Der Raum in Philosophie, Physik und Psychologie

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Der Raum
in Philosophie, Physik und Psychologie
Olaf Engler
Moritz-Schlick-Forschungsstelle des Instituts für Philosophie der Universität Rostock
Zentrum für Logik, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte (ZLWWG)
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin
Rostock, 10. Januar 2008
Was bedeutet wissenschaftliche Philosophie?
Wissenschaftliche Philosophie bedeutet …
• eine Epoche, die vom Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu den Anfängen der
philosophischen Moderne in den 30er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht
• ein philosophisches Konzept, das auf derselben Erfahrungsbasis wie die empirischen
Wissenschaften stehend, diese systematisierend im Hinblick auf ihre vorauszusetzenden,
gleichwohl aber wandelbaren und dynamischen Prinzipien untersucht
Wodurch wurde die wissenschaftliche Philosophie bestimmt?
Wissenschaftliche Philosophie wurde bestimmt …
• durch eine ganzen Reihe von Grundlagenkrisen und radikale Revolutionen in den
Wissenschaften (Relativitäts- und Quantentheorie, Mathematik, Wahrnehmungspsychologie …)
• durch eine große Anzahl von Philosophen, die in engem Austausch mit den empirischen
Wissenschaften standen (Hermann von Helmholtz, Friedrich Albert Lange, Oswald Külpe, Ernst
Mach, Joseph Petzoldt, Richard Avenarius, Alois Riehl, Carl Stumpf, Wilhelm Wundt, Bertrand
Russell, Henri Poincaré, Pierre Duhem, Ernst Cassirer, Moritz Schlick, Hans Reichenbach,
Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein und viele andere)
Martin Heidegger zur Psychologie und wissenschaftlichen Philosophie
• enthusiastische Auseinandersetzung mit den teils revolutionären Resultaten der empirischen
Wissenschaften innerhalb der Philosophie
• interdisziplinäre Forschung und Wissenstransfers
Martin Heidegger (1889–1976)
„Der Aufschwung der psychologischen Forschung, die Reichhaltigkeit
ihrer Ergebnisse ist heute unumstritten. Die Erfolge beschränken sich
aber nicht auf den engen Bezirk der Psychologie. Ethische und
ästhetische Untersuchungen, Pädagogik und Rechtspraxis suchen
Vertiefung und Klärung durch die Psychologie. Und faßt man deren Begriff
weiter, dann zeigt auch die moderne Literatur und Kunst Einflüsse
psychologischen Denkens. So erklärt sich das Wort vom „Zeitalter der
Psychologie“. Es wäre nun kaum verwunderlich, wenn dieser allgemeine
Einfluß der Psychologie nicht auch auf die Philosophie, speziell die Logik
als die „Lehre von Denken“, sich erstreckt hätte. Das Verhältnis liegt aber
gerade umgekehrt. Der Antagonismus zwischen psychologischer und
transzendentaler Methode innerhalb des kritischen Idealismus, näherhin
die lange vorherrschende, durch Schopenhauer, Herbart, Fries
begründete und begünstigte psychologische Interpretation Kants hat
zugleich mit der aufstrebenden und zu Weltanschauungskonstruktionen
hinstrebenden Naturwissenschaft die Psychologie zu der umfassenden
und bestrickenden Bedeutung hinaufgehoben und eine „Naturalisierung
des Bewußtseins“ bewirkt.“
Martin Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus.
Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik,1913, S. 5.
Moritz Schlick zur Physik und wissenschaftlichen Philosophie
Moritz Schlick (1882–1936)
„In unsern Tagen ist die physikalische Erkenntnis zu einer solchen
Allgemeinheit ihrer letzten Prinzipien und zu einer solchen wahrhaft
philosophischen Höhe ihres Standpunktes hinaufgestiegen, daß sie an
Kühnheit alle bisherigen Leistungen wissenschaftlichen Denkens weit
hinter sich läßt. Die Physik hat Gipfel erreicht, zu denen sonst nur der
Erkenntnistheoretiker emporschaute, ohne sie jedoch immer ganz frei von
metaphysischer Bewölkung zu erblicken. Der Führer, der einen gangbaren
Weg zu diesen Gipfeln zeigte, ist Albert Einstein. Er reinigte durch eine
erstaunlich scharfsinnige Analyse die fundamentalsten Begriffe der
Naturwissenschaft von Vorurteilen, die durch all die Jahrhunderte
unbemerkt geblieben waren, begründete so ganz neue Anschauungen und
schuf auf ihrem Boden eine physikalische Theorie, die der Prüfung durch
die Beobachtung zugänglich ist. Die Verbindung der erkenntniskritischen
Klärung der Begriffe mit der physikalischen Anwendung, durch die er seine
Ideen sofort in empirisch prüfbarer Weise nutzbar machte, ist wohl das
Bedeutsamste an seiner Leistung, und bliebe es selbst dann, wenn das
Problem, das Einstein mit diesen Waffen angreifen konnte, auch nicht
gerade das Gravitationsproblem gewesen wäre, jenes hartnäckige Rätsel
der Physik, dessen Lösung uns notwendig tiefe Einblicke in den
Zusammenhang des Universums gewähren mußte.“
Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, 1917, S. 1
Richard Avenarius und Friedrich Paulsen zur
wissenschaftlichen Philosophie
„[…] dass das Wesen der Wissenschaft, im Gegensatz zur Kunst, im
Material liegt und dieses durch die Erfahrung gegeben sein muss.
