 f X ~a jC j cos(ω j t − δ j ) (10.35) j=1 die ω j sind die Eigenfrequenzen, auch Normalfrequenzen genannt • bei Normalschwingungen ist nur eine Normalkoordinate angeregt, z.B. ξ j , die anderen sind in Ruhe; dann ist ~q(t) = ~a jC j cos(ω j t − δ j ) (10.36) (ohne Summation über j!) • die Konstanten C j und δ j werden durch die Anfangsbedingungen bestimmt, ~q(t = 0) = ~q0 , ~q˙ (t = 0) = ~˙q; 0 damit folgt ~q0 = f X j=1 ~a jC j cos δ j , ~˙q0 = f X j=1 ~a jC j ω j sin δ j (10.37) 10.2. NORMALKOORDINATEN 109 wegen der Orthonormalität der ~a j bezüglich T ist ~aTj T ~q0 = C j cos δ j , ~aTj T ~˙q0 = C j ω j sin δ j (10.38) woraus C j und δ j bestimmt werden können • Bemerkung: das System kehrt nie in seine Anfangslage zurück, wenn die ω j nicht in rationalen Verhältnissen zueinander stehen 10.2.4 Beispiel: Gekoppelte Pendel • gegeben seien zwei gleiche ebene Pendel der Länge l, an denen Massenpunkte der Masse m hängen; der Abstand der Aufhängungspunkte sei x0 ; die Pendel seien durch eine Feder mit der Federkonstanten k und der Ruhelänge x0 aneinander gekoppelt • geeignete verallgemeinerte Koordinaten für das System sind die beiden Auslenkwinkel ϕ1 und ϕ2 ; damit lautet die kinetische Energie m 2 2 2 2 l ϕ̇1 + l ϕ̇2 (10.39) T= 2 • die potentielle Energie setzt sich aus der Beiträgen des Schwerefelds und der Feder zusammen i2 k hp V = −mgl(cos ϕ1 + cos ϕ2 ) + (x1 − x2 )2 + (y1 − y2 )2 − x0 2 (10.40) für kleine Auslenkungen können die y1,2 gegenüber den x1,2 vernachlässigt werden; außerdem können x1 = l sin ϕi ≈ lϕi , x2 = x0 + lϕ2 und cos ϕ ≈ 1 − ϕ2 /2 genähert werden; damit lautet die potentielle Energie ! ϕ21 ϕ22 k + (10.41) V = mgl + l2 (ϕ1 − ϕ2 )2 2 2 2 wobei die Konstante −2mgl weggelassen wurde • die Matrizen T und V lauten demnach ! ! m2 1 0 mgl 1 0 k T = l , V= + l2 0 1 0 1 2 2 2 ! 1 −1 −1 1 (10.42) • aus der Gleichung det(V − λT ) = 0 erhält man das charakteristische Polynom i l2 h (10.43) (mg + kl − mlλ)2 − k2 l2 = 0 4 woraus man die Lösungen λ1 = erhält g , l λ2 = g k +2 l m (10.44) 110KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE • die beiden Eigenvektoren sind ! 1 ~a1 = , 1 ~a2 = 1 −1 ! (10.45) d.h. die Normalschwingungen entsprechen solchen Schwingungen, bei denen die beiden Pendel entweder gleichphasig oder gegenphasig schwingen 10.3 Schwingungen eines linearen, dreiatomigen Moleküls 10.3.1 Lagrange-Funktion • wir betrachten ein lineares, dreiatomiges, symmetrisches Molekül mit Atomen der Masse m rechts und links im Abstand l von einem zentralen Atom der Masse M; die Wechselwirkung zwischen den Atomen werde beschrieben durch „Federn“ mit der Federkonstante k > 0 (Beispiel: CO2 ); wir beschränken uns auf Bewegungen längs der Molekülachse • die kinetische Energie ist T= M m 2 ẋ1 + ẋ32 + ẋ22 2 2 (10.46) und die potentielle Energie ist V= i kh (x2 − x1 − l)2 + (x3 − x2 − l)2 2 (10.47) die Ruhelage stellt sich im Minimum von V ein, also bei x2 − x1 = l = x3 − x2 (10.48) • diese Beschreibung ist eindeutig bis auf eine Verschiebung längs der x-Achse (Translation des Moleküls ohne innere Bewegung); wir wählen den Ursprung so, dass in der Ruhelage x2 = 0 ist und bezeichnen mit qi die Auslenkungen der Atome aus ihren Ruhelagen: q1 := x1 + l , q3 = x3 − l , x2 = q2 (10.49) • damit lautet die Lagrange-Funktion des Moleküls L= kh i m 2 M 2 q̇1 + q̇2 + q̇23 − (q2 − q1 )2 + (q3 − q2 )2 2 m 2 (10.50) 10.3. SCHWINGUNGEN EINES LINEAREN, DREIATOMIGEN MOLEKÜLS111 10.3.2 Normalkoordinaten • aus (10.50) lassen sich die Matrizen T und V ablesen: m 0 0 k −k 0 T = 0 M 0 , V = −k 2k −k 0 0 m 0 −k k (10.51) • das charakteristische Polynom lautet det (V − λT ) = 0 ⇒ k − λm −k 0 2k − λM −k = 0 ⇒ det −k 0 −k k − λm h i (k − λm) (2k − λM)(k − λm) − k2 − k2 (k − λm) = 0(10.52) eine Lösung ist offenbar λ1 = k/m; die anderen beiden ergeben sich aus Mmλ2 − k(M + 2m)λ = 0 (10.53) zu λ2 = 0 und λ3 = k(M + 2m)/(Mm) √ • die Eigenfrequenzen sind ωi = λi , also r r M + 2m k ω1 = , ω2 = 0 , ω3 = k m Mm (10.54) • das orthonormale Eigensystem ~ai muss nun aus (10.30) bestimmt werden 1. für i = 1: −k 0 a11 0 −k −k k 2 − M a21 m a 0 −k 0 31 = 0 (10.55) woraus unmittelbar a21 = 0 und a11 + a31 = 0 folgen; die Orthonormalitätsbedingung ~aT1 T ~a1 = 1 verlangt m 0 0 a11 (a11 , a21 , a31 ) 0 M 0 a21 0 0 m a31 = 1 (10.56) √ woraus insgesamt a11 = 1/ 2m folgt, also 1 1 ~a1 = √ 0 2m −1 (10.57) 112KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE 2. für i = 2: k −k 0 a12 −k 2k −k a22 0 −k k a32 = 0 (10.58) also a12 = a22 = a32 ; und die Orthonormalitätsbedingung fordert (2m + M)a212 = 1, also folgt 1 1 ~a2 = √ 1 2m + M 1 3. für i = 3: −k 2m −k 0 M M −k −k −k m 0 −k −k 2m M a13 a23 a33 (10.59) = 0 (10.60) woraus man a13 = a33 und a13 = −a23 M/(2m) erhält; die Orthonormalitätsbedingung ergibt dann 1 a12 = q 2m 1 + (10.61) 2m M sodass der dritte Eigenvektor lautet r 1 M ~a3 = −2m/M 2m(M + 2m) 1 (10.62) die allgemeine Lösung bekommt man dann aus (10.35) • den drei Eigenschwingungen entsprechen folgende Bewegungen: 1. i = 1: M ruht, die beiden äußeren Atome schwingen gegeneinander 2. i = 2: entspricht einer Translation des gesamten Moleküls längs der x-Achse 3. i = 3: M schwingt gegenphasig gegen die beiden gleichphasig schwingenden äußeren Atome Kapitel 11 Mechanik kontinuierlicher Medien 11.1 Lineare Kette 11.1.1 Grenzübergang zum Kontinuierlichen • Approximation kontinuierlicher Medien durch N Teilchen mit N → ∞ und Beschreibung der Kräfte zwischen ihnen stößt an Grenzen wegen der Unschärferelation der Quantenmechanik • als Beispiel für den Übergang zu unendlich vielen Freiheitsgraden behandeln wir eine lineare Kette aus N Massenpunkten der Masse m in den Ruhelagen xi,0 = ia, wobei a der Abstand zweier benachbarter Massenpunkte ist; die Auslenkungen aus der Ruhelage seien qi ; auf den N-ten Massenpunkt wirke die Kraft F; die Bewegung der Massenpunkte soll auf die x-Achse beschränkt sein • kinetische und potentielle Energie sind N T= 1X 2 mq̇i , 2 i=1 N V= 1X k(qi − qi−1 )2 − FqN ; 2 i=1 (11.1) der Anfangspunkt bleibe fest, x0 = 0 = q0 • damit lautet die Lagrange-Funktion N i 1 Xh 2 L= mq̇i − k(qi − qi−1 )2 + FqN 2 i=1 (11.2) und die Bewegungsgleichungen sind d ∂L ∂L − = mq̈i + k(qi − qi−1 ) − k(qi+1 − qi ) = 0 dt ∂q̇i ∂qi 113 (11.3) 114 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN für 1 ≤ i ≤ N − 1 und mq̈N + k(qN − qN−1 ) − F = 0 (11.4) für i = N • im Gleichgewicht muss mq̈i = 0 sein, woraus folgt k(qi − qi−1 ) = k(qi+1 − qi ) , k(qN − qN−1 ) = F F (1 ≤ i ≤ N) (11.5) ⇒ qi − qi−1 = k d.h. alle Federn werden um denselben Betrag verlängert oder verkürzt; sei l := Na die Gesamtlänge in Ruhe, dann ist ihre relative Änderung ∆l NF F F = = =: l kNa ka Y (11.6) • wir müssen nun den Übergang a → 0 durchführen, dabei aber l = Na und M = Nm konstant lassen; sei µ := M/l = m/a die lineare Massendichte und Y := ka der Youngsche Elastizitätsmodul; die Auslenkungen werden zu einer kontinuierlichen Feldfunktion des Ortes und der Zeit, qi → q(x, t), die benachbarten Auslenkungen werden a2 ∂2 q ∂q qi±1 (t) → q(x ± a, t) = q(x, t) ± a + + . . . (11.7) ∂x (x,t) 2 ∂x2 (x,t) • die Lagrange-Funktion geht über in N N 1X 2 1X L = mq̇i − k(qi − qi−1 )2 + F(t)qN 2 i=1 2 i=1 N " q − q 2 # aX i i−1 2 + F(t)qN = µq̇i − Y 2 i=1 a !2 !2 Z 1 l ∂q ∂q + q(l, t)F(t) → −Y dx µ 2 0 ∂t ∂x =: L(q, q̇, t) (11.8) sie ist nun ein Funktional der Feldfunktion q und ihrer Zeitableitung q̇; F ist vorgegeben • ebenso können wir den Grenzübergang für die Bewegungsgleichungen (11.3) durchführen: qi+1 + qi−1 − 2qi = 0 a2 ∂2 q ∂2 q µ 2 −Y 2 = 0 (11.9) ∂t ∂x das ist eine partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung für q(x, t), definiert auf 0 ≤ x ≤ l µq̈ − Y 11.1. LINEARE KETTE 115 • die Randbedingungen ergeben sich wie folgt: das Ende bei x = 0 bleibt fest, q(x = 0, t) = 0 für alle t; bei x = l folgt aus (11.4) " # F ∂2 q Y ∂q µ 2 + 2 a (l, t) = ∂t a ∂x a ! 