1.1. Aussagen, Beweise, vollständige Induktion 11 1.1.5 Satz Für jeden zusammenhängenden, planaren Graphen mit e Eckpunkten, k Kanten und f Gebieten gilt: e− k +f = 2. Hier ist ein Graph mit 6 Eckpunkten, 9 Kanten und 5 Gebieten. b b b b b b Beweis. Beweisen wir diese Aussage durch vollständige Induktion über die Anzahl n ∈ N0 an Kanten. Zunächst die Verankerung: Hat der Graph keine Kante, dann besteht er aus nur einem Eckpunkt, und es gibt nur ein äusseres Gebiet. Also ist e − k + f = 1 + 1 = 2. Nehmen wir nun an, die Aussage sei richtig für alle Graphen mit n ≥ 0 Kanten, und betrachten wir einen Graphen G mit n + 1 Kanten. Hat G nur einen Eckpunkt, dann sind alle Kanten Schlaufen. In diesem Fall entfernen wir eine der Schlaufen, und erhalten einen Graphen G̃, für den die Eulerformel richtig ist. Die Anzahlen von Schlaufen und Gebieten hat sich dabei jeweils um 1 reduziert. Die Eulerformel gilt also auch für G. Hat der Graph G mindestens zwei Eckpunkte, gibt es mindestens eine Kante mit verschiedenen Endpunkten, weil der Graph zusammenhängend ist. Wir wählen eine solche Kante aus und kontrahieren sie zu einem Punkt. Dabei reduzieren sich die Anzahlen der Ecken und der Kanten jeweils um 1, die Anzahl der Gebiete aber bleibt unverändert. Auch in diesem Fall können wir schliessen, dass die Eulerformel für G richtig ist. q.e.d. Die von Euler entdeckte Beziehung ist eigentlich bekannt unter dem Namen Eulersche Polyederformel . Unter einem Polyeder versteht man einen dreidimensionalen Körper, der von n-Ecken begrenzt wird, die aber nicht regelmässig zu sein brauchen. Man nennt ein Polyeder konvex, wenn die Seitenflächen nie nach innen einspringen. Besonders symmetrisch sind die fünf platonischen Körper, also Würfel, Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder. Projiziert man ein solches konvexes Polyeder mithilfe einer Lichtquelle, die man genügend nahe vor der Mitte einer ausgewählten Seitenflächen plaziert, auf eine Mattscheibe, sieht man einen zusammenhängenden, planaren Graphen. 12 Kapitel 1. Mathematisches Handwerkszeug Dabei wird die ganze Figur in die Projektion der ausgewählten, hier rot markierten Seitenfläche hineinprojiziert. Der Graph hat gleichviele Eckpunkte und gleichviele Kanten wie das Polyeder, und die beschränkten Gebiete des Graphen entsprechen genau den Seitenflächen, die man nicht ausgewählt hatte. Zählt man das unbeschränkte äussere Gebiet der Mattscheibe noch mit, stimmt also die Anzahl an Gebieten des Graphen mit der Anzahl an Seitenflächen des Polyeders überein. Deshalb erhalten wir nun folgendes Resultat: 1.1.6 Folgerung Für jedes konvexe Polyeder mit e Eckpunkten, k Kanten und f Seitenflächen gilt: e− k +f = 2. Im Fall des Würfels sind diese Zahlen zum Beispiel e = 8, k = 12, f = 6. 1.2. Eigenschaften der reellen Zahlen 1.2 13 Eigenschaften der reellen Zahlen Alle Rechenregeln der Grundrechenarten der reellen Zahlen lassen sich auf einige wenige Rechengesetze zurückführen, die in der folgenden Liste zusammengefasst sind. Genauer gilt folgendes: 1.2.1 Satz Die Menge R der reellen Zahlen zusammen mit Addition + und Multiplikation · bildet einen Körper , das heisst es gelten jeweils für alle a, b, c ∈ R die folgenden Rechengesetze: (A1) (a + b) + c = a + (b + c) (A2) a + b = b + a (A3) a + 0 = a (Assoziativgesetz der Addition) (Kommutativgesetz der Addition) (0 ist das neutrale Element der Addition) (A4) Zu a existiert genau ein x ∈ R mit a + x = 0. Für dies Element schreibt man −a. Es ist das zu a inverse Element bezüglich der Addition. (M1) (a · b) · c = a · (b · c) (M2) a · b = b · a (M3) a · 1 = a (Assoziativgesetz der