Das und nichts weiter bedeutet auch der Ausdruck „wissenschaftliche
Philosophie“ – nämlich eine Philosophie, die nicht nur formal,
sondern ihrem Wesen nach, d.h. durch den empirischen Charakter
ihrer Objecte, Wissenschaft ist; da es wiederum das Wesen der
Wissenschaft ist, empirisch fundamentirt zu sein.“
Richard Avenarius, „Einführung“, in: Vierteljahrsschrift
für wissenschaftliche Philosophie, Jg. 1, 1877, S. 6 f.
Richard Avenarius (1843–1896)
„Philosophie ist von den Wissenschaften nicht zu trennen, sie kann
begrifflich nur bestimmt werden als der Inbegriff wissenschaftlicher
Erkenntnis. Alle Wissenschaften sind Glieder eines einheitlichen
Systems, […] , deren Gegenstand die gesamte Wirklichkeit ist. Dieses
nie vollendete System, an dem die Jahrtausende bauen, das ist die
Philosophie.“
Friedrich Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 1904, S. 18 f.
Friedrich Paulsen (1864–1908)
Wer war der erste wissenschaftliche Philosoph?
„Sieht sich die moderne Naturwissenschaft durch die logische Allgemeinheit
ihrer Prinzipien genötigt, wieder innigste Fühlung mit der Philosophie zu
nehmen, so ist ihr Helmholtz in einer unphilosophischen Zeit darin
vorausgegangen: sein Name ist das Sinnbild einer fruchtbaren Vereinigung der
Wissenschaft mit einer erkenntnistheoretisch orientierten Philosophie […].“
Hermann von Helmholtz, Schriften zur Erkenntnistheorie,
hrsg. von P. Hertz und M. Schlick (1921), S. VI f.
Hermann von Helmholtz
(1821–1894)
Hermann von Helmholtz (1821–1894)
• Geboren am 31. August 1821 in Potsdam
• naturwissenschaftliches Interesse bereits in der Schulzeit
• 1838–1842 Studium der Medizin in Berlin (einflußreichster Lehrer:
Johannes Müller)
• Anstellung an der Charité, 1842 Doktor der Medizin
• 1845 Mitglied der „Physikalischen Gesellschaft“
• 1849 Professor für Physiologie in Königsberg
• 1850 Erfindung des Augenspiegels
• 1855 Professor für Anatomie und Physiologie in Bonn, ab 1858 in
Heidelberg (Forschungen zur Geometrie)
• 1871 Professor für Physik in Berlin
• 1888 Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt
• zahlreiche wissenschaftsphilosophische Vorträge und Aufsätze
• Gestorben am 8. September 1894
Hermann von Helmholtz über die Philosophie
„Ich glaube, dass der Philosophie nur wieder aufzuhelfen ist, wenn sie sich mit Ernst und Eifer
der Untersuchung der Erkenntnisprocesse und der wissenschaftlichen Methoden zuwendet. Da
hat sie eine wirkliche und berechtigte Aufgabe. Metaphysische Hypothesen auszubauen ist eitel
Spiegelfechterei. Zu jener kritischen Untersuchung gehört aber vor Allem genaue Kenntniss der
Vorgänge bei den Sinneswahrnehmungen […]. Die Philosophie ist unverkennbar deshalb in‘s
Stocken gerathen, weil sie ausschliesslich in der Hand philologisch und theologisch gebildeter
Männer geblieben ist und von der kräftigen Entwickelung der Naturwissenschaften noch kein
neues Leben in sich aufgenommen hat […].“
zitiert nach Leo Königsberger, Hermann von Helmholtz, Bd. 1, S. 243
Hermann von Helmholtz über Immanuel Kant
„Die Kantianer strictester Observanz betonen vor Allem die Punkte, wo Kant meines Erachtens
unter der unvollkommenen Entwickelung der Specialwissenschaften seiner Zeit gelitten und sich
in Irrthümer verwickelt hat. Der Kernpunkt dieser Irrthümer sind die Axiome der Geometrie, die er
für a priori gegebene Formen der Anschauung ansieht, die aber in der That Sätze sind, die durch
Beobachtung geprüft und, wenn sie unrichtig wären, eventuell auch widerlegt werden könnten.