2 ∂ q Y ∂q −F = 0 (11.10) µ 2 + ∂t a ∂x (l,t) • für a → 0 würde der zweite Term in (11.10) divergieren, wenn nicht ∂q (11.11) F= ∂x (l,t) wäre, d.h. die Randbedingung bei x = l muss sein ∂q F = (11.12) ∂x (l,t) Y für alle t 11.1.2 Ableitung der Bewegungsgleichungen aus dem Lagrange-Funktional • mit dem Lagrange-Funktional (11.8) lautet die Wirkung ! !2 Z t 1 Z Z l ∂q 2 1 t1 ∂q + W= −Y dt dx µ dtF(t)q(l, t) 2 t0 ∂t ∂x 0 t0 (11.13) gemäß dem Hamiltonschen Prinzip muss die Wirkung für die tatsächlich realisierte Auslenkung q(x, t) ein Extremum einnehmen; sei q0 (x, t) = q(x, t) + δq(x, t) eine leicht gestörte Bahn, wobei δq(x, t0 ) = 0 = δq(x, t1 ) für alle 0 ≤ x ≤ l sei; außerdem ist δq(x = 0, t) = 0 für alle t, denn das lineare Band bleibt bei x = 0 festgehalten • die Variation der Wirkung lautet dann: δW = W[q0 , t] − W[q, t] ! Z t1 Z t1 Z l ∂q ∂δq ∂q ∂δq = dt dx µ −Y + dtδqF(t) ∂t ∂t ∂x ∂x t0 0 t0 ! Z l Z t1 Z l ∂2 q ∂2 q ∂q t1 = dx dt −µ 2 + Y 2 δq + dxµ δq ∂t ∂x ∂t t0 0 t0 0 Z t1 l Z t1 ∂q δq + − dtY dtF(t)δq(l, t) ∂x 0 t0 t0 ! Z t1 Z l ∂2 q ∂2 q = dt dx −µ 2 + Y 2 δq(x, t) ∂t ∂x t0 0 ! Z t1 l ∂q − F δq(l, t) − dt Y (11.14) ∂x 0 t0 116 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN • die δq sind beliebig, δW = 0 nach dem Hamiltonschen Prinzip, also folgt ∂2 q ∂q l ∂2 q −F =0 µ 2 −Y 2 =0, Y (11.15) ∂t ∂x ∂x 0 entsprechend (11.9) und (11.12) • Beispiel: sei F konstant, dann ist die Lösung q(x, t) = q(x) statisch und die Bewegungsgleichungen reduzieren sich auf d2 q dq F = Y 2 =0, (11.16) dx dx x=l Y die erste Gleichung bedeutet, dass q linear in x sein muss, q(x) = C1 x + C2 (11.17) wegen q(x = 0) = 0 folgt C2 = 0, und aus der zweiten Gleichung folgt C1 = F/Y, also F δl q(x = l) F x, = = Y l l Y das ist das Hookesche Gesetz für das lineare Band q(x) = 11.1.3 (11.18) Die d’Alembertsche Gleichung • die Gleichung 2 ∂2 q 2∂ q − v =0 ∂t2 ∂x2 p mit v := Y/µ ist in der Physik sehr weit verbreitet (11.19) • seien ξ := x + vt , 1 x = (ξ + η) , 2 η := x − vt ; t= 1 (ξ − η) 2v (11.20) dann ist ! ∂f ∂ξ ∂ ∂η ∂ = + f ∂x ∂x ∂ξ ∂x ∂η und analog für ∂ f /∂t; in unserem Fall folgt ∂ ∂ ∂ = + , ∂x ∂ξ ∂η ∂ ∂ ∂ =v − ∂t ∂ξ ∂η (11.21) ! (11.22) • in diesen neuen Koordinaten lautet der Differentialoperator in (11.19) 2 2 ∂2 2 ∂ 2 ∂ − v = −4v (11.23) ∂t2 ∂x2 ∂ξ∂η also wird (11.19) transformiert auf die d’Alembert-Gleichung ∂2 q − 4v =0 ∂ξ∂η 2 (11.24) 11.1. LINEARE KETTE 117 • seien g(ξ) und h(η) beliebige Funktionen von ξ und η, dann ist offenbar q(ξ, η) = g(ξ)+h(η) eine Lösung der d’Alembert-Gleichung; es ist zugleich die allgemeinste Form der Lösung; ausgedrückt durch x und t lautet sie q(x, t) = g(x + vt) + h(x − vt) (11.25) d.h. es handelt sich um eine Superposition zweier Wellen, von denen g rück- und h vorläufig ist • als Beispiel betrachten wir ein unendlich ausgedehntes Band, das für x → ±∞ zu allen Zeiten in Ruhe ist, q(x, t) → 0 für x → ±∞ (11.26) ∂q (x, t) → 0 ∂t die Anfangsbedingungen sind q(x, 0) = q0 (x) , ∂q (x, 0) = q̇0 (x) ∂t (11.27) für die Funktionen g und h folgt daraus g(x) + h(x) = q0 (x) , v g0 (x) − h0 (x) = q̇0 (x) (11.28) wobei die Striche Ableitungen der Funktionen nach ihren Argumenten bedeuten • aus der zweiten Gleichung erhält man "Z x # 1 0 0 q̇0 (x )dx + C (g − h)(x) = v x0 und damit, zusammen mit der ersten Gleichung "Z x # 1 1 0 0 (g, h)(x) = q0 (x) ± q̇0 (x )dx + C 2 2v x0 (11.29) (11.30) die Lösung q(x, t) ist die Summe aus g und h, q(x, t) = g(x + vt) + h(x − vt) (11.31) 1 = q0 (x + vt) + q0 (x − vt) 2 ("Z # "Z x−vt #) x+vt 1 0 0 0 0 + q̇0 (x )dx + C − q̇0 (x )dx + C 2v x0 x0 Z x+vt 1 1 q̇0 (x0 )dx0 = q0 (x + vt) + q0 (x − vt) + 2 2v x−vt eine Störung des Bandes breitet sich also mit der Geschwindigkeit v nach beiden Seiten aus 118 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN 11.2 Schwingende Saite • seien wieder N Massenpunkte der Masse m gegeben, die sich nun aber in drei Dimensionen bewegen können; ihre Ruhelagen seien ai ~xi = 0 = ai~e x (11.32) 0 die Auslenkungen aus den Ruhelagen seien ~qi (t), die Enden werden festgehalten, ~q0 (t) = 0 = ~qN (t) für alle t • die potentielle Energie setzen wir in der Form N V= k X (~xi + ~qi ) − (~xi−1 + ~qi−1 ) − a0 2 2 i=1 (11.33) an, wobei die Konstante a0 < a eine Vorspannung der Saite beschreibt (das Minimum von V wird erreicht, wenn die Abstände zwischen den Massenpunkten kleiner als a sind) • sei nun |~qi − ~qi−1 | a − a0 a, d.h. die Vorspannung sei schwach, dann ist |~xi − ~xi−1 + ~qi − ~qi−1 | = |a~e x + ~qi − ~qi−1 | (11.34) h i1/2 = a2 + 2a(~qi − ~qi−1 )~e x + (~qi − ~qi−1 )2 1 ≈ a + (q x,i − q x,i−1 ) + (~q⊥,i − ~q⊥,i−1 )2 2a mit der senkrechten Auslenkung 0 ~q⊥ = qy qz (11.35) • wir können also nähern |~xi − ~xi−1 + ~qi − ~qi−1 | − a0 2 ≈ (a − a0 )2 + 2(a − a0 )(q x,i − q x,i−1 ) a − a0 (~q⊥,i − ~q⊥,i−1 )2 (11.36) + (q x,i − q x,i−1 )2 + a und die potentielle Energie lässt sich in der Form N k Xh V = (a − a0 )2 + 2(a − a0 )(q x,i − q x,i−1 ) 2 i=1 a − a0 + (q x,i − q x,i−1 )2 + (~q⊥,i − ~q⊥,i−1 )2 (11.37) a wobei Terme höherer als zweiter Ordnung in den Differenzen der qi vernachlässigt wurden 11.2. SCHWINGENDE SAITE 119 • in der potentiellen Energie ist (a − a0 ) ist eine unerhebliche Konstante; außerdem ist N X (q x,i − q x,i−1 ) = 0 (11.38) i=1 ferner setzen wir wieder k= Y Y ≈ , a a0 ∆l a − a0 F F = = ≈ l a0 ka0 ka (11.39) wobei F die vorspannende Kraft ist • die Lagrange-Funktion lautet also N−1 1X 2 m q̇ x,i + ~q˙ 2⊥,i 2 i=1 # N " (~q⊥,i − ~q⊥,i−1 )2 a X (q x,i − q x,i−1 )2 − Y +F (11.40) 2 i=1 a2 a2 L = offenbar wird der Potentialterm in L für q x,i = q x,i−1 und ~q⊥,i = ~q⊥,i−1 minimiert, d.h. aus den Randbedingungen ~q0 = 0 = ~qN folgt, dass in der Ruhelage ~qi = 0 (1 ≤ i ≤ N) gilt • beim Übergang zum Kontinuum halten wir wieder l = Na, µ = m/a und Y = ka fest, während a gegen Null geht; analog zur Behandlung des elastischen Bandes ergibt sich ! !2 !2 !2 Z l ∂q x 2 ∂q⊥ ∂q x ∂q⊥ +µ −Y −F L= dx µ ∂t ∂x ∂t ∂x 0 (11.41) • wie vorhin erhalten wir aus dem Hamiltonschen Prinzip die Bewegungsgleichungen 2 ∂2 2 ∂ q (x, t) − v q x (x, t) = 0 x l ∂t2 ∂x2 2 ∂2 2 ∂ ~ ~q⊥ (x, t) = 0 q (x, t) − v ⊥ t ∂t2 ∂x2 wobei s vl := Y , µ s vt := F µ (11.42) (11.43) die longitudinale und transversale Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wellen sind • die Enden der Saite werden festgehalten, d.h. die Randbedingungen sind q x (0, t) = q x (l, t) = 0 , ~q⊥ (0, t) = ~q⊥ (l, t) = 0 (11.44) 120 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN • zur Lösung greifen wir willkürlich die Auslenkung in y-Richtung heraus, die die Gleichung 2 ∂2 qy 2 ∂ qy − vt 2 = 0 ∂t2 ∂x (11.45) mit den Randbedingungen qy (0, t) = 0 = qy (l, t) erfüllen muss • der Separationsansatz qy (x, t) = f (x)g(t) führt zu f 2 d2 g 1 d2 g v2t d2 f 2 d f − v g = 0 ⇒ = t dt2 dx2 g dt2 f dx2 (11.46) da die rechte Seite nur von t, die linke nur von x abhängt, müssen beide konstant sein, v2t d2 f 1 d2 g = konst. = =: −c g dt2 f dx2 (11.47) d.h. f und g müssen die beiden harmonischen Oszillatorgleichungen d2 g d2 f c (11.48) + cg = 0 , + 2f =0 2 2 dt dx vt erfüllen • für c < 0 ergeben sich unphysikalische, exponentiell anwachsende √ Lösungen, also müssen wir c ≥ 0 annehmen; sei ω := c, dann lauten die Lösungen der Gleichungen (11.48) ! ω g(t) = C1 cos(ωt − δ) , f (x) = C2 sin x − η (11.49) vt mit konstanten Amplituden C1,2 und Phasen δ, η • wegen der Randbedingungen qy (0, t) = 0 = qy (l, t) ist entweder C2 = 0 oder η = 0 und ωl = nπvt mit n ∈ N; C2 = 0 ergibt eine (langweilige) ruhende Saite; Lösungen für f haben also die diskreten Kreisfrequenzen ωn und Wellenlängen λn , ωn = nπ vt , l λn = 2π 2l vt = ωn n die Lösungsfunktionen f können also in der Form x fn (x) = Nn sin nπ l (11.50) (11.51) mit Nn , 0 geschrieben werden; die Eigenfrequenzen der schwingenden Saite sind ωn n vt νn = = (11.52) 2π 2 l n = 1 ergibt den Grundton, n ≥ 2 die Obertöne 11.3. SCHWINGENDE MEMBRAN 121 • die Saite trägt stehende Wellen der Länge λn ; wegen der Randbedingungen müssen x = 0 und x = l Knoten dieser stehenden Wellen sein; die gesamte Lösung für die Auslenkung der schwingenden Saite in y-Richtung ist x (11.53) qy,n (x, t) = Nn cos(ωn t − δn ) sin nπ l • die fn (x) heißen Eigenfunktionen der Differentialgleichung (11.45) zu vorgegebenen Randbedingungen; es ist nützlich, die Amplituden Nn so zu wählen, dass Z l fn∗ (x) fn (x)dx = 1 (11.54) 0 √ wird, was für Nn = 2/l der Fall ist; wegen der Orthonormalität des Sinus folgt bei dieser Normierung Z l fn∗ (x) fm (x)dx = δnm (11.55) 0 • wegen der Linearität der Differentialgleichung (11.45) ist jede lineare Superposition von Lösungen (11.53) wieder eine Lösung, r ∞ x X 2 cos(ωn t − δn ) sin nπ (11.56) qy (x, t) = cn l l n=1 das ist offensichtlich eine Fourier-Reihe bezüglich x • die Existenz von Eigenfunktionen einer Differentialgleichung zu diskreten Eigenwerten legt einen Zusammenhang zwischen Differentialgleichungen und unendlich-dimensionalen Matrizen nahe 11.3 Schwingende Membran • sei µ2 die als konstant angenommene zwei-dimensionale Massendichte und T 0 := Kraft/Länge die Spannung auf dem Rand C der Membran • mit analogen Methoden wie für die Saite leitet man die Bewegungsgleichung " 2 !