Fallverstehen als Grundlage der Vorbereitung und nachträglichen Begründung sozialpädagogischer Hilfe. Abstract: Der folgende Artikel erörtert im Kontext der disziplinären Theoriedebatte und professionellen Profilsuche die Notwendigkeit solcher sozialpädagogischer Verstehensverfahren, die systematisch, regelgeleitet und wissenschaftsbasiert sind. Hierbei macht er deutlich, dass "Verstehen bzw. Diagnostik" ein zentraler Bestandteil professionellen Handlungswissens ist und sich die Frage nach entsprechenden Methoden in zunehmender Dringlichkeit stellt. Er plädiert schließlich für eine Integration der widerstreitenden Verstehensansätze durch deren Rechtfertigung am Verstehensobjekt, analog zur Debatte um Forschungsverfahren. 1. Verstehenstheorien in ihrem Verhältnis zur allgemeinen Theorie und Wissenschaft der Sozialen Arbeit Soziale Arbeit zeichnete sich bisher durch einen hohen Eigensinn aus, der sie ein Fremdkörper der traditionellen Arbeitsgesellschaft und einige Jahrzehnte lang auch ein Sozialraum für eine gesellschaftliche Gegenkultur sein ließ. Als "Agentur der bewussten Synthetisierung sozialer Systeme und Prozesse" stand sie diesen selbst in gewissem Maße "objektivierend und äußerlich" gegenüber (OFFE, 1983, 48). Verortet zwischen einer wirtschaftlich zweckrationalen Tauschbeziehung und einer solidarischen Hilfebeziehung blieb das Handeln von Fachkräften auf ungewissen Entscheidungsprämissen gegründet, ohne eindeutigen Orientierungsrahmen im Hinblick darauf, was bedarfsgerecht und nützlich sei. Diese Distanz zur Gesellschaft, sowohl sozial-ökonomisch wie auch kognitiv und normativ, war aber gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass sie zum sozialen Entstehungsort von Werten und Einstellungen wurde, welche "die Arbeitsgesellschaft und ihre Rationalitätskriterien (Leistung, Produktivität, Wachstum) herausfordern und zugunsten materialer, qualitativer und humanistischer Wertmaßstäbe infrage" stellen konnte (OFFE, 1983, 48). Verbunden mit dieser gesellschaftlichen Sonderstellung als "unersetzlicher Fremdkörper" der Arbeitsgesellschaft gab es ein berufstypisches Identitätsproblem: Bis auf wenige Ausnahmen bezogen Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiter ihr professionelles Selbstbewusstsein weder aus einer berufsgruppeninternen Überzeugung im Hinblick auf die große Bedeutung eigener Leistung für die Lösung sozialer Problemlagen (also aus hoher Selbstbewertung), auch nicht aus der Erfahrung öffentlicher Wertschätzung einer besonderen sozialpädagogischen Sachkompetenz (also aus hoher Fremdbewertung), noch aus dem markanten Bedeutungsnachweis eines außergewöhnlich hohen Einkommens. Vielmehr gehörten zur Berufsentscheidung als auch zur Entscheidung für den dauerhaften Verbleib im Beruf idealistische Helfermotive und die Verheißung autonomer Handlungsfreiräume innerhalb des Berufsalltags (vgl. NAUERTH, 2004, 74 f). Beide erwiesen sich allerdings als nur begrenzt tragfähig für die Mühen der berufsbiographischen Langstrecken. Im Ergebnis wurde der professionelle Selbstzweifel ein Charakteristikum dieser Berufsgruppe, so wie er im Witz über den "Sozialarbeiter" Christoph Kolumbus zum Ausdruck kommt: Zwar erreiche Kolumbus mit seiner Reise auf den amerikanischen Kontinent nachweislich viel, allerdings ohne souveräne Orientierung und Kontrolle über sein Handeln zu haben. Er wusste nicht, wohin er reiste. Er wusste bei der Ankunft nicht, wo er war. Er konnte hinterher nicht beschreiben, wo er gewesen war - und das alles mit dem Geld fremder Leute. Auch wenn dieser kleine Scherz der Sozialen Arbeit unrecht tut, so verweist er doch auf ein zentrales und charakteristisches Problem professioneller Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Dies bestand darin, im Hinblick auf die Rechtfertigung der eigenen professionellen Existenz in bestimmen Arbeitszusammenhängen nur unzureichend darlegen zu können, warum was mit welchen Mitteln getan wurde. Im Jahre 2000 hat der internationale Berufsverband der Sozialarbeitenden in einer Erklärung eine Position definiert, die Auftrag und Eigensinn moderner Sozialer Arbeit zu umschreiben beansprucht. Hier wird formuliert: "Soziale Arbeit ist eine Profession, die sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen fördert, um ihr Wohlbefinden zu verbessern. Indem sie sich auf Theorien menschlichen Verhaltens sowie sozialer Systeme als Erklärungsbasis stützt, interveniert Soziale Arbeit im Schnittpunkt zwischen Individuum und Umwelt/Gesellschaft." (zitiert nach: STAUB-BERNASCONI 2003, 20). Soziale Arbeit wird hier als eine Profession verstanden, die für die Erreichung formulierter Ziele in soziale Zusammenhänge handelnd interveniert und sich hierfür auf theoretisch-wissenschaftliches Wissen stützt (evidence based knowledge), um menschliches Verhalten und soziale Systeme zu verstehen. Sie benötigt und beansprucht also eine eigene Theoriebasis, die sich aus dem Gegenstand sowie wissenschaftlich- und ethisch abgesichertem Wissen ergibt und dadurch ein fachpolitisches Mandat zu begründen vermag. Wissenschaft ist zu verstehen als eine Praxis, die Aussagensysteme logisch abgleicht sowie empirischer Überprüfung unterzieht. Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit bzw. Sozialarbeitswissenschaft ist nun damit befasst, das zu tun, was ihr obliegt, nämlich eine eigene Theoriebasis zu entwickeln und zu überprüfen. Theorien sind konsistente Aussagen über einen definierten Sachverhalt. Der Sachverhalt der Sozialarbeitswissenschaft ist die Praxis der Arbeit am Sozialen bzw. professionelles Handeln von Fachkräften der Sozialen Arbeit. Dieses Handeln ist aber strukturell gekennzeichnet durch die Verknüpfung von Wissen und Fallbezug, "zum anderen durch zukunftsoffene, vollständige Routinisierung sich systematisch entziehender Bearbeitung von Krisen, des weiteren durch eine Orientierung an einem expliziten Normsystem sowie durch eine spezifische Mischung aus diffusen und spezifischen Rollenanforderungen. (SOMMERFELD/HALLER 2003, 64). Dem entsprechend beschäftigt sich die Wissenschaft Sozialer Arbeit als Praxiswissenschaft mit Erklärungsproblemen, insbesondere aber mit Wirkungsproblemen und Handlungsproblemen. Insofern ist Soziale Arbeit die Umsetzung, Sozialarbeitswissenschaft die disziplinäre Instanz für transdisziplinäre Betrachtung und Theoriebildung. An der einen, Kohäsion herstellenden Theorie der Sozialen Arbeit oder Sozialpädagogik, die die Diffusität und Fragmentierung des Professionswissens auflöste, wird vielerorts gearbeitet, aber sie liegt noch nicht als allgemein anerkannte Bezugsgröße vor. Das Fehlen dieser Bezugsgröße und wissenschaftstheoretischen Basis hat Folgen für die noch nicht gänzlich überwundenen Patchworkcurricula der Studiengänge Sozialer Arbeit, also die Beliebigkeit gelehrter Theorien und daraus abgeleiteter Methoden, die Inanspruchnahme unvereinbarer theoretischer Versatzstücke und das bezuglose Nebeneinander von Wissensmodulen, die sodann durch die Studierenden und Professionellen selbst variiert und komponiert werden müssen (vgl. OBRECHT, 2003, 120 ff). Es zeichnen sich allerdings, so THIERSCH, Kristallisationspunkte im Hinblick darauf ab, welche Themenbereiche für eine übergreifende Theorie der Sozialen Arbeit konstitutiv sind. Es handelt sich hierbei um Grundlagenwissen (also die Gegenstandsbestimmung, Funktionsbestimmung, sowie Lebenslage- und Ungleichheitsbestimmung), um Institutionenwissen (also Fragen der Institutionalisierung, des Verhältnisses von Verwaltung und professionellem Handeln, Struktur, Effizienz/Effektivität) und um Handlungswissen (Methoden und Selbstreflexivität) (Vgl. THIERSCH 2005, 967). Unterhalb dieser topologischen Ebene haben wir es mit verschiedenen Theoriekonzepten zu tun, die sich auf spezifische Sachfragen beziehen (z.B. Lebenslagen, abweichendes Verhalten, Fallverstehen und Strukturmuster von Intervention). Neben diesen Einzeldiskursen gibt es Theorien der Sozialen Arbeit, "in einem engeren Sinn verstanden als Konzepte, die Fragen nach der Funktion und Gestalt ..., nach ihrem Selbstverständnis als Wissenschaft und nach dem Zusammenhalt von Einzeldiskursen in einen durchgehenden methodischen Zusammenhang oder unter einer orientierenden Leitfragen darstellen" (THIERSCH, 2005, 996). Die folgenden Ausführungen zielen nicht auf eine handlungstheoretische oder wissenschaftstheoretische Konstruktion mit übergreifendem Anspruch, sondern betrachten den Teilaspekt sozialpädagogischer Verstehenskompetenz sowohl in seiner Bedeutung für die Professionalität von Fachkräften als auch als Gegenstand schwieriger Verständigungsprozesse der Disziplin. 2. Verstehen als zentrale professionelle Kompetenz 2.1. Zur Aufgabe sozialer Arbeit Die Vielschichtigkeit und Heterogenität von sozialer Arbeit lässt es bis in die Gegenwart schwierig erscheinen, sich auf eine begriffliche Bestimmung dessen zu verständigen, was die Aufgabe von Sozialer Arbeit ist. Dies ist wiederum nicht außergewöhnlich. Uneinigung im Hinblick auf den Gegenstand ist vielmehr historischer und aktueller Bestandteil aller Disziplinen und Handlungswissenschaften (vgl. STAUB-BERNASCONI 2007, 181). KLÜSCHE verweist auf einen konstitutiven Problembezug und schreibt, Soziale Arbeit sei nur dort anzutreffen, "wo eine wie auch immer geartete materielle, soziale, psychische oder körperliche Mangel-, Konflikt-, Leidens- oder Überforderungssituation vorliegt und wo Anstrengungen unternommen werden, diese materielle, soziale, psychische oder körperliche Schieflage oder Belastungssituation oder deren Folgen zu überwinden oder zu beseitigen" (KLÜSCHE 2003, 130). Soziale Arbeit ist dann als die zuständige Instanz zu beschreiben für die Bearbeitung gesellschaftlicher und professionell als relevant