Dies letztere habe ich zu erweisen gesucht. […] Meines Erachtens darf man, was Kant Grosses
geleistet hat, nur halten, wenn man seinen Irrthum über die rein transcendentale Bedeutung der
geometrischen und mechanischen Axiome fallen läßt.“
zitiert nach Leo Königsberger, Hermann von Helmholtz, Bd. 2, S. 139 f.
Immanuel Kant über den Raum
• Kritik der reinen Vernunft 1781 (A), 2. Aufl. 1787(B) klärt Bedingungen der
Möglichkeit von Erfahrungserkenntnis
• Wie ist begriffliches Urteilen über sinnlich gegebene Dinge möglich?
• „Kopernikanische Wende“ (Erkenntnisgegenstand existiert nicht
unabhängig von unseren Urteilen)
• transzendentaler Schematismus des Verstandes (Kritik der reinen
Vernunft, A 137 ff./B 176 ff.) reine Begriffe müssen raum-zeitlich
schematisiert, d.h. durch die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit
vermittelt werden, um anwendbar zu sein auf sinnlich gegebene Inhalte
Immanuel Kant (1724–1804)
• Raum als reine Form der Anschauung in bezug auf die äußere
Sinnlichkeit; als apriorische Struktur unseres Urteilsvermögens
„In der Tat liegen unsern reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemata zum Grunde.
Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die
Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- und schiefwinklichte etc. gilt,
sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals
anderswo als in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung
reiner Gestalten im Raume. Noch viel weniger erreicht ein Gegenstand der Erfahrung oder Bild desselben jemals den
empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft, als einer
Regel der Bestimmung unserer Anschauung, gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe. […] Dieser
Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene
Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und
sie verdeckt vor Augen legen werden.“
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 140 f./B 180 f.
Auseinandersetzung mit Kants Lehre über den Raum
Raum als reine Form der
Anschauung ausgezeichnet
Mathematische Alternativen zum mit Allgemeingültigkeit und
Kantischen Raum
Notwendigkeit (Apriorismus) Kantische Raum ist keine
besondere subjektive Anschauung
Sensualistische Zeichentheorie
a priori
Raumanschauung stammt aus der
Raumanschauung ist angeboren
(messenden) Erfahrung
(Nativismus)
(Empirismus)
Immanuel Kant (1724–1804)
Hermann von Helmholtz (1821–1894)
Implizite Definition von
geometrischen Begriffen
(Punkt, Gerade, Ebene)
Strikte Trennung zwischen
Anschauung und Begriff
(Formalismus)
David Hilbert
(1862–1943)
Transformation des
Raumkonzepts
Eindeutigkeit der Zuordnung von
Meßgrößen zu Punktereignissen über
raum-zeitliche Koinzidenzen
Raum als abstrakte (unanschauliche)
Ordnungsstruktur, die gemeinsam mit
den wissenschaftlichen Hypothesen
gewählt und überprüft wird
Moritz Schlick
(1882–1936)
Albert Einstein
(1879–1955)
Carl Stumpf (1848–1936)
Raum als Festsetzung
unter der Maßgabe der
Einfachheit
(Konventionalismus)
Henri Poincaré
(1854–1912)
Kants erstes Argument für die subjektive Besonderheit der
Raumvorstellung und seine Kritik durch Stumpf
• kritische Diskussion der psychologischen Seite der Kantischen Raumauffassung
• Vorstellung des Raumes in der besonderen Weise einer subjektiven Anschauung a priori im
Unterschied zu den sinnlichen Qualitäten ist problematisch
Erste Argument für die subjektive Besonderheit der Raumvorstellung
„Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden.
Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden (d.i. auf etwas in
einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde,) imgleichen damit ich sie
als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen
Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen.“
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 23/B 38
Kant meint , „dass wir bei der Vorstellung zweier Orte die Zwischenorte mitvorstellen. […]
Dass wir nun aber, wenn wir zwei Orte vorstellen, die Zwischenorte (den Zwischenraum)
mitvorstellen, scheint dies nicht in der That einen Unterschied von den Qualitäten zu
begründen? Niemand denkt, um Roth und Blau vorzustellen, etwa an die dazwischen
liegenden Regenbogenfarben.“
Carl Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, S. 16 f.
Nein, denn: 1) verschiedene Orte kann man erkennen, ohne den Zwischenraum
zu bemerken („blinder Fleck“) 2) Messung der Entfernung zwischen zwei Orten
setzt nicht nur bei räumlichen Abständen gesetzmäßige Zwischenglieder voraus
(z.B. Töne, auch diese haben eine gesetzmäßige Reihe)
Kants zweites Argument für die subjektive Besonderheit der
Raumvorstellung und seine Kritik durch Stumpf
Zweite Argument Kants für die subjektive Besonderheit der Raumvorstellung
„Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum
Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob
man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.