# 2 ∂ ∂2 2 ∂ −v + q(x, y, t) = 0 (11.57) ∂t2 ∂x2 ∂y2 her, worin s v := T0 µ2 (11.58) ist; das ist die d’Alembert-Gleichung in 1 + 2 Dimensionen 122 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN • die Membran sei am Rand eingespannt, d.h. die Randbedingung ist q(x, y, t) = 0 für (x, y) ∈ C und für alle Zeiten t; der Separationsansatz q(x, y, t) = f (x, y)g(t) führt auf g(t) = C1 cos(ωt − δ) (11.59) und auf die Helmholtzsche Differentialgleichung für f (x, y) " 2 # ∂2 ω 2 ∂ + + f (x, y) = 0 (11.60) ∂x2 ∂y2 v mit der Dirichlet-Randbedingung f (x, y)|C = 0 • Lösungen existieren nur für diskrete Eigenwerte ω2 /v2 , aus denen sich die Eigenfrequenzen ergeben; für eine rechteckige Membran lösen die Eigenfunktionen ! ! y x (11.61) fmn (x, y) = Nn Nm sin mπ sin nπ lx ly (m, n ∈ N) die Helmholtzsche Differentialgleichung mit DirichletRandbedingung für die Eigenfrequenzen ω 2 mn v = m2 2 π2 2π + n l2x ly2 (11.62) Kapitel 12 Symmetrien und Erhaltungssätze 12.1 Galilei-Invarianz • Inertialsysteme waren im ersten Abschnitt als Idealisierungen eingeführt worden, die in der Realität in mehr oder weniger guter Näherung identifiziert werden können; ein System, das anhand der Positionen der Fixsterne definiert wird, kann als Inertialsystem betrachtet werden • gegeben sei nun ein Beobachter in einem abgeschlossenen Kasten, der sich im Fixsternsystem kräftefrei bewegt; wie kann der Beobachter feststellen, ob der Kasten ein Inertialsystem ist? offenbar wird er überprüfen, welche Form die Bewegungsgleichungen in seinem Kasten annehmen • er führe also ein Experiment durch, in dem N Massenpunkte der Massen mi an den Orten ~xi auftreten, zwischen denen Potentialkräfte wirken, d.h. die potentielle Energie des Massenpunkts i relativ zum Massenpunkt j sei V ji (|~xi − ~x j |), die Kraft des j-ten auf ~ i V ji (|~xi − ~x j |) den i-ten Massenpunkt sei F~ ji (~xi ) = −∇ • das System der N Massenpunkte lässt sich also durch die Lagrangefunktion L = T − V beschreiben, aus der die Bewegungsgleichungen nach d ∂L(~x, ~x˙, t) ∂L(~x, ~x˙, t) − =0 dt ∂~xi ∂~x˙i (1 ≤ i ≤ N) (12.1) folgen • die Lagrangefunktion ist nicht eindeutig, denn man kann zu ihr die totale zeitliche Ableitung einer Funktion Q(x, t) addieren, ohne 123 124 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE die Bewegungsgleichungen zu ändern: L → L0 = L + dQ(~x, t) dt (12.2) ändert die Variation der Wirkung nicht, denn Z t1 Z t1 h t1 i 0 ˙ δ dtL (~x, ~x, t) = δ dtL(~x, ~x˙, t) + δ Q(~x, t)t = 0 ; (12.3) t0 0 t0 da die Endpunkte der Bahn festgehalten werden, verschwindet die Variation von Q(~x, t) an den Endpunkten der Bahn; aus der Variation von L0 folgen also dieselben Bewegungsgleichungen wie aus der Variation von L; dies ist die einzige Willkür in der Lagrangefunktion • das System im Kasten sei ungestrichen, (t, ~x); das Fixsternsystem sei gestrichen, (t0 , ~x0 ); allgemein gilt dann ~x0 = ~a(t) + R(t) · ~x(t) t0 = t + τ , (12.4) die erste Gleichung beschreibt eine Nullpunktsverschiebung der Zeit, der zweite eine Translation und Rotation des Koordinatensystems • Wie kann sich der Kasten bewegen, ohne dass es der Beobachter feststellen kann? zunächst muss R(t) konstant sein, denn sonst träten Scheinkräfte auf, die er (z.B. mit einem Pendelversuch) nachweisen könnte; damit lautet die Lagrangefunktion im Fixsternsystem N X X 1 mi ~x˙2 − ~ L(~x0 , ~˙x,0 t0 ) = V (|~ x − x |) ji i j 2 i=1 i j,i + ~a˙ (t) N X i=1 N ~a˙ 2 X mi R~x˙i + mi 2 i=1 (12.5) • die Bewegungsgleichungen im Kasten sind mit denen im Fixsternsystem identisch, falls (12.2) gilt, d.h. falls es eine Funktion Q(x, t) gibt, deren totale zeitliche Ableitung N dQ(~x, t) ∂Q(~x, t) X ˙ ∂Q(~x, t) ~xi = + dt ∂t ∂~xi i=1 = N X i=1 N ˙2 X ˙~xT RT ~a˙ mi + ~a mi i 2 i=1 (12.6) ist; dies ist offenbar dann der Fall, wenn N ∂Q(~x, t) ~a˙ 2 X = mi , ∂t 2 i=1 ∂Q(~x, t) = mi RT ~a˙ ∂~xi (12.7) 12.2. NOETHER-THEOREME 125 gelten; offenbar ist dann auch ∂ ∂Q(~x, t) ∂ ∂Q(~x, t) = =0 ∂t ∂~xi ∂~xi ∂t (12.8) und aus der zweiten Gleichung (12.7) folgt ~a¨ = 0 ⇒ ~a = ~a0 + ~vt , ~a0 ,~v = konst. (12.9) • zu solchen Translationen gehört die Funktion Q(~x, t) = ~v T N X i=1 N ~v2 t X mi , mi R~xi + 2 i=1 (12.10) deren totale Zeitableitung ist N N X ~v2 X dQ T ˙ mi R~xi + mi = ~v dt 2 i=1 i=1 (12.11) • damit haben wir die allgemeine Gestalt derjenigen Transformationen bestimmt, die im Kasten nicht nachweisbar sind, die also die Bewegungsgleichungen invariant lassen: t0 = t + τ , ~x0 = ~a0 +~vt + R · ~x , ~a0 = ~v = R = konst. (12.12) solche Transformationen gehören zur zehnparametrigen GalileiGruppe; ein Parameter ist τ, je drei gehören zu ~a0 , ~v und R • physikalischer Gehalt der Galilei-Invarianz: 1. sei t0 = t + τ, ~x0 = ~x: willkürliche Nullpunktsverschiebung der Zeit, Homogenität der Zeit 2. sei t0 = t, ~x0 = ~a0 + ~x: willkürliche Wahl des Koordinatenursprungs, Homogenität des Raums 3. sei t0 = t, ~x0 = ~x +~vt: Bewegungsgleichungen sind gegenüber geradlinig-gleichförmiger Bewegung invariant; beschleunigte Bewegung wäre feststellbar 4. sei t0 = t, ~x0 = R · ~x: willkürliche Drehung der Koordinatenachsen, Isotropie des Raums; keine Richtung ist ausgezeichnet, Paritäts-Invarianz 12.2 Noether-Theoreme • wir betrachten nun infinitesimale Koordinaten-Transformationen, die die Lagrangefunktion nur um eine totale zeitliche Ableitung ändern: t → t0 = t + δt , ~xi (t) → ~xi0 = ~xi (t) + δ~xi (t) (12.13) 126 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE so, dass L(x0 , ẋ0 , t0 ) = L(x, ẋ, t) + dQ(x, t) dt (12.14) geschrieben werden kann; δt = konst. • die Änderung des Wirkungsintegrals ist # Z t10 Z t1 " dQ(~x, t) 0 0 ˙0 0 ˙ dt L(~x , ~x, t ) = dt L(~x, ~x, t) + dt t00 t0 die linke Seite ist Z Z t10 0 0 ˙0 0 dt L(~x , ~x, t ) = t00 t1 (12.15) " dt L(~x, ~x˙, t) (12.16) t0 # N N X X ∂L 0 ∂L ˙0 ˙ + (~x − ~xi ) + (~x − ~x)i ˙ i ∂~xi i i=1 i=1 ∂~xi n o + δt L[~x(t1 ), ~x˙(t1 ), t1 ] − L[~x(t0 ), ~x˙(t0 ), t0 ] partielle Integration und Verwendung der Euler-Lagrange-Gleichungen führen auf # Z t1 " ∂L ˙0 ˙ dt (~xi − ~x)i ∂~˙xi t0 t1 Z t N X 1 ∂L ∂L d 0 0 ~ ~ = (~ x (~ x − x ) − x )dt − i i i i ∂~˙xi ˙ dt ∂~xi t0 t0 i=1 t1 Z t N X 1 ∂L 0 ∂L 0 ~ ~ (~ x (~ x − x ) − x )dt (12.17) = − i i i i ∂~˙xi ∂~ x i t 0 t0 i=1 • mit (12.17) folgt aus (12.16): Z t10 Z 0 0 ˙0 0 dt L(~x , ~x, t ) = t00 t1 dtL(~x, ~x˙, t) (12.18) t0 t1 N X ∂L 0 (~xi − ~xi ) + δtL(~x, ~x˙, t) + ˙ t i=1 ∂~xi 0 • wegen ~xi0 (t + δt) = ~xi (t) + δ~xi (12.19) folgt ~xi0 (t) = ~xi (t − δt) + δ~xi = ~xi (t) − ~˙x(t)δt + δ~xi i (12.20) damit lässt sich der Ausdruck in eckigen Klammern in (12.18) schreiben als N N N X X X ∂L ∂L 0 ∂L ~˙xi − L δt (~xi − ~xi ) + δtL(~x, ~x˙, t) = δ~xi − ˙ ˙ ˙ i=1 ∂~xi i=1 ∂~xi i=1 ∂~xi (12.21) 12.2. NOETHER-THEOREME 127 mit N X ∂L = pi , ∂~˙xi pi ~˙xi − L = H (12.22) i=1 folgt schließlich aus (12.18) und der Bedingung, dass die Änderung der Lagrangefunktion die totale Zeitableitung einer beliebigen Funktion Q(x, t) sein muss: N t1 X pi δ~xi − Hδt − δQ = 0 (12.23) i=1 t 0 das bedeutet, dass N X pi δ~xi − Hδt − δQ (12.24) i=1 eine Erhaltungsgröße sein muss, denn t0 und t1 waren beliebig; dabei ist wegen (12.10) δQ = ~vT N X N mi Rδ~xi + i=1 ~v2 X mi δt 2 i=1 (12.25) • Zu welchen Erhaltungsgrößen führt die Symmetrie unter Transformationen der Galilei-Gruppe? 