Multiplikation) (Kommutativgesetz der Multiplikation) (1 ist das neutrale Element der Multiplikation) (M4) Zu a 6= 0 existiert genau ein x ∈ R mit a · x = 1. Für dies inverse Element schreibt man a−1 oder a1 . (inverses Element der Multiplikation) (D) a · (b + c) = a · b + a · c (Distributivgesetz) Die Axiome (A1)-(A4) werden zu der Aussage zusammengefasst, dass R mit der Addition eine kommutative Gruppe bildet. Und die Axiome (M1)-(M4) besagen, dass R \ {0} mit der Multiplikation ebenfalls eine Gruppe ist. Das Distributivgesetz schliesslich koppelt Addition und Multiplikation miteinander. Die Operationen Subtraktion und Division sind über die Aussagen (A4) und (M4) miterfasst. Das Subtrahieren von a besteht darin, das additive Inverse von a zu addieren, und die Division durch a lässt sich auch als Multiplikation mit dem multiplikativen Inversen 1 von a auffassen. a Die Körperaxiome gelten auch für die Menge der rationalen Zahlen. Die Menge Q bildet also ebenfalls einen Körper. Die Menge der ganzen Zahlen dagegen ist kein Körper. Für Z gelten zwar die Regeln (A1)-(A4), (M1)-(M3) und (D), aber die Regel (M4) ist nicht erfüllt. Nur die Zahlen ±1 besitzen multiplikative Inverse in Z, die übrigen Inversen der Multiplikation fehlen. Um sie zu erhalten, muss man man den Zahlenbereich von Z auf Q erweitern. Zusätzlich zu den Grundrechenarten verfügt R auch über die Relationen < und >. Die bekannten Prinzipien, die für das Rechnen mit Ungleichungen gelten, lassen sich auf das folgende Axiom zurückführen: 14 Kapitel 1. Mathematisches Handwerkszeug Anordnungsaxiom: Für jedes a ∈ R gilt genau eine der drei Möglichkeiten a > 0, a = 0 oder a < 0, und für alle a, b ∈ R gilt: a > 0 und b > 0 ⇒ a + b > 0 und a · b > 0 . Sowohl die Körperaxiome als auch das Anordnungsaxiom gelten auch für die Menge Q der rationalen Zahlen. Im folgenden Axiom ist eine Eigenschaft der Menge der reellen Zahlen festgehalten, die sie von der Menge der rationalen Zahlen unterscheidet. Supremumsaxiom: Jede nichtleere, nach oben beschränkte Teilmenge M ⊂ R besitzt in R eine kleinste obere Schranke, das sogenannte Supremum, notiert als sup M. Hierzu einige Erläuterungen: Unter einer oberen Schranke einer Menge M ⊂ R versteht man eine Zahl S ∈ R mit x ≤ S für alle x ∈ M. Es ist also ein Wert, der von keinem der Elemente aus M überschritten wird. Wenn es eine solche obere Schranke gibt, nennt man M nach oben beschränkt. Eine obere Schranke S1 ist die Kleinstmögliche für M, wenn S1 ≤ S für alle oberen Schranken von M gilt. Entsprechend zu oberen werden untere Schranken definiert, und eine grösste untere Schranke einer Menge M bezeichnet man als Infimum und schreibt dafür inf M. Ist M nach unten beschränkt, so gilt offenbar: inf M = − sup(−M) . (Hier steht −M für die Menge −M = {−x | x ∈ M}.) Daher folgt aus der Existenz von Suprema auch die Existenz von Infima für nach unten beschränkte Mengen. 1.2.2 Beispiele (1) Ist A ⊂ R eine endliche Teilmenge, so ist das Supremum von A gerade das grösste Element und das Infimum von A das kleinste Element von A. (2) Sei M = [a, b] = {x ∈ R | a ≤ x ≤ b} ein abgeschlossenes Intervall (a ≤ b ∈ R festgewählt). Dann ist inf M = a und sup M = b. (3) Sei M =]a, b[= {x ∈ R | a < x < b} ein offenes Intervall (a < b ∈ R festgewählt). Wir verwenden auch die Notation ]a, b[= (a, b). Dann gilt wie im vorigen Beispiel inf M = a und sup M = b. Weder das Infimum noch das Supremum gehören in diesem Fall also zu der Menge M selbst dazu. Zur Begründung: Nach Definition ist a eine untere Schranke von M. Nehmen wir jetzt an, es gäbe eine noch grössere untere Schranke, etwa S. Da a+b ∈ M, 2 a+S gilt a < S ≤ a+b < b. Der Mittelwert c = zwischen a und S liegt ebenfalls 2 2 in M, aber c < S. Also kann S doch keine untere Schranke für M sein. Damit ist gezeigt a = inf M. Entsprechendes gilt für das Supremum. q.e.d. Aus dem Supremumsaxiom ergeben sich auch wichtige Folgerungen für die natürlichen Zahlen. Archimedische Eigenschaft: Zu jeder reellen Zahl R existiert eine natürliche Zahl n, die noch grösser ist als R. 1.2. Eigenschaften der reellen Zahlen 15 Beweis. Wäre R eine obere Schranke für alle natürlichen Zahlen, dann wäre N beschränkt und hätte ein Supremum S in R. Weil mit n auch n + 1 eine natürliche Zahl ist, könnten wir schliessen: n + 1 ≤ S für alle n ∈ N. Daraus würde folgen n ≤ S − 1 für alle n ∈ N. Die Zahl S − 1 wäre also ebenfalls eine obere Schranke für N, im Widerspruch dazu, dass S bereits die kleinste obere Schranke sein sollte. q.e.d. Für den Körper Q gibt es keine Entsprechung des Supremumsaxioms. Denn zum Beispiel die Teilmenge M = {q ∈ Q | q 2 < 2} ⊂ Q√hat in Q keine kleinste obere Schranke. Sie hat zwar in R ein Supremum, nämlich 2, aber diese Zahl ist, wie wir wissen, irrational. Die Körperaxiome, das Anordnungsaxiom und das Supremumsaxiom zusammen legen den Körper R eindeutig fest. Der Übergang von Q zu R ist ein Prozess der Vervollständigung des Zahlenvorrats, und zwar werden soviele Zahlen hinzugefügt, dass es damit möglich wird, alle Abstände auf einer Geraden zu vermessen. Allerdings ist die Vorstellung irreführend, man brauche nur einige wenige Lücken im Zahlenstrahl zwischen den rationalen Zahlen zu füllen. Tatsächlich gibt es nämlich wesentlich mehr irrationale Zahlen als rationale Zahlen. Diese Aussage soll nun präzisiert werden. Dazu brauchen wir zunächst einen Begriff dafür, die Grössenordnung unendlicher Mengen miteinander vergleichen zu können. 1.2.3 Definition Zwei Mengen A, B nennt man gleichmächtig, wenn es eine Zuordnung f : A → B gibt, die jedem Element a ∈ A genau ein Element f (a) aus B zuordnet, und zwar so, dass es zu jedem Element b ∈ B genau ein Element a ∈ A gibt mit b = f (a). Die Zuordnung f wird dann als bijektive Abbildung oder als 1 : 1-Zuordnung von A nach B bezeichnet. a b A B 1.2.4 Beispiele 1. Eine Menge M ist genau dann endlich, wenn es eine Zahl n ∈ N und eine bijektive Abbildung f : {1, 2, . . . , n} → M gibt. Dann hat M natürlich offenbar n Elemente, und die Abbildung besteht eigentlich darin, die Elemente von M durchzuzählen. 2. Zwei endliche Mengen sind genau dann gleichmächtig, wenn sie gleichviele Elemente enthalten. 3. Z und N sind gleichmächtig, denn wir können die ganzen Zahlen folgendermassen anordnen: Z = {0, 1, −1, 2, −2, 3, −3, . . .}. Diese Liste entspricht der Abbildung f (2k) = k, f (2k + 1) = −k für alle k ∈ N. 16 Kapitel 1. Mathematisches Handwerkszeug 4. Es gibt auch echte Teilmengen von N, die dennoch gleichmächtig sind wie N, ein Beispiel ist die Menge der geraden Zahlen. Denn die Abbildung f : N → 2N = {2, 4, 6, . . .}, f (k) = 2k ist bijektiv. 1.2.5 Definition Eine unendliche Menge M heisst abzählbar, wenn sie gleichmächtig ist wie die Menge der natürlichen Zahlen. Ist dies nicht der Fall, so heisst M überabzählbar. Die Menge der ganzen Zahlen ist, wie wir eben gesehen haben, abzählbar. Die Menge der positiven rationalen Zahlen Q>0 ist ebenfalls abzählbar. Um dies einzusehen, schreiben wir die Brüche in den positiven Quadranten eines zweidimensionalen Koordinatensystems, und zwar den Bruch p/q an die Stelle mit x = p und y = q. Nun notieren wir die Brüche in der Reihenfolge, die sich ergibt, wenn wir folgenden Weg verfolgen: .. . .. . .. . .. . .. . 