Es wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von
ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendiger
Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 24/B 38 f.
Kant meint , „die Qualitäten können wir hinwegdenken, den Raum nicht.“
Carl Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, S. 16 f.
Nein, denn: „Der angegebene Unterschied besteht factisch nicht; man kann durchaus nicht
Raum ohne Qualität vorstellen, z.B. mit dem Gesichtssinn nicht ohne Farbe, mit dem
Tastsinn nicht ohne Berührungsgefühle, abgetrennt aber von allen Sinne überhaupt nicht.
Wer wirklich das Kant‘sche genau auszuführen versucht, indem er alle Qualitäten,
insbesondere alle Farben, auch schwarz und grau, hinwegdenkt, dem bleibt nicht der
Raum sondern Nichts übrig.“
Carl Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, S. 19 f.
• Raumvorstellung besitzt keine besondere subjektive Quelle unabhängig von den räumlich
vorgestellten Qualitäten
• Nativistische Position nach der die Raumvorstellung zusammen mit der Sinnesqualität, die
räumlich vorgestellt wird, einen einzigen, seiner Natur nach untrennbaren Inhalt bildet
Nativismus und Empirismus
„Der Kern unserer Ansichten ist in den Sätzen ausgesprochen, dass der
Raum in derselben Weise empfunden werde, wie die sinnlichen Qualitäten,
aber mehr als sie der Ausbildung bedarf; einer Ausbildung, die jedoch
gleichfalls ganz auf dem gewöhnlichen Wegen, dem der Association und
der Verarbeitung durch die Phantasie und die Reflexion, vor sich geht. [...]
Eine solche Ansicht nun würde man früher gegenüber der Lehre von den
angeborenen Ideen oder auch von den apriorischen Formen die
empiristische genannt haben. Man nennt sie jetzt die nativistische
gegenüber den Ansichten, welche keine ursprüngliche Empfindung und nur
eine Ausbildung des Raumes zulassen.“
Carl Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, S. 307 f.
„Der Hauptsatz der empiristischen Ansicht ist: Die Sinnesempfindungen
sind für unser Bewußtsein Zeichen, deren Bedeutung verstehen zu lernen
unserem Verstande überlassen ist. Was die für den Gesichtsinn erhaltenen
Zeichen betrifft, so sind sie verschieden nach Intensität und Qualität, das
heißt nach Helligkeit und Farbe, und außerdem muß noch eine
Verschiedenheit derselben bestehen, welche abhängig ist von der Stelle
der gereizten Netzhaut, ein sogenanntes Localzeichen.“
Hermann von Helmholtz, Handbuch der Physiologischen Optik, S. 947.
Hermann von Helmholtz‘s sensualistische Zeichentheorie
• Empfindungen als Zeichen, nicht als Abbilder der von außen einwirkenden Reize auf die Sinnesnerven
(besonderes Zeichen: Lokalzeichen, Hermann Lotze (1817–1881))
„Finden wir irgendwo Veranstaltungen getroffen, um eine Vielheit äußerer Reize in geordneten geometrischen
Verhältnissen auf das Nervensystem wirken zu lassen, so sind uns solche Einrichtungen allerdings als
Andeutungen wichtig, dass die Natur aus jenen räumlichen Beziehungen etwas für das Bewusstsein zu
machen beabsichtigt. An sich jedoch erklären sie nichts, und es ist nothwendig, überall in den Sinnesorganen
zugleich jene anderen Mittel aufzusuchen, durch welche die Lage der erregten Punkte noch neben ihrer
qualitativen Erregung auf die Seele zu wirken vermag. Da nun die spätere Localisation eines
Empfindungselementes in der räumlichen Anschauung unabhängig ist von seinem qualitativen Inhalt, so dass
in verschiedenen Augenblicken sehr verschiedene Empfindungen die gleichen Stellen unsers Raumbildes
füllen können, so muss jede Erregung vermöge des Punktes im Nervensystem, an welchem sie stattfindet,
eine eigenthümliche Färbung erhalten, die wir mir dem Namen ihres Localzeichens belegen wollen.“
Hermann Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, S. 330 f.
• Verarbeitung der Empfindungen durch den Wahrnehmungsapparat des Subjekts (Gesetz von den
spezifischen Energien der Sinnesnerven, Johannes Müller (1801–1851))
• Erlernen der Bedeutungen der Zeichen durch Erfahrung
„Unsere Empfindungen sind eben Wirkungen, welche durch äussere Ursachen in
unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äussert,
hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparates ab, auf den gewirkt wird.
Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigenthümlichkeit der äusseren
Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht giebt, kann sie als ein Zeichen
derselben gelten, aber nicht als ein Abbild.“
Hermann von Helmholtz, Handbuch der Physiologischen Optik, S. 586
Kants Eintreten für die Gewissheit der Axiome der Euklidischen
Geometrie und die Kritik durch Helmholtz
„Auf die Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Gewißheit aller geometrischen
Grundsätze, und die Möglichkeit ihrer Konstruktion a priori. Wäre nämlich diese Vorstellung
des Raums ein a posteriori erworbener Begriff, der aus der allgemeinen äußeren Erfahrung
geschöpft wäre, so würden die ersten Grundsätze der mathematischen Bestimmung nichts
als Wahrnehmungen sein. Sie hätten also alle Zufälligkeit der Wahrnehmung, und es wäre
eben nicht notwendig, daß zwischen zween Punkten nur eine gerade Linie sei, sondern die
Erfahrung würde es so jederzeit lehren. Was von der Erfahrung entlehnt ist, hat auch nur
komparative Allgemeinheit, nämlich durch Induktion. Man würde also nur sagen können, so
viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden worden, der mehr als drei
Abmessungen hat.“
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 24
„Wenn aber Räume anderer Art vorstellbar sind, so wäre damit auch widerlegt, daß
die Axiome der Geometrie notwendige Folgen einer a priori gegebenen
transzendentalen Form unserer Anschauungen im Kantschen Sinne seien.“
Hermann von Helmholtz, „Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome“, S. 22
„Kant‘s Lehre von den apriori gegebenen Formen der Anschauung ist ein sehr
glücklicher und klarer Ausdruck des Sachverhältnisses; aber diese Formen müssen
inhaltsleer und frei genug sein, um jeden Inhalt, der überhaupt in die betreffende
Form der Wahrnehmung eintreten kann, aufzunehmen.“
Hermann von Helmholtz, „Die Anwendbarkeit der Axiome
auf die physische Welt“, S. 405
Hermann von Helmholtz über die Axiome des mathematischen Raum
Axiome der euklidischen Geometrie
• die kürzeste, zwischen zwei Punkten gezogene Linie, ist eine gerade Linie, von der es nur
eine und nicht zwei verschiedene solche geraden Linien gibt
• durch einen außerhalb einer geraden Linie liegenden Punkt kann nur eine einzige zu der
ersten parallele Linie gelegt werden; parallel heißen zwei Linien, die in ein und derselben
Ebene liegen und sich niemals schneiden („Parallelenaxiom“)
Axiome der Geometrie von flachen intelligenten Wesen auf einer Kugeloberfläche
• kürzeste Linie zwischen zwei Punkten ist ein Bogen des größten Kreises, der durch die
beiden Punkte zu legen ist; a) kürzeste Linie ist nicht identisch mit der „geradesten“ Linie
(„Geodäte“); b) für den Fall das die beiden Punkte Endpunkte desselben Durchmessers der
Kugel sind, gibt es unendlich viele untereinander gleiche kürzeste Linien
• es gibt keine parallelen Linien
Woher stammen die geometrischen Axiome?
• aus der (messenden) Erfahrung
Hermann von Helmholtz über Messungen
„Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen.“
Alexander von Humboldt
• alle uns bekannten Raumverhältnisse sind meßbar („gerade Linie als kürzeste zwischen
zwei Punkten“ etc.)
• das Einzelne (z.B. Punkt) ist durch n-Abmessungen bestimmbar; n-fach ausgedehnte
Mannigfaltigkeit oder Mannigfaltigkeit von n-Dimensionen (Bernhard Riemann (1826–
1866))
„Alle unsere geometrischen Messungen beruhen also auf der Voraussetzung, daß unsere von uns für fest
gehaltenen Meßwerkzeuge wirklich Körper von unveränderlicher Form sind oder daß sie wenigstens keine
anderen Arten von Formveränderung erleiden als diejenigen, die wir an ihnen kennen, wie z.B. die von
geänderter Temperatur […]. Wenn wir messen, so führen wir nur mit den besten und zuverlässigsten uns
bekannten Hilfsmitteln dasselbe aus, was wir sonst durch Beobachtung nach dem Augenmaß und dem
Tastsinn oder durch Abschreiten zu ermitteln pflegen. In den letzten Fällen ist unser eigener Körper mit
seinen Organen das Meßwerkzeug, welches wir im Raume herumtragen. […]
Hermann von Helmholtz, Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome, S. 23
• Axiome der Euklidischen Geometrie besitzen keine Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit
• Empiristische Position nach der die Eigenschaftend des Raumes (Axiome der Geometrie) aus der
messenden Erfahrung stammen
Psychologie und Erkenntnistheorie
„Aus dieser Erörterung der Bedeutung der Apriorität in der Erkenntnisstheorie geht hervor, dass
Angeborensein der Vorstellungen oder Vorstellungsformen und Apriorität derselben nicht gleichbedeutend
sind. Das erste bezeichnet einen Umstand ihrer Entstehung, die zweite eine Eigenschaft ihrer Bedeutung.