1. sei t0 = t + δt, ~x0 = ~x: dann folgt wegen δ~xi = 0 und ~v = 0 aus (12.24) Hδt = konst.; Homogenität der Zeit führt zur Energieerhaltung 2. sei t0 = t, ~x0 = ~x + δ~a: aus (12.24) folgt dann wegen δt = 0 und ~v = 0 N N X X ~pi δ~a = konst. ⇒ ~pi = konst. (12.26) i=1 i=1 weil δ~a beliebig ist; Homogenität des Raums führt zur Impulserhaltung 3. sei t = t0 , ~x0 = δ~vt + ~x: dann ist wegen (12.10) δQ = δ~v T N X mi ~xi + O(δ~v2 ) (12.27) i=1 und daher N N X X ~pi − δ~vT t mi ~xi = konst. i=1 (12.28) i=1 da δ~v beliebig war, folgt daraus die geradlinig-gleichförmige Bewegung des Schwerpunkts, N N 1 X t X ~ ~ ~pi X= mi ~xi = X0 + M i=1 M i=1 (12.29) Emmy Noether (1882-1935) 128 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE 4. sei t0 = t, ~x0 = δ~ ϕ × ~x, vgl. die Darstellung infinitesimaler Rotationen durch Drehwinkel δ~ ϕ (8.36): dann folgt aus (12.24) wegen δt = 0 und ~v = 0 N X i=1 ~pi · (δ~ ϕ × ~xi ) = δ~ ϕ· N X (~xi × ~pi ) = konst. (12.30) i=1 und da δ~ ϕ beliebig war, folgt daraus ~L = konst.; Isotropie des Raums führt zur Drehimpulserhaltung • die zehn Parameter der Galilei-Gruppe führen also zu zehn Erhaltungsgrößen: Energie, und jeweils drei für die Bewegung des Schwerpunkts, den Impuls und den Drehimpuls 12.3 Elemente relativistischer Mechanik 12.3.1 Die spezielle Lorentztransformation • die Galilei-Invarianz führt zu Widersprüchen mit der Erfahrung; Beispiele dafür liefert etwa der Zerfall von Myonen; Myonen sind Leptonen wie etwa das Elektron; sie zerfallen in Elektronen und (Anti-)Neutrinos nach µ → e− + ν̄e + νµ (12.31) mit einer Lebensdauer von τµ = 2×10−6 s; experimentell zeigt sich aber, dass die Lebensdauer zunimmt, wenn das Myon sich im Laborsystem mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit bewegt • das beim Zerfall emittierte Elektron hat beinahe Lichtgeschwindigkeit, aber selbst dann nie eine höhere Geschwindigkeit, wenn bereits das Myon sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegte • die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum beträgt c = 2.99792458 × 1010 cm s−1 ; dass sie endlich ist, wurde bereits von dem dänischen Astronomen Ole Rømer (1644-1710) vermutet, der sie mithilfe der Jupitermonde zu c = 2.14 × 1010 cm s−1 bestimmte • seien zwei Bezugssysteme gegeben, gestrichen und ungestrichen (K und K 0 abgekürzt), die zum Zeitpunkt t = 0 = t0 zusammenfallen und sich mit der Geschwindigkeit v . c längs ihrer gemeinsamen ~e3 -Achse bewegen • die Transformation zwischen den beiden Systemen folgt aus der Bedingung, dass sich Lichtsignale mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, unabhängig von der Geschwindigkeit des Bezugssystems, von dem aus die Ausbreitung beobachtet wird 12.3. ELEMENTE RELATIVISTISCHER MECHANIK 129 • zur Zeit t = 0 werde ein Lichtsignal ausgesandt, das sich längs der x3 -Achse ausbreite; in beiden Systemen muss gelten x3 − ct = 0 , x30 − ct0 = 0 (12.32) wenn diese Bedingung in K erfüllt ist, muss sie auch in K 0 erfüllt sein; das bedeutet x30 − ct0 = λ(x3 − ct) (12.33) mit λ ∈ R • dasselbe muss gelten, wenn das Lichtsignal in die (−x3 )-Richtung läuft, also x30 + ct0 = µ(x3 + ct) (12.34) aus Summe und Differenz der Gleichungen (12.33) und (12.34) folgt x30 = ax3 − bct , ct0 = act − bx3 (12.35) mit a := (λ + µ)/2 und b := (λ − µ)/2 • der Ursprung von K 0 bewegt sich von K aus betrachtet wie b x3 = ct a 0 d.h. die Geschwindigkeit von K relativ zu K ist x30 = 0 ⇒ x3 b = c=v t a ⇒ b v = a c (12.36) (12.37) • betrachten wir zum Zeitpunkt t = 0 einen Einheitsmaßstab in K 0 von K aus, dann gilt x30 = ax3 ⇒ x3 = x30 1 = a a (12.38) • dasselbe muss sich ergeben, wenn wir zum Zeitpunkt t0 = 0 einen Einheitsmaßstab in K von K 0 aus betrachten, v t0 = 0 ⇒ ct = x3 (12.39) c woraus mit x3 = 1 folgt ! v2 b2 0 (12.40) x3 = ax3 − x3 = a 1 − 2 a c • x3 aus (12.38) muss gleich x30 aus (12.40) sein, woraus folgt !−1 v2 2 a = 1− 2 (12.41) c damit lautet die Transformation (12.35) x30 = x3 − (v/c)ct , q v2 1 − c2 ct0 = ct − (v/c)x3 q 2 1 − cv2 (12.42) 130 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE • diese spezielle Lorentz-Transformation lässt sich in der Form 0 γ t x0 1 = 0 x0 0 20 βc √ x3 1−β2 0 0 √β/c 1 0 0 1 0 0 0 0 γ 1−β2 · t x1 x2 x3 (12.43) darstellen, wobei β := v/c ist; für β 1 ist (1 − β2 )−1/2 → 1 + β2 /2 ≈ 1; der häufig vorkommende Ausdruck (1 − β2 )−1/2 wird als Lorentzfaktor γ abgekürzt, γ := (1 − β2 )−1/2 • sei x0 := ct, dann ist 0 x0 x0 10 = x2 0 x3 12.3.2 γ 0 0 γβ 0 1 0 0 0 γβ x0 0 0 x1 · 1 0 x2 0 γ x3 (12.44) Eigenschaften des Minkowski-Raums • Minkowski-Welt (x0 , x1 , x2 , x3 ); Lage der ungestrichenen Achsen im gestrichenen System: x0 - und x3 -Achsen werden abgebildet auf 0 βx3 0 → γ 0 0 0 x3 x3 x0 x0 0 → γ 0 , 0 0 0 βx0 (12.45) Einheitsstrecke auf der x3 -Achse, x0 = x1 = x2 = 0, x3 = 1 wird abgebildet auf x00 = βγ , x30 = γ (12.46) • zwei Punktereignisse (0, 0, 0, 0) und (0, 0, 0, 1), die sich zur selben Zeit x0 = 0 im ungestrichenen System ereignen, ereignen sich zu verschiedenen Zeiten x00 im gestrichenen System: Lage der Achsen x0 und x3 in der x00 x30 -Ebene des gestrichenen Systems, wenn sich das ungestrichene System mit β = 0.25 (oben), β = 0.5 (Mitte) und β = 0.75 (unten) relativ zum gestrichenen bewegt 0 0 → 0 0 0 0 0 0 , 0 0 → γ 0 1 β 0 0 1 (12.47) d.h. im gestrichenen System sind x00 = 0 und x00 = βγ für die beiden Ereignisse; die Gleichzeitigkeit von Ereignissen hängt also vom Bewegungszustand ab! • betrachten wir einen Einheitsmaßstab im ungestrichenen System, dessen Endpunkte durch (0, 0, 0, 0) und (0, 0, 0, 1) beschrieben 12.3. ELEMENTE RELATIVISTISCHER MECHANIK 131 werden; das nicht im Ursprung liegende Ende des Maßstabs hat im gestrichenen System zur Zeit x00 = 0 die Koordinaten: x00 = γ(βx3 + x0 ) = 0 ⇒ x0 = −βx3 ; p x30 = γ(βx0 + x3 ) = 1 − β2 < 1 (12.48) d.h. der bewegte Maßstab erscheint verkürzt; Lorentz-Kontraktion • für den Achsenabschnitt auf der x0 -Achse gilt im gestrichenen System: 1 1 0 → γ 0 (12.49) 0 0 0 β d.h. wenn die Uhr des ungestrichenen Beobachters x0 = 1 anzeigt, zeigt die des gestrichenen Beobachters x00 = γ > 1 an, d.h. die bewegte Uhr geht langsamer; Zeitdilatation • für verschiedene Geschwindigkeiten β laufen die Einheitspunkte der ungestrichenen Achsen auf Hyperbelästen im gestrichenen System; aus (12.49) folgt z.B. für den Einheitspunkt auf der x0 Achse 1 x00 = γ = p , x30 = βγ (12.50) 2 1−β also ist s β= 1 1 − 02 x0 s ⇒ x30 = x00 1 1 − 02 = x0 q x002 − 1 (12.51) • aus der speziellen Lorentztransformation folgt: x002 − x102 − x202 − x302 = x02 − x12 − x22 − x32 (12.52) d.h. x02 − x12 − x22 − x32 ist Lorentz-invariant; wir benutzen dies, um die Metrik zu definieren, x2 := x02 − x12 − x22 − x32 = gµν xµ xν (12.53) mit gµν = diag(1, −1, −1, −1) und 0 ≤ µ, ν ≤ 3; diese Metrik ist indefinit, denn x2 kann positiv, negativ und Null sein; der konstante metrische Tensor gµν ersetzt die Metrik δi j im Euklidischen Raum; man spricht von einem pseudo-euklidischen Raum • wir fassen die Koordinatenquadrupel zu Vierervektoren zusammen, x = (xµ ) = (x0 , x1 , x2 , x3 ); damit lässt sich die spezielle LorentzTransformation schreiben als (xµ )0 = Λµν xν (12.54) Lage der Einheitspunkte x0 = 1, 2, 3, 4 und x3 = 1, 2, 3, 4 in der x00 x30 -Ebene des gestrichenen Systems, wenn es sich relativ zum ungestrichenen System mit Geschwindigkeiten 0 ≤ β ≤ 0.9 bewegt 132 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE mit γ 0 Λµν = 0 γβ offenbar gilt 0 1 0 0 0 γβ 0 0 1 0 0 γ Λµν Λµν0 gµµ0 = gνν0 0 (12.55) (12.56) dies entspricht der Orthogonalitätsrelation für Koordinatentransformationen im Euklidischen Raum • allgemein ist das Quadrat eines Vierervektors invariant unter Transformationen der Lorentzgruppe, die sich aus speziellen Lorentztransformationen, orthogonalen dreidimensionalen Transformationen und Zeitumkehrtransformationen zusammen setzen • ein Lichtblitz werde im ungestrichenen System in x3 -Richtung ausgesandt, (xµ ) = (ct, 0, 0, ct); im gestrichenen System wird er beschrieben durch (1 + β)ct x00 0 0 = (12.57) (xµ )0 = γ 0 0 0 (1 + β)ct x0 d.h. der Lichtblitz hat in beiden Systemen die Geschwindigkeit c; die Lichtgeschwindigkeit ist eine universelle Konstante • sei w < c die Geschwindigkeit