1/5 → 2/5 → 3/5 → 4/5 → 5/5 ↑ ↓ 1/4 ← 2/4 ← 3/4 ← 4/4 5/4 ↑ ↓ 1/3 → 2/3 → 3/3 4/3 5/3 ↑ ↓ ↑ ↓ 1/2 ← 2/2 3/2 4/2 5/2 ↑ ↓ ↑ ↓ 1/1 → 2/1 3/1 → 4/1 5/1 → ... ... ... ... 6/1 . . . Wir erhalten eine Liste von Brüchen mit vielen Wiederholungen. Streichen wir darin noch sämtliche Wiederholungen, so bleibt eine Liste aller positiven rationalen Zahlen übrig. Diese Liste kann man auch als bijektive Zuordnung von N nach Q>0 auffassen. Man kann nun - ähnlich wie im Beispiel Z - schliessen, dass auch die Menge aller rationalen Zahlen abzählbar ist. Im Gegensatz dazu ist die Menge der reellen Zahlen nicht abzählbar und es gibt viel mehr irrationale als rationale Zahlen. √ 1.2.6 Beispiele Alle rationalen Vielfachen von 2 sind irrational. Allgemeiner n√ p (n, m ∈ N, p Primzahl) irrational. sind alle Zahlen der Form ± m Gehen wir einmal davon aus, wir kennen die Beschreibung der reellen Zahlen durch Dezimalentwicklungen. Ist eine Zahl rational, so ist ihre Dezimalentwicklung entweder endlich oder periodisch. Etwa ist 17 = 0, 142857. Die Entwicklung muss 1 nicht unbedingt eindeutig sein, zum Beispiel hat die Zahl 10 die beiden Darstellungen 0, 1 oder 0, 09 und 0, 12 = 0, 119. Aber Mehrdeutigkeiten treten nur im Zusammenhang mit einer periodischen 9 auf. Und bei zwei verschiedenen Schreibweisen für dieselbe Zahl unterscheiden sich Ziffern an entsprechenden Stellen entweder um 1 oder um 9 oder sie stimmen überein. Ist eine Zahl irrational, so ist ihre Dezimalentwicklung eindeutig festgelegt und zwar ist sie in diesem Fall unendlich und nicht 1.2. Eigenschaften der reellen Zahlen 17 periodisch. Wir können also sagen, dass rationale Zahlen in gewissem Sinne endlichen Listen von Ziffern entsprechen, während irrationale Zahlen durch unendliche Listen von Ziffern festgelegt werden. Es ist also plausibel, dass es wesentlich mehr irrationale als rationale Zahlen gibt. Dies wollen wir nun auch beweisen. 1.2.7 Satz Die Menge R ist überabzählbar . Beweis. Wir zeigen die Behauptung durch Widerspruch. Angenommen, die Menge der reellen Zahlen wäre abzählbar. Dann gäbe es eine Möglichkeit, die reellen Zahlen durchzunumerieren und zu einer Liste anzuordnen. Gehen wir nun von einer solchen fiktiven Liste aus. Darin streichen wir zunächst alle Zahlen r ≤ 0 und r ≥ 1. Übrig bleibt eine Liste r1 , r2 , r3 , . . . aller Zahlen aus dem offenen Intervall zwischen 0 und 1. Wir schreiben nun die Dezimalentwicklungen dieser Zahlen untereinander. Die Liste könnte so aussehen: r1 = 0, 1 1 1 1 . . . r2 = 0, 1 1 2 2 . . . r3 = 0, 1 2 3 4 . . . .. . rj = 0, rj1rj2 rj3 rj4 . . . .. . Dabei bezeichnet jeweils rjk die k-te Ziffer hinter dem Komma in der Dezimalentwicklung von rj . Jetzt konstruieren wir eine neue Zahl a = 0, a1 a2 a3 a4 . . . ∈]0, 1[ aus der Liste der gewählten Dezimalentwicklungen, indem wir setzen: ( rkk + 2 falls rkk < 8 ak := 0 falls rkk = 8 . 1 falls rkk = 9 Das bedeutet, wenn die Liste mit den angegebenen Zahlen beginnt: a = 0, 335 . . . Vergleichen wir a nun mit den Zahlen aus der Liste. Die Zahl a stimmt nicht mit r1 überein, denn bereits an der ersten Stelle hinter dem Komma stehen verschiedene Ziffern, die sich auch niemals um genau 1 oder 9 unterscheiden. Es kann sich also nicht um zwei Schreibweisen derselben Zahl handeln. Weiter ist a 6= r2 wie der Vergleich der Ziffern an der zweiten Stelle hinter dem Komma zeigt. Allgemein gilt a 6= rj für alle j, dazu reicht es, jeweils die Ziffern an der j-ten Stelle hinter dem Komma miteinander zu vergleichen. Also kommt a nicht in der Liste der Zahlen r1 , r2 , r3 , . . . vor. Diese Liste sollte aber alle Zahlen zwischen 0 und 1 enthalten. Also haben wir einen Widerspruch. q.e.d.