Daher sind Nativismus und Empirismus psychologische, nicht erkenntnisstheoretische Gegensätze.
Alois Riehl, Der Philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die
positive Wissenschaft, Zweiter Band, Erster Teil, S.12
„Nativisten und Empiristen der Gegenwart, so sehr sie in der Theorie der Raumvorstellung
auseinandergehen, sind doch darüber vollkommen einig, dass es unmöglich ist, Raum, Ausdehnung, Gestalt
ohne irgendwelche Sinnesqualität vorzustellen.“
Carl Stumpf, „Psychologie und Erkenntnistheorie“, S. 483
Psychologie: Entstehung der Raumvorstellung nicht an eine bestimmte Sinnesqualität (z.B. Sehsinn,
Tastsinn, Bewegungsinn) gebunden, sondern Ergebnis des Zusammenfallens (Koinzidenz)
unterschiedlicher Sinnesqualitäten; empirische Bedingungen für die Ausbildung der Raumanschauung
Erkenntnistheorie: Kants Apriorismus des Raumes als reine Form der Anschauung wird benötigt, um
eine Brücke von den Begriffen zu den sinnlichen Gegenständen zu schlagen
Lösung des Kantischen Überbrückungsproblem aus dem Schematismuskapitel: Übernahme der
Koinzidenzmethode aus der Psychologie in die Erkenntnistheorie (und ihre erfolgreiche Anwendung auf
die Physik)
Neue Axiomatisierung der Geometrie
Kant bedurfte für die Auszeichnung der geometrischen Axiome den
transzendentalen Raum als reine Form der Anschauung (Schematismus oder
Regeln zur Konstruktion räumlicher Gebilde))
„Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren,
und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner
Gestalten im Raume.“ (Kant, KrV, A 141/B180)
Wie kommen wir zu exakten geometrischen Begriffen (Punkt, Gerade, Ebene)
ohne den Schematismus zu benutzen?
• implizite Definition der grundlegenden geometrischen Begriffe; dabei haben die
unanschaulichen Begriffe als Zeichen einem widerspruchfreien System von
Axiomen zu genügen
David Hilbert (1862–1943)
z.B. „Der Punkt C liegt zwischen A und B auf der Geraden a“
die Worte „zwischen“ und „liegt“ haben nur den Sinn in eindeutiger und
widerspruchsfreier zu verbinden; sie sollen irgendwelche Beziehungen gewisser
Gegenstände A, B, C zueinander bedeuten, brauchen aber nicht gerade die
Gegenstände zu bezeichnen, die wir gewöhnlich mit jenen Worten verbinden
„Diese Entdeckung ist m. E. eine der allergrössten Errungenschaften des
modernen Denkens, von höchster Bedeutung für die Erkenntnistheorie.“
Moritz Schlick in der Vorlesung „Grundzüge der Erkenntnistheorie und Logik“ im Ws 1911/12
an der Universität Rostock
Poincarés Konventionalismus
„Die geometrischen Axiome sind weder synthetische Urteile a
priori [Kant] noch experimentelle Tatsache [Helmholtz]; es sind
auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen bez. verkleidete
Definitionen. Die Geometrie ist keine Erfahrungswissenschaft;
aber die Erfahrung leitet uns bei der Aufstellung der Axiome; sie
läßt uns nicht erkennen, welche Geometrie die richtige ist, wohl
aber, welche die bequemste ist.“
Henri Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, S. IV
Wissenschaftliche Theorien sind Systeme aus Hypothesen
(empirischen Verallgemeinerungen) und Konventionen
Henri Poincaré (1854–1912)
Friedrich Albert Moritz Schlick (1882–1936)
geboren am 14. April 1882 in Berlin;
wohlhabendes, großbürgerliches Elternhaus;
Studium der Philosophie, Naturwissenschaften
und Mathematik in Berlin, Heidelberg und
Lausanne; 1904 Dissertation bei Max Planck;
1907 Heirat mit der Amerikanerin Guy Blanche
Hardy; 1907–1909 psychologische Studien in
Zürich; 1908 Lebensweisheit. Versuch einer
Glückseligkeitslehre; 1911 Habilitation an der
Universität Rostock; ab 1915 Briefkontakt mit
Albert Einstein, Auseinandersetzung mit der
Relativitätstheorie; 1917 Raum und Zeit in der
gegenwärtigen Physik; 1918 Allgemeine
Erkenntnislehre; 1921 erhält Schlick eine
Professur in Kiel; 1922 wird Schlick auf den
Lehrstuhl für Naturphilosophie an die Universität
Wien berufen; ab 1924 unter seiner Leitung
Sitzungen des Wiener Kreises; 1930 Fragen der
Ethik; gestorben am 22. Juni 1936 nach einem
Attentat
Moritz Schlick mit Tochter Barbara Franziska Blanche
(1914–1988) und Sohn Friedrich Albert Moritz (1909–1999).