eines Teilchens im ungestrichenen System in x3 -Richtung, (xµ ) = (ct, 0, 0, wt), dann ist ct + βwt 0 µ 0 (x ) = γ (12.58) 0 βct + wt mit x30 = w0 t0 folgt für die Geschwindigkeit im gestrichenen System βct + wt w+v w0 = c= (12.59) ct + βwt 1 + vw 2 c dies ist das Geschwindkeits-Additionstheorem 12.3.3 Vierergeschwindigkeit und Viererimpuls • Bahnen ~x(t) gehen über in Weltlinien x(t) = [x0 , ~x(t)]; da die Zeitmessung vom Bewegungszustand abhängt, muss die Bahn umparametrisiert werden; sie wird durch die Eigenzeit τ ersetzt, die definiert ist als Zeit im Ruhesystem des Massenpunkts: dx = (cdτ, 0, 0, 0), (dx)2 = gµν dxµ dxν = c2 dτ2 (12.60) 12.3. ELEMENTE RELATIVISTISCHER MECHANIK 133 da dx ein Vierervektor ist, ist (dx)2 eine Lorentz-Invariante, d.h. es gilt für das Differential der Eigenzeit !2 1 d~x c dτ = dx = c dt − (d~x) = c dt 1 − 2 c dt 1/2 ~x˙2 dt (12.61) ⇒ dτ = dt 1 − 2 = c γ 2 2 2 2 2 2 2 2 dies ist die invariante Bogenlänge im Minkowski-Sinn • wir ersetzen also t durch τ= Z t p dt0 1 − β2 (12.62) und parametrisieren xµ (τ) statt xµ (t) • die Vierergeschwindigkeit ist definiert als dxµ /dτ mit Komponenten d~x d~x dx0 cdt = = γc , =γ (12.63) dτ dτ dτ dt und dem Quadrat dxµ dxν v2 gµν = 1− 2 dτ dτ c !−1 (c2 − v2 ) = c2 (12.64) wegen der Invarianz von dτ transformiert sich dxµ /dτ wie ein Vierervektor, ist also selbst einer • analog ist der Viererimpuls pµ = m(dxµ /dτ) mit den Komponenten p0 = γmc , pi = γm d~x dt entwickelt bis zu zweiter Ordnung in β ist " # 1 2 1 2 m ˙2 i 0 p = mc + ~x , p = ~p 1 + β c 2 2 (12.65) (12.66) d.h. p0 ergibt die relativistische Verallgemeinerung der Energie, p0 c = mc2 + m ˙2 ~x 2 (12.67) im Ruhesystem also p0 c = mc2 • die Noethertheoreme gelten entsprechend, d.h. aus der Invarianz unter Transformationen der Lorentzgruppe folgen die Erhaltung der Energie, des Vierer-Impulses usw. 134 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE 12.3.4 Zur Äquivalenz von Masse und Energie • die Äquivalenz von Masse und Energie, ausgedrückt durch (12.67) folgt auf einfache Weise direkt aus dem Relativitätsprinzip; gegeben sei ein Körper der Masse m, auf den zur selben Zeit von rechts und links zwei Lichtblitze mit den gleichen Energien E/2 treffen und absorbiert werden; im Ruhesystem von m bleibt m auch nach der Absorption in Ruhe • von einem System aus betrachtet, das sich mit der Geschwindigkeit v relativ zu m senkrecht zur Bewegungsrichtung der Lichtblitze bewegt, ist der Impuls von m vor der Absorption gleich mv; auch nach der Absorption muss sich m mit der Geschwindigkeit v bewegen, weil sich seine Geschwindigkeit im Ruhesystem nicht ändert • vom bewegten Bezugssystem aus betrachtet treffen die beiden Lichtblitze schräg auf m und teilen m daher einen Impuls in seiner Bewegungsrichtung mit; dieser Impuls beträgt ∆p = 2 × E v Ev = 2 2c c c (12.68) da die Lichtblitze den Impuls E/(2c) haben und in Bewegungsrichtung von m um v/c reduzierte Impulskomponenten haben • da die Geschwindigkeit von m vor wie nach dem Stoß gleich v ist, kann die Impulserhaltung nur gelten, wenn die Masse m nach dem Stoß auf E m0 = m + 2 (12.69) c angewachsen ist; der absorbierten Energie entspricht also ein Massenzuwachs um E/c2 Kapitel 13 Analytische Mechanik 13.1 Kanonische Transformationen 13.1.1 Bahnen im erweiterten Phasenraum • gegeben sei ein mechanisches System mit f Freiheitsgraden und den verallgemeinerten Koordinaten qi , 1 ≤ i ≤ f ; die Lagrangefunktion sei L(q, q̇, t), die Bewegungsgleichungen entsprechend d ∂L ∂L − =0, dt ∂q̇ ∂q 1≤i≤ f (13.1) • die zu den qi kanonisch konjugierten Impulse sind pi = ∂L (q, q̇, t) , ∂q̇i 1≤i≤ f (13.2) wenn sich diese Gleichungen nach q̇i auflösen lassen, können die q̇i durch die pi dargestellt werden • die verallgemeinerten Koordinaten allein spannen den Konfigurationsraum (q) auf, der Phasenraum wird durch die verallgemeinerten Koordinaten und Impulse (q, p) aufgespannt, der erweiterte Phasenraum (q, p, t) schließt die Zeit mit ein • die Hamiltonfunktion ist H(q, p, t) = f X pi q̇i − L(q, q̇, t) (13.3) i=1 mit q̇i = q̇i (q, p, t); die Bewegungsgleichungen sind die Hamiltonschen kanonischen Gleichungen q̇i = ∂H , ∂pi 135 ṗi = − ∂H ∂qi (13.4) 136 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK • wir betrachten nun das Differential f X dS := pi dqi − Hdt (13.5) i=1 auf dem erweiterten Phasenraum; das System werde zu zwei Zeiten t1 , t2 > t1 bei den Lagekoordinaten q1,2 mit den Impulsen p1,2 untersucht, d.h. an zwei Punkten P1,2 im erweiterten Phasenraum; wir behaupten, dass die wirkliche Bewegung des Systems so verläuft, dass Z δ P2 dS = 0 (13.6) P1 ist • die wirkliche Bahn des Systems im erweiterten Phasenraum sei gegeben durch qi = qi (t), pi = pi (t), 1 ≤ i ≤ f , mit Anfangs- und Endpunkten q(t j ) = q( j) , p(t j ) = p( j) , j = 1, 2 • Vergleichsbahnen seien relativ dazu leicht gestört, qi = qi (t)+δqi (t), pi = pi (t) + δpi (t), 1 ≤ i ≤ f , mit δqi (t1 ) = 0 = δqi (t2 ) und δpi (t1 ) = 0 = δpi (t2 ) • die Variation (13.6) des Differentials (13.5) ist damit Z t2 X f 0 0 0 0 δ pi q̇i − H(q , p , t) dt = 0 t1 (13.7) i=1 durch Einsetzen der wahren Bahn und der leicht gestörten Vergleichsbahnen folgt daraus Z t2 X f (pi + δpi )(q̇i + δq̇i ) − H(q + δq, p + δp, t) t1 Z − t1 i=1 N t2 X pi q̇i − H(q, p, t) = 0 (13.8) i=1 und daraus ergibt sich ! X ! Z t2 X f f dδqi ∂H ∂H pi + q̇i δpi − δqi + δpi dt = 0 dt ∂qi ∂pi t1 i=1 i=1 (13.9) nach partieller Integration im ersten Term folgt schließlich ! ! # Z t2 X f " ∂H ∂H − ṗi − δqi + q̇i − δpi dt = 0 (13.10) ∂qi ∂pi t1 i=1 • da die Störungen δqi und δpi beliebig waren, folgen aus der Variation (13.6) also die Hamiltonschen kanonischen Gleichungen; die Umkehrung ist in jedem Schritt möglich, also ist die Behauptung bewiesen, dass (13.6) die wahre Bahn des Systems im erweiterten Phasenraum beschreibt 13.1. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN 13.1.2 137 Transformationen der Koordinaten • welche Transformationen lassen die Hamiltonschen Gleichungen invariant? führen wir neue verallgemeinerte Koordinaten q0i = q0i (q1 , . . . , q f , t) ein und verlangen, dass die Funktionaldeterminante nicht verschwinde, 0 0 ∂(q1 , . . . , q f ) (13.11) ,0 ∂(q1 , . . . , q f ) sodass wir nach q j = q j (q01 , . . . , q0f , t) auflösen können • die Lagrange-Gleichungen bleiben unverändert, d ∂L ∂L − =0 dt ∂q̇0i ∂q0i (13.12) denn der Lagrange-Formalismus ist von der Wahl der verallgemeinerten Koordinaten völlig unabhängig • die Zeitableitung der alten Koordinaten, ausgedrückt durch die neuen, lautet f X ∂q j 0 ∂q j q̇ j = (13.13) 0 q̇k + ∂q ∂t k k=1 da die qi und die q̇i unabhängige Koordinaten sind, ist ∂qi =0 ∂q̇ j (13.14) ∂q̇ j ∂q j = =: a jk (q, t) ∂q̇0k ∂q0k (13.15) • aus (13.13) folgt und für die verallgemeinerten Impulse ergibt sich f p0j f ∂L X ∂L ∂q̇k X = 0 = = a jk pk ∂q̇ j k=1 ∂q̇k ∂q̇0j k=1 (13.16) d.h. der Übergang zu neuen verallgemeinerten Koordinaten q0i induziert eine Transformation auf dem Phasenraum q0i = q0i (q, t) , p0i = f X ai j p j j=1 die linear in den verallgemeinerten Impulsen p j ist (13.17) 138 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK • (q0 , p0 ) genügen den Hamiltonschen Gleichungen ∂H 0 , ∂p0i q̇0i = mit 0 H := f X p0i q̇0i −L= i=1 ṗ0i = − f X ∂H 0 ∂q0i q̇0i ai j p j − L (13.18) (13.19) i, j=1 wegen (13.13) gilt außerdem f X ai j q̇0j = q̇i − j=1 ∂qi ∂t (13.20) sodass H 0 sich als H = 0 f X p j q̇ j − L − j=1 f X j=1 f X ∂q j ∂q j pj =H− pj ∂t ∂t j=1 (13.21) schreiben lässt 13.1.3 Kanonische Transformationen • seien jetzt Transformationen der verallgemeinerten Koordinaten und Impulse gegeben, q0i = q0i (q, p, t), p0i = p0i (p, q, t); wir verlangen, dass es auf dem erweiterten Phasenraum eine Funktion Φ geben möge so, dass sich die Differentiale dS aus (13.5) vor und nach der Transformation nur um das vollständige Differential von Φ unterscheiden, dS = f X pi dqi −Hdt = i=1 f X p0i dq0i −H 0 dt+dΦ = dS 0 +dΦ (13.22) i=1 • wenn das so ist, bleiben die Hamiltonschen Gleichungen erhalten, d.h. es gilt ∂H 0 ∂H 0 0 q̇0i = , ṗ = − (13.23) i ∂p0i ∂q0i dies ist leicht einzusehen, denn Z Z Z Z 0 dS = dS + dΦ = dS 0 + (Φ2 − Φ1 ) (13.24) da die Endpunkte der Bahn im erweiterten Phasenraum nicht variiert werden, folgt Z Z δ dS = δ dS 0 (13.25) d.h. die Variationen der beiden Wirkungen sind äquivalent; solche Transformationen des erweiterten Phasenraums heißen kanonisch 13.2. HAMILTON-JACOBI-THEORIE 139 • Beispiel: q0i = −pi , p0i = qi ist eine kanonische Transformation, denn dS = f X pi dqi − Hdt = − i=1 = f X i=1 f X q0i dp0i − Hdt i=1 f X p0i dq0i − Hdt − d p0i q0i (13.26) i=1 d.h. die Differentiale dS und dS 0 unterscheiden sich tatsächlich nur durch das vollständige Differential von Φ= f X p0i q0i (13.27) i=1 das verdeutlicht, dass q und p nach kanonischen Transformationen keineswegs die physikalische Bedeutung von Orten und Impulsen haben müssen! 