angesehener Problemlagen (vgl. KLÜSCHE 1999, 45). Und Problemlagen wären mit OBRECHT zu definieren als "jenes Bündel von praktischen Problemen, die sich für ein Individuum im Zusammenhang mit der Befriedigung seiner Bedürfnisse nach einer befriedigenden Form der Einbindung in die sozialen Systeme seiner Umwelt ergeben" (OBRECHT, zitiert nach STAUB-BERNASCONI 2007, 182). Fasst man "praktische Probleme" als Begriff auch für "Absichten und Bestrebungen, deren Verfolgung externer Unterstützung bedarf", dann lassen sich darin auch jene Arbeitszusammenhänge einschließen, die sich bildend und fördernd gestalten und denen kein direkter Problembezug zu Grunde liegt. Der Systembegriff ermöglicht es sodann, die Aufgabe von Sozialer Arbeit in Bezug auf ein Verhältnis zu beschreiben, nämlich das zwischen Individuen und gesellschaftlichen Teilsystemen. Die Aufgabe Sozialer Arbeit systembegrifflich abstrahiert - wäre dann zu verstehen als Inklusionshilfe, Exklusionsvermeidung und Exklusionsverwaltung, bezogen auf die verschiedenen Teilsysteme, denen die Menschen zugehören (vgl. KLEVE 2003, 39). Eine so beschriebene Soziale Arbeit unterscheidet sich nun von anderen psychosozialen Berufen und wissenschaftlichen Disziplinen dadurch, dass sie sich zum einen auf alle Lebensalter bezieht und zudem den Menschen als psychisches und gesellschaftliches Wesen erfasst. Mit MÜHREL, der wiederum auf die Philosophie von Ortega und Gasset verweist, lässt sich sagen, Soziale Arbeit thematisiere das Individuum als eine Instanz, das sich zusammensetzt aus dem Ich und dessen sozialen Bedingungsgefüge: „Ich bin ich und meine Lebensumstände“ (MÜHREL 2005, 4, vgl. MÜHREL 2005 I,). Soziale Arbeit bezieht sich nicht nur auf das zweite ich, das psychische und körperliche Individuum, sondern auch auf dessen Lebensumstände. Ihr Gegenstand ist das „Ich“, verwoben in ein soziales Gefüge seiner Lebenswelt und Lebenslage und - abstrakter betrachtet - im Verhältnis zu gesellschaftlichen Teilsystemen mit Inklusionswünschen und Exklusionsbefürchtungen. 2.2. Zum Wissensbedarf Sozialer Arbeit Der Disziplin Sozialer Arbeit als Handlungswissenschaft geht es um die Frage nach der Entstehung, Erhaltung und Veränderung solcher Konstellationen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, in denen Inklusionswünsche und Exklusionsbefürchtungen entstehen und hierauf bezogener Hilfebedarf. Hierfür wendet sie Theorien und empirische Erkenntnisse von Bezugswissenschaften an. Die Profession Sozialer Arbeit ist in diesem wissenschaftlich abgesicherten Wissen verankert, das hier fünffach unterschieden werden soll und damit den Wissenskontext skizziert, innerhalb dessen "Verstehen" im Folgenden verortet wird (vgl. hierzu u.a. v. SPIEGEL, 2006, 59ff). Professionelle Fachkräfte der Sozialen Arbeit müssen sich a.) Aufgabe und Funktion Sozialer Arbeit als Teil moderner Gesellschaften erklären können. Hierzu gehören die gesellschaftskritische (Selbst)Reflexion des "Sozialen im Unsozialen" bzw. "des richtigen Lebens im falschen" (vgl. hierzu MÜLLER-DOOHM 2005) und damit verbundene Machtund Interessenskonstellationen, die das eigene professionelle Handeln prägen. Sie müssen sich b.) Ursache und Charakter solcher psycho-sozialer Realitäten im Lichte vorhandener Theorien und unter Einsatz von Methoden erschließen können, die Gegenstand sozialpädagogischer Bearbeitung werden. Hier geht es um Verstehen im Sinne der Fähigkeit einer unterscheidenden Beurteilung dessen, was "der Fall" ist vor dem Hintergrund verschiedener Hilfemöglichkeiten. Sie müssen c.) im Hinblick auf erkannte Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume methodisch abgesichert sozialarbeiterisch reagieren können. Dies meint die angemessene Reaktion auf das Verstandene, die wissensbasiert und methodisch gesichert geschehen muss. Zudem sollen professionelle Fachkräfte d.) ihr sozialarbeiterisches Handeln reflektieren und evaluieren können, also rechenschaftsfähig sein im Hinblick auf Wirkung, Wirksamkeit und Wirkungsweise des eigenen Handelns. Und schließlich sollen sie e.) die Ausrichtung ihres fachlichen Handelns ethisch begründen können, weil sie so widerstandsfähiger werden gegen die jeweiligen tagespolitischen Vorgaben sowie den herrschenden Zeitgeist und ihre Begründungsmacht im Zuge der Bemühungen um Selbstmandatierungen wächst (vgl. STAUB-BERNASCONI 2003, 20). Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Aspekt des Verstehens. Methodologisch und methodisch geht es um die Frage, auf welche Weise sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit auf theoretisch-wissenschaftlich abgesicherte Weise ihr Bild von der Realität machen, das der oben beschriebenen Komplexität ihrer professionstypischen Betrachtungsweise gerecht werden kann und das wiederum zur Grundlage ihres daraus folgenden Handelns wird – eines Handelns, das zwischen widerstreitenden Anforderungen balancieren können muss (vgl. hierzu SCHRAPPER 2005, 195). Zu klären ist, wie sie Hilfsbedürftigkeit unter dem Gesichtspunkt der richtigen Hilfeauswahl begreifen-, also eine Sprache für- und damit eine Verständigung über die ihr als Problem begegnende Ausgangslage, deren Bedingungsgefüge und prospektive Handlungsmöglichkeiten finden kann. Denn zumindest dort, wo sie mit unterschiedlichen Maßnahmen zu intervenieren hat, muss sie die Problemlagen entsprechend voneinander abzugrenzen in der Lage sein. Verstehen meint hier sodann nicht in erster Linie das Verfahren der Sammlung und Zuordnung von Merkmalen zwecks Einfügung in ein festes Klassifikationsraster wie beispielsweise im Bereich der Medizin. Vielmehr geht es um Aussagen über die Beschaffenheit von sozialen Problemlagen aufgrund von Beobachtungen und Untersuchungen, also eine im konkreten Fallzusammenhang stattfindende heuristische Entwicklung begründbarer Begriffe und Bilder für das "was ist, wie es wurde, was werden kann und was werden soll". Dieses Verstehen ist sodann nie als abgeschlossen zu bezeichnen, der Gegenstand des Verstehens bleibt in einer "rätselhaften und unendlichen Andersheit" dem erkennenden Zugriff letztendlich entzogen (MÜHREL, 2005 II, 6). Aber das vorläufig Verstandene kann auf diese abgesicherte Weise vorläufige Geltung beanspruchen, wird kommunizierbar- und auch widerlegbar. Und Soziale Arbeit wird sich im konkreten Fallzusammenhang ihrer eigenen Nützlichkeit gewisser dadurch, dass sie sich in die Lage versetzt, diese Nützlichkeit gegenüber anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen kommunizieren zu können. 3. Verstehen verstehen Ein solches Verstehen ist auf der Tagesordnung Sozialer Arbeit, allerdings höchst kontrovers. Im Bereich Wissenschaft, Forschung und Lehre unter dem Gesichtspunkt der Verständigung über Form und Inhalt von Verfahren, die den spezifischen Erfordernissen sozialpädagogischer Praxis entsprechen und sozialarbeitswissenschaftlich unterfüttert sind. Im Bereich der Praxis als Anwendung vorhandener Techniken, die unter dem Zwang des Handelns praktikabel erscheinen. Die Gründe für den Bedarf an Verständigung über Verstehensverfahren erscheinen vielfältig. Neben den Mutmaßungen, es handele sich hierbei in erster Linie um Reinstitutionalisierungen klinischer Diagnostik "unter den Aspekten des Qualitätsmanagements und des Statusgewinns" (LANGHANKY 2004, 44), lassen sich mindestens drei gewichtige Gründe benennen, die sozialpädagogisches Verstehen zu einem sehr aktuellen Thema wissenschaftlicher Verständigung machen. Zum einen lässt sich zeigen, dass mit der Orientierung Sozialer Arbeit an der Lebenswelt und dem Alltag ihrer Adressatinnen ein Perspektivewechsel verbunden war, der auch das Methodenprofil berührte. Nachdem in der Geschichte der Sozialen Arbeit zunächst der „gesunde Menschenverstand des Bürgers“ und später der „Experte“ das Monopol auf die Problemdeutung inne hatte, ging diese Aufgabe im Zuge der Lebensweltorientierung zunehmend an „Kooperationsverfahren“ über (vgl. UHLENDORF, 2005, 524 ff). Um lebensweltorientiert bedarfsgerechte Hilfe sicherstellen zu können, muss Soziale Arbeit die unübersichtlichen Bedarfslagen der untypisch gewordenen Adressatinnen und Adressaten lebensweltlich zunächst verstehen, bevor sie mit den nachweislich richtigen Konzepten und Methoden darauf zu antworten in der Lage ist. Der den Fachkräften zunächst einmal fremde Bereich, der sozialräumliche Kontext ihrer Adressatinnen und Adressaten wie auch deren Perspektive und Eigensinn, ihr "Ich" im Sinne von Ortega und Gaset, muss nun als Voraussetzung adäquater Hilfeleistung systematisch verstanden werden können. GILDEMEISTER nennt es die Einübung eines "ethnographischen Blicks, einer lebensweltbezogenen Deutungskompetenz", die es ermöglichen, "die Leidenserfahrungen und Hilfeerwartungen im Rahmen der in der jeweiligen sozialen Welt geltenden Relevanzen und Plausibilitäten zu betrachten und ihre emotionale Dynamik und ihre Beharrungsvermögen in Rechnung zu stellen" (GILDEMEISTER 1995, 32). Diese Notwendigkeit, "das Andere" als Fremdes zu behandeln gilt umso mehr, als sich im Zuge von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen die zu begreifenden Problemlagen differenzieren und Soziale Arbeit frühere Sicherheiten des eigenen Handelns und (normative) Koordinatensysteme im Hinblick auf bekannte und von ihr verstandene Problemlagen zunehmend verliert. Das heißt, mit dem Verlust früherer Sicherheiten, in welchem Kontext nun richtig und falsch, gesund und ungesund, abweichend und normal, Inklusion und Exklusion gedeutet werden können, ist sie zu einer fragenden und forschenden Fachlichkeit gezwungen, der sie theoretisch und methodisch nachzukommen hat. Zudem muss sich Soziale Arbeit in neuer Form gegen Infragestellungen absichern und ihre Nützlichkeit ausweisen