Schlicks Erkenntnislehre und seine Methode der Koinzidenzen
• strikte Unterscheidung zwischen Räumlichkeit (Raumanschauung) und Raum (Raumbegriff)
• semiotischer Erkenntnisbegriff (Zeichennatur des Erkennens)
• wissenschaftlichen/geometrischen Begriffe werden implizit definiert und gehen gemeinsam in
ein Urteilssystem ein
• Eindeutigkeit der Zuordnung von Begriffen zu Wirklichem über die Methode der raumzeitlichen Koinzidenzen
„Es gilt nun, sich darüber klar zu werden, wie man von der anschaulichen räumlich-zeitlichen
Ordnung zur Konstruktion der transzendenten gelangt. Es geschieht immer nach derselben Methode,
die wir als die Methode der Koinzidenzen bezeichnen können. Sie ist erkenntnistheoretisch von der
allerhöchsten Wichtigkeit.“
Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, A 234/B 249
„Die gesamte Einordnung der Dinge geschieht nun einzig dadurch, daß man derartige Koinzidenzen
herstellt. Man bringt (meist optisch) zwei Punkte zur Deckung miteinander und schafft dadurch
Singularitäten, indem man die Orte zweier sonst getrennter Elemente zusammenfallen läßt. Auf
diese Weise wird ein System von ausgezeichneten Stellen, diskreten Orten in dem transzendenten
Raum-Zeit-Schema definiert, die beliebig vermehrt und in Gedanken zu einer kontinuierlichen
Mannigfaltigkeit [messbaren] ergänzt werden können, welche dann eine restlos vollständige
Einordnung aller räumlichen Gegenstände gestattet.“
Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, A 235/B 251
Schlick systematisierende Erkenntnislehre
Allgemeine Erkenntnislehre oder
wissenschaftliche Philosophie
Methode der raum-zeitlichen Koinzidenzen
Philosophie des Geistes
Naturphilosophie
Theorie des geisteswissenschaftlichen
Erkennens
(Psychologie)
subjektive Erlebnisse
räumlich-zeitliche
Wahrnehmungskoinzidenzen
Theorie des naturwissenschaftlichen
Erkennens
(Physik)
objektive Ereignisse
raum-zeitliche
Ereigniskoinzidenzen
Moritz Schlick und Albert Einstein
Anwendbarkeit der physikalischen Begriffe auf sinnliche Gegenstände nicht vermittelt über einen
apriorischen Schematismus, sondern über die Methode der raum-zeitlichen Koinzidenzen
„ … die Begriffe von Raum und Zeit in der Form, in der sie bisher in der Physik
auftraten [gehören zu den überflüssigen Momenten ]. Auch sie finden keine Anwendung
für sich allein, sondern nur insofern, als sie in den Begriff der raumzeitlichen Koinzidenz
von Ereignissen eingehen. Wir dürfen also wiederholen, daß sie nur in dieser
Vereinigung, nicht schon allein für sich etwas Wirkliches bezeichnen.“
Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, S. 63
„Real ist physikalisch nichts als die Gesamtheit der raum-zeitlichen Punktkoinzidenzen.
Wäre z.B. das physikalische Geschehen aufzubauen aus Bewegungen materieller
Punkte allein, so wären die Bewegungen der Punkte, d.h. die Schnittpunkte ihrer
Weltlinien das einzig Reale, d.h. prinzipiell beobachtbare. Diese Schnittpunkte bleiben
natürlich bei allen Transformationen erhalten (und es kommen keine neuen hinzu), wenn
nur gewisse Eindeutigkeitsbedingungen gewahrt bleiben. Es ist also das natürlichste, von
den Gesetzen zu verlangen, dass sie nicht mehr bestimmen als die Gesamtheit der
zeiträumlichen Koinzidenzen. Dies wird nach dem Gesagten bereits durch allgemein
kovariante Gleichungen erreicht.“
Albert Einstein an Michele Besso, 3. Januar 1916
„Divide et impera“
Revolutionierung des Raumkonzept als Resultat eines transdisziplinären Dialogs
„Die wissenschaftliche Methodik gebietet uns, die Fragen so weit als möglich zu isoliren. Divide et impera!