13.2 Hamilton-Jacobi-Theorie 13.2.1 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung • kanonische Transformationen können verwendet werden, um Bewegungsgleichungen möglichst einfach zu machen, z.B. H 0 ≡ 0, sodass q̇0i = 0 = ṗ0i werden; man nennt dies eine „Transformation auf Ruhe“ • wir nehmen eine zunächst beliebige Funktion Φ, die neben den f verallgemeinerten Koordinaten qi auch von weiteren f Parametern q0i und von der Zeit t abhängen soll; wir verlangen nur, dass 2 ∂ Φ , 0 det ∂qi ∂q0j (13.28) sei, d.h. die Determinante der Krümmungsmatrix von Φ möge nicht verschwinden • mittels Φ definieren wir die Transformation pj = ∂Φ , ∂q j p0j = − ∂Φ ∂q0j (13.29) 140 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK und behaupten, dass sie kanonisch sei: f f X ∂Φ X ∂Φ ∂Φ 0 dΦ = dt + dqi + 0 dqi ∂t ∂q ∂q i i i=1 i=1 f f X X ∂Φ = dt + pi dqi − p0i dq0i ∂t i=1 i=1 f X ∂Φ = dt + dS + Hdt − p0i dq0i ∂t i=1 ! f X ∂Φ p0i dq0i − H + ⇒ dS = dt + dΦ ∂t i=1 (13.30) • die Transformation (13.29) ist also in der Tat kanonisch, die Funktion Φ heißt Erzeugende Funktion der Transformation; nach der Transformation lautet die Hamiltonfunktion H0 = H + ∂Φ ∂t (13.31) • sie verschwindet, wenn Φ die Hamilton-Jacobi-Gleichung ! ∂Φ ∂Φ H(q, p, t) = H q, ,t + =0 (13.32) ∂q ∂t erfüllt; eine kanonische Transformation, deren Erzeugende diese Gleichung erfüllt, transformiert also das System tatsächlich „auf Ruhe“ 13.2.2 Harmonischer Oszillator • als ein erstes Beispiel für eine kanonische Transformation betrachten wir den harmonischen Oszillator; seine Lagrange-Funktion lautet m k L = q̇2 + q2 (13.33) 2 2 wenn k die Konstante der Rückstellkraft ist • der kanonisch konjugierte Impuls ist p = mq̇, und damit lautet die Hamilton-Funktion H(q, p) = p2 k 2 + q 2m 2 (13.34) • wir betrachten nun die kanonische Transformation, die durch die Funktion m Φ(q, q0 ) = ω2 q2 cot q0 (13.35) 2 13.2. HAMILTON-JACOBI-THEORIE 141 erzeugt wird; die Impulse ergeben sich aus (13.29) zu p= ∂Φ = mωq cot q0 , ∂q p0 = − ∂Φ m 2 1 = ωq ∂q0 2 sin2 q0 (13.36) wobei (cot x)0 = − sin−2 x verwendet wurde • daraus erhält man, indem man nach q und p auflöst r p 2p0 q= sin q0 , p = 2mωp0 cos q0 mω (13.37) • da Φ nicht explizit von der Zeit abhängt, ist H 0 = H; wenn man q und p durch (13.38) ersetzt, folgt außerdem H 0 = ωp0 ; da H 0 nicht von q0 abhängt, ist q0 offenbar zyklisch, und es gilt ṗ0 = − ∂H 0 =0 ∂q0 ⇒ p0 = konst. =: p00 (13.38) q0 = ωt + q00 (13.39) außerdem folgt für q0 ∂H 0 q̇ = =ω ∂p0 0 ⇒ • setzt man dies wieder in q aus (13.37) ein, folgt r 2p0 sin(ωt + q00 ) (13.40) q= mω mit den beiden Integrationskonstanten q00 und p00 , die Amplitude und Phase der Schwingung festlegen 13.2.3 Bewegung des freien Massenpunkts • als Beispiel betrachten wir die kräftefreie Bewegung eines Massenpunkts m mit kartesischen Koordinaten qi → xi ; Lagrange- und Hamilton-Funktion lauten m 1 2 ~p L = ~x˙2 , H = (13.41) 2 2m • in diesem Fall lautet die Hamilton-Jacobi-Gleichung !2 !2 !2 1 ∂Φ ∂Φ ∂Φ ∂Φ + + + =0 2m ∂x1 ∂x2 ∂x3 ∂t (13.42) • zu ihrer Lösung verwenden wir den Ansatz Φ = q01 x1 + q02 x2 + q03 x3 − Et (13.43) mit Konstanten q0i und E; offenbar ist damit die Voraussetzung (13.28) erfüllt, denn die Krümmungsmatrix von Φ ist die Einheitsmatrix, ∂q0i ∂2 Φ = = δi j (13.44) ∂qi ∂q0j ∂q0j 142 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK • die Hamilton-Jacobi-Gleichung verlangt dann i 1 h 0 2 1 02 (~q ) (q1 ) + (q02 )2 + (q03 )2 − E = 0 ⇒ E = 2m 2m (13.45) also Φ = ~q0 · ~x − 1 02 (~q ) t 2m (13.46) • für die kanonisch-konjugierten Impulse erhalten wir aus (13.29) pi = ∂Φ = q0i , ∂qi p0i = − ∂Φ pi t 0 = −xi + ∂qi m (13.47) aus den Bedingungen (q0i , p0i ) = konst. folgen damit pi = konst. und xi = pi t/m + konst.; E ist offenbar die Energie • zu gegebener, fester Zeit t beschreibt Φ = ~q0 · ~x − Et = ~q0 · ~x − (~q0 )2 t = konst. 2m (13.48) ~ qΦ eine Ebenenschar mit dem Normalenvektor ~q0 ; wegen ~p = ∇ stehen die Impulse senkrecht auf dieser Ebenenschar • Ebenen mit festem Φ wandern mit der Geschwindigkeit v = E/|~q0 | in Richtung ~q0 weiter, also nicht mit der Geschwindigkeit eines Teilchens mit dem Impuls ~q0 ! • diese Wanderung der Ebenen stellt eine Wellenbewegung dar, die eine Analogie zwischen geometrischer Optik und theoretischer Mechanik herstellt; in der geometrischen Optik heißt Φ Eikonalfunktion und stellt die Phase der Lichtwelle dar • angeregt durch de Broglie und Einstein fasste Schrödinger die Punktmechanik als Grenzfall der Wellenmechanik auf und setzte für die Wellenfunktion eines freien Teilchens # " i 0 (13.49) ψ(~x, t) = exp Φ(~x, t, ~q ) ~ an; Φ/~ ist die dimensionslose Phase, ~ := h/(2π); für diese Wellenfunktion verlangt die Hamilton-Jacobi-Gleichung ! ~2 ∂2 ∂2 ∂2 ∂ − + 2 + 2 ψ = i~ ψ 2 2m ∂x1 ∂x2 ∂x3 ∂t (13.50) das ist bereits die Schrödinger-Gleichung für ein freies Teilchen 13.2. HAMILTON-JACOBI-THEORIE 13.2.4 143 Lösung der Hamilton-Jacobi-Gleichung • im Raum (q, t) seien q0 die Koordinaten des Systems zu einem festen Zeitpunkt t0 ; weiterhin sei Φ0 eine beliebige Funktion der f Koordinaten qi0 , die noch von f weiteren Parametern q0i abhänge und für die die Unabhängigkeitsrelation 2 ∂ Φ det (13.51) , 0 ∂qi0 ∂q0j gelte; Orte und Impulse zur Zeit t0 sind ∂Φ pi (t0 ) = ∂qi qi =qi0 qi (t0 ) = qi0 , (13.52) • wir suchen diejenige Bewegung des mechanischen Systems, die zur Zeit t0 an den Orten q0 mit den Impulsen p0 beginnt; sie ist gegeben durch Integration der Hamiltonschen kanonischen Gleichungen (13.4); eine Lösung existiert nach dem Cauchyschen Existenzund Eindeutigkeitssatz für gewöhnliche Differentialgleichungen; damit wird jedem Punkt q0 eine Bahn des Systems zugeordnet • zu einem anderen Zeitpunkt t wird durch jeden Punkt q genau eine der so konstruierten Bahnen gehen, wenn t nahe bei t0 liegt und H sich genügend gut verhält • wir setzen nun Φ(q, q , t) = Φ0 (q0 , q ) + 0 t1 Z 0 L q(t0 ), q̇(t0 ), t0 dt0 (13.53) t0 d.h. Φ sei gleich einer beliebigen Funktion Φ0 am Ort q0 plus das Wirkungsintegral längs der Bahn von q0 nach q • diese Funktion löst die Hamilton-Jacobi-Gleichung; zum Beweis variieren wir Φ: f f f X X X ∂Φ0 δΦ = δqi0 + pi δqi − H(q, p, t)δt − pi0 δqi0 ∂qi0 i=1 i=1 i=1 = f X i=1 pi δqi − Hδt = f X ∂Φ i=1 ∂qi δqi + ∂Φ δt ∂t (13.54) wobei im zweiten Schritt ∂Φ/∂qi0 = pi0 verwendet wurde; daraus folgt ∂Φ ∂Φ pi = , +H =0 (13.55) ∂qi ∂t d.h. Φ genügt tatsächlich der Hamilton-Jacobi-Gleichung • damit haben wir eine allgemeine Lösung für die Hamilton-JacobiGleichung konstruiert und gezeigt, dass sich jedes mechanische System „auf Ruhe“ transformieren lässt; dieses Verfahren hat sich als grundlegend für die Pfadintegral-Methode in der Quantenmechanik erwiesen 144 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK 13.3 Liouvillescher Satz, Poisson-Klammern 13.3.1 Der Liouvillesche Satz • gegeben sei ein Ensemble von Systemen, deren Bahnen bei t = t0 einen Bereich σ0 des Phasenraums überdecken; der Satz von Liouville besagt, dass das Volumen des überdeckten Phasenraums konstant bleibt, Volumen[σ(t)] = Volumen[σ0 ] (13.56) oder Z Y f σ0 i=1 dqi dpi = Z f Y σ(t) i=1 dqi dpi (13.57) • der Beweis erfolgt in zwei Schritten; zunächst ist bei kanonischen Transformationen (q, p, t) → (q0 , p0 , t) die Funktionaldeterminante ∂(q1 , . . . , q f , p1 , . . . , p f ) 0 =1 (13.58) ∂(q1 , . . . , q0f , p01 , . . . , p0f ) was hier nicht gezeigt wird; das bedeutet, dass