können, nachdem sie im Zusammenhang mit der Einführung neuer Steuerungen in den letzten Jahren einen tief greifenden Wandel ihres Handlungsrahmens erfuhr. Durch die Installierung eines Quasi-Marktes, auf dem das politisch-administrative System als Nachfrager von Leistungen auftritt und neuartige Leistungsverträge sowie Kostensenkungen durchsetzen konnte, zeigen sich weitreichende Konsequenzen für die Profession. Zum einen erfolgt ein Wandel von personenbezogener bzw. professionsgebundener zu verfahrensbezogener Qualitätssicherung (Accountibility) (vgl. NAUERTH 2003, 238ff). Hiermit verbunden "wird Management zu einer zentralen Bezugsgröße für die Legitimation einer professionellen, soziale Dienstleitungen erbringenden Organisation", weil Accountability nicht nur auf Qualitätsnachweise zielt, sondern auf gesteigerte Effizienz (SOMMERFELD/HALLER 2003,4). SOMMERFELD/HALLER sprechen hier sodann von der Notwendigkeit des Entstehens einer neuen, modernen Professionalität. Diese zeichnet sich dadurch aus, strukturelle Kopplungen mit dem politischadministrativen System gestalten zu können, die die Verpflichtung zu Reflexivität und Selbstkontrolle beinhalten. Dies meint die Fähigkeit und Bereitschaft, die Schutzräume berufsalltäglicher Intransparenz und Diffusität zu verlassen und stattdessen daten- und wissensgestützt professionelle Begründungen für das fachliche Handeln liefern zu können. Denn von dieser Fähigkeit, Sinn und Zweck des eigenen professionellen Handelns verständlich kommunizieren zu können, hängt in der Gegenwart und der überschaubaren Zukunft gesellschaftliche Legitimation ab (vgl. SOMMERFELD/HALLER 2003, 21). Gesicherte Verstehensverfahren, die nachvollziehbare Rechtfertigungen nachfolgender Hilfemaßnahmen zu liefern im Stande sind, gewinnen dadurch zunehmend an Bedeutung, werden gebraucht und gesucht. An dieser Stelle schafft sodann die Praxis diagnostischen Arbeitens Handlungsdruck. Weil den Fachkräften kaum wissenschaftlich gesicherte sozialpädagogische Verfahren zur Verfügung stehen oder sie keine methodische Sicherheit im Umgang mit vorhandenen Verfahren gewinnen konnten, werden in vielen Fällen zwei Auswege gewählt. Es werden diagnostische Instrumente anderer Wissenschaften ausgeliehen bzw. das Verstehensverfahren solchen Berufsgruppen überlassen, die dank des Vorhandenseins eigener Verfahren Autorität genießen. Beispielsweise lässt sich die medizinische und psychologische Dominanz klinisch-sozialpädagogischer Arbeitsbereiche auch als das Ergebnis mangelnder eigener wissenschaftsbasierter Methoden und Begriffe beschreiben, mit denen dem sozialpädagogischen Blick Rechnung getragen würde (vgl. z.B. CREFELD 2002). Dies ist unbefriedigend und kritisierbar, weil die Komplexität des sozialpädagogischen Blicks auf die Inklusionswünsche und Exklusionsbefürchtungen ihrer Adressatinnen und Adressaten auf diese Weise keinen Eingang in die "Bilder vom Fall" findet, die das weitere Hilfehandeln rechtfertigen und legitimieren. Stattdessen dominieren (psychologisch-psychiatrische) Kategoriensysteme, die für Soziale Arbeit oftmals zu unterkomplex und eindimensional sind, auch wenn sie sodann um sozialpädagogische Aspekte erweitert werden. Ein zweiter, praktizierter Ausweg aus dem Fehlen eigener Verstehensverfahren besteht darin, alltagstheoretisch begründete und praktikable Instrumente ad hoc zu entwickeln oder „intuitiv“ zu handeln. Dies ist problematisch und hiermit sind Gefahren verbunden, über die viel geschrieben und diskutiert worden ist, die gleichzeitig viel ignoriert wurden und werden: Verstehen als Nebenprodukt und beiläufiges Ergebnis laienhaften Handelns, ohne methodische Absicherung und Systematisierung des Erkenntnisprozesses. Verstehen als mit viel persönlicher Meinung gefüllte "üble Nachrede", dessen Kriterien herrschaftlich entwickelt-, und dessen Ergebnisse kaum gerechtfertigt werden. Diese Verfahren drohen sodann die Macht des Professionellen sogar noch über die des klinischen Diagnostikers hinaus gerade dadurch zu steigern, dass sie sich mangels Kriterien und Verfahrenstransparenz immunisieren gegen Widerlegung und Korrektur. Dementsprechend drängt auch der problematische Charakter real existierender Verstehenspraxis danach, sozialpädagogisches Verstehen zum Gegenstand des Verstehens zu machen. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die Übersetzung von diffusen Daten und Fallinformationen in eine Struktur, die Erkenntnis stiftet und nachfolgendes Handeln begründet, also systematisches und regelgeleitetes Verstehen komplexer Problemlagen unter Einbeziehung der erfahrenen Lebenslage und deren lebensweltlich geprägten Verarbeitungsform, zur unabdingbaren Handlungskompetenz von Fachkräften der Sozialen Arbeit gehört. Sowohl bei der Konzeptionierung von Hilfeangeboten im Hinblick auf Zielgruppen, wie auch in der konkreten Fallarbeit mit Einzelnen, Familien, Gruppen etc. müssen die „subjektiven Verarbeitungsstrategien“ der Personen in ihrer „gesellschaftlich vermittelten Wirklichkeit“ wahrgenommen und entdeckt werden können und sodann mit der fachlichen Position der Fachkraft verknüpft werden. Ein derartiger Zugang zu den Adressatinnen Sozialer Arbeit befähigt dazu, diese als Expertinnen ihrer Lebensgestaltung ernst zu nehmen und gemeinsam nach Bewältigungsstrategien und Veränderungsmöglichkeiten des Alltags zu suchen. Unhintergehbar ist aber gleichwohl die damit verbundene Prädikation sozialpädagogischen Handelns: Unterscheidbare Hilfemaßnahmen sind Antworten auf unterscheidbare Probleme! "Wenn Probleme unterschieden werden, kann man bereits von "Klassifikation" sprechen, die dann für Soziale Arbeit konstitutiv wäre. Und da in der professionellen Praxis irgendwie eine Vorstellung über den Charakter des konkret vorliegenden Problems des Klienten besteht, also eine Problemdeutung vorgenommen werden muss, ist auch "Diagnose" ... unhintergehbar" (SCHRÖDTER, 2003, 86). Allerdings verfügt die deutschsprachige Soziale Arbeit über kein tätigkeitsfeldübergreifendes und konsensfähiges Verstehens- bzw. Diagnoseverfahren, das erfolgreich erprobt und getestet wurde und der Komplexität des sozialpädagogischen Blicks auf den Fall Rechnung tragen könnte (vgl. HEINER 2004, 7). Der Blick richtet sich daher immer noch suchend auf qualitative Verfahren der empirischen Sozialforschung unter dem Gesichtspunkt deren Umwandlung in handhabbare Instrumente operativer Fallarbeit (vgl. JAKOB, WENSIERSKI 1997; vgl. NAUERTH 2005, 211 ff). Erprobt und diskutiert werden zudem kategorienbasierte Konzepte und dialogische Verfahren, letztere in expliziter Zurückweisung diagnostischen Ansinnens (Vgl. HEINER 2004, SCHRAPPER 2004, WIDERSPRÜCHE 2003). Zudem liegen auch Arbeitshilfen in Form von Modellen vor (vgl.: STAUB-BERNASCONI 1994; GEISER 2004, NAUERTH 2006). 4. Dialog statt Diagnostik In vielerlei Publikationen der letzten Jahre wurde um sozialpädagogisches Verstehen gerungen. Die Kritiker des neuerlichen Bemühens um Verstehens- und Diagnoseverfahren in der Sozialen Arbeit "diagnostizieren" diesen Vorgang als einen Modernisierungsprozess klinischer Professionalität, der scharf zurück gewiesen wird. Nachdem, so beispielsweise Kunstreich, über einen langen Zeitraum die Begriffe Diagnose, wie auch Anamnese, Indikation, Behandlung entweder nicht, oder nur noch in Anführungszeichen benutzt worden seien, weil die Kritik an ihnen so umfassend gewirkt hätten, würde sich inzwischen ein anderes Bild ergeben: Diagnostik sei beim wissenschaftlichen Spitzenpersonal der Sozialen Arbeit wieder auf dem Vormarsch, entweder aus einem resignativ-instrumentalistischen Antrieb oder auf Grund der Ansicht, eine sozialpädagogische Diagnostik sei dringend erforderlich (vgl. KUNSTREICH 2003, 7f). Es handele sich hierbei aber um eingriffsberechtigende Deutungen der Professionellen, die sie als Praktiker hegemonialer Regierungskunst tätigen. Sie betätigen sich damit an der Vergabe sozialer Zensuren zwecks gesellschaftlicher Platzzuweisung (vgl. KUNSTREICH, 2003, 62 ff). Langhanky fordert daher ein sozialpädagogisches Handeln ohne Diagnostik um damit an dem Anspruch festhalten zu können, soziale Arbeit habe Situationen zu verändern und nicht Menschen (vgl. LANHANKY 2004). Zusammen mit KUNSTREICH, LINDENBERG und MAY plädiert er sodann für den Dialog als alternatives Verfahren zur Diagnose (vgl. KUNSTREICH u.a., 2004, vgl. auch KUNSTREICH 2005). Der entscheidende Unterschied zu jenen Positionen, die eine Beförderung sozialpädagogischer Verstehensverfahren für nötig halten, liegt nicht in der Beurteilung repressiver Machtausübung und damit verbundener Entmündigungen, die in der Sozialen Arbeit gerade auch durch Klassifizierungen möglich sind. Er liegt also nicht in der Beurteilung von Diagnosen, die der Unterscheidung von Hilfsbedürftigkeit zwecks sozialer Ausschließung dienen. Weitgehende Einigkeit besteht im Ziel der Sicherstellung emanzipatorisch wirkender Verfahren und Methoden des Verstehens und Handelns. Als zentraler Dissenspunkt zeigt sich vielmehr die Bewertung der Frage, inwiefern professionelles Wissen höherwertiges Wissen ist, oder aber gleichwertiges und gleichrangiges Wissen, wie es im Bild von der Stadt zum Ausdruck kommt: Soziale Arbeit kenne nicht "die Stadt", sondern nur einzelne Stadtteile - nicht anders als ihr Klientel. Dies hat zur Konsequenz, dass Verstehensprozesse ausschließlich im Dialog zwischen Fachkräften und Adressatinnen der Sozialen Arbeit stattfinden könnten, in der Form des Zusammentragens und Austauschens jeweiliger Wissensbereiche und der Entwicklung eines hieraus entstehenden "Dritten", einem umfassendem Bild von "der Stadt". Die erkenntnisfördernde, aber nicht-diagnostische Soziale Arbeit wäre dann hier als Assistentin und Hebamme zu beschreiben (vgl. zu dieser Dissenslokalisierung HEINER, 2003, 23). 