Man löst das Bündel von Stäben auf, um es zu brechen. Aber ein anderes ist es mit der Trennung der
Wissenschaften. Hat oder hätte Kant gemeint […], dass der Schatz von Kenntnissen, den eine Wissenschaft
erringt, unfruchtbar bleiben soll für die übrigen, oder auch nur, dass es keine Grenzfragen gebe, zu deren
Bearbeitung mehrere Wissenschaften sich die Hände reichen müssen, so müsste man in einer Zeit, wo
Psychologen und Physiologen, Logiker und Mathematiker, Pädagogen und Mediciner, Nationalökonomen
und Politiker, Sprachforscher und Naturforscher, und so viele andere bis dahin getrennt marschirende Corps
zu vereintem Schlagen zusammenstossen, ihm ganz entschieden widersprechen. Eine Wissenschaft ist
allerdings nur ein Fragencomplex, und wir werden die Fragen nicht im Kleinen zerteilen, um sie dann im
Grossen zusammenzuwerfen; jeder Wissenschaft bleibt ein eigener Kern von Aufgaben, der nicht mit
anderen zusammenwächst, im Gegenteil sich spaltet und neue Einzelwissenschaften erzeugt. Aber was für
die Formulirung der Fragen, gilt nicht ebenso für ihre Behandlung und Durchführung. Zur fruchtbaren
Behandlung muss alles herangezogen werden, was irgend ohne Verletzung der allgemeinen logischen
Vorschriften, ohne Cirkel insbesondere, sich verwehren lässt. […] Dies gilt auch bezüglich Raum und Zeit.
Die Frage nach der Natur der geometrischen Axiome (ob sie analytisch, synthetisch a priori oder blosse
Erfahrungssätze seien) ist durchaus verschieden von der Frage nach der psychologischen Entstehung der
Raumvorstellung (ob sie bereits ursprünglich im Inhalt der Gesichtsempfindung gegeben oder ein Product
der individuellen psychischen Entwickelung ist). Aber die beiden Fragen sind hier wie anderwärts lange Zeit
hindurch mit einander vermengt worden, zum Schaden sowol der Psychologie als der Erkenntnistheorie.
Man hat die Wissenschaften gesondert und die Fragen vermengt, statt umgekehrt zu verfahren.“
Carl Stumpf, „Psychologie und Erkenntnistheorie“, S. 500 ff.
Methodologischer Individualismus in bezug auf den Raum
vs. Raumfatalismus
Ein methodologischer Individualismus des freien und schöpferischen menschlichen
Verstandes, der stetig neue Räume aktiv erobert, ist verträglicher mit der
Revolutionierung des Kantischen Raumkonzepts während der Epoche der
wissenschaftlichen Philosophie
als ein …
Raumfatalismus, der die passive schicksalhafte Ergebenheit in das räumliche
Geschehen einer geschichtlichen und letztlich zufälligen Situation betont
Im Ergebnis dieser Revolution wird der Raum zu einer wandelbaren und dynamischen
Ordnungsstruktur, die sich in Verbindung mit den wissenschaftlichen Hypothesen über
die Methode der raum-zeitlichen Koinzidenzen empirisch überprüfen lässt
Goethes Faust über den Raum
Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Fünfter Akt.
„Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungene
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,
Das letzte wäre das Höchsterrungene.
Eröffne ich Räume vielen Millionen.
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.
Im Innern hier ein paradiesisch Land:
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand!
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschließen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
Ja! Diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß!“
Und so verbringt, umrungen von Gefahr.
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möchte ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“
Literatur
Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung, Berlin 1921.
Fynn Ole Engler, Moritz Schlick und Albert Einstein, Berlin 2006.
Hermann von Helmholtz, „Über das Sehen des Menschen“ (1855), in: ders., Vorträge und Reden, 4. Aufl., Erster Band, Braunschweig 1896,
S. 85–117.
Hermann von Helmholtz, „Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome“ (1868/69), in: ders., Vorträge und Reden, 4.
Aufl., Zweiter Band, Braunschweig 1896, S. 1–31.
Hermann von Helmholtz, „Die Tatsachen in der Wahrnehmung“ (1878), in: ders., Vorträge und Reden, 4. Aufl., Zweiter Band, Braunschweig
1896, S. 213–247.
Hermann von Helmholtz, „Die Anwendbarkeit der Axiome auf die physische Welt“ (1878), in: ders., Vorträge und Reden, 4. Aufl., Zweiter
Band, Braunschweig 1896, S. 394–406.
Hermann von Helmholtz, Handbuch der Physiologischen Optik. 2. Aufl., Hamburg/Leipzig 1896.
David Hilbert, Grundlagen der Geometrie. 2. Auf., Leipzig 1903.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781, 2. Aufl. 1787.
Hermann Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele. Leipzig 1852.
Henri Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, 2. Aufl., Leipzig/Berlin 1906.
Bernhard Riemann, Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Aus dem dreizehnten Bande der Abhandlungen der
Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Göttingen 1867.
Alois Riehl, Der Philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. Zweiter Band. Erster Theil: Die sinnlichen und
logische Grundlagen der Erkenntniss. Leipzig 1879.
Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Berlin 1917, 4. Aufl. 1922.
Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre. Berlin 1918, 2. Aufl. 1925.
Carl Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Leipzig 1873.
Carl Stumpf, „Psychologie und Erkenntnistheorie“, in: Abhandlungen der Philosophisch-Philologischen Classe der Königlich Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, Bd.19, 1892, S. 467–516.
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