kanonische Transformationen das Volumenelement im Phasenraum konstant lassen; es lässt sich aber eine kanonische Transformation finden, die das Ensemble von Systemen auf Ruhe transformiert, und dann ist trivialer Weise σ(t) = σ0 13.3.2 Poisson-Klammern • sei ρ(q, p, t) die Dichteverteilung des Ensembles im Phasenraum, d.h. ρ(q, p, t)dqdp ist die Anzahl der Ensemblemitglieder zur Zeit t im Phasenraumelement zwischen [q, q + dq] und [p, p + dp] • die Systeme können im erweiterten Phasenraum nicht verloren gehen, ρ(q, p, t)dqdp = ρ(q0 , p0 , t0 )dq0 dp0 (13.59) woraus mithilfe des Liouvilleschen Satzes folgt ρ(q, p, t) = ρ(q0 , p0 , t0 ) (13.60) also ! ! f f ∂ρ X ∂ρ ∂ρ ∂ρ X ∂H ∂ρ ∂H ∂ρ + q̇i + ṗi = + − (13.61) ∂t i=1 ∂qi ∂pi ∂t i=1 ∂pi ∂qi ∂qi ∂pi 13.3. LIOUVILLESCHER SATZ, POISSON-KLAMMERN 145 • der Ausdruck in Klammern heißt Poisson-Klammer, allgemein definiert als ! f X ∂ f ∂g ∂ f ∂g − { f, g} := ∂pi ∂qi ∂qi ∂pi i=1 (13.62) sie erfüllt folgende Eigenschaften: { f, g} { f, g1 + g2 } { f, g1 g2 } 0 = = = = −{g, f } (13.63) { f, g1 } + { f, g2 } g1 { f, g2 } + g2 { f, g1 } {{ f, g1 }, g2 } + {{g1 , g2 }, f } + {{g2 , f }, g1 } die letzte Gleichung ist Jacobis Identität • mithilfe der Poisson-Klammern lautet (13.61) ∂ρ + {H, ρ} = 0 ∂t (13.64) die Hamiltonschen kanonischen Gleichungen lauten q̇i = {H, qi } , ṗi = {H, pi } (13.65) in dieser Form wurden sie grundlegend für die Heisenbergsche Formulierung der Quantenmechanik 146 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK Kapitel 14 Stabilität und Chaos 14.1 Stabilität 14.1.1 Bewegung in der Nähe des Gleichgewichts • nicht-konservative Systeme heißen dissipativ; sie verlieren Energie und können daher als Systeme betrachtet werden, die auf irgend eine Weise an ihre Umgebung oder an andere Systeme ankoppeln • wichtig für das Verhalten dissipativer Systeme ist die Stärke dieser Kopplung an andere Systeme; diese Kopplungsstärke wird durch Parameter bestimmt, etwa durch die Reibungskonstante λ beim gedämpften harmonischen Oszillator • für die Kenntnis eines dissipativen Systems ist es wichtig zu wissen, bei welchen kritischen Werten dieser Kopplungsparameter wesentliche Änderungen im Verhalten des Systems auftreten • die Gesamtheit des Systems wird durch den Phasenfluss dargestellt, d.h. durch die Gesamtheit der Trajektorien des Systems, die durch alle möglichen Anfangsbedingungen und die Wahl der Kopplungsparameter erlaubt werden • damit tritt die Frage auf, ob es kritische Werte der Kopplungsparameter gibt, bei denen sich die Eigenschaften des Phasenflusses wesentlich ändern; statt einzelner Trajektorien wird dann die gesamte Lösungsmannigfaltigkeit des Systems betrachtet • studiert wird dann das Langzeitverhalten des Systems unter allen möglichen Anfangsbedingungen; damit wird die qualitative Dynamik vorgegebener Bewegungsgleichungen zum Gegenstand der Untersuchung; ein Beispiel wäre die Untersuchung der Frage, wie sich der Phasenfluss für periodische, schwach gestörte Bewegungen langfristig entwickelt 147 148 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS • bei dieser Vorgehensweise gehen wir von Bewegungsgleichungen der Form ~ x, t) ~x˙ = F(~ (14.1) aus; auf eine solche Form lassen sich die dynamischen Gleichun˙N zu gen immer bringen, indem man etwa (~x1 , . . . , ~xN ; ~˙x, 1 . . . , ~ x) einem Vektor ~x zusammen fasst • Beispiel: für den gedämpften harmonischen Oszillator ist ẍ + 2λ ẋ + ω2 x = 0; wir führen ~z := (x, ẋ) ein, erhalten ż2 = −2λz2 − ω2 z1 und ż1 = z2 , womit folgt ! ! ż1 z2 = (14.2) ż2 −2λz2 − ω2 z1 • die „Kraft“ F~ kann Störterme oder nicht genau bekannte Anteile enthalten; in beiden Fällen würde die Größe der Störungen oder der zusätzlichen Anteile durch Parameter angegeben ~ x0 ) = 0 • die Gleichgewichtslage ~x0 ist dadurch bestimmt, dass F(~ ist; autonom ist das System, wenn F~ nicht explizit von der Zeit ~ x, t) = F(~ ~ x(t)); Punkte ~x0 , für die F(~ ~ x0 ) = 0 gilt, heißen abhängt, F(~ singuläre oder kritische Punkte von F~ • wir versetzen das System in einen solchen kritischen Punkt und linearisieren in dessen Umgebung; sei ~y := ~x − ~x0 , dann ist f X ∂F~ ~y(t) = · yi (t) ∂xi ~x i=1 (14.3) 0 • im allgemeineren, dynamischen Fall seien ~ξ(t) eine Lösungskurve ~ x, t) und ~y(t) := ~x(t) − ~ξ(t), dann ist offenbar von ~x˙ = F(~ und daher ~ y + ~ξ, t) − ~ξ˙ = F(~ ~ y + ~ξ, t) − F( ~ ~ξ, t) ~y˙ = F(~ (14.4) f X ~ ∂ F · yi ~y˙ = ∂xi ~x=~ξ (14.5) i=1 • in der Umgebung einer Lösungskurve ~ξ lassen sich die dynamischen Gleichungen also in die Form ˙~y = A · ~y , Ai j = ∂Fi (14.6) ∂x j ~x=~ξ bringen; die Lösung dieser Gleichung ist ~y(t) = exp [A(t − t0 )] · ~y0 (14.7) 14.1. STABILITÄT 149 • die Exponentialfunktion der Matrix A(t − t0 ) hat die nahe liegende Bedeutung ∞ X (t − t0 )i i A (14.8) exp[A(t − t0 )] := i! i=0 wenn A in Diagonalform gebracht wurde mit den Eigenwerten αi , 1 ≤ i ≤ f , dann ist auch exp[A(t − t0 )] in Diagonalform und hat die Eigenwerte exp[αi (t − t0 )] • die Eigenwerte αi heißen kritische Exponenten des Vektorfeldes F~ in ~x0 bzw. entlang der Lösungskurve ~ξ Beispiele • gegeben sei ein ebenes Pendel der Länge l und der Masse m; seine Lagrange-Funktion ist L= m2 2 l ϕ̇ + mgl cos ϕ 2 (14.9) woraus die Bewegungsgleichung r ϕ̈ + ω ϕ = 0 , 2 ω := g l (14.10) folgt • wir nennen y1 := ϕ und y2 = ϕ̇; damit ist ẏ1 = y2 und ẏ2 = −ω2 y1 , und ! 1 ˙~y = 0 (14.11) −ω2 0 aus dem charakteristischen Polynom α2 + ω2 = 0 erhalten wir die Eigenwerte α1,2 = ±iω, und damit lautet die Matrix A in Diagonalform ! iω 0 A= (14.12) 0 −iω beide kritischen Exponenten sind imaginär und beschreiben daher Schwingungen des Pendels • betrachten wir statt dessen ein ebenes Pendel mit Reibung, dann lautet die Bewegungsgleichung ϕ̈ + 2λϕ̇ + ωϕ = 0 mit derselben Definition von y1,2 wie oben folgt ! ! ẏ1 0 1 = ẏ2 −ω2 −2λ (14.13) (14.14) 150 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS • das charakteristische Polynom α(α + 2λ) + ω2 = 0 ergibt die Eigenwerte √ (14.15) α1,2 = −λ ± i ω2 − λ2 die Gleichgewichtslage y = 0 wird für λ = 0 nur im zeitlichen Mittel erreicht; für λ < 0 läuft das System exponentiell vom Gleichgewicht weg, während die Bewegung für λ > 0 und t → ∞ nach y = 0 läuft 14.1.2 Definitionen und Sätze zur Stabilität • diese Überlegung motiviert die folgenden Definitionen: 1. ein Punkt ~x0 auf der Lösungskurve eines Systems heißt Liapunov-stabil, wenn zu jeder Umgebung U von ~x0 eine Umgebung V von ~x0 existiert so, dass die Lösungskurve, die zur Zeit t = 0 durch ~x ∈ V geht, für alle t ≥ 0 in U liegt; mathematisch: ~x ∈ V : ξ~x (t) ∈ U (t ≥ 0) 2. der Punkt ~x0 heißt asymptotisch stabil, wenn es zu ~x0 eine Umgebung U gibt so, dass die Lösungskurve durch ein beliebiges ~x ∈ U für t → ∞ definiert ist und im Limes t → ∞ nach ~x0 läuft; ein asymptotisch stabiler Punkt ist auch Liapunov-stabil • folgende Sätze beschreiben die Stabilität: ~ ferner sei <(αi ) < 1. Sei ~x0 ein Gleichgewichtspunkt von F, −c < 0 für alle αi , dann existieren eine Umgebung U von ~x0 so, dass der Fluss von F~ auf U für alle positiven Zeiten definiert ist, und ein d ∈ R so, dass für alle ~x ∈ U und alle t ≥ 0 gilt ~ξ~x ≤ de−ct ~x − ~x0 (14.16) (exponentielle, gleichmäßige Konvergenz nach ~x0 ) 2. Wenn ~x0 stabil ist, hat keiner der Eigenwerte von A einen positiven Realteil Beispiel für einen Freiheitsgrad • für ein System mit einem Freiheitsgrad gilt in der Nähe des Gleichgewichts ~y = 0 ! ! ẏ1 y1 =A (14.17) ẏ2 y2 die Eigenwerte erfüllen die Gleichung α2 − trAα + det A = 0 (14.18) 14.1. STABILITÄT 151 mit trA = α1 + α2 und det A = α1 α2 ; der Ausdruck D := (trA)2 − 4 det A (14.19) ist die Diskriminante • wenn D ≥ 0 ist, sind α1,2 ∈ R; dann werden drei Fälle unterschieden: 1. α1 < α2 < 0: (det A > 0); dann gilt y1 = eα1 t y1,0 , y2 = eα2 t y2,0 (14.20) die y(t) bilden dann einen Knoten 2. α1 = α2 < 0: der Knoten ist axialsymmetrisch 3. α2 < 0 < α1 : (det A < 0); der Nullpunkt ist instabil, die y(t) bilden einen Sattelpunkt • wenn D < 0 ist, sind α1,2 konjugiert-komplexe Zahlen; die dynamische Gleichung beschreibt dann einen (gedämpften, angefachten) harmonischen Oszillator, der anhand des Vorzeichens