5. Dialog als Diagnostik Diese Zuspitzung der Debatte auf die Alternativen "Dialog unter Gleichen" auf der einen Seite und "alle Arten von Diagnostik" auf der anderen Seite wird dem Gegenstand der Debatte aus vielerlei Gründen nicht gerecht. Daher soll hier ein Vorschlag erfolgen, der die Herangehensweisen in einem gemeinsamen Dritten vereinigt - und zuordnet. Einvernehmen besteht im Hinblick darauf, dass Hilfehandeln der Fähigkeit bedarf, "den Fall" zu verstehen und in der Lage zu sein, hierauf bezogen zu handeln (auch wenn dieses Verstehen nicht in jedem Falle hinreichend ist für weiter gehende Handlungssicherheit und die hierbei implizierte Reihenfolge von zeitlich deutlich abgegrenzten Handlungsschritten nur bedingt gilt). Professionelles Hilfehandeln, Soziale Arbeit also, bedarf der Fähigkeit, a.) sich wissenschaftsgesättigt, statt ausschließlich intuitiv, um Erkenntnis zu bemühen und ihr darauf folgendes eingreifendes Handeln absichern zu können. Konstitutiv für Professionen ist also eine wissenschaftliche Wissensbasis, und das meint eine handlungsleitende Rationalität, die sich auf die "Macht des Geistes in der Form der Logik des besseren Argumentes" beruft (SCHRÖDTER 2003, 87). Auf der Grundlage dieser formalen Begründungsrationalität wird professionelles Handeln vorbereitet und nachträglich begründet. Sie bedarf b.) der Fähigkeit, die Perspektive der Adressaten ihrer Arbeit auf angemessene Weise in die Erstellung ihres "Bildes vom Fall" zu integrieren, also durchlässig zu sein für die lebensweltliche Realität derer, auf die sich nachfolgendes Hilfehandeln bezieht und dabei im Hinblick auf dieses Bild vom Fall rechenschaftsfähig zu bleiben. Mein Vorschlag besteht an dieser Stelle nun darin, Verstehensfragen als Forschungsfragen zu erörtern, die Debatte um angemessenes Verstehen in der Sozialen Arbeit mithin als Debatte um Forschungsansätze. Ein Verstehensprozess ist ein Forschungsprozess, also die systematische Erkundung eines Gegenstandsbereiches mit dem Ziel, sich "ein Bild" von ihm zu machen- und ihn als konsistentes Ganzes beschreiben zu können. Vorläufiges "verstanden haben" ist das Ergebnis von "geforscht haben". In der sozialwissenschaftlichen Forschungsdiskussion um quantitative und qualitative Forschungsansätze besteht inzwischen weitgehende Einigkeit darin, dass das Forschungsinstrument über den Forschungsgegenstand zu rechtfertigen ist, bzw. über das Erkenntnisinteresse. Eine Konsequenz aus dem Wissen um die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeitsvorstellungen und die Relativität sowie die Vorläufigkeit entsprechender Bilder von der Realität besteht auch darin, die Wahl der Instrumente in den Zusammenhang mit dem zustellen, was erkannt werden soll. Übertragen auf die Soziale Arbeit bestünde das Ziel darin, Verstehensverfahren ins Verhältnis zu setzen zu sozialpädagogischen Handlungssituationen und hier ihren Geltungsbereich genauer zu bestimmen. Das hieße zunächst zweierlei: Zum einen sollte der Gegenstandsbereich sozialpädagogischen Verstehens in seiner Unterschiedlichkeit wahrgenommen werden. Der Vielfältigkeit sozialpädagogischer Arbeitsfelder und Handlungssituationen müsste durch die Mühe der differenzierten Beschreibung begegnet werden. Dies führt zu Kategorisierungen von Hilfen zum Zwecke der Komplexitätsreduktion und methodischen Entschlussfähigkeit. Ein Vorschlag wäre hier zunächst eine dreifache Unterscheidung vorzunehmen: a.) Klinische Handlungssituationen der Sozialen Arbeit zu unterscheiden von b.) problemzentrierten Handlungssituationen der Sozialen Arbeit sowie von c.) offenen Handlungssituationen der Sozialen Arbeit. "Klinisch" meint hier jenes fachliche Handeln, dass auf der Basis einer (medizinisch-psychiatrisch) gesetzten Diagnose stattfindet und als Teil eines umfassenden, sich hierdurch begründenden Handlungsplanens agiert. Hilfehandeln gestaltet sich hier also im Horizont eines gesetzten "Verständnisses", muss aber innerhalb dieses Universums durch Prozesse des Verstehens spezifische Handlungsziele klären und absichern. Problemzentrierte Handlungssituationen sind jene, die ohne extern vorgegebene Diagnose im Hinblick auf vorhandene Probleme oder Diskrepanzen zum Handeln auffordern, unabhängig davon, ob die Aufforderung - und damit die Mandatsvergabe - durch die öffentliche Verwaltung oder Adressaten geschieht oder aber sich aus den Prinzipien der Profession ergibt. Hier geht "Fallverstehen" jedem Hilfehandeln voraus. Als offene Handlungssituationen sollen hier jene Arbeitszusammenhänge bezeichnet werden, die zwar Ziel und Zweck-, aber keinen expliziten Problembezug haben. Die Tätigkeit der Fachkräfte steht hier also nicht zwangsläufig in einem Zusammenhang mit explizit definierten Problemen, Leiden oder subjektiven Ungerechtigkeitserfahrungen. Hierunter fallen vielerlei Bildungs-, Betreuungs- und Freizeitangebote und große Teile von Gemeinwesenarbeit. Zum anderen hieße dies, pragmatisch Abstand zu nehmen von jenen handlungstheoretischen Begründungen, die nur den Dialog als Verfahren der Erkenntnisgewinnung zulassen und ihn einzugliedern in das Instrumentarium möglicher Verfahrensweisen. Dialogisches Verstehen müsste verstanden werden als ein „diagnostisches“ Instrument neben anderen, dessen Einsatz sich - wie alle anderen Methoden auch - nicht nur wissenschafts- und handlungstheoretisch sondern auch über den Gegenstand dessen zu rechtfertigen hat, was verstanden werden soll. Der auf das "gemeinsame Dritte" abzielende Dialog wäre in diesem Zusammenhang der eine Pol auf einer Achse verschiedener Verstehensverfahren (offen dialogisch). Der andere wäre der Monolog des Experten, praktisch werdend klassisch in der medizinisch-psychiatrischen Klassifikationsdiagnostik (Expertenmonolog). Dazwischen befände sich in verschiedenen Formen das dialogische Handeln der Fachkraft als Expertin (dialogisches Expertenhandeln). Sozialpädagogisches Fallverstehen spielt sich zwischen diesen Polen ab, wobei sie nur sehr selten ein eindeutiges Mandat für eine expertenmonologische Diagnostik erhält, sehr oft dagegen für ein dialogisches Vorgehen - und die Fachkraft hierbei aber auch oftmals als Experte bzw. Expertin zu agieren hat (vgl. hierzu auch die Ausarbeitung von HEINER, 2005, 537). In einer vorläufigen und sehr groben Matrix ließe sich das Verhältnis der Verstehensweisen zu den Fallsituationen sodann folgendermaßen darstellen: Zusammenhang von Handlungsfeldern und Verstehensverfahren offen dialogisches Verstehensverfahren offene Soziale Arbeit problemzentrierte Soziale Arbeit klinische Soziale Arbeit dialogisches Expertenhandeln als Verstehensverfahren x x x x x Expertenmonolog als Verstehensverfahren x Durch die Matrix werden die kategorisierten Verstehensverfahren ins Verhältnis zu den kategorisierten Handlungssituationen gesetzt. Aus ihr lassen sich tendenzielle Geltungsbereiche der Verfahren ablesen, die sich aus den Eigenarten der Handlungssituationen ergeben. Genauere Geltungsbereiche und deren Grenzen zu explizieren, wäre die Forderung, die an alle Verstehensverfahren zu stellen wäre: neben der methodologischen und methodischen Herleitung auch die Benennung (und Begründung) der Voraussetzungen, die eine Handlungssituation erfüllen muss, damit das jeweilige Verfahren als angemessen bezeichnet werden kann. Zusammenfassend lässt sich feststellen: In allen Arbeitszusammenhängen ist das dialogische Verfahren prinzipiell angemessen, wenn auch nicht hinreichend. Es kann gewissermaßen als Verstehen anstrebendes "Basishandeln" Sozialer Arbeit bezeichnet werden. In Arbeitszusammenhängen mit explizitem Problembezug bedarf es sodann zusätzlich solcher Verfahren, die ein höheres Expertenwissen zum Einsatz bringen, gerade auch dann, wenn es darum gehen muss, neben den Verhältnissen des Menschen auch ihn selbst zu verändern. Und im Bereich klinischer Sozialer Arbeit sind monologisch erstellte Diagnosen extern gesetzt. Auf sie bezogen muss Soziale Arbeit anschlussfähig sein. Der Vorteil einer solchen additiven, pragmatischen Integration bestünde darin, dass sich Professionelle im fachlichen Verstehensprozess des sozialpädagogischen Alltags nicht theorie- und methodenlos bewegen müssen, sobald die Voraussetzungen für das von ihnen jeweils präferierte Verfahren nicht mehr erfüllt sind. Die Schwierigkeit bestünde darin, dass Fachkräfte in die Lage versetzt werden müssen, diesen Zusammenhang zwischen Handlungssituation und eigenem Verstehenshandeln ausweisen zu können. Dies ist sehr anspruchsvoll und hätte zur Voraussetzung, dass die Verfahren einschließlich ihres Geltungsbereichs ausgereift sind und diese Vermittlung der Methodenanwendungskompetenz in die Lehrpläne der Studiengänge mit aufgenommen würde. Klar ist, dass handlungstheoretische Widersprüche eine solche Integration der Instrumente erschweren, auch wenn die Forderung nach Anpassung des Forschungsinstrumentes an die Realität - statt umgekehrter Vorgehensweise - weitgehende Zustimmung erfährt. Zudem ist die Erarbeitung von Geltungsbereichen für die jeweiligen Instrumente ein hoher Anspruch an die Profession und Disziplin. Allerdings erscheint es für die Fortentwicklung der Profession Sozialer Arbeit und im Interesse der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit unabdingbar, wissenschaftsbasierte, valide und reliable Verstehensinstrumente weiter auszubauen und bekannt zu machen, die sich als Grundlage der Vorbereitung und nachträglichen Begründung sozialpädagogischer Hilfe rechtfertigen (und durchsetzen) können gegenüber Verfahren, die der Komplexität "des sozialpädagogischen Blicks" nicht gerecht werden. Literaturverzeichnis Crefeld, W. 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