von <(α) unterschieden wird 14.1.3 Hamiltonsche Systeme • mit der Matrix J := 0 1 −1 0 ! (14.21) und der Identifikation q = x1 , p = x2 lauten die Hamiltonschen Gleichungen ~ ~x˙ = J · ∇H (14.22) • offenbar ist det J = 1 und J T = J −1 = −J, außerdem ist J 2 = −I (d.h. die negative Einheitsmatrix); J induziert eine symplektische Struktur auf dem Phasenraum ~ • wenn ~x0 ein Gleichgewichtspunkt ist, gilt dort J · ∇H = 0, also ~ = 0; die Linearisierung um ~x0 mit ~y := ~x − ~x0 ergibt auch ∇H ~x0 ∂2 H ~y˙ = J · ∂xi ∂x j • die Matrix ! · ~y ~x ∂2 H B := ∂xi ∂x j (14.23) 0 ! ~x 0 ist offenbar symmetrisch; per Definition ist JB = A (14.24) 152 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS • die Matrix A ist infinitesimal symplektisch; für sie gilt AT J + JA = (JB)T J + JA = BT (J T J) + JA = B + JA = B + J2 B = B − B = 0 (14.25) • wenn α Eigenwert von A ist, dann ist auch −α Eigenwert von A; Beweis: die Eigenwerte von A sind durch das charakteristische Polynom det(A − αI) = 0 bestimmt; wir müssen also zeigen, dass det(A − αI) = det(A + αI) ist: det(A − αI) = = = = det(JB + αJ 2 ) = det J det(B + αJ) h i det (B + αJ)T = det(BT + αJ T ) det(B − αJ) = det [J(B − αJ)] det(JB − αJ 2 ) = det(A + αI) (14.26) das bedeutet, dass für Hamiltonsche Systeme die Voraussetzungen des Satzes 1 nicht erfüllbar sind, denn zu jedem Eigenwert αi von A = JB mit negativem Realteil muss es einen Eigenwert α j mit <(α j ) = −<(αi ) > 0 geben! ~x0 kann höchstens dann stabil sein, wenn alle Eigenwerte rein imaginär sind Stabilität des asymmetrischen Kreisels • als Beispiel betrachten wir einen kräftefreien, asymmetrischen Kreisel mit den Hauptträgheitsmomenten 0 < Θ1 < Θ2 < Θ3 ; mit der Definition xi := ωi können die Eulerschen Gleichungen (9.48) in die Form Θ3 − Θ2 x2 x3 Θ1 Θ3 − Θ1 x1 x3 = + Θ2 Θ2 − Θ1 = − x1 x2 Θ3 ẋ1 = − ẋ2 ẋ3 (14.27) gebracht werden • offensichtlich sind die drei Gleichgewichtslagen des Systems gegeben durch ~x0,1 ω = 0 , 0 ~x0,2 0 = ω , 0 ~x0,3 0 = 0 , ω (14.28) mit einer beliebigen Konstante ω, denn damit verschwinden jeweils ẋ1 , ẋ2 und ẋ3 14.1. STABILITÄT 153 • zur Untersuchung der Stabilität dieser Gleichgewichtslagen setzen wir ~yi := ~xi − ~x0,i und linearisieren in ~y; so ergibt sich in der Umgebung von ~x0,1 das lineare Gleichungssystem 0 0 ẏ1 0 Θ3 −Θ1 ˙~y = ẏ2 = 0 0 ω Θ2 1 ẏ3 0 0 −ω Θ2Θ−Θ 3 y1 y2 =: A~y y3 (14.29) • die charakteristischen Exponenten zur Gleichgewichtslage ~x0,1 ergeben sich aus det(A − α1,i I) = 0, also ! 2 Θ3 − Θ1 Θ2 − Θ1 α1,1 α1,2 α1,3 + ω =0 (14.30) Θ2 Θ3 zu (Θ2 − Θ1 )(Θ3 − Θ1 ) = iω Θ2 Θ3 " α1,1 = 0 , α1,2 = −α1,3 #1/2 (14.31) • auf völlig analoge Weise findet man #1/2 (Θ3 − Θ2 )(Θ2 − Θ1 ) =ω Θ1 Θ3 " #1/2 (Θ3 − Θ2 )(Θ3 − Θ1 ) = iω (14.32) Θ1 Θ2 " α2,1 = 0 , α2,2 = −α2,3 α3,1 = 0 , α3,2 = −α3,3 für die Eigenwerte der Entwicklung um die anderen beiden Gleichgewichtslagen • der Eigenwert α2,2 hat also einen positiven Realteil, d.h. die Gleichgewichtslage ~x0,2 erfüllt nicht die Voraussetzung für Stabilität; tatsächlich sind Drehungen des kräftefreien, asymmetrischen Kreisels um die Achse mit dem mittleren Hauptträgheitsmoment instabil 14.1.4 Attraktoren; die van-der-Polsche Gleichung • Attraktoren sind Bereiche des Phasenraums, zu denen die Lösungskurven laufen; als Beispiel dafür besprechen wir die van-derPolsche Gleichung • der harmonische Oszillator mit geschwindigkeitsabhängiger Dämpfung wird dadurch verändert, dass die Dämpfungskonstante von der Amplitude abhängig gemacht wird, ẍ(t) + 2γ(x) ẋ(t) + ω2 x(t) = 0 (14.33) 154 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS • die van-der-Polsche Gleichung erhält man für ! x2 γ(x) = −γ0 1 − 2 , γ0 > 0 x0 (14.34) für x x0 wird der Oszillator angefacht, Energie wird in das System gepumpt; für x x0 dagegen wird der Oszillator gedämpft; dies kann als Korrektur des Modells des harmonischen Oszillators mit Reibung aufgefasst werden, indem das System abhängig vom Ausschlag an äußere Systeme angekoppelt wird Auslenkung und Geschwindigkeit eines Oszillators, der durch die vander-Polsche Gleichung beschrieben wird • als dimensionslose Variable führen wir τ := ωt und r √ x 2γ0 x =: q(τ) := ω x0 x0 (14.35) ein; damit kann die van-der-Polsche Gleichung in die Form ṗ + q − ( − q2 )p = 0 (14.36) gebracht werden, wobei p := q̇(τ) = dq dτ (14.37) definiert wurde • das Phasenportrait der van-der-Polschen Gleichung zeigt ihr Attraktorverhalten: abhängig von den Anfangsbedingungen (p, q) entwickeln sich die Lösungskurven zum Attraktor hin Bewegung des van-der-Polschen Oszillators im Phasenraum aus verschiedenen Anfangszuständen hin zum Attraktor 14.2 Chaos in der Himmelsmechanik 14.2.1 Beispiel: Saturnmond Hyperion • wir betrachten die Bewegung des asymmetrischen Mondes Hyperion um den Planeten Saturn auf einer Ellipse mit der Exzentrizität ε; die Asymmetrie des Mondes werde dadurch modelliert, dass er aus zwei verschieden langen Hanteln zusammen gesetzt gedacht wird, an deren Enden jeweils Massenpunkte m sitzen • die Längen der Hanteln seien d und e < d; die Hauptträgheitsmomente ergeben sich zu Θ1 = m 2 e , 2 Θ2 = m 2 d , 2 Θ3 = m 2 (d + e2 ) 2 (14.38) die 1-Achse ist entlang der kürzeren, die 2-Achse entlang der längeren Hantel gerichtet, die 3-Achse steht auf beiden senkrecht 14.2. CHAOS IN DER HIMMELSMECHANIK 155 • aufgrund der Asymmetrie Hyperions übt der Saturn auf die 2Achse das Drehmoment ~ ~ 12 = d × (F~1 − F~2 ) M (14.39) 2 aus; dabei sind die F~i gegeben durch GMm~ri , F~i = − ri3 ~r1,2 = ~r ± d~ 2 • offenbar gilt dann wegen d |~r| 3/2 # " ~ 2 3d d 3 3 r1,2 = ~r ± ≈ r 1 ± cos α 2 2r (14.40) (14.41) wobei α der Winkel zwischen ~r und d~ ist • die Kräfte F~1,2 lauten also F~1,2 GMm 3d =− 3 1∓ cos α r 2r ! ~r + d~ 2 und die Beträge der Kreuzprodukte sind ! d~ GMm 3d × F~1,2 = − 1∓ cos α dr sin α 2r3 2r 2 (14.42) (14.43) • daraus ergibt sich das Drehmoment ~ 12 = 3GM Θ2 sin 2α ~e3 (14.44) M 2r3 entsprechend erhält man für die darauf senkrecht stehende Hantel ~ 34 = − 3GM Θ1 sin 2α ~e3 M 2r3 (14.45) • die Drehimpulsänderung ist gleich dem gesamten Drehmoment, also folgt !2 a 3 3 2π Θ3 φ̈ = (Θ2 − Θ1 ) sin 2(ϕ − φ) (14.46) 2 τ r wobei das 3. Keplersche Gesetz (4.42) benutzt wurde; φ ist der Drehwinkel der längeren Hantel bezüglich der Polarachse, sodass α = ϕ − φ gilt; sowohl r, φ und ϕ sind Funktionen der Zeit t • wir kürzen noch ab, indem wir den relevanten Parameter r 3(Θ2 − Θ1 ) β := (14.47) Θ3 einführen; damit lautet (14.46) !2 β2 2π a 3 φ̈ = sin 2(ϕ − φ) (14.48) 2 τ r 156 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS Kreisbahn als Spezialfall • für den Spezialfall der Kreisbahn ist r = konst. und außerdem 2π =ω, τ ϕ = ωt (14.49) damit vereinfacht sich (14.48) zu φ̈ = − β2 2 ω sin 2(φ − ωt) 2 (14.50) woraus mit der Definition φ0 := φ − ωt folgt φ̈0 = − β2 2 ω sin 2φ0 2 (14.51) • nach Multiplikation mit φ̇0 lässt sich (14.51) ein Mal integrieren, (φ̇0 )2 = β2 2 ω cos 2φ0 + C 2 (14.52) mit der Integrationskonstante C 14.2.2 Chaotisches Taumeln auf der Ellipsenbahn • der asymmetrische Mond auf der elliptischen Bahn zeigt chaotisches Verhalten; um dieses sichtbar zu machen, benutzt man die so genannte Poincaré-Abbildung: in festen Zeitabständen wird die Lage des Systems im Phasenraum dargestellt Poincaré-Abbildungen für die Marsmonde Deimos (oben, ε = 0.0005, β = 0.81), Phobos (Mitte, ε = 0.015, β = 0.83) und den Saturnmond Hyperion (unten, ε = 0.1, β = 0.89) • im Fall des Mondes auf seiner Umlaufbahn wählt man als festen Zeitabstand die Umlaufperiode um den Saturn und gibt etwa bei jedem Durchgang des Mondes durch sein Perisaturnion seine Orientierung θ sowie dessen Änderung θ̇ an • führt man dies für einige zufällig gewählte Anfangswerte θ0 und θ̇0 durch und betrachtet die Poincaré-Abbildung nach sehr vielen Umläufen, zeigt sich ein charakteristisches Bild: Bereichen, in denen geordnetes Verhalten auftritt, stehen Bereiche gegenüber, in denen sich die Position des Systems im Phasenraum von Umlauf zu Umlauf unkontrollierbar ändert: Der asymmetrische Mond taumelt; die Abbildungen zeigen die Poincaré-Abbildungen für die Marsmonde Phobos und Deimos und